House of Hunger - Alexis Henderson - E-Book

House of Hunger E-Book

Alexis Henderson

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Beschreibung

Marion lebt in einem Slum, ohne Hoffnung, dem Elend jemals zu entkommen. Bis sie die seltsame Anzeige in der Zeitung entdeckt: GESUCHT: Blutmagd von außergewöhnlichem Geschmack. Nicht älter als 19. Obwohl sie weiß, dass die Adligen im hohen Norden das Blut derer trinken, die in ihren Diensten stehen, bewirbt sich Marion auf die Stelle – und wird angenommen. Doch das berüchtigte Haus des Hungers der Gräfin Lisavet könnte zu ihrem Grab werden … In diesem düsteren und fesselnden Roman der Bestsellerautorin von DAS JAHR DER HEXEN wird eine junge Frau in die oberen Ränge einer Gesellschaft gezogen, in der Blut Macht bedeutet. S. T. Gibson: »Ein unvergessliches Fest der Dekadenz und Verdorbenheit. HOUSE OF HUNGER festigt Hendersons Platz als eine der großen Gothic-Autorinnen unserer Generation.«

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Amerikanischen von Heiner Eden

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe House of Hunger

erschien 2022 im Verlag ACE, Berkley.

An imprint of Penguin Random House LLC.

Copyright © 2022 by Alexis Henderson

Die Veröffentlichung erfolgt mit Erlaubnis von Alexis Henderson.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild: Mihai Costea

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-141-7

www.Festa-Verlag.de

Für die,

1

Zu bluten heißt zu sein.

Vanessa, Erste Blutmagd im Haus des Hungers

Bevor sie das erste Mal zur Ader gelassen wurde, als sie noch immer den Namen trug, den ihre Eltern ihr gegeben hatten, war Marion Shaw eine Magd in einem Stadthaus im südlichen Prane.

An jenem Morgen – dem Morgen, den sie später als den Beginn ihres zweiten Lebens bestimmen würde – kniete sie auf dem Hartholzboden des Salons, die Ärmel bis zu ihren knochigen Ellbogen aufgerollt, eine Scheuerbürste in der Hand.

Auf der anderen Seite des Raumes saß Lady Gertrude in einem Polstersessel und sah ihr bei der Arbeit zu.

Sie war eine durchtriebene Frau mit blauen Augen, silbergrauem Haar und einer eingedrückten, aristokratischen Nase. Altersflecken und Sommersprossen überzogen ihre Haut. Während andere Adlige es vorzogen, die Hausmädchen ihrer Arbeit zu überlassen, gefiel es Lady Gertrude, über sie zu wachen und ihnen mit Argusaugen zuzusehen, als wollte sie sicherstellen, dass sich ihre Bediensteten jeden Penny, den sie ihnen bezahlte, redlich verdienten.

»Du hast eine Stelle übersehen«, sagte sie höhnisch und packte ihren Gehstock, um auf einen winzigen Fleck auf den Dielen zu deuten.

Marion wischte sich eine dunkle Haarlocke aus ihrem Auge. Sie gab sich Mühe, auf ihren Tonfall zu achten. »Ich werde sorgsamer sein, gnädige Frau.«

»Das solltest du auch. Es gibt hübschere Mädchen als dich, die nicht so träge sind und glücklich wären, deine Stelle einzunehmen«, sagte sie und biss auf ein trockenes Stück Teegebäck. Sie spuckte Krümel, als sie wieder sprach. »Du bist langsam geworden … und faul. Ich kann es in deinen Augen sehen. Das bisschen Licht, das in ihnen gefunkelt hat, ist schon lange erloschen, und nun schleppst du dich auf Händen und Knien durch meine Räume wie ein gewöhnlicher Trunkenbold. Mit deinem zerzausten Haar und der besudelten Schürze …«

»Seien Sie versichert, dass dieser Boden makellos sein wird, sobald ich mit ihm fertig bin«, redete Marion dazwischen. Sie spürte, dass sich der Zorn in ihrer Magengrube wie Säure sammelte. »Sie haben mein Wort.«

Lady Gertrude runzelte die Stirn. Ihre schlaffe Haut legte sich wie ein Stück Stoff in Falten. Marion drängte sich der Gedanke auf, dass sie recht einsam sein musste. Seit Langem verwitwet, ohne eigene Kinder oder Freunde oder nahe Verwandte, pflegte sie, von der Sonntagsmesse einmal abgesehen, keine sozialen Kontakte. Und so folgte sie Marion jeden Tag von einem Zimmer zum nächsten und sah ihr zu, wie sie die Böden schrubbte, das Tafelsilber polierte und sich manchmal, wenn es ihr Gesundheitszustand erlaubte, sogar in die Küche mühte, wo sie blieb, bis ihre schmerzenden Knie sie zurück in die Behaglichkeit ihres Salons zwangen.

Marion polierte den Boden, bis sie ihr Spiegelbild darin sehen konnte. Weit auseinanderstehende Augen starrten sie an. Ihre Nase war fest, die vollen Lippen leicht geöffnet, die Zunge hinter den Zähnen versteckt. Ihre Haut hatte eine tiefe gelbbraune Farbe, ihr Haar war ein Wirrwarr aus Locken. Sie warf sich selbst einen finsteren Blick zu, gerade als die Kirchenglocken zwölfmal läuteten. Mit einem stockenden Seufzen wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab, warf die Scheuerbürste mit einem Klatschen in den Putzeimer und mühte sich langsam auf die Füße.

Gemäß dem neuen Arbeitsrecht wurde allen Arbeitern eine Pause von einer Stunde nach ihrer siebten Arbeitsstunde zugestanden – eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem sich nicht weniger als sechs Mädchen nach einer 20-Stunden-Schicht in einer Baumwollspinnerei zu Tode geschuftet hatten. Lady Gertrude war zwar keine besonders gutherzige Frau, doch sie glaubte fest an Recht und Ordnung, auch wenn ihr die Gesetze keinen Vorteil brachten. Und so schickte sie Marion umgehend aus dem Haus, als die Glocken zwölf Uhr schlugen.

Anders als so viele aus ihrem Stand konnte sich Lady Gertrude kein Stadthaus leisten, das weiter als nur einen Steinwurf von den eher … unansehnlichen Ecken Pranes entfernt lag, und Marion brauchte nur ein paar Minuten, bis sie den ersten Zipfel der Slums erreichte. Sofort wurde ihr Schritt beschwingter und ihre Laune besser, wenn auch nur ein bisschen.

Nach und nach wichen die ansehnlichen Backsteinhäuser alten Lagerhallen und Baracken, die in eine Dunstglocke gehüllt waren. Marion drängte sich die überfüllten Straßen hinunter, vorbei an den Schlachthöfen und dem angrenzenden Fleischmarkt. Sie stapfte durch halb gefrorenen Mist und an den Gestellen entlang, an denen die Kadaver von Rindern schwingend an ihren Hufen hingen. Instinktiv zog sie die Schultern gegen die aufziehende Kälte hoch. Der Herbst hatte gerade erst begonnen, doch an diesem Tag war es für die Jahreszeit ungewöhnlich frisch und die Straßen waren schon von einer dicken Schicht aus Schnee und Matsch überzogen.

Die Menschenmassen verteilten sich über den Viehmarkt und liefen an den Pferchen vorbei, in denen sich die Rinder drängten und zitterten – vor Kälte oder aus Angst vor dem Gang in den Schlachthof, oder beidem. Marion richtete ihren Blick auf ihre Stiefel, als sie an ihnen vorüberging. Schon seit fast zehn Jahren lief sie täglich über den Viehmarkt, und noch immer konnte sie sich nicht dazu überwinden, den Tieren in die Augen zu schauen.

Marion lief weiter. Der wallende Dunst hing tief und war so dicht, dass die Sonne kaum einen Weg hindurch fand. Die Straßen waren überfüllt, so wie immer um die Mittagszeit. Menschenmengen versammelten sich um die Verkaufsstände, und wenn Marion etwas Geld für ein Stück gebratenen Aal oder einen Hering übrig gehabt hätte, hätte sie sich vielleicht unter sie gemischt. Doch das hatte sie nicht, und so ging sie weiter und bahnte sich ihren Weg durch die Massen und über die vereisten Straßen, während ihr der Schneematsch in die Stiefel sickerte.

Ein eisiger Wind zog sich durch die Gassen und zerrte an ihrem Mantel, als sie sich ihrem liebsten Sitzplatz näherte – die Stufen vor der düsteren Hintertür eines verlassenen Lagerhauses am Rande von Prane, von der aus man auf die Straßenrinne und die lange Narbe der nördlichen Eisenbahngleise dahinter blicken konnte.

Es fing an zu regnen, und Marion zog sich in den Schatten des Vordachs zurück und fischte eine Streichholzschachtel und ihre letzte Zigarette aus der hinteren Tasche ihres Mantels. Sie zündete sie an und nahm einen Zug, dann legte sie ihre Hand um die Glut, um sie vor dem Wind zu schützen. Zwischen den Zügen schnaufte und schlotterte sie und blies sich den Rauch durch die Finger, um sie zu wärmen.

Die Zigaretten bewirkten wahre Wunder, um ihren quälenden Hunger zu besänftigen, und mit einem halben Penny für die Packung waren sie außerdem viel billiger als das, was die Lebensmittelstände an der Straße im Angebot hatten, die, so fand Marion, alle überteuert waren.

»Wenn das nicht die Perle von Prane ist.«

Marion drehte sich um und sah Agnes, die durch das Gedränge in ihre Richtung stapfte. Sie hob ihre Hand, und Marion erwiderte ihren Gruß mit zwei erhobenen Mittelfingern. Agnes war ein hageres, verbittertes Streichholz von einem Mädchen mit blassbraunen Augen und schütterem Haar, das in einem Zopf wie ein Rattenschwanz an ihrem Rücken hinunterhing. Genau wie Marion hatte Agnes ihre frühen Kindheitsjahre als Taschendiebin an geschäftigen Straßenecken verbracht. Eigentlich hatten sie sich so kennengelernt und schnell begriffen, dass Diebstahl ein Gewerbe war, dem sich leichter zu zweit nachgehen ließ. Agnes sorgte für die Ablenkung, indem sie ihre Zielpersonen vollquatschte und sie beschäftigte, während Marion sich von hinten heranschlich, um sich einen Geldbeutel oder ein seidenes Taschentuch aus dem Mantel eines vornehmen Herrn zu schnappen. Aber als sie zehn waren und die rechtlichen Konsequenzen für Diebstahl zu saftig wurden, hatte Agnes eine ehrliche Arbeit am Fließband gefunden, wo sie Streichhölzer anfertigte und von früh bis spät kleine Holzstäbchen in Schwefel tauchte. Kurz darauf hatte sich Marion die Stelle als Küchenmädchen bei Lady Gertrude gesichert.

Trotz ihrer neuen Beschäftigungen legten die beiden Mädchen großen Wert darauf, sich am Mittag an der Straßenecke zu treffen, wo sie sich zuerst begegnet waren. Doch Marion und Agnes waren keine Freundinnen, denn Marion hatte keine Freunde. So, wie sie es sah, waren Freunde Luxus, der Leuten vorbehalten war, die Zeit miteinander verbringen konnten, so wie die Mädchen, die mit ihren Sonnenschirmen und weißen Handschuhen über die Main Street schlenderten und sich am Nachmittag in ihre Salons zurückzogen, um etwas Tee zu trinken und zu plauschen. Nein. Mädchen wie Marion und Agnes hatten weder die Zeit noch eine Verwendung für Freunde. Sie waren nichts weiter als feste Bestandteile im Leben der anderen, ein Stück von Prane, genau wie der üble Geruch und die Krähen und die Ratten, die nachts in Rudeln durch die Straßen zogen.

Marion reichte Agnes den Rest ihrer Zigarette und schob beide Hände in ihre Rocktaschen, um sie wenigstens ein bisschen warm zu halten. Sie hatte noch fünf Stunden Arbeit vor sich, und es war schwer, den Boden mit steif gefrorenen Fingern zu schrubben.

Agnes zog schweigend an ihrer Zigarette. Der Rauch waberte durch die Lücken ihrer fehlenden Zähne. Die Zeit, die sie damit zubrachte, am Fließband zu schuften und die giftigen Phosphordämpfe einzuatmen, tagein, tagaus, bis der chemische Gestank sie wie eine zweite Seele erfüllte, ließ sie abgezehrt aussehen. Das war etwas, das Marions Mutter immer gesagt hatte. Dass die Menschen in Prane zwei Seelen hatten – eine, die aus dem Himmelszeug gemacht war, und eine andere, die aus dem stinkenden Dunst bestand.

Agnes zog ein letztes Mal an der Zigarette und schnippte den Stummel in die Straßenrinne. »Grässlicher Tag, oder?«

Marion zuckte die Schultern. »Auch nicht schlimmer als die anderen.«

»Ist er doch. Die Tage sind kürzer, als sie es jemals waren, die Nächte werden immer länger. Und die Sonne, sie steht nicht mehr so hoch am Himmel wie sonst. Ich schwör’s dir. Im Sommer wird’s nicht mehr so warm, der Herbst ist kürzer, die Winter sind kälter.« Agnes schüttelte den Kopf. »Ich kann die Veränderung spüren.«

»Prane ändert sich nicht«, sagte Marion, und es stimmte. Prane war die nördlichste Stadt im Süden. Sie befand sich in der Kluft zwischen den Welten – dem arktischen Norden und der beschwerlichen Hitze des industriellen Südens. Daher war Prane niemals das eine oder das andere. In der Nacht leuchteten die Lichter der Stadt so grell, dass es den Anschein machte, die Sonne würde nie so ganz untergehen; am Tag sah es wegen der grauen Dunstglocke aus, als würde sie nie so ganz aufgehen. Die Slums von Prane wirkten wie ein in der Mitte gefangenes Reich, eines in ewiger Unentschlossenheit, als könnte der Himmel sich nicht entscheiden, was er sein wollte.

Niemals ein ganzer Tag. Niemals eine ganze Nacht.

Niemals irgendetwas.

Und obwohl sie nichts anderes kannte, hatte Marion einen wahren Hass auf diese Unbestimmtheit entwickelt – und auch auf fast alles andere, was mit Prane zu tun hatte. Sie fragte sich manchmal, ob es in den Slums auch nur einen einzigen Menschen gab, der etwas, irgendetwas, an diesem Ort liebte. Agnes, so schien es, hatte sich damit abgefunden und war sogar zufrieden damit. Doch eine widerwillige Zufriedenheit war etwas anderes als ein Lebensglück. Bestenfalls war es eine Vertrautheit, schlimmstenfalls das Eingeständnis einer Niederlage. Auf jeden Fall war es keine echte Zuneigung.

Marion ließ sich auf der Stufe neben Agnes nieder und zuckte ein wenig zusammen, als das Schmelzwasser durch ihren Rock drang. Ihr Blick schweifte nach Norden. In der Ferne konnte sie gerade so den Nachtbahnhof am Rande von Prane erkennen – ein wunderschönes Gebäude aus Glas und Eisen mit einem eigenen Uhrenturm, der nur zu jeder vollen Stunde der Nacht schlug. Marion hatte den Bahnhof erst ein Mal besucht, an ihrem achten Geburtstag. Sie hatte ihre Mutter angefleht, ihn sich ansehen zu dürfen, als Ersatz für ein richtiges Geburtstagsgeschenk, und so hatten sie sich an jenem Abend zum Bahnhof hinausgewagt.

Marions Mutter hatte sie hochgehoben, damit sie in die Fenster des Nachtzugs schauen konnte, und dabei hatte sie einen flüchtigen Blick in die Abteile erhaschen können: mit rotem Samt gepolsterte Sitze, die Fenster mit Brokatstoff und gefärbter Seide behangen. Jedes Abteil wurde von einem schimmernden Kronleuchter unter der Decke erhellt. Es kümmerte sie nicht, dass ihnen Männer in dreiteiligen Anzügen finstere Blicke zuwarfen oder dass die Frauen ihre Röcke und dicken Geldbörsen fest umklammerten, wenn sie sie näher kommen sahen.

Marion und ihre Mutter hatten nur gelacht und voller Ehrfurcht lächelnd zugesehen, wie die Nordländer (man konnte sie von den reisenden Südländern anhand ihrer feinen Kleidung unterscheiden und an der Art, wie sie ihr Kinn ein wenig neigten) den Zug bestiegen und sich für die Fahrt nach Norden niederließen. Unter ihnen war eine Blutmagd, ein schwarzhaariges Mädchen in einem edlen Nerz. Sie lächelte Marion durch das Fenster an. Um sieben nach zwölf sahen Marion und ihre Mutter vom Bahnsteig aus zu, wie das große Ungeheuer aus schwarzem Eisen mit Getöse zum Leben erwachte und in das Dunkel der Nacht raste.

Jedes Mal wenn sie das schrille Tönen des Zughorns hörte, spürte sie dieselbe Regung bis tief in ihre Knochen wie damals als Kind, als sie neben ihrer Mutter auf dem Bahnsteig stand. Sie liebte das Geräusch und das Gefühl des näher kommenden Zuges. Manchmal stellte sie sich vor, selbst an Bord zu sein, unter den feinen Herrschaften aus dem Norden und den Parlamentariern, mit einer vergoldeten Fahrkarte für eine einfache Fahrt in ihrer Tasche, die mehr als zehnmal so viel kostete wie das, was ein Hausmädchen wie Marion im Jahr verdiente.

Agnes beäugte sie durch eine Wolke aus Zigarettenqualm. »Schaust du immer noch nach Norden?«

»Gibt ja sonst nichts, was man anschauen könnte.«

»Ich schätze, dann wirst du das hier nicht haben wollen.« Agnes schob eine Hand in das Dunkel ihres Mantels und holte eine gefaltete Zeitung hervor. Sie stahl eine jeden Tag, in einer Art von stillschweigender Übereinkunft, als Teil ihres Rituals. Agnes brachte die gestohlene Zeitung mit, Marion die Zigaretten, und zusammen machten sie das Beste aus der wenigen Zeit, die sie übrig hatten.

Der Wind zerrte an den Rändern der Zeitung, als Agnes sie aufschlug und flach auf ihren Oberschenkeln ausbreitete. Sie hielten sich nicht mit den Geschichten unter den Schlagzeilen auf – lange Artikel über Steuern und Handelskriege und Choleraausbrüche in den Slums. Stattdessen blätterten sie gleich zu ihrer Lieblingsseite weiter – den Kontaktanzeigen ganz hinten in der Zeitung.

Die Woche hatte gerade erst begonnen, was bedeutete, dass es jede Menge Anzeigen gab, die sie durchkämmen mussten. Eine war von einem unbescholtenen Mediziner, der eine unbefleckte Ehefrau suchte. Eine andere von einem verwitweten Priester mit einer Kirchengemeinde auf dem Land, der sich eine Frau »von untadeliger Sittlichkeit« wünschte, die seinen neun Kindern eine Mutter sein würde. Außerdem verlangte er, dass die Glückliche nicht älter als 22 Jahre sein sollte. Unten auf der Seite stand eine Anzeige einer selbst ernannten alten Jungfer, 38, die nach einem vermögenden Junggesellen suchte, um ihn mit »Güte und Zuneigung« zu bedenken.

Marion und Agnes lasen jede dieser Anzeigen mit einem spöttischen, übertrieben vornehmen Akzent und veranschaulichten die Inserate mit ihren wilden Vorstellungen vom Aussehen der Menschen, die darin vorkamen, ihrem Zuhause, ihrem Leben und ihren Neigungen.

»Er könnte zu dir passen«, sagte Agnes mit einem listigen Lächeln. Sie tippte auf die Anzeige eines Offiziers der Marine, der nach einem »ehrbaren« Hausmädchen suchte, und Marion lachte laut. Sie war so einiges, aber »ehrbar« war sie nicht. Tugendhaftigkeit im herkömmlichen Sinne war nichts für sie. Mit ihren 20 Jahren hatte sie schon mit zahlreichen Frauen das Bett geteilt, und sie genoss es, sich bereitwillig den Freuden des Fleisches hinzugeben. Sie und Agnes hatten während eines Sommers ein kurzes Schäferstündchen miteinander verbracht, doch zwischen ihnen hatten sich keine Gefühle entwickelt, und die Sache hatte kein gutes Ende genommen. Deshalb hatten sie sich darauf geeinigt, dass es besser war, ihr Liebesverhältnis zu beenden und sich nur noch zum Zigarettenrauchen zu treffen.

Agnes lugte weiter in die Zeitung. »Bei einem Gehalt von 400 im Jahr könnte er auch zu mir passen. Ich könnte ein Hausmädchen sein.«

»Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen«, sagte Marion und blätterte die Zeitung um. Und dann sah sie es: ein Inserat inmitten der Kontaktanzeigen. Anders als die anderen Anzeigen war diese in einem außergewöhnlichen Rotton gehalten, und auch die Buchstaben waren anders, größer und filigraner, und ihre Kurven gingen wie bei einer Handschrift ineinander über. Sie lautete:

Gesucht: Blutmagd von außergewöhnlichem Geschmack. Nicht älter als 19. Muss eine Vorliebe für die schönen Dinge des Lebens haben. Referenzen sind nicht erforderlich. Bewerbungen können per Post oder persönlich von 10 bis 12 Uhr abends unter folgender Adresse eingereicht werden: The Night Embassy, 727 Crooks Street, Prane. Mädchen mit schwachem Willen sollen sich fernhalten.

Unter dem Inserat war ein Wappen abgebildet – das vulgäre Gesicht eines finster dreinblickenden Mannes mit Olivenzweigen im Haar. Es war das Siegel vom Haus des Hungers, einem der größten und gefürchtetsten Häuser des Nordens.

Agnes zischte durch die Zähne, als sie es sah.

In Prane galten Blutmägde in etwa gleichem Maße als Symbol für Überfluss und Unsittlichkeit. Ihnen wurde nachgesagt, ihre Tage als verhätschelte Schützlinge ihrer vornehmen nördlichen Herren und Meister zu verbringen und auf Harfen zu klimpern, ihre erhobenen Nasen zu pudern, Künste und Sprachen zu erlernen und sich die Backen mit glasiertem Teegebäck und Pralinen und anderen Naschereien vollzustopfen, um ihrem Blut einen süßen Geschmack zu verleihen.

Das Schlimmste an ihrer Arbeit war der Aderlass, den Blutmägde regelmäßig über sich ergehen lassen mussten, um den fleischlichen Appetit der Adligen zu stillen, die auf die heilsame Wirkung des Blutes als eine reichhaltige Arznei für ihre unterschiedlichen Leiden vertrauten. Die Zeitungen behaupteten, dass Blut ein Heilmittel für eine Vielzahl von Krankheiten wäre, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Tuberkulose, Röteln, Masern, Syphilis, Rachitis und arthritische Schmerzen. Einige glaubten sogar, dass Blut über eine die Jugend erhaltende Wirkung verfügte, besonders wenn es der Quelle direkt entnommen und noch warm verzehrt wurde.

Aber so, wie Marion es sah, war es nichts weiter als ein Beruf, und der Beruf einer Blutmagd schien viel einfacher zu sein als der einer durchschnittlichen Fabrikarbeiterin in Prane. Außerdem gab es Gerüchte, dass Blutmägde am Ende ihrer Dienstzeit mit üppigen Pensionen versorgt wurden, die es ihnen erlaubten, den Rest ihrer Tage genauso komfortabel zu verbringen, wie sie es während ihrer Zeit als Blutmägde gewohnt waren. Marion hatte Geschichten von Blutmägden gehört, denen Villen am Meer geschenkt worden waren, ja sogar riesige Anwesen in der Südsee, samt einem ganzen Haushalt an Dienern, Fahrern, Stallburschen und sogar eigenen Blutmägden.

Agnes blickte finster auf die Zeitung hinunter. »Ganz schön dreist, ein Inserat für eine Bluthure ausgerechnet bei den Kontaktanzeigen einzustellen.«

Im Süden herrschte ein tiefes Vorurteil gegen Blutmägde, und Agnes war bei Weitem nicht die einzige Person in Prane, die dem Bluthandel mit Abscheu begegnete. Einige Mädchen, sogar richtig schöne, verweigerten aus Prinzip jeden Gedanken an eine Stellung als Blutmagd. Solch ein Stigma haftete an diesem Beruf. Marion hatte schon oft gehört, dass Mütter ihre Töchter lieber als Dirnen auf Pranes Straßen sehen würden, bevor sie zu Blutmägden im Norden wurden. Und viele Priester im Süden hatten von ihren Kanzeln von den tödlichen Gefahren eines Aderlasses gepredigt und vor dem Tribut gewarnt, den dieses finstere Werk dem Körper und der Seele abverlange. Es kursierten zahlreiche Gerüchte über Mädchen, denen das Blut und der Geist genommen wurden und die nach Jahren des Blutens blass und ohne einen Penny zurückgekehrt waren und außer ihren Narben nichts vorzuweisen hatten.

»Wo sonst sollte man sie einstellen? Eine Blutmagd ist wohl kaum eine Bedienstete.«

»Tja, aber Ehefrauen sind sie auch nicht«, sagte Agnes, und sie spuckte die Worte aus, sodass ihr Speichel auf die Zeitung spritzte. »Für einen Nachtlord zu huren ist etwas ganz anderes als eine Heirat.«

Marion erkannte kaum einen Unterschied zwischen diesen Dingen. Sowohl der Akt, eine Blutmagd zu werden, als auch der Akt, eine Ehefrau zu werden, waren so eine Art Verschmelzung von Treue und Fleisch, von Blut und Loyalität. Und warum sich an einen mittellosen Mann verkaufen, wenn man sich an einen feinen Herrn aus dem Norden verkaufen konnte? »Ich finde nicht, dass es etwas ganz anderes ist. Lieber blute ich, um den Appetit eines Nachtlords zu stillen, als im Geburtsbett zu bluten und die Kinder eines Mannes zu gebären, den ich kaum liebe.«

Ein schneidender Wind blies so kräftig durch die Gasse, dass er fast die Zeitung aus Marions Hand riss. Aber sie hielt sie fest, faltete sie eilig und schob sie in die Innentasche ihres Mantels, um sie sicher zu verwahren.

Agnes betrachtete sie mit gefurchter Stirn, und Marion sah die stille Anklage in ihren Augen: Verräterin. Doch bevor Agnes die Gelegenheit bekam, ihren Mund zu öffnen und es auszusprechen und Marion vor dem Norden und all seinen Schrecken zu warnen, schallte das dumpfe Läuten der Kirchenglocken durch die Gasse und scheuchte sie zurück an die Arbeit.

2

Wir alle gleichen uns in der Tatsache, dass unsere große Lebensleistung darin besteht, zu entscheiden, für wen und für was wir zu bluten bereit sind.

Olivia, Blutmagd im Haus des Nebels

Nach einem langen Arbeitstag machte sich Marion um halb sieben humpelnd auf den Weg nach Hause. Ihre Füße waren in ihren Stiefeln geschwollen, die Arme taten ihr weh. Die Slums von Prane empfingen sie mit dem üblichen Trara: ein Chor aus jammernden Katzen und bellenden Straßenkötern, klappernde Hufe auf Kopfsteinpflaster, ein brüllendes Baby – der Radau eines langen Tages, der endlich zu Ende ging. Sie verspürte keine Geborgenheit, als sie sich der windschiefen Schieferziegelbaracke näherte, die sie ihr Zuhause nannte. Es war ein seltsames Gebäude, das dort zwischen einem Pferdestall und dem städtischen Armenhaus eingequetscht dastand und einen verbogenen Schornstein hatte, der dicke schwarze Rauchwolken ausstieß, wenn ein Feuer im Ofen brannte. Doch an diesem Abend kam kein Rauch aus dem Schornstein.

Marion schlurfte über den Hof, hin zur Tür, und trat ein. Der Raum war spärlich möbliert. Da war das Eisenbett an der hinteren Wand, in dem schon Marion zur Welt gekommen war und ihre Eltern nur zehn Jahre später gestorben waren. Neben dem Feuer stand die Pritsche, auf der sie jede Nacht schlief. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Der Rest des Mobiliars war zu Kleinholz verarbeitet und im letzten Winter als Zunder verfeuert worden, als eine schreckliche Kältewelle ihren Höhepunkt erreichte.

Die Kühle des Raumes ließ sie erzittern, und sie fragte sich, was sie im nächsten Winter verfeuern würden, um die Kälte zu lindern, nun, da fast keine Möbel mehr übrig waren. Der Ofen in der Ecke half nur wenig, um den Raum zu erwärmen, und in den kalten Monaten, wenn der Zunder zur Neige ging, waren Kohle und Brennholz ein teures Vergnügen, was bedeutete, dass sie sich mit trockenen Kuhfladen und deren beißendem Gestank begnügen mussten, um ein Feuer zu entfachen.

Marion schloss die Tür behutsam hinter sich. Der widerliche Geruch von Maudlum hing in der Luft, und Rauch zog sich in trägen Schwaden durch den Raum, als würde er von einem gespenstischen Wind getragen werden. Marion schauderte bei dem Duft, und sie kniff die Augen ein wenig zusammen, um in dem Halbdunkel etwas sehen zu können.

Auf der anderen Seite des Raumes hockte Raul, ihr älterer Bruder, dort, wo er immer saß, auf dem Rand des Bettes, vor dem Feuer – das in Wahrheit kein richtiges Feuer war, sondern nur ein Haufen Asche mit ein paar Stücken hartnäckiger Glut darin, die schwach im Schatten des Ofens loderten. Sie merkte sofort, dass er vom Maudlum benebelt war und irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit steckte. Er gab eine traurige Gestalt ab – hellhäutig für seine Rasse und mit Tränensäcken unter beiden Augen, die so dunkel wie Quetschungen waren. Er war so abgemagert, dass nicht mehr viel fehlte, bis er völlig vom Fleisch fiel, und er trug sein dunkles, halb verfilztes Haar in einem dicken Zopf.

Doch der erschreckendste Aspekt seiner Erscheinung waren die entzündeten Ekzeme, die überall an seinem Körper auftauchten und fleckige Narben hinterließen, wenn sie wieder heilten. Die Ärzte, die Marion wegen seines immer schlechter werdenden Zustands aufsuchte, gaben ihr kaum Antworten und nicht mehr als eine düstere, spekulative Prognose, wenn sie sich nicht vertrösten ließ.

Der letzte Mann, mit dem sie gesprochen hatte – ein Doktor in einem von Pranes schönen Vierteln, der den Lohn von mehreren Wochen als Zahlung für die Behandlung verlangte –, behauptete, dass Rauls Symptome das Ergebnis einer »von in der Dunkelheit begangenen Taten ausgelösten Krankheit« seien. Als Marion nach einer medizinischen Diagnose verlangte, sagte er, dass einige Dinge nicht für die Ohren einer jungen Frau geeignet seien und besser unausgesprochen blieben. Die Wahrheit war, dass er Marion gar nichts erklären musste. Sie kannte den Namen von Rauls Krankheit, eine ganze Weile schon, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. In den Slums nannte man sie nur die Grippe. Es war ein Gebrechen, das meistens durch die Leidenschaften von Liebenden übertragen wurde.

Und dafür gab es kein Heilmittel.

»Bist du wach?«, fragte Marion. Sie wusste es nicht, weil Raul oft mit weit aufgerissenen Augen träumte. Als Kind, wenn er derart schlief, waren seine offenen Augen von Staunen erfüllt. Doch nun, als erwachsener Mann, schien nur noch Entsetzen in ihnen zu stecken. Als hätte er in den finsteren Schlund eines hungrigen Gottes geblickt.

Raul schreckte beim Klang ihrer Stimme plötzlich auf, dann nickte er und hob die Pfeife an seine Lippen. Seine Hand zitterte so stark, dass ein wenig von der Asche aus dem Pfeifenkopf fiel und sich auf dem Fußboden verteilte. Heute rauchte er das billige Zeug. Das erkannte sie an dem widerlichen Geruch, der die Luft erfüllte. »Bist spät zu Hause.«

Marion streifte ihre Stiefel ab. »Auch nicht später als sonst.«

Raul kniff die Augen zusammen. Vor seiner Krankheit war er ein großer, attraktiver Junge mit einem kräftigen Kiefer gewesen, und sein Gesicht hatte fast adlige Züge gehabt. Hätte er sich entsprechend angezogen und die Klappe gehalten, wäre er leicht als ein Geschäftsmann aus den südlichen Vierteln durchgegangen.

Doch seine Krankheit hatte ihn verformt. Seine Knochen waren weich geworden, sein Körper in sich zusammengesackt, sodass seine Schultern sich nach innen bogen, und sein Brustkorb war so schlimm eingesunken, dass er keinen einzigen Atemzug tun konnte, ohne sich mühen zu müssen. Wunde Stellen überzogen seine Wangen und Arme wie Pocken, und er kratzte ständig an ihnen herum.

Aber trotz der Schwere seiner Erkrankung schaffte es Raul, sich durch die Tavernen der nördlichen Viertel zu schleppen oder sich in den Rauchstuben zu verkriechen, wo er seine Tage damit verbrachte, Marions mühsam verdientes Geld durchzubringen und sich in eine Besinnungslosigkeit zu träumen, raus aus der Wirklichkeit seines bald bevorstehenden Endes.

Doch die schlimmsten Verletzungen trug Raul in sich. Die Krankheit hatte seinen Verstand noch vor seinem Körper befallen, und dort hatte sie den größten Schaden angerichtet. Er war schon seit Jahren krank, und mit jedem Tag wurde es schlimmer, und in dieser Zeit hatte er das hitzige Gemüt seines Vaters entwickelt. Nun hatte er diese gemeine, argwöhnische Art an sich, wie ein hungriger, angeketteter Hund. Als die Krankheit in ihm wuchs, verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Marion wollte ihn nicht gefährlich nennen – noch weigerte sie sich, das zu tun –, doch sie war sich bewusst, dass die Krankheit ihrem Bruder das bisschen Güte, mit dem er auf die Welt gekommen war, längst genommen hatte. Doch so schlimm er auch war, hatte sie doch keinen anderen Menschen auf dieser Welt außer ihn. Und darum liebte sie ihn.

Marion nahm sich die Haube vom Kopf und hängte sie an einen Haken an der Wand neben der Tür. Es war zu kalt, um auch den Mantel auszuziehen, doch sie zog sich mit den Zähnen die Handschuhe von den Fingern und schob sie in die Tasche ihrer Schürze. Dann ging sie zu dem Porzellanbecken in der Ecke des Raumes. Das Wasser darin war zugefroren, und Marion zerbrach die Eiskruste mit ihren Fingerknöcheln und schrubbte sich die Hände sauber. Das Wasser wurde schwarz, als sie sich die Asche und den Ruß von der Haut spülte.

Marion trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab und machte sich daran, Wasser für den Tee aufzusetzen. Sie brauchte ein wenig Zeit, um die kalten Kohlen im Ofen wieder zu einem Feuer zu erwecken. Nachdem sie es geschafft hatte, füllte sie den Kessel mit Wasser aus dem Krug und wartete darauf, dass es zu kochen begann.

Abgesehen von dem Getöse der Straße war es in dem Slum-Haus still. Raul lümmelte sich vor dem nun knisternden Feuer, die Beine ausgestreckt, und nuckelte an seiner Pfeife, die eines der wenigen Dinge war, die er von seinem Vater geerbt hatte. Den anderen Krimskrams hatten sie über die Jahre für etwas Kleingeld verhökert. Außer ein paar Gegenständen – die verschlissene Steppdecke, die auf dem Bett lag, die Maudlum-Pfeife, der Teekessel, die Bettgestelle und das kleine Porträt ihrer Mutter, das über dem Ofen hing – gab es in dem Slum-Haus nichts, was aus der Mietbaracke ein anständiges Zuhause hätte machen können.

Der Kessel begann zu pfeifen, und Marion holte zwei Blechbecher und eine Holzkiste mit Tee aus dem Schrank. Sie maß gerade die Teeblätter ab, als sie spürte, dass Raul hinter ihr auftauchte. Sein langer Schatten streckte sich über die Wände, als er aufstand und durch den Raum zu ihr hinüberschlurfte. Er baute sich hinter ihr auf, während sie den Tee zubereitete, schwankte ein wenig und stützte sich an dem heißen Ofen ab, nur um seine Hand mit einem dahingeblafften Fluch wieder zurückzuziehen.

Marion drehte sich nicht zu ihm um. Sah ihn nicht an. Er mochte es nicht, wenn man ihn ansah, nicht in diesem Zustand. »Brauchst du etwas?«

Er antwortete nicht. Stattdessen torkelte er einen halben Schritt nach vorn und schnupperte. Angewidert rümpfte er die Nase. Marion rührte sich nicht. Ihre Hand legte sich um den Blechbecher und drückte so fest zu, dass er an den Seiten etwas eingedellt wurde. Das heiße Metall verbrannte ihre Handfläche und ihre Finger, doch sie ließ nicht los.

»Du stinkst nach Pisse«, murmelte Raul. Er sang immer dasselbe Lied. Der Uringestank, den er meinte, war der üble Geruch der Ammoniaklauge, mit der Lady Gertrude sie die Böden schrubben ließ, weil es verhinderte, so behauptete sie, dass sich Cholera und Typhus ausbreiteten, wovor sie eine Heidenangst hatte.

»Ich werde mich waschen, sobald es geht.«

Schweigen.

Marion griff nach dem Buttermesser.

Raul packte ihr Handgelenk. »Du musst mir einen Gefallen tun.«

Marion zögerte. Sie spürte, dass sich so etwas wie Zorn in ihr regte. »Was ist es jetzt?«

»Nur ein paar Münzen, mehr nicht.«

»Ich kann kein Geld entbehren. Am Monatsanfang ist die Miete fällig, und wenn wir uns damit schon wieder verspäten, werden wir rausgeschmissen.«

Raul atmete schwer aus. Sein Atem stank nach abgestandenem Bier. Seine Finger – knochig und kalt – legten sich fest um ihr Handgelenk. »Du lügst. Ich weiß, dass du Münzen hortest.«

Sie wirbelte mit so viel Wucht zu ihm herum, dass er nach hinten taumelte und gegen den Schrank krachte. Ein paar Blechteller fielen klappernd zu Boden. »Du hast jeden Penny, den ich dir gegeben habe, für deine Träume in den Rauchhäusern durchgebracht. Ich habe nichts mehr, was ich dir geben kann. Nicht wenn wir ein Dach über dem Kopf behalten wollen.«

Rauls Augen zuckten. Seine Finger hielten noch immer ihr Handgelenk fest.

Schon als Kinder hatten sie sich nicht gut verstanden. Sie hatten oft gestritten und üble, manchmal sogar blutige Raufereien ausgetragen. Aber es war Jahre her, dass sie sich zum letzten Mal mit ihren Fäusten geprügelt hatten. Was nicht hieß, dass sie sich nun nicht mehr rauften, so wie dieses eine Mal, als Raul sie so fest gegen die Wand gedrückt hatte, dass sich ein hervorstehender Nagel tief in ihre weiche Haut zwischen den Schulterblättern gebohrt hatte. Oder wie in jener Nacht, als Raul sie in einer betrunkenen Raserei bei den Fußgelenken aus dem Bett gerissen und sie durch das Zimmer, raus aus der Baracke und hinaus auf die verdreckte Straße gezerrt hatte. Raul hatte die Tür hinter sich zugesperrt, und Marion war gezwungen gewesen, die Nacht auf der Straße zu verbringen und sich die Zeit damit zu vertreiben, Splitter aus ihren Händen und Knien zu ziehen.

Marion wusste, dass sie ihn hätte verlassen sollen. Doch die traurige Wahrheit war, dass sie loyal zu Raul stand, nicht zu dem Menschen, der er heute war, sondern zu dem, der er als Junge gewesen war, vor dem Tod ihrer Eltern. In den frühen Jahren ihrer Kindheit war er sanfter gewesen, manchmal fast gütig, an den guten Tagen. Doch nachdem ihre Eltern gestorben waren – kurz nacheinander an einer zermürbenden Tuberkulose –, trieb sich Raul im Dunkel der Nacht an den Straßenecken herum, um am Morgen mit wunden Lippen und genug Kleingeld in seiner Tasche zurückzukehren, um einen Laib Brot zu kaufen, den sie sich teilten. Schon damals war er unglaublich hübsch gewesen. Marion dachte oft, dass er, wäre er als Mädchen und nicht als Junge zur Welt gekommen, mit seinen großen, wässrigen haselnussbraunen Augen, seinen vollen Lippen und seinem schlanken Körper eine hinreißende Blutmagd abgegeben hätte. Doch Männer wurden nie für den Aderlass genommen. Diese Aufgabe war den Frauen vorbehalten.

Obwohl er nie davon sprach, begann das, was Raul tat, um Geld für sie zu verdienen, seine Seele so tiefgreifend zu verderben, dass er mit jedem Tag weniger er selbst war und ein bisschen … gefühlloser wurde. Er fing an zu trinken und zu rasen und Dinge kaputt zu schlagen. Als seine Krankheit fortschritt, wurde er immer paranoider und machte Marion für all die Leiden, die ihn plagten, verantwortlich. Aber auch wenn er sich von seiner schlimmsten Seite zeigte, konnte Marion nicht anders, als in ihm den 15-jährigen Jungen zu sehen, der sich im schwachen Licht der Dämmerung durch dunkle Gassen schleppte, den Jungen, der tat, was er für unaussprechlich hielt, nur um für Essen auf dem Tisch und ein Dach über ihren Köpfen zu sorgen, auch wenn es ihn umbrachte.

»Du weißt, dass es sinnlos ist«, sagte Marion mit Nachdruck, aber auch von Mitleid erfüllt. »Du kannst deine Tage nicht einfach für Träume verschwenden.«

»Es sind meine letzten Tage«, sagte Raul. »Findest du nicht, ich sollte mit ihnen machen können, was mir gefällt?«

»Sag so etwas nicht.«

Raul kniff die Augen zusammen. »Das Geld, Marion.«

»Nein.«

Daraufhin hielt Raul inne und neigte seinen Kopf wie ein Hund, der um Reste am Essenstisch bettelte. Doch er sah nicht sie an. Seine Augen – blutunterlaufen und glasig – fokussierten sich auf ihre Manteltasche. Er schnappte sich den Zeitungsfetzen, bevor sie überhaupt die Chance hatte, ihn davon abzuhalten. Eine ganze Reihe von Gefühlen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, während er die Suchanzeige für eine Blutmagd durchlas. Zuerst war da Zorn, wovor Marion sich am meisten fürchtete, und dann, zu ihrer großen Erleichterung, Belustigung. »Davon träumst du also nachts? Deinen Rockzipfel zu heben und dein Blut für irgendeinen jämmerlichen Lord aus dem Norden zu vergießen, der in den Ruinen eines Hauses, das einmal ein großes war, Hunger leidet? Du willst ihm helfen, sich an die kümmerlichen Überbleibsel seiner Würde zu klammern, an den Geist seiner Macht, während der Rest der Welt sich weiterdreht?«

»Noch gibt es Macht im Norden«, sagte Marion. »Noch gibt es dort Geld.«

»Und auch das wird bald verschwendet sein.« Raul hatte recht.

Der von Adligen spärlich bewohnte Norden war früher einmal das Machtzentrum der Welt gewesen. Sein Parlament, das sich ausschließlich aus den regierenden Grafen der 27 Adelshäuser zusammensetzte, hatte im Alleingang die Geschicke der modernen Welt bestimmt. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hatte sich der Machtsitz vom Norden in den industriellen Süden und zu dessen demokratisch gewählten Parlamenten verschoben, in denen fast nur Politiker und Fabrikbesitzer und Ölbarone und ihre Erben saßen.

Seitdem waren die einst so mächtigen Häuser des Nordens verkümmert und in den Ruin gestürzt. Es gab nur noch ein paar von ihnen, und davon wurden die meisten von reichen Erbinnen (und ihren Nachkommen) aus dem Süden bewohnt, die in Familien aus dem Norden eingeheiratet hatten, weil sie sich einen Titel unter den Nagel reißen wollten. Ihre üppigen Erbschaften fütterten die leeren Säckel der uralten Anwesen des Nordens und bewahrten die Häuser davor, vollends ins Elend zu stürzen.

Von den 27 Häusern verfügten nur noch vier über einen echten Einfluss: das Haus des Hungers, das Haus des Nebels, das Haus der Heuschrecken und das Haus der Spiegel. Diese Häuser – vor Jahrhunderten von den mächtigsten Gründerfamilien des Nordens errichtet – waren die letzten Relikte der nördlichen Blütezeit. Schon bald würden auch sie wegen der Industrialisierung und der Modernisierung und des Treibsands der Zeit zugrunde gehen.

Marion versuchte, sich das Stück Zeitung zurückzuholen, doch Raul ließ es nicht los, und so zerriss es genau in der Mitte. Er stieß ein betrunkenes Lachen aus, das sich in einen Hustenanfall auflöste.

»Gib es zurück«, sagte sie mit dem zerfledderten Zeitungsfetzen in der Hand.

»Sag mir, warum du’s haben willst«, sagte er und rückte ein Stückchen näher an sie heran, was Marion zwang, einen Schritt zurück zum Ofen zu machen. Sie konnte schon spüren, dass die Hitze des Eisens durch ihren Mantel drang und fast heiß genug war, um sie zu verbrennen.

»Ich will dieses Spiel nicht spielen, Raul. Gib mir die Zeitung. Sofort.«

Sie erwartete seinen Widerspruch, einen Ausbruch oder einen Fluch oder vielleicht einen platzierten Stoß, der sie zu Boden schicken würde. Doch zu ihrer Überraschung und großen Erleichterung schob Raul das abgerissene Stück Papier einfach nur zurück in ihre Manteltasche und stakste durch den Raum, um sich mit ausgestreckten Beinen auf seinem Platz vorm Feuer niederzulassen. Er hob die Pfeife an seine Lippen und spuckte Rauchringe zur Decke hinauf.

»Du und ich sind vom selben Blut«, murmelte er um den Pfeifenstiel herum. Erst jetzt bemerkte sie die Münze, die in seiner linken Hand funkelte. Er hatte sie ihr so geschickt aus der Manteltasche gezogen, dass sie nichts davon mitbekommen hatte. Er rollte das Geldstück zwischen seinen Fingerknöcheln hin und her, immer wieder. Dann schloss er die Augen und sagte, während ihm der Rauch aus der Nase quoll: »Verlass mich, und du wirst es bereuen.«

In dieser Nacht, während Raul tief und fest in seinem Bett schlief, lag Marion hellwach da. Sie hielt die beiden Zeitungsfetzen in ihren Händen, fügte sie wieder zusammen und las die Worte des Inserats noch einmal in dem Licht der verlöschenden Glut:

Gesucht: Blutmagd von außergewöhnlichem Geschmack. Nicht älter als 19. Muss eine Vorliebe für die schönen Dinge des Lebens haben. Referenzen sind nicht erforderlich. Bewerbungen können per Post oder persönlich von 10 bis 12 Uhr abends unter folgender Adresse eingereicht werden: The Night Embassy, 727 Crooks Street, Prane. Mädchen mit schwachem Willen sollen sich fernhalten.

Auf der anderen Seite des Raumes drehte sich Raul in seinem Bett herum, und das Eisengestell ächzte unter ihm. Er würde sich die nächsten zehn Stunden nicht mehr rühren, bis das Sonnenlicht grell genug war, um ihn aus seinen Albträumen zu reißen. Marion heftete ihren Blick noch einmal auf die Fetzen in ihrer Hand und schob das zerrissene Inserat zusammen, damit es noch einmal ganz wurde. Und dann, so leise wie eine Straßenkatze, die eine Gasse hinunterhuschte, stand sie auf, schnappte sich ihren Mantel von dem Nagel in der Wand und schlüpfte in die Nacht hinaus.

3

Der erste Aderlass ist eine Art Auflösung, in der ein Mädchen stirbt und eine Blutmagd geboren wird.

Joyce, Mutter im Haus des Mittags

Marion bewegte sich im schwachen Schein der Straßenlaternen durch die Seitengassen auf ihrem Weg zur Crooks Street im südlichen Teil von Prane. Ein nasser Schnee fiel schnell, und das Kopfsteinpflaster war vom Eis so rutschig, dass sie aufpassen musste, nicht den Halt zu verlieren. Die Slums waren, abgesehen von ein paar Straßenkötern und den Ratten, die durch die Schatten huschten, völlig verwaist. Marion war deswegen erleichtert. Leute, die sich in der Nacht herumtrieben, meinten es meistens nicht gut.

Mit jedem Schritt lief sie ein bisschen schneller, denn sie wusste, dass die Zeit gegen sie war. Sie hätte eine Stunde früher aufbrechen sollen, wenn sie es bis zehn Uhr zur Botschaft schaffen wollte. Als sie sich Groveshire näherte, dem teuersten Viertel von Prane, schneite es immer schlimmer, bis ein Graupelschauer auf sie niederging, der ihre Haube und ihren Mantel durchnässte und ihr den Blick auf die schönen Häuser erschwerte.

Dieser Stadtteil war der ganze Stolz von Prane, die Gegend, in der Adlige, Geschäftsleute und sogar ein paar Blutmägde im Ruhestand ihr Zuhause hatten. Hohe Bäume, eine echte Seltenheit in den Slums, säumten die Kopfsteinstraßen an beiden Seiten. Im Sommer trugen sie blassrote Knospen, die nach Honig dufteten. Marion erinnerte sich, dass sie als Kind stundenlang umherlief, nur um ein paar heruntergefallene Blüten vom Gras aufzuheben und sich davonzuschleichen, bevor die Constables, die auf Streife waren, sie wegscheuchten, so wie sie es mit allen machten, die sich aus den Slums hierherwagten.

Doch in dieser Nacht waren keine Constables unterwegs. Marion nahm an, dass die Kälte sie zurück in ihre Polizeiwachen gezwungen hatte, und dafür war sie dankbar. Hätte man sie zu dieser späten Stunde in dieser Gegend entdeckt, das wusste sie, dann wäre sie wahrscheinlich im Gefängnis gelandet, bevor sie überhaupt eine Gelegenheit hatte, sich zu rechtfertigen.

Marion bemühte sich, möglichst in den Schatten zu bleiben und den Schein der Straßenlaternen zu vermeiden, als sie die langen Straßen des nördlichen Stadtteils entlanglief. Sie kam an Stadthäusern aus Backstein und vom Schnee bedeckten Herrenhäusern mit ausladenden Grünflächen und Gärten im Innenhof vorbei, und sie fragte sich, welche dieser Anwesen von ehemaligen Blutmägden bewohnt wurden.

Von Groveshire war es nur ein kurzer Fußweg durch den Magnolia Park – einen gepflegten Obstgarten in der Mitte des nördlichen Viertels – bis zur Night Embassy, der Nachtbotschaft. Sie stand auf einem eigenen Grundstück, das von einem von Efeu überwucherten Eisengitter umgeben war. Genau wie die benachbarten Herrenhäuser war es ein imposantes Gebäude mit einem von Säulen gestützten Vordereingang und einem Hain aus Lebenseichen, der auf beiden Seiten der aus Marmor gepflasterten Zuwegung wuchs und ein Baumkronendach von der Straße bis zur Eingangstür bildete.

Doch trotz ihrer eindrucksvollen Fassade wirkte die Botschaft auf eine seltsame Weise einladend. Die Fenster waren von dem warmen Schein eines Feuers erfüllt, und der Wind erzeugte ein sanftes Säuseln, als er durch die Bäume wehte.

Marion trat unter das Baumkronendach, raus aus dem fallenden Schnee. Sie eilte zur Eingangstür hinauf, gerade als die Kirchenglocken elf Uhr schlugen. Die Tür war in einem glänzenden Schwarz gestrichen, und in ihrer Mitte befand sich ein Messingklopfer, der die Form eines Rabenschädels hatte. Sie klopfte zweimal.

Einen Moment später öffnete sich die Tür mit einem Krächzen, und Marion war erstaunt, eine Frau in dem Foyer stehen zu sehen. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine steif gestärkte weiße Trägerschürze. Ihr Haar, das eine liebliche rote Farbe hatte, war hinten zu einem adretten Dutt zusammengesteckt. Ihr Hals war lang und dünn und von einem dicken schwarzen Band bedeckt. Sie sah höchstens ein paar Jahre älter als Marion aus. Augenblicklich erkannte Marion sie als das, was sie war: eine Blutmagd.

Sie war eine der wenigen, die Marion seit dem Abend ihres achten Geburtstages, als sie mit ihrer Mutter zum Nachtzug gegangen war, aus der Nähe gesehen hatte. Und sie war nur etwas weniger hübsch als die eine, der sie in jener Nacht begegnet war – ein blasses Mädchen mit rabenschwarzem Haar, rosigen Wangen und blauen Augen. Sie verfügten beide über die Art von Schönheit, die Marion vor Ehrfurcht alles andere vergessen ließ. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwer, Mann oder Frau, auch nur ein paar Stunden in ihrer Gegenwart verbringen konnte, ohne sich am Ende Hals über Kopf in sie zu verlieben.

Die Blutmagd betrachtete sie mit einem leichten Stirnrunzeln. Marion konnte es ihr nicht verübeln. Sie wusste, dass sie ein jämmerliches Bild abgab. Ihre Stiefel waren voller Schlamm und Pferdemist, ihr Mantel vom eiskalten Schneematsch durchweicht, und ihr Haar hing ihr in klatschnassen Locken im Gesicht.

»Was führt dich her?«, wollte das Mädchen wissen. Als sie sprach, verzog sich ihr Mund, der rot wie eine überreife Himbeere war, zu einem kleinen, kecken Lächeln. Fast schien es, als würde sie … flirten. Das hätte Marion nicht völlig überraschen sollen. Agnes hatte ihr schon oft gesagt, dass sie diesen Hang zu Frauen hatte, oder besser gesagt, dass Frauen diesen Hang hatten, sich von ihr angezogen zu fühlen, so wie Motten, die in das Licht einer Straßenlaterne schwirrten. Marion hatte die Tatsache, dass sie Frauen so sehr mochte, wie Frauen sie mochten, immer ihrer Knabenhaftigkeit zugerechnet, und so erschien es ihr natürlich, dass sie sich so oft auf sie einließ. Aber diese aufreizend lächelnde Blutmagd war ein ganz anderes Kaliber als die Leute ihres Schlages.

Marion fischte die durchnässten Zeitungsfetzen mit dem Inserat aus ihrer Tasche. In dem festen Blick der Blutmagd fühlte sie sich klein und fehl am Platz. Vielleicht war es dumm von ihr, überhaupt darüber nachzudenken, dass sie eines Tages denselben Rang innehaben könnte wie das Mädchen, das gerade vor ihr stand. »I-Ich habe Ihr Inserat in der Zeitung gesehen«, sagte Marion und errötete vor Verlegenheit, als sie die Anzeige zurück in ihre Tasche steckte.

Das Mädchen hob eine gezupfte Augenbraue, und einen Moment lang war sich Marion sicher, dass es ihr die Tür ins Gesicht schlagen würde. Doch zu ihrer Überraschung machte sie einen Schritt zur Seite, zog die Tür ganz auf und bedeutete ihr einzutreten. Gleich als Marion das Foyer betreten hatte, half ihr die Blutmagd aus dem Mantel und verschwand nach irgendwo, um ihn aufzuhängen, bevor Marion sich bedanken konnte. Und so stand Marion allein und verwirrt, klitschnass und mit Schlamm bedeckt in dem wunderschönen Foyer – eine Slum-Ratte in einem Haus, das für einen König gemacht zu sein schien. Fast hätte sie über die Absurdität der Situation laut gelacht.

Einen Moment später kehrte die Blutmagd ohne ihren Mantel zurück und deutete einen langen, von Kerzen erleuchteten Flur hinunter.

»Hier entlang, wenn es recht ist.«

Marion folgte ihr. Ein Teil von ihr war überrascht, dass die Sicherheitsvorkehrungen an einem Ort wie diesem so nachlässig waren, besonders wenn man die Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden bedachte, die in den letzten Jahren noch einmal stärker geworden waren.

Sie gingen einen breiten Korridor entlang. Die Wände auf beiden Seiten waren mit Zeichnungen versehen: blasse Schatten von angedeuteten menschlichen Körpern, Fresken, die von einer dünnen Schicht Farbe verdeckt wurden. Die Blutmagd führte Marion durch eine Reihe von Fluren, von denen die meisten auf ausladende Innenhöfe hinausblickten, die mit Glas überdacht waren, sodass die Obstbäume und Blumen trotz der Kälte blühen und wachsen konnten. Sie kamen an einem riesigen leeren Salon vorbei, der von einem prasselnden Kaminfeuer erleuchtet wurde, dann an einem Raum, der ein Esszimmer zu sein schien, auch wenn darin keine Stühle standen und der Mahagonitisch fast so groß wie Marion war.

Schließlich hielten sie, nachdem sie eine Treppe im hinteren Teil des Herrenhauses hinaufgestiegen waren, an einer Doppeltür inne.

Wieder wendete sich die Blutmagd Marion zu. »Du wirst nur etwas sagen, wenn man dich anspricht. Wenn dir gesagt wird, dass du gehen sollst, dann wirst du ohne Widerspruch das Haus verlassen. Deine Siebensachen werden neben der Tür auf dich warten.«

Marion nickte.

»Deine Haube.«

Peinlich berührt zog Marion sie sich vom Kopf. Sie öffnete den Mund, um der Blutmagd zu danken, als sich die Tür gerade weit genug öffnete, damit Marion hindurchschlüpfen konnte.

Sie betrat einen düsteren Raum mit einer gewölbten Decke. Die Wände hatten keine Fenster. An ihnen standen Bücherschränke, die so hoch waren, dass sogar ein großer Mann seine liebe Mühe hätte, die obersten Regale zu erreichen. Überall im Raum verteilt, der eine Art Familien- oder Arbeitszimmer zu sein schien, standen Sessel. Sie waren alle unbesetzt.

Neben dem Kamin stand ein Mann und lächelte sie an. »Guten Abend.«

Er war attraktiv und trug einen dunklen Überzieher, der mit Messingknöpfen, die Menschenaugen ähnelten, ausgestattet war. An jedem seiner Finger trug er Ringe aus dickem Metall, die verziert und mit Perlen und Diamanten besetzt waren. Eine Tüllspitze lugte wie Schaum an den Manschetten seines Mantels hervor.

»Hallo«, sagte Marion.

Der Mann griff in seine Westentasche und holte eine kleine Uhr hervor, in der sich das Licht des Feuers spiegelte. Sie tickte so schnell wie das Herz einer Maus, als würde sie die Sekunden in doppelter Geschwindigkeit abzählen. Er blickte einen Moment lang auf ihr Zifferblatt, dann schob er sie zurück an ihren Platz. »Komm ins Licht, damit ich dich ganz sehen kann.«

Marion trat vor und hinterließ eine Spur aus Schnee und Matsch auf dem Teppich.

Der Mann betrachtete sie eingehend, dann deutete er mit einem Nicken auf die Haube in ihrer Hand.

»Das ist ein schöner Hut, den du dort hast. Hast du ihn selbst gestrickt?«

Sie nickte schüchtern. Ihre Begabung, wenn es um Stricknadeln ging, war höchstens lausig.

»Entzückend«, sagte der Mann, und Marion hätte geglaubt, dass er es sarkastisch meinte, wäre da nicht diese aufrichtige Wärme in seinen Augen gewesen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass ein Nachtlord Wärme ausstrahlen konnte. Die Leute aus dem Norden, die sie kennengelernt hatte – viele waren es nicht, das musste sie zugeben –, waren stolz und kühl gewesen, als würden sie sich kaum dazu herablassen können, jemanden aus Prane überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. »Wie ist dein Name?«

»Marion Shaw.«

»Alter?«

»20.«

»Ich hätte dich jünger eingeschätzt«, sagte er. »Nun ja, mein Name ist Thiago, und ich bin ein Vorkoster. Ich bereise die ganze Welt, um nach möglichen Blutmägden zu suchen, die ich dann in den wichtigen Häusern des Nordens unterbringe. Man könnte mich so eine Art … Feinschmecker nennen. Ein Blut-Sommelier, wenn man so will.«

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Marion, weil sie glaubte, dass man so etwas sagte, um eine Stille zu durchbrechen.

Thiago lächelte. »Sag mir, Marion, was führt dich hierher?«

»I-Ich möchte mich für die Stelle als Blutmagd bewerben«, sagte sie ein wenig verdutzt. Sie hatte gedacht, dass dies offensichtlich war.

»Ja, das ist mir bewusst, aber was führt dich hierher? Warum möchtest du eine Blutmagd sein?«

Die Frage erwischte sie kalt. Es gab darauf tausend Antworten, doch sie alle liefen auf eine einfache Wahrheit hinaus: »Ich will nicht in den Slums sterben.«

Thiago zog die Augenbrauen zusammen. »Hast du Familie?«

»Es gibt nur mich und meinen Bruder, und ich schätze, er hätte nichts dagegen, mich loszuwerden.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Sie starben, als ich zehn war.«

Marion merkte, dass dies sein Interesse weckte. »Woran sind sie gestorben?«

»Tuberkulose. Es dauerte keine zwei Wochen, nachdem sie erkrankt waren, bis sie starben.«

»Ich verstehe …« Thiago griff in seine Brusttasche und holte ein Lederetui hervor. Er öffnete es, und Marion sah, dass darin eine Auswahl an Nadeln steckte, vielleicht elf Stück, in unterschiedlichen Längen und Breiten. »Ich bitte alle meine Anwärter um einen kleinen Gefallen.«

»Was soll ich für Sie tun?«

»Bluten«, sagte er und deutete auf die Teetasse, die auf dem Tisch neben einem der Sessel stand. Sie war klein und mit einem Wirrwarr aus nackten Gestalten bemalt, die in einer Art Wald zu tanzen schienen. »Aber natürlich nur, wenn du dazu bereit bist. Ich verspreche dir, es wird nur einen Moment lang wehtun.«

»Also gut«, sagte Marion und nickte. Thiago winkte sie zu sich herüber. Mit drei schnellen Schritten lief sie durch den Raum und streckte ihm ihre Hand ein wenig zögerlich entgegen. Sie hatte geglaubt, dass es ihr leichter fallen würde. Schließlich hatte sie sich noch nie von der Aussicht auf Schmerz einschüchtern lassen. Doch es fühlte sich erschreckend unnatürlich an, sich einem Aderlass hinzugeben, und jeder ihrer Sinne stemmte sich gegen die Vorstellung, sich diesem Mann zu überlassen, diesem Fremden, der nun genau vor ihr stand.

Thiago nahm behutsam ihre Hand und drehte sie um, sodass die Handfläche nach unten zeigte. Dann zog er eine kleine goldene Nadel aus seinem Lederetui. Ihre Spitze verfing sich im Schein des Feuers und schimmerte glänzend. Thiagos Pupillen verengten sich zu katzenartigen Schlitzen, als er die Nadel an die Vene führte, die knapp über dem Knöchel ihres Mittelfingers lag.

Ein scharfer Schmerz strahlte von ihrem Finger über ihre ganze Hand, und dann begann das Blut zu fließen, gerade genug, um den Boden der Teetasse zu bedecken.

Thiago holte einen kleinen Streifen eines roten Bandes hervor und wickelte ihn wie eine Bandage um ihren Finger. Marion sah zu, wie er die Tasse an seine Lippen führte, die Augen schloss, schlürfte und dann schluckte, als würde er einen Stein hinunterwürgen.

Marion beobachtete, wie eine ganze Reihe von Ausdrücken in kurzer Folge über Thiagos Gesicht huschte: Traurigkeit, dann Wut, Entzücken, Schmerz, Vergnügen. Er leerte die Tasse bis zum letzten Tropfen. Leckte sich den Rest von Marions Blut von den Lippen. »In der Tat ein außergewöhnlicher Geschmack.«

»Sie … mögen es?«