How To Kill a Guy in Ten Ways - Eve Kellman - E-Book
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How To Kill a Guy in Ten Ways E-Book

Eve Kellman

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Beschreibung

Millie Masters spielt mit dem Feuer

»Warst du auch schon einmal auf einem seltsamen Date? Kannst du den creepy Typen an der Bar nicht loswerden? Hast du Angst, auf dem Heimweg verfolgt zu werden? Dann melde dich bei M.« Nach einem schrecklichen Date zu viel hat Millie Masters eine Hotline für Frauen ins Leben gerufen, die nachts nicht mehr alleine nach Hause gehen wollen: Message M.

Nachdem Millies Schwester in einer Partynacht vergewaltigt wird, hat Millie außerdem noch ein anderes Ziel: Sie will den Täter finden. Denn sie weiß, dass viele Männer am nächsten Abend einfach weitermachen. Eines Nachts ist die Verlockung, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, zu groß.

Denn M kann auch für Mord stehen ...

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Millie Masters spielt mit dem Feuer »Warst du auch schon einmal auf einem seltsamen Date? Kannst du den creepy Typen an der Bar nicht loswerden? Hast du Angst, auf dem Heimweg verfolgt zu werden? Dann melde dich bei M.« Nach einem schrecklichen Date zu viel hat Millie Masters eine Hotline für Frauen ins Leben gerufen, die nachts nicht mehr alleine nach Hause gehen wollen: Message M. Nachdem Millies Schwester in einer Partynacht vergewaltigt wird, hat Millie außerdem noch ein anderes Ziel: Sie will den Täter finden. Denn sie weiß, dass viele Männer am nächsten Abend einfach weitermachen. Eines Nachts ist die Verlockung, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, zu groß. Denn M kann auch für Mord stehen …

Über die Autorin

Eve Kellman ist Lektorin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Partner und zwei Hunden in Bristol, GB.

Übersetzung aus dem Englischen von Angela Koonen

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:

»How To Kill A Guy In Ten Ways«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2024 by Eve Hall

Translated under licence from HarperCollins Publishers Ltd.

Eve Hall asserts the moral right to be identified as the author of this work.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung des Coverdesigns von © Sarah Foster, HarperCollinsPublishers Ltd 2024

Umschlagmotiv: © Shutterstock.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-7474-1

luebbe.de

lesejury.de

Für meine Sidekicks Rita und Roxy

Nun, tausend Gräuel habe ich begangen,Mit leichter Hand, als tötete ich Fliegen,Und nichts bekümmert mich daran so sehr,als dass ich nicht zehntausend noch begehen kann.

William Shakespeare: Titus Andronicus, 5. Akt, 1. Szene

Prolog

Der erste Mann, den ich getötet habe, war mein Vater.

Doch so weit sind wir noch nicht. Das gehört nicht mal zu dieser Geschichte. Du brauchst darüber nur zu wissen, dass es a) quasi ein Unfall war und er es b) verdient hatte. Wenn du unbedingt mehr über diese leidige Angelegenheit hören willst, dann muss ich sie dir ein andermal erzählen. Denn hier geht es wirklich nicht um ihn, sondern um mich. Und um ein paar Dinge, die ich kürzlich getan habe und die man für »falsch« und »illegal« halten könnte.

Ich habe immer geglaubt, Moral sei eine Grauzone und das Gesetz so oder so interpretierbar. Dennoch würde ich Dinge, wie ich sie getan habe, nicht an die große Glocke hängen. Warum erzähle ich dir dann davon? Erstens, weil du nur eine Tonaufnahme bist, die kein Mensch je hören wird. Hoffentlich. Bis ich selbst mal sterbe. Mich reizt die Idee, ein umfassendes Geständnis aufzunehmen, das nach meinem Tod veröffentlicht wird und alle bis tief in ihr graues Mittelklasseinneres hinein erschüttern wird. Taktlos, ich weiß, aber Ruhm, schlechter Ruf und ein gewisser Fuck-you-Glamour sind genau nach meinem Geschmack, auch wenn ich nicht mehr da sein werde, um sie zu genießen. Doch im Augenblick ist die Sache noch keineswegs vorbei. Die Mission ist nicht abgeschlossen. Ich sollte wohl wirklich nicht zu viel für die Zeit danach planen, solange ich noch mittendrin stecke.

Zweitens erzähle ich dir das, um den Kopf klar zu kriegen. Ich will mich hier nicht schlechtmachen, mein Kopf ist schon ziemlich klar, gemessen daran, was bisher passiert ist. Doch erwachsen wie ich bin, kann ich zugeben, dass die Dinge gestern Abend ein wenig aus dem Ruder gelaufen sind, und darum ist eine Bestandsaufnahme nicht die schlechteste Idee.

Und drittens erzähle ich davon, weil ein paar Leute die Wahrheit verdient haben, wenn alles ans Licht kommt. Also Hallo, künftiges Ich oder liebste Freundin oder wer immer sich das hier anhört. Es ist ein kalter Novemberabend, und ich sitze in meiner Küche, trinke ein Glas teuren Rotwein und zähle meine Sünden. Oder meine Siege, je nachdem, wo man steht.

Also, ich sagte schon, dass es nicht mit meinem Vater angefangen hat. Wahrscheinlich fing es mit Karl an. Oder vielleicht mit Katie. Doch wenn ich die Augen schließe und darüber nachdenke, sehe ich die beiden jungen Mädchen auf der Rückbank meines Wagens. Ihre kurzen Röcke und wie sie sich nach dem Stress vor Lachen schütteln. Ich hatte oft junge Mädchen auf meiner Rückbank (nicht, was du jetzt denkst, beruhige dich). Aber das Bild dieser beiden hat sich bei mir eingebrannt. Ja, da sind auch noch Roses lange Haare auf dem weißen Kissen, Katies Arm über der Bettdecke, der Liverpool-Schal an der Vorhangstange. Aber eigentlich fing es wohl mit den beiden jungen Mädchen in meinem Auto an. Und deshalb soll es auch für dich damit beginnen.

Zu allem anderen kommen wir noch.

1

Ich habe nie so unschuldig ausgesehen, nicht mal, als ich noch klein war. Da bin ich mir sicher. Die jungen Mädchen schnattern auf dem Rücksitz, aber ich bin mit den Gedanken nur bei ihren zu kurzen, zu billigen Röcken und ihren nackten, künstlich gebräunten Gänsehautbeinen. Die Blonde trägt Glitzerlidschatten.

Es regt mich auf, dass sie sich für den Abend aufgebrezelt haben, und anstatt unbeschwert abzutanzen und dann im Nachtbus Pommes mit Käsesoße zu essen, müssen sie um zehn von einer eins achtzig großen Aufpasserin im Nissan Micra nach Hause gefahren werden. Das regt mich nicht nur auf, das macht mich wütend!

»Wir wären vielleicht doch mit ihm fertig geworden, Rach«, sagt die Brünette und stupst ihre Freundin an. »Ich hätte ihn mit dem Absatz erstechen können!« Sie mimt einen brutalen Tritt mit einem imaginären High Heel und wiederholt das, bis ihre Freundin lächelt. Bald schütteln sie sich vor Lachen, aber dann rinnen Tränen. Das macht die Erleichterung. Kaum ist man in Sicherheit, braucht es nur einen winzigen Scherz, und der Körper lässt das aufgestaute Adrenalin als hysterisches Gelächter ab. Sie sitzen noch immer näher beieinander, als sie es normalerweise täten, weil eine bei der anderen Halt sucht.

Rachel ist es, die mir die SMS geschrieben hat. Sie wiegt höchstens fünfzig Kilo und wirkt wie ein verletztes Vögelchen, das auf dem Weg zum Tierarzt auf meinem Rücksitz kauert. Ihre Haare sind strohtrocken, weil sie sie selber färbt; sie stehen kraus um ihr kleines Gesicht ab wie eine Löwenmähne. Ihre namenlose Freundin ist robuster, sowohl körperlich als auch im Benehmen, und übernimmt mit Freuden die Rolle des Aufmunterers.

Sorgt sie bei anderen immer für bessere Stimmung? Macht Witze in miesen Situationen? Beseitigt den Schlamassel ihrer Freunde und lächelt dabei, um niemanden zu erschrecken? Menschen wählen ihre Gruppenrolle lange vor dem Erwachsenwerden; später ist es schwer, sich neu zu erfinden. Wenn diese beiden eines Tages auseinanderdriften, wird die Brünette eine andere Freundin finden, die sie aufmuntern kann.

Als hinter mir ein Audi hupt, fällt mir auf, dass sich meine Geschwindigkeit auf Kriechtempo verringert hat, weil ich die Mädchen beobachte. Okay. Schon gut, du Arschloch. Ich gebe sanft Gas und halte mich trotz der leeren Straße strikt ans Tempolimit. Der Fahrer lässt ungeduldig den Motor aufheulen, weil er drei kostbare Minuten früher ankommen will.

Mit dreizehn hatte ich mal eine Katze, die von einem Audi angefahren wurde. Das klingt fast, als hätte das Auto selbstständig gehandelt, also noch mal: Ich hatte mal eine Katze, die ein Mann mit seinem Audi angefahren hat. Und dann fuhr er einfach weiter, obwohl mein schöner getigerter Kevin Bacon zuckend auf dem Asphalt lag. Ich sah ihn von meinem Zimmerfenster aus. Den Anblick werde ich nie vergessen. Hinterher spazierte ich mit meinem Taschenmesser durch das Viertel und zerkratzte im Vorbeigehen alle Audis, die ich finden konnte. Ich wette, der Typ aus der Bar, in der die beiden Mädchen waren, fuhr auch einen verdammten Audi.

Mein Handy, das in der Plastikhalterung am Armaturenbrett steckt, sagt mir, dass ich die nächste links abbiegen muss und dann mein Ziel erreicht habe. Als ich an den Bordstein fahre, bedanken sich die Mädchen überschwänglich. Die Brünette legt unbeholfen einen Arm um mich, bevor sie aussteigt. Als die beiden die Haustür hinter sich geschlossen haben, atme ich auf und lehne die Stirn aufs Lenkrad.

Was für Scheißkerle diese Männer sind! Sie laufen da draußen herum wie du und ich, aber hinter der Fassade sind sie grausame, machthungrige Schweinehunde und vergreifen sich an Frauen, die eigentlich zu jung sind, um so spät noch draußen zu sein. Auf die Wehrlosen haben sie es abgesehen. Auf junge Mädchen mit Glitzerlidschatten oder auf Katie, meine Schwester.

Ich zügle meine Wut, denn in dieser Gesellschaft wird das von Erwachsenen verlangt – besonders von einer Frau. Es dauert einen Moment, bis ich mich ausreichend gezügelt habe. Ich öffne die Augen und nehme das Handy aus der Halterung. Als ich Google Maps schließe, erscheinen auf dem Display etliche Nachrichten.

Scheiße.

Sechs verpasste Anrufe und neun WhatsApps, fast alle von Nina. Es ist neun Uhr durch, und ich hätte mich vor über einer halben Stunde mit ihr treffen sollen. Die Zeit fliegt, wenn man auf einer Rettungsmission ist.

Während ich auf das Display schaue, leuchten ihr Name und ihr Foto auf. Ich gehe ran, weil ich nicht feige bin, aber auch, weil Nina der verständnisvollste Mensch ist, den man sich wünschen kann.

»Oh! Da ist ja die wundervolle verschollene Millie! Wie schön, dass du rangehst!«, sagt sie mit ihrer rauen, dunklen Stimme, die von Sarkasmus trieft. Sie ist anscheinend zu Fuß unterwegs, denn ich höre den Wind an ihrem Mikro.

»Nina, ich wollte mich gerade auf den Weg machen und dann …«

»Lass mich raten. Dann kam eine Message-M-Nachricht rein?« Sie seufzt. Nina ist nie lange sauer. Vielleicht ist sie deshalb noch mit mir befreundet. Sie ist eine von den Guten. Eine, die alarmierend schnell verzeiht und vergisst. Sie ist voller Widersprüche, zum Beispiel ist sie eine furchterregend effiziente Anwältin und ein totaler Schatz mit einem überraschenden Hang zur Naivität. »Ich weiß, es ist wichtig. Ich weiß, du willst helfen. Aber du hast mich versetzt. Mal wieder.«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich sitze im Auto und kann sofort da sein. Ich weiß zwar nicht genau, wo ich bin, aber es ist wahrscheinlich nicht so weit weg.«

»Bemüh dich nicht. Ich bin schon auf dem Heimweg.« Ich höre das Rasseln in ihrer E-Zigarette und rieche praktisch das Wassermelonenaroma. »Wir reden morgen. Alles gut, ehrlich.«

Sie legt auf. Ich sehe mein Spiegelbild in der Windschutzscheibe und fühle mich plötzlich erschöpft. Um anonym zu bleiben, habe ich die Kapuze hochgezogen und eine Sonnenbrille aufgesetzt, die um diese Uhrzeit natürlich überflüssig ist, aber mein halbes Gesicht verdeckt. Nina ist nicht sauer, sie ist enttäuscht. Autsch. Doch wenn ich mich entscheiden muss, ob ich jemandes Gefühle verletze oder jemanden körperlich zu Schaden kommen lasse, dann sind mir die verletzten Gefühle nicht so wichtig. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.

Das Display leuchtet wieder auf. Die Pflicht ruft.

Ein Samstagmorgen ist für vieles gut – langes Ausschlafen, starken Kaffee, langsamen Sex, schnelle Joggingrunden. Da ich Single bin, kriege ich bis zum Besuch bei meiner Schwester alles hin außer Nummer drei. Auf dem kleinen Sofa im Garten trinke ich einen Schluck von meinem Espresso – heiß und schwarz – und schließe die Augen. Das Koffein weckt mich aus der dumpfen Mattigkeit, die ich jeden Morgen empfinde. Gestern Abend ist es wieder spät geworden. Nach einer weiteren Nachricht – eine Frau meinte, dass ihr heimlich jemand folgte – machte ich noch mal kehrt, um die Anruferin zu suchen und mitzunehmen.

Die Message-M-Hotline ist nicht mein eigentlicher Job. Oder genauer gesagt, nicht der Job, mit dem ich Geld verdiene. Aber sie ist eben doch mein eigentlicher Job, denn ich definiere mich darüber.

Aus einer Wut heraus entstanden, hat sie vor knapp einem Jahr klein angefangen und ist lawinenartig angewachsen. Inzwischen kleben in den Toiletten sämtlicher Bars und Pubs der Gegend meine Handzettel:

Hast du gerade ein mieses Date?

Wirst du den gruseligen Typen an der Bar nicht los?

Hast du Angst, dass dir einer nach Hause folgt?

Message M.

Und wenn mich jemand braucht, wie könnte ich da nicht zur Verfügung stehen? Wenn verängstigte junge Frauen mich per SMS um Hilfe bitten, soll ich dann sagen: Entschuldigt, ich trinke gerade Cocktails mit Nina, aber viel Glück!? Nein, das kommt nicht infrage. Ich habe diesen Frauen gegenüber eine Verantwortung. Sie sollen nicht so enden wie Katie.

Doch samstagmorgens, wenn alle Nachtschwärmer ihren Rausch ausschlafen, herrscht eine herrliche Ruhe. Wenn nur dieser idiotische Sean nicht wäre, der im Haus nebenan wohnt. Ich schlage mein Buch auf – Stephen Kings Misery – und hebe die Kaffeetasse zum Mund, als ich das gefürchtete Geräusch höre: sein Räuspern.

»Hallo, junge Millie.«

O Gott, bitte, bitte nicht.

»Sean. Hi.«

»Mich dünkt, Sie entspannen sich an diesem schönen Morgen!«

Wie gern würde ich die Welt von allen Mich-dünkt-Sagern befreien. Und zwar ganz brutal.

»Ja. Samstagmorgens ist es so friedlich und still.« Es grenzt an ein Wunder, dass er den Sarkasmus nicht hört, aber da ich nie freundlicher zu ihm bin, nimmt er wohl an, dass ich generell so klinge.

»Ah, genießen Sie das, solange es noch geht! Wenn bei Ihnen erst mal ein paar Kinderchen herumlaufen, ist es mit friedlich und still vorbei!«

Ich würde die Welt auch liebend gern von allen befreien, die »Kinderchen« sagen und andere Leute einfach auf ihre Fruchtbarkeit ansprechen. Sean ist wie der Mittelpunkt meines Mordlust-Mengendiagramms. Wenn seine glänzende Glatze und die obere Hälfte seines fetten kleinen Gesichts über die Mauer ragen, sieht er aus wie die lächelnden Gartenzwerge im Gartencenter, die von Gott-weiß-wem gekauft werden. Seine Nase ist knollig, seine Schweinsäuglein gucken wohl freundlich, doch diese aufdringliche Freundlichkeit treibt mich in den Wahnsinn. Er ist einsam, schon kapiert. Aber das ist sein Problem, nicht meins.

Während ich überlege, ob ich ihn abwimmeln kann oder ob ich aufgeben und nach drinnen gehen soll, leuchtet mein Handy auf. Eine Nachricht von Nina. Außer meiner Schwester ist Nina Lee der einzige Mensch auf Erden, der mir am Herzen liegt und auf dessen Meinung ich etwas gebe. Und darum hatte ich ihr vorhin geschrieben und mich wegen gestern Abend entschuldigt.

Hey, Schatz! Schon okay. Ich war sowieso ziemlich müde, also hat es nicht geschadet, dass ich früh im Bett war.

Die gute alte Nina.

Seans Geplapper schwebt noch immer über die Gartenmauer. Er lässt sich jetzt über seine Enkel aus, die er vorgibt zu lieben, die das aber offensichtlich nicht erwidern, denn sonst würden sie sich ab und zu bei ihm blicken lassen.

»Callie war die viel bessere Schwimmerin, das kann ich Ihnen sagen. Aber die pummelige kleine Inderin hat gemogelt. Ich habe gesehen, dass sie sich vor dem Anpfiff abstieß. Ich sagte zu Callie, lass dir das …«

Du kommst aber def morgen zum Lunch, ja? Angela

Scheiße. Ich bin Sonntags praktisch immer zum Lunch verabredet, mit Nina und unseren zwei Freundinnen aus dem Abschlussjahr, Angela und Izzy, die ich zur Zeit beide ein bisschen nervig finde. Ich hatte gehofft, diese Woche verschont zu bleiben, aber nachdem Nina mir verziehen hat, kann ich jetzt nicht absagen.

Klar!

Schließlich sollst du Hugh endlich mal kennenlernen!

Doppelte Scheiße. Ich habe es bisher vermieden, Ninas neuesten Freund kennenzulernen, denn offen gestanden klang es so, als wäre er ein Blödmann.

»Aber ihre verdammte Lehrerin wollte das nicht sehen. Das konnte ich nicht dulden. Also ging ich direkt zu ihr und sagte …«

Ich bestelle einen Tisch in dem Pub bei dir um die Ecke. Um 2 im Spotted Cow

»So eine Frechheit! Immerhin zahle ich ihr Gehalt! Also sagte ich zu ihr …«

Es klirrt laut, weil ich aufgesprungen bin. Mein Körper hat offenbar entschieden, dass er von Seans Geschwätz genug hat. Meine Kaffeetasse – eine hübsche, die Katie mir geschenkt hat – ist auf den Pflastersteinen in zwei Teile zerbrochen. Ich setze das auf die Liste seiner Vergehen, die ich führe, seit ich vor elf Jahren in das Haus eingezogen bin.

»Verzeihung, Sean«, sage ich mitten in seinen Satz. »Ich muss los.« Ich flitze ins Haus, bevor er mich fragen kann, wieso.

Ohne mich weiter aufzuhalten, ziehe ich mir die Turnschuhe an und streichle noch mal kurz Shirley Bassey, meine Norwegische Waldkatze. Dann verlasse ich das Haus und halte auf der Türstufe inne, um den Lauf in der Strava-App zu starten.

Während ich das Tempo erhöhe und die frische Luft über meine Haut streicht, verfliegen die restliche Morgenträgheit und mein Ärger über Sean. Ich treibe mich härter an.

Doch die Glitzermädchen vom gestrigen Abend gehen mir noch durch den Kopf. Ein Typ war ihnen von einer Bar zur anderen gefolgt und wollte kein Nein akzeptieren. In der letzten – einer schmuddeligen All Bar One voller abgestumpfter Servicekräfte und betrunkener Kunden – wurde er übergriffig, und die blonde Rachel sah die kommende Aggression in seinen Augen aufscheinen.

»So ein unheimlicher Typ«, meinte sie am Telefon. »Als … als könnte er alles tun, was er will, wissen Sie?«

Ja, ich weiß. Aus eigener Erfahrung, und ich habe ähnliche Beschreibungen immer wieder gehört. Als ich die Bar betrat, war er noch da und streichelte sein Glas mit seinen fetten Fingern. Er trug ein glänzendes blaues Hemd und zu enge Jeans, und seine Glatze schimmerte rot von der Barbeleuchtung. Er sah aus wie eine empfindungsfähige Kartoffel, nur ohne die Empfindungsfähigkeit. Ich kippte ihm einen großen rosa Cocktail auf den Schoß und drängte Rachel und ihre Freundin zu meinem Micra, während er hektisch nach einer Serviette griff. Das ist schnell und einfach gelaufen, aber die Schutzlosigkeit der jungen Mädchen hat bei mir Eindruck hinterlassen.

Hinter der nächsten Ecke biege ich auf den Fußweg ab und habe das Straßenpflaster hinter mir. Der Weg steigt stetig an, das weiche Geräusch der Schritte auf dem Erdboden beruhigt meinen Puls und drängt die Erinnerung an ihre erschrockenen Augen und dünnen Glieder allmählich aus meinem Kopf.

Oben auf dem Hügel lichten sich an einer Seite die Bäume und geben den Blick auf die Cliftoner Hängebrücke frei, die herrlich und grandios den Avon überspannt. Ich erlaube mir eine kurze Pause, stütze die Hände auf die Knie und beuge mich nach vorn, um zu verschnaufen. Ein Mann mit buschigem Bart und zu enger Weste joggt in der Gegenrichtung auf mich zu, und ich trete an den Wegrand, um ihn vorbeizulassen. Er lächelt und grüßt mit zwei erhobenen Fingern, was mir den Magen umdreht. Das ist das Erkennungszeichen der Tech-Bros.

Zum Glück hat er nicht angehalten, um ein paar Worte zu wechseln, denn er war mir unheimlich. Daher mache ich kehrt und laufe den Weg zurück. Erneut erhöhe ich das Tempo, damit meine Gedanken verstummen. Manchmal brauche ich Stille, weil ich verarbeiten muss, was sonst unter dem Lärm vor sich hin brodelt. Dem konstanten, unerträglichen Lärm anderer Leute.

Doch egal, wie schnell ich heute jogge und wie sehr mir der Schweiß von der Nase tropft und den Rücken hinunterrinnt, ich kann nicht aufhören, an die junge Frau in meinem Wagen zu denken, die mich um zwei Uhr früh mit Dank überschüttet hat, weil sie durch mich dem betrunkenen Anzugtypen entkommen ist. An die schlaksigen Sechzehnjährigen, die erleichtert über den Glatzkopf lachten. An die vielen, vielen Hilferufe und Bitten um Rat, die ich im Lauf dieser Woche, im Lauf dieses Monats bekommen habe.

Und all das wegen Katie. Meiner geliebten Schwester.

2

Ich fahre langsam zum Haus meiner Mutter. Mittag ist vorbei, und je näher ich komme, desto langsamer fahre ich. Wenn ich so weitermache, werde ich nie ankommen. Das ist einfache Mathematik. Dachte ich zumindest. Es hat jedenfalls nicht funktioniert, denn ich kann die verdammte Straße jetzt sehen und parke tatsächlich vor der Hausnummer 112 am Ladbroke Drive. Tja, nächstes Mal probiere ich es mit einer anderen Taktik.

Ich bin nicht hier, um meine Mutter zu besuchen, doch es ist schwierig, eine Begegnung zu vermeiden, wenn ich Katie sehen will. Sie ist außer Nina der einzige Mensch, den ich wirklich, wirklich liebe und für den ich alles tun würde. Da ich zehn Jahre älter bin als sie, ist es meine Aufgabe, sie ein Leben lang vor Schaden zu bewahren, was mir zuletzt allerdings nicht gelungen ist.

Katie war immer die Hübsche in der Familie, auch die Intelligentere. Man könnte meine, dass ich einen Groll gegen sie hege, weil sie im Genpool im Tiefen schwimmt, während ich am flachen Ende plansche. Doch so war es nie. Als Katie an der Durham anfing, war ich ungeheuer stolz. Meine kleine Schwester schafft es aus diesem Loch von einem Zuhause an eine Spitzenuni. Unvergesslich ihr Gesicht, nachdem sie den Brief geöffnet hatte. Zuerst wurde sie weiß, dann rot. Wir Masters-Mädchen sind beide schlau, aber im Gegensatz zu mir, hat sie ihren Verstand eingesetzt und sich angestrengt. Sie hätte etwas aus sich gemacht. Und er hat ihr das genommen.

Die Haustür besteht aus Plastik, und ich habe sie immer gehasst. Selbst in ihrer Glanzzeit sah sie billig aus, und inzwischen ist sie nicht mehr weiß, sondern grau. Die Ziffern der 112 sind noch dieselben wie eh und je, die 2 rostet. Ich öffne die Tür mit meinem Schlüssel und rufe beim Eintreten: »Hallo? Hier ist Millie! Katie?«

Meine Mutter kommt rechts von mir aus der Küche. Nach ihr habe ich nicht gerufen, aber gut.

»Hi. Wie geht es ihr?«

»Ach, ganz gut. Ist nur ein bisschen müde, denke ich. Und wie geht’s dir, Liebes?«

Ein bisschen müde? Meine Mutter ist eine Meisterin der Verharmlosung, und deshalb stimmt mich die Antwort nicht hoffnungsvoll.

»Hat sie heute schon was gegessen?«

»Hm? Ich bin mir nicht sicher, Liebes. Ich habe den Wasserkocher eingeschaltet, falls du Tee möchtest.«

»Ich gehe zu ihr nach oben.«

Im Haus hat sich seit Jahren nichts verändert. Nicht, seit mein Vater gestorben ist und meine Mutter sich mit gelber Farbe ausgetobt hat, um »mehr Heiterkeit reinzubringen«. Die Farbe war billig, und daher sehen die Wände jetzt aus wie die Schale einer gewachsten Zitrone. Sie scheint einem auf die Haut, sodass man gelbsüchtig aussieht. Wenigstens ist das Haus sauber. Sie war schon immer reinlich, meine Mutter. Sie achtet auf jedes Stäubchen und ignoriert den Sandsturm.

Mein Zimmer ist anders. Niemand hält sich mehr darin auf, einschließlich mir. Während Mum alles andere in Gelb tauchte, habe ich meine Wände strahlend weiß gestrichen, rubinrote Gardinen aufgehängt und neue Bettwäsche gekauft. Es hat nichts gebracht, ich kann das Zimmer trotzdem nicht ertragen.

Vor Katies Tür halte ich inne und wappne mich, dann rede ich in schmeichelndem Ton, als wollte ich eine Katze anlocken. Ich starre auf meine Stiefel und den sauberen, abgetretenen Teppichboden und warte auf ein Lebenszeichen.

Nichts. Neuer Versuch.

»Katie? Hier ist Mill. Darf ich reinkommen?«

Nach einer Ewigkeit höre ich von drinnen ein Gemurmel, das ich als Ja interpretiere, also drehe ich den Knauf und drücke behutsam die Tür auf. Meine geliebte Schwester liegt im Bett und lugt unter der Decke hervor wie ein im Winterschlaf gestörtes Murmeltier. Es wäre lustig, wenn es einem nicht das Herz bräche.

Katie gibt sich Mühe und schiebt die Decke ein Stück weg, blinzelt heftig und stemmt sich auf die Ellbogen. Das ist bei Frauen tief verwurzelt, dieser Drang, sich Mühe zu geben, egal wie die Umstände sind. Sie können blutend auf der Straße liegen, weil ein Sattelzug sie gestreift hat, und machen sich trotzdem Gedanken, ob sie am Morgen präsentable Unterwäsche angezogen haben. »Ich hätte mir heute mehr Mühe geben müssen«, dürfte der letzte Gedanke vieler sterbender Frauen sein.

Meine Schwester lächelt selten, daher fühle ich mich geehrt, als sie mich ansieht und die Mundwinkel hochzieht.

»Hi, Mills. Du siehst fantastisch aus.« Sie setzt sich auf und lehnt sich an das Betthaupt. »Wie spät ist es? Zu blöd, dass ich noch mal eingeschlafen bin.« Sie blickt zur Uhr und wird rot. »Scheiße, es ist ja fast eins. Tut mir leid. Ich bin unmöglich.«

Ich weiß das, und sie weiß, dass ich es weiß. Und wir wissen beide, dass damit nicht nur das lange Schlafen gemeint ist. Aber ich rolle die Augen und schnalze mit der Zunge, und sie zuckt entschuldigend mit den Schultern. So tun wir beide, als wäre es ein Ausrutscher. Denn so tun als ob ist netter, und alles erscheint normal. Tatsächlich ist genau diese Situation für uns normal.

Ich setze mich ans Fußende, und wir quatschen über meinen Alltag und lassen ihren vollständig aus. Da mein Alltag ereignislos verläuft – ausgenommen mein Abendjob, von dem sie nichts weiß –, ist die Unterhaltung nicht besonders fesselnd. Trotzdem schätze ich diese Momente mit ihr. Jedes Mal, wenn sie etwas zu ihrer Zukunft sagt – »Das würde mir gefallen« oder »Vielleicht mache ich das« – oder wenn sie etwas Witziges von sich gibt, schlägt mein Herz höher, nicht unbedingt vor Freude, sondern weil ich hoffe.

»Ich kann das bei Rick für dich rahmen, wenn du willst.« Ich deute mit dem Kinn auf das Foto, das auf ihrem Nachttisch liegt und das ich vorher noch nie gesehen habe. Sie wird wieder rot.

»Nein. Aber danke.«

Obwohl es liegt, kann ich sie und ihre zwei besten Schulfreundinnen darauf erkennen. Ich frage mich, ob die sie noch besuchen oder ob sie das mittlerweile aufgegeben haben. Auf dem Foto hat Katie glänzende lockige Haare und runde Wangen. Einen Arm um die Taille ihrer Freundin gelegt, grinst sie in die Kamera. Ich versuche wegzusehen, kann den Blick aber nicht abwenden.

»Wie läuft es bei der Arbeit?«, fragt sie.

»Würg. Du weißt schon. Rick ist begeistert von der neuen Glassorte, die reingekommen ist und die genau wie die bisherige aussieht. Glas ist einfach Glas, oder? Es ist durchsichtig. Praktisch ein Nichts. Das ist der Zweck. Aber, hey, das ist die Arbeit. Ich muss ja meine Rechnungen bezahlen.«

Das Klischee ist mir peinlich, zumal mir gerade einfällt, dass ich mal wieder vergessen habe, die Gasrechnung zu begleichen. Zum Glück gehört das Haus, in dem ich lebe, mir. Mein Onkel Dale hat mir geholfen, es mit meinem Anteil aus Dads Lebensversicherung zu kaufen. Mein mageres Gehalt deckt also meine monatlichen Kosten, und es bleibt sogar noch etwas übrig, das ich spare. Trotzdem vergesse ich regelmäßig, Rechnungen zu bezahlen, einfach weil das so langweilig ist.

»Zwischen nichts und nichts können Welten liegen«, sagt Katie. Die unerwartete Schwere dieser Aussage lässt uns beide innehalten. »Aber«, fährt sie lächelnd fort, »hattest du nicht überlegt, einen Kurs zu belegen? Neulich mal … zu Weihnachten? Du willst doch nicht ewig bei Picture This bleiben, oder? Mit Rick als Chef?«

Tagsüber rahme ich Bilder. Das ist kein glamouröser Job, klar. Ich habe Abitur gemacht, aber nicht studiert. Ich wollte für meine Schwester da sein, bis sie alt genug wäre, um auf eigenen Beinen zu stehen. Daher habe ich nach meinem achtzehnten Geburtstag das Haus gekauft und zur Überbrückung in dem Rahmenatelier um die Ecke angefangen. Und da bin ich hängen geblieben.

Teilweise mag ich diese Arbeit. Trotz all der scheußlichen Fotos von Schwangeren auf Wiesen und der sentimentalen Abschlussballbilder geht es in meinem Job manchmal, wenn auch wirklich nur manchmal darum, etwas Schönes noch schöner zu machen.

Sehr selten bekomme ich mal ein Gemälde, das mir den Atem raubt, oder eine Fotografie, die in meinem kalten Herzen etwas berührt, und noch seltener kommt es vor, dass der Kunde, der es mir auf den Tisch legt, nicht den billigsten, dünnsten Kiefernrahmen nimmt, sondern einen soliden, zeitlosen auswählt. Mahagoni oder polierte Eiche oder einen mit vergoldeter Schnitzerei. Für solche Tage lohnt es sich.

»Ich bin da erst mal zufrieden, Kate. Ehrlich, das ist okay.«

»Das ist doch nicht wegen … Du musst nicht …«

»Katie. Der Job gefällt mir. Hör auf.«

Bei meinem strengen Ton macht sie sich kleiner. Darum ringe ich mir ein Lächeln ab und sage: »Ich habe dir noch gar nicht das Neueste von Gina erzählt.« Nachdem wir vierzig Minuten lang über die Probleme und Sorgen meiner nervigen Kollegin gesprochen haben, kann Katie die Augen kaum noch offen halten. Das ist vielleicht ganz gut. Sie würde sich schuldig fühlen, wenn sie sähe, dass ich ihre Müdigkeit bemerkt habe. Schuldgefühle sind auch typisch für Frauen – sie fühlen sich schon fürs Müdesein schuldig. Ich habe mal Nina im Schlaf angestoßen, und sie flüsterte automatisch »Entschuldigung«.

»Okay, ich muss los. Ich treffe mich mit Nina.« Das ist eine Notlüge. In Wirklichkeit muss ich mich ein paar Stunden entspannen, bevor der Samstagabendandrang auf meinem Handy losgeht.

Katie hustet und zittert wie bei einem Schwächeanfall. Als ich mich zu ihr hinunterbeuge und sie umarme, fühlt sie sich an wie Haut und Knochen. Es schnürt mir die Brust zusammen. Kaum habe ich mich aufgerichtet, sieht sie aus, als wäre sie schon im Halbschlaf und wartete nur darauf, dass ich gehe. Mit aufgesetztem Lächeln und feuchten Augen verlasse ich das Zimmer.

»Bye! Ich ruf dich an, okay? Hab dich lieb.«

Ich schließe die Tür und bleibe im Flur stehen, um die Augen zu schließen und die Tränen zurückzudrängen. Als ich sie öffne, leuchtet mich das Gelb an. Unpassend heiter. Und plötzlich verwandelt sich meine Trauer in kalte Wut.

Katie lebt seit neun Monaten praktisch ausschließlich in ihrem Zimmer und verlässt es nur, wenn sie unbedingt muss. Sie kam zurück von ihrem ersten Semester an der Durham und blieb. Ich bin nicht blöd, ich weiß, dass sie depressiv und gefährlich dünn ist. Ich weiß nur nicht, was ich dagegen tun kann.

Ich weiß allerdings, wodurch das angefangen hat.

Es passierte nach dem schönsten Weihnachtsfest, das wir je hatten. Katie hatte jede Menge zu erzählen – über ihre Vorlesungen und ihre schmuddelige Studentenbude und ihre neuen Freundinnen. Sie wirkte größer, sprudelte über von all den Neuigkeiten, die das Leben ihr brachte. Am Weihnachtsabend gab es einen Moment, da dachte ich, es sei Zeit für mich, mit meinem Leben etwas anderes anzufangen, nachdem sie in ihrem ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte. Vielleicht den Werbetexter-Lehrgang machen, mit dem Nina mir ständig in den Ohren lag.

Dann ging sie am Silvesterabend aus, während ich die Nacht mit Nina, Angela und Izzy im Pub verbrachte. Wir prosteten uns bestens gelaunt ins neue Jahr, und dabei kam es zur Katastrophe. Was trank ich gerade, als es passierte? Waren wir da schon beim Tequila angelangt? Passierte es, während ich Angela über dem Klo die Haare im Nacken zusammenhielt? Während ich mit Nina im Raucherbereich die Welt in Ordnung brachte? Hatte ich da gerade die teure Flasche Sekt bestellt, die ich dann umstieß und verschüttete?

Du weißt, worauf ich hinauswill. Während sich all das abspielte, wurde Katie überfallen. Also, um es beim Namen zu nennen: Sie wurde vergewaltigt. Die Leute scheuen sich, das auszusprechen, scheuen die Gewalt des Geschehens. Angegriffen, überfallen, bedrängt – das sagt sich viel leichter als das wahre Wort. Katie, meine kleine Schwester, wurde an Silvester vergewaltigt, und jetzt ist sie eine Gefangene in ihrem Zimmer.

Über Nacht schrumpfte sie in sich zusammen. Aus der überschäumenden, intelligenten, fröhlichen jungen Frau wurde eine graue Maus, die bei jedem Geräusch erschrickt und nur noch Haut und Knochen ist.

Ich war nicht daran schuld. Sie selbst auch nicht. Manchmal mache ich ihren Freundinnen Vorwürfe, weil sie nicht auf sie aufgepasst haben, doch mir ist klar, dass sie ebenfalls nicht schuld sind. Er allein ist daran schuld. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich mich jeden Tag schuldig fühle, weil ich nicht da gewesen bin, weil ich meine Schwester nicht beschützt habe – das Einzige, was mir wirklich wichtig war.

Seitdem bemühe ich mich, andere Frauen zu beschützen. Vielleicht ist das eine Form der Buße, aber ich bin keine Psychologin und nicht an der Erkenntnis interessiert, warum ich etwas Bestimmtes tue. Ich weiß nur, dass ich darin versagt habe, Katie vor Schaden zu bewahren. Aber immerhin habe ich, während sie in ihrem Zimmer vegetiert, erfolgreich viele andere Frauen davor bewahrt.

Von einer Woche zur anderen habe ich gehofft, dass Katie ins Leben zurückfindet. Stattdessen zieht sie sich immer mehr in sich selbst zurück. Eines Tages wird sie ganz verschwunden sein.

Es gelingt mir, aus dem Haus zu schlüpfen, ohne meiner Mutter zu begegnen, doch ich sehe ihr enttäuschtes Gesicht am Fenster, als der Motor anspringt.

Was Katie braucht, ist Gerechtigkeit. Und genau die bleibt ihr bislang versagt.

3

Nina hat einen furchtbaren Geschmack, was Männer betrifft. Der letzte Freund, den ich kennenlernte, hat fast den ganzen Abend von seinem neuen BMW geschwärmt und keine einzige Runde spendiert. Es juckte mich in den Fingern, ihm mit seiner Krawatte die Luft abzuschnüren.

Nachdem ich mich entschuldigt und verabschiedet hatte, sah ich vor dem Pub den BMW parken und fuhr mit meinem Hausschlüssel an der glänzenden blauen Tür entlang – alte Gewohnheiten halten sich hartnäckig.

Aber ich war Nina etwas schuldig, und so habe ich zugestimmt, am Sonntag um zwei zum Lunch im Spotted Cow zu erscheinen. Gestern Abend ist es bei Message M für einen Samstag erstaunlich ruhig gewesen, aber ich bin trotzdem erst gegen drei ins Bett gekommen. Heute Morgen habe ich mich gezwungen, eine Runde zu joggen, um wach zu werden, und dabei immer wieder aufs Handy geschaut, weil ich auf eine Planänderung hoffte. Ich würde manches geben, um mit meiner besten Freundin allein zu essen und nicht in meiner kostbaren Freizeit diesen Hugh Chapman anlächeln zu müssen.

Schlecht gelaunt schneie ich bei Picture This rein – »dem freundlichen Rahmenatelier in Ihrer Nähe« –, um meinen Gehaltsscheck abzuholen, bevor ich in den Pub gehe. Ich lehne mich an den Tresen und warte, dass Rick damit zurückkommt. Dabei entdecke ich einen Haufen verstaubter Rahmen, die er wohl aus dem Lager geholt hat. Ich kann nicht anders und nehme mir einen Lappen, um sie abzuwischen.

Rick kommt mit zwei Tassen Kaffee aus der Werkstatt. Er ist ein anständiger Kerl, wenn auch durch und durch langweilig. Er hat einmal einen Roman geschrieben, der von niemandem gekauft wurde, und das kann er nicht verwinden. Er erwähnt ihn mindestens einmal am Tag.

»Ah, nett von dir, Millie. Die sahen wirklich übel aus.« Er reicht mir eine Tasse, und dabei wird mir klar, dass Rick der Mensch ist, mit dem ich die meiste Zeit verbringe. Verdammt deprimierend. »Wie läuft dein Wochenende?«

Ich versuche oft, ihn zu hassen, aber das klappt nicht.

Nicht ganz. Ja, er bezahlt mich mies, aber es ist nicht so, dass ich das nicht vorher gewusst hätte. Er ist weder ein Perverser, noch ein Frauenfeind, noch einer der üblichen Scheißkerle. Er macht mir sogar ab und zu einen Kaffee.

Ich bereue allerdings schon, dass ich den angebotenen Kaffee angenommen habe, denn dazu gehört Small Talk. Um die Interaktion einzudämmen, staube ich weiter die Rahmen ab.

»Ach, ganz okay, nichts Besonderes. Sind die Rahmen neu?« Ich ziehe den auffälligsten heraus und wische den Staub ab. Er ist groß, dick, silberfarben und mit Hunderten Swarovski-Kristallen besetzt. Was für ein Kunstwerk würde man in so ein Ding stecken? Wer den kauft, verwendet ihn höchstwahrscheinlich für seine Boudoir-Fotoshooting-Bilder. Er kostet 225 Pfund.

Die Geschäftsräume sind klein, was Rick aber nicht daran hindert, die größte Auswahl an Rahmen im ganzen Südwesten zu führen. Sie liegen gestapelt auf dem Boden und lassen nur einen schmalen Durchgang von der Tür zum Ladentisch. Jede Woche kommen neue hinzu. Sie nehmen jeden Zentimeter Wandfläche ein, was besonders beunruhigend ist, weil auf den mitgelieferten Bildern meistens ein lächelnder Mann oder eine unterwürfige Frau zu sehen ist. Bei der Arbeit werde ich ringsherum von urteilenden Augen in verblassenden Gesichtern beobachtet.

Während Rick noch über die neue Ware quatscht, kippe ich meinen Kaffee hinunter, verabschiede mich und mache mich auf den Weg zum Pub.

Ich will nicht zu früh kommen, also schlendere ich umher, kaufe schließlich im Oxfam-Laden einen tollen Schal – einen schwarzen mit perlenbesetztem Rand –, und bin dadurch spät dran.

Ich betrachte mich in einer Schaufensterscheibe und lege mir den neuen Schal über die Schultern. Ich bin groß und schlank, aber eher ein Haufen Ecken und Kanten als eine anmutige Gazelle. Meine Haut ist weiß wie Papier, und meine rotblonden Haare, die sich in weichen Locken um die Schultern legen, machen mich auf den ersten Blick attraktiv. Aber bei längerem Hinsehen bemerkt man die harten Linien und einen grausamen Zug wie bei einem Raubvogel. Was nicht fair ist, denn ich würde nicht sagen, dass ich grausam bin. Zumindest nicht zu Menschen, die ich mag. Meine Nase ist schmal und hat einen Höcker, weil sie mal gebrochen war, mein Kiefer ist kantig, und meine Augen sind zu klein, um all das abzumildern.

Mich stört das nicht sonderlich, ich stelle es nur fest. Menschen sind nicht wirklich mein Ding. Interessiert es mich also, ob sie meine Nase mögen? Männer schauen normalerweise nicht lange genug hin, um mehr zu sehen als eine dünne, rotblonde Frau mit ganz passablen Brüsten, also hat das meine Chancen auf ein Date noch nie beeinträchtigt.

Nina ist in fast jeder Hinsicht das Gegenteil von mir: klein mit weichen Kurven, üppigen dunklen Haaren und süßen Pausbäckchen, auf denen die eckige, dickrandige Brille aufliegt. Je länger man sie betrachtet, desto schöner findet man sie. Ihre Eltern sind beide Chinesen. Sie selbst wurde in London geboren und zog als Teenager nach Bristol. Aus alldem ergibt sich ein hübscher Akzent, der sich unmöglich beschreiben lässt. Ich halte mich an monochrome, klare Looks, während sie sich für leuchtende Farben und tiefe Ausschnitte entscheidet, um ihr sagenhaftes Dekolleté zu zeigen. Sie kann einen Raum buchstäblich aufhellen.

Als ich das Spotted Cow betrete, sehe ich sie an einem Ecktisch sitzen und über etwas kichern, was ihr Neuer gesagt hat. Oh, Nina! Sie ist so sehr darauf erpicht, sich in ihre eigene Liebesgeschichte zu verlieben, dass sie sich blindlings hineinstürzt. Angela steht an der Bar und holt gerade eine Flasche Rotwein und fünf Gläser.

»Millie!« Nina winkt und strahlt und versucht dann, ihren Überschwang zu zügeln, um vor Hugh cool zu wirken. »Darf ich vorstellen? Das ist Hugh.« Früher hat sie geraucht wie ein Schlot, daher klingt ihre Stimme wie der Motor eines teuren Autos. Anfang des Jahres ist sie zum Dampfen übergegangen, aber damit nimmt sie nur noch mehr Nikotin auf.

Der Mann, der neben ihr sitzt, mustert mich mit einem schnellen Blick, der mich zum Schaudern bringt, springt dann auf und begrüßt mich mit einem schlaffen Winken, das ich unbeholfen erwidere. Die Liebe ist Ninas Achillesferse, denn deren Verheißungen sind das Einzige, was ihren brillanten Verstand verwirren kann.

Also ist es meine Aufgabe, das Unkraut auszurupfen, das ihr zu nahe kommt, und Platz für etwas Besseres zu schaffen.

Ich umarme Nina und ziehe mir gerade einen Stuhl heran, als Angela in ihrer Chaoswolke am Tisch erscheint und die gesamte Flasche Wein auf vier modisch große Gläser verteilt.

»Millie, meine Süße, ich habe dich seit Wochen nicht gesehen! Nicht seit vorletztem Sonntag, und da war ich beschwipst und kann mich kaum erinnern. Haha!« Noch im Stehen trinkt sie große Schlucke von ihrem Wein. »Prost! Klirr-klirr! Okay, bin gleich wieder da. Ich muss kurz pinkeln. Und dann muss ich euch so viel erzählen.«

Angela ist mit Nina und mir zur Schule gegangen und war früher, ich schwöre, nicht so nervig. Sie redet ununterbrochen und unterbricht sich nur für ihre großen Schlucke, als wären die das lebensrettende Serum gegen kürzlich geschlucktes Gift. Alles, was sie sagt, ist wahnsinnig lustig, aber nur für sie.

Egal. Wir drei kennen uns schon sehr lange, und Angela bleibt meine Freundin trotz ihrer offensichtlichen Fehler.

Manchmal mache ich mir Sorgen, dass in ihrem Kopf zu viel abgeht. Sie ist durchschnittlich intelligent, hat aschblonde krause Haare und milchige Augen, so groß wie Enteneier, für ihr kleines, kinnloses Gesicht also vollkommen überproportioniert. Mag sein, dass sie in Gesellschaft mit anderen nur übermäßig viel redet und trinkt, um ihren Platz in einer Welt zu finden, die sie sonst übersehen würde. Aber das macht es nicht weniger nervig.

Nachdem sie zur Toilette gegangen ist, herrscht eine schweigende Leere, in der Hugh und ich Höflichkeiten austauschen und Nina zu vermitteln versucht. Sie ist nervös, und das macht mir ein schlechtes Gewissen. Deshalb lache ich laut über eine Bemerkung von Hugh und sehe sie mit hochgezogenen Brauen an, um zu zeigen, dass ich beeindruckt bin. Sie versucht, ihr Grinsen zu verbergen, indem sie sich die Speisekarte nimmt und vorschlägt, dass wir unser Essen aussuchen. Auch tagsüber herrscht in diesem Pub ein schummriges Licht, und in der Mitte des Tisches brennt eine Kerze, die eine Illusion von Abendromantik vermittelt, obwohl die Jungs an der Bar Turbojäger kippen. Die Wände sind stimmungsvoll schwarz gestrichen, sodass es aussieht, als wäre das Lokal kürzlich ausgebrannt. Wahrscheinlich hat es ein Vermögen gekostet, diesen Eindruck zu erwecken.

»Also, Millie, was machst du so?«, fragt Hugh. Er nippt an seinem randvollen Glas und verzieht ein bisschen das Gesicht. Offenbar ist er eher ein Biertrinker. Um ehrlich zu sein, überrascht es mich, dass er mir eine Frage stellt, selbst so eine einfallslose. Ninas bisherige Freunde erschienen mir durchweg selbstverliebt.

»Ich rahme. Bilder. Ich arbeite in einem Rahmenatelier.«

»Oh. Ach so.«

Ja, da gibt es wohl nicht viel hinzuzufügen.

»Und du? Klempner, richtig?«

»Eigentlich mache ich alles! Kein Auftrag zu gering und so weiter.«

Hugh gibt sich Mühe, das rechne ich ihm an.

Und er hat dicke Muskeln unter seinem T-Shirt und blonde Haare, die auf eine unbekümmerte Art ungekämmt aussehen, was Nina sicher liebenswert findet. Ich versuche, den neuen Mann im Leben meiner besten Freundin einzuordnen, ohne ihn anzustarren, und bemerke, dass sein kräftiges Gesicht vollkommen symmetrisch ist. Er schenkt mir ein selbstironisches Lächeln.

»Jetzt stellt er sein Licht unter den Scheffel! Er ist unheimlich begabt! Er hat sich einen eigenen Couchtisch gezimmert, Mensch. Ehrlich!« Nina lässt ihre glatten, glänzenden Haare wirkungsvoll über die Schulter nach hinten schwingen. Dank einiger teurer Pflegemittel und einer seltsamen genetischen Veranlagung riecht ihr Haar immer unglaublich gut, und sie nutzt das auch gerne, wenn sie jemanden umgarnen will. Ich gebe mich beeindruckt, obwohl es keine große Kunst ist, fünf Holzstücke zusammenzunageln. Natürlich besteht ein Bilderrahmen nur aus vier, aber ein fünftes würde mir sicher kein großes Kopfzerbrechen bereiten.

Angela kommt an den Tisch zurück und stößt beim Hinsetzen ihr Glas um, das sie zum Glück schon fast ausgetrunken hatte.

»Hat jemand was von Izzy gehört? Hast du ihr etwa die tatsächliche Uhrzeit genannt, Nina? Wir wollten sie doch immer eine halbe Stunde früher zu den Treffen bestellen, nicht wahr?«

»Ach, sie kommt, wenn sie kommt«, sagt Nina atemlos und winkt lässig ab wie jemand, der sich nicht um Pünktlichkeit schert. Wenn Hugh nicht dabei wäre, würde sie über Izzys absehbare Verspätung die Augen rollen. Sie zieht ihren Dampfer aus dem Ärmel und inhaliert dezent.

Mit Soße überschwemmte Teller werden auf den Tisch gestellt, und in diesem Moment trifft auch Izzy ein, in teuren Parfümdunst gehüllt und mit den gewohnten Entschuldigungen. Wir essen unseren Braten, während Angela weiterredet. Nina versucht, eine lustige, entspannte Atmosphäre zu schaffen, ist dabei aber völlig unentspannt, und trotzdem hält Hugh ununterbrochen ein lockeres Gespräch in Gang. Er stellt Fragen, lacht über unsere Witze, und als Nina beim Erzählen ihre Gabel auf den Boden fallen lässt, springt er auf, um ihr eine neue zu holen.

Ich gebe es nur ungern zu, aber er hat einen gewissen Charme. Natürlich würde ich viel lieber allein mit meiner besten Freundin essen, aber man kriegt nicht immer, was man sich wünscht. Von Izzys Parfüm und Angelas lauter Stimme bekomme ich Kopfschmerzen, versuche aber, sie wegzutrinken. Izzy fängt an, sich über ihren Babysitter zu beschweren, was sie jedes Mal tut, und Nina und ich wechseln einen Blick und schauen dann weg, um keine Miene zu verziehen.

»Kommst du nächste Woche zu Jackies Dreißigstem, Mills?«, will Izzy wissen, als die unterbezahlte und anscheinend minderjährige Kellnerin unseren Stapel tropfender Teller abräumt.

»Äh, nein? Warum sollte ich zu Jackies Dreißigstem gehen?«

»Weil sie unsere Freundin ist?«

»Sie ist deine Freundin. Ich habe seit einem Jahr nicht mehr mit ihr gesprochen.«

Nina seufzt und rollt theatralisch die Augen, und Hugh stützt das Kinn auf einen Handrücken und neigt sich in einer spöttischen Erzähl-mir-alles-Pose nach vorn.

»Oh, was ist denn passiert? Was hat diese Jackie getan?«

»Jackie ist eine blöde Kuh«, erkläre ich ihm. »Sorry, Izzy. Aber es ist wahr. Sie war schon in der Schule eine blöde Kuh und ist auch jetzt noch eine.«

Nina greift ein und wendet sich entschuldigend an Hugh. »Die beiden hatten einen dummen Streit, als sie betrunken waren. Jackie hat Millie eine hochnäsige Bitch genannt, weil sie gesagt hat, dass sie nicht von Kebab-Wagen isst. Und Millie wollte das nicht auf sich beruhen lassen.«

»Warum sollte ich?«

»Weil man nicht ewig einen Groll hegen kann! Ich sage immer, dass man einen Weg finden muss, um mit seiner Wut fertigzuwerden. Manchmal muss man die Vergangenheit hinter sich lassen und nach vorn blicken!«

»Da bin ich anderer Meinung. Wie auch immer. Hugh, erzähl mir mehr über diesen Couchtisch. Beine? Vier Stück?«

Schließlich verkündet Izzy, dass sie zu ihren Kindern zurückmuss. Sie wirft Hugh einen extravaganten Luftkuss zu, sagt ihm viel zu aufrichtig, dass es sie total gefreut hat, ihn kennenzulernen, und winkt die gelangweilt aussehende Kellnerin heran. Angela sieht schon ziemlich fertig aus, also bezahlt Izzy für sie mit und schiebt sie aus dem Pub, um sie nach Hause zu bringen.

Die Kellnerin empfiehlt halbherzig den Pekannusskuchen als Dessert. Hugh erklärt höflich, dass er gegen sämtliche Nüsse allergisch ist, aber nichts dagegen hat, wenn Nina und ich welchen bestellen möchten.

Er gibt sich wahnsinnig Mühe. Oder vielleicht ist er einfach nur ein netter Kerl. Nina lehnt ab, worüber ich sehr froh bin, und ich entschuldige mich, um zur Toilette zu gehen, während sie auf die Rechnung warten. Mir ist der Small Talk ausgegangen, außerdem bin ich aufgebracht wegen der Sache mit Jackie.

Auf der Toilette schließe ich mich in einer Kabine ein und gönne mir eine Verschnaufpause. Ich setze mich auf den geschlossenen Deckel und lese die Klosprüche.

In einem Moment der Inspiration finde ich einen Stift in meiner Tasche und füge hinzu: Jackie ist eine blöde Kuh. Damit geht’s mir besser.

Zurück am Tisch ist es herrlich ruhig. Ich war noch nie der gesellige Typ, und mit den Jahren bin ich nur umso introvertierter geworden, verkrieche mich mit meiner Katze, meinem Bedauern und meiner Wut in mein Schneckenhaus. Einerseits mag ich meine alten Schulfreundinnen, andererseits habe ich immer weniger Geduld, mir ihren Alltagsquatsch anzuhören, abgesehen von Ninas.

»Hugh hat uns das Essen ausgegeben«, sagt Nina und platzt vor Stolz.

Also, vielleicht bin ich die Falsche, um darüber zu urteilen. Aber ich habe noch keinen Mann getroffen, der dieser Frau würdig wäre. Tatsächlich kenne ich keinen Menschen, mit dem Nina – die scharfsinnige, witzige, freundliche Nina – einen Großteil ihrer Zeit verbringen sollte, mich eingeschlossen. Aber sie scheint glücklich zu sein, und Hugh hat bisher nichts falsch gemacht. Trotzdem fühle ich mich noch nicht bereit, ihm etwas schuldig zu sein.

»Danke, Hugh, aber ich möchte meins lieber selbst bezahlen. Ehrlich.« Ich lächle, damit es nicht wie eine Zurückweisung rüberkommt, und kritzle meine Telefonnummer auf die Quittung, da ich den Eyeliner noch in der Hand habe.

»Schick mir deine Bankverbindung, dann überweise ich dir meinen Anteil.« Nach minimalem Widerstand willigt er ein. Das sagt mir, dass er eigentlich nicht das Geld hat, um uns ein großes, feuchtfröhliches Mittagessen zu spendieren, aber er will beeindrucken. Das bringt mein Eis ein bisschen zum Schmelzen. Er ist ein Charmeur.

Trotzdem: Als ich nach Hause gehe, um Shirley Bassey zu füttern, beschließe ich, Hugh Chapman besser im Auge zu behalten. Charme ist eine gefährliche Waffe, und ich kann mich nicht entspannen, bevor nicht klar ist, ob der Mann, der sie einsetzt, gute Absichten hat.

4

Ich habe nicht den Wunsch, Kinder zu bekommen. Gelegentlich, wenn das Leben absolut langweilig ist oder wenn ich verkatert bin, scrolle ich durch die Facebook-Profile von Frauen, mit denen ich zur Schule gegangen bin. Einige von ihnen haben schon mehrere Kinder!

Wir sind noch nicht einmal dreißig! Sie teilen Fotos von einem pausbäckigen Kind, das unbedarft in die Kamera guckt, mit Bildunterschriften wie »Unglaublich, dass ich schon vier Jahre mit meiner wunderbaren kleinen Familie glücklich bin!«, gefolgt von sechsunddreißig Beiträgen in einer lokalen Müttergruppe über die neuen Anfangszeiten für den »Mummy and Me Sing Song Club«.

Nein, danke. Lieber Bier als Babystrampler, und lieber Massagen als eine Mastitis.

Es geht mir nicht darum, dass ich zu egoistisch bin, um mein Leben nach den Launen eines kleinen Kindes auszurichten – obwohl das offen gestanden zutrifft. Sondern es geht darum, dass ich nicht weiß, wie ich als Mutter sein sollte.

Meine eigene Mutter … hat versagt. Milde ausgedrückt. Über meinen Vater schweigt man am besten, und meine Mutter war schlimmer als nutzlos. Mein Onkel Dale ist neben Katie das einzige Familienmitglied, für das ich keinen Hass empfinde. Ich weiß genau, wie viel Schaden ein beschissenes Elternteil anrichten kann, und das möchte ich keinem Kind antun, denn das hätte es nicht verdient, und es müsste trotzdem das Leben mit mir aushalten.

Es ist Freitagnacht zwei Uhr früh – die Stunde, in der die Grenze zwischen abendlichem Vergnügen und nächtlichem Schrecken verläuft –, und ich sitze in meinem Micra, frierend trotz Mantels, während der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt. Diesmal trage ich unter meiner Kapuze eine dunkle Perücke. Ich habe bei meinem Engagement schon viele Männer verärgert und will möglichst nicht wiedererkannt werden.

Es war eine ziemlich beschissene Woche. Eigentlich ist nicht viel passiert – ich habe gearbeitet, mit Shirley Bassey gespielt, gekocht und die Textnachrichten von Freunden ignoriert. Nina und ich hatten locker vereinbart, uns heute Abend auf ein paar Drinks zu treffen, aber sie hat mir wegen Hugh abgesagt. Ich versuche, ihr das nicht übel zu nehmen, denn im ersten Rausch einer neuen Liebe sind die Leute nun mal wie verrückt. Trotzdem war ich schlecht gelaunt, als meine Mutter anrief. Wenn es nach mir ginge, würde Katie bei mir wohnen. Aber sie sagt, dass sie glücklich ist, wo sie ist, und dass sie ihr altes Kinderzimmer nicht verlassen will. Es obliegt also unserer Mutter, dafür zu sorgen, dass Katie etwas isst, ihr Zimmer gelegentlich verlässt und sich ab und zu die Haare wäscht. Sie ist mir keine gute Mutter gewesen, aber zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass sie Katie mehr geliebt hat, also gibt sie sich zumindest Mühe.

Man verstehe mich nicht falsch, ich würde nie behaupten, dass meine Mutter absichtlich grausam war. Sie hat uns nicht misshandelt – andernfalls hätte ich Katie schon vor Jahren dort rausgeholt. Aber sie ist passiv. Sie hat sich nie »elterlich« verhalten, nie das Ruder in die Hand genommen, harte Entscheidungen getroffen oder uns gar zurechtgewiesen. Sie hat einfach nur existiert, und Passivität ist ein Charakterzug, der mich zum Schäumen bringt. Im Gespräch mit Katie behalte ich meine Meinung über unsere Mutter für mich. Die beiden haben ein besseres Verhältnis zueinander, und im Moment möchte Katie bei ihr leben. Eines Tages werde ich sie überreden, zu mir zu ziehen.

Ich lehne den Kopf an, kneife die Augen zusammen und versuche, meine rasenden Gedanken zu stoppen.

Es ist einfacher, auf meine Mutter wütend zu sein, als zu akzeptieren, dass auch ich schuld bin.

Ich hätte meine Schwester beschützen müssen und habe versagt.

Am Mittwoch war ich wieder bei ihr. Onkel Dales Motorrad stand in der Einfahrt, und ich fand ihn wie immer im Newcastle-Fußballtrikot mit meiner Mutter in der Küche beim Biertrinken. Katie saß oben im schwarzen Loch ihrer Depression und sah noch dünner aus sonst. War ich also überrascht, als meine Mutter mich heute Nachmittag anrief und sagte, Katie sei zusammengebrochen und ins Krankenhaus eingeliefert worden? Nein, war ich nicht. Sie wurde ziemlich schnell wieder nach Hause geschickt, mit der strikten Anweisung, sie müsse zunehmen. Mein erster Impuls war es, Message M für den Abend sausen zu lassen und zu ihr zu eilen, aber Mum sagte, Katie schlafe bereits und ich wolle sie doch bestimmt nicht wecken, wenn sie Ruhe brauche.

Da sitze ich also in einer Oktobernacht frierend in meinem Auto und beschwöre mein Hotline-Handy, zu summen, damit ich ein, zwei Leben retten kann. Viel mehr kann ich nicht tun. Wenn ich meiner Schwester nicht helfen kann, dann wenigstens jemand anderem.

Ich ziehe die Kapuze meines Mantels hoch und überlege, ob ich den Motor anlassen soll, damit die Heizung laufen kann, aber es ist nicht mehr viel Sprit im Tank, und es käme mir verschwenderisch vor. Jedenfalls fühlt sich die Kälte wie eine freiwillige Strafe an, quasi ein Büßerhemd. Laut Mum ist Katie nur wegen ihres niedrigen Blutzuckerspiegels ohnmächtig geworden. Allerdings würde sie auch auf eine Schusswunde ein Pflaster kleben. Fast spüre ich noch die Kanten von Katies Schulterblättern an meinen Armen, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich die dunklen Schatten unter ihren Augen und die hervortretenden Wangenknochen. Vermutlich mache ich mir vor, dass es ihr besser geht, während sie in Wirklichkeit vor meinen Augen verfällt.

Ich lehne den Kopf wieder an und atme tief ein, um mich zu beruhigen. In der Dunkelheit hinter meinen Lidern werde ich unweigerlich von Erinnerungen überschwemmt. Ich konzentriere mich aufs Atmen und wende dabei eine Technik aus dem Yogakurs an. Ich war nie sehr gut darin. Immer wenn ich in dem Studio auf dem Boden lag und »aaaatmen« und »den Geist leeeeren« sollte, war ich in Wirklichkeit darauf konzentriert, meine Oberschenkel so zu kräftigen, dass ich damit einen Mann töten kann.

Ein.

Katie und ich bei einem Lachanfall im Pub.

Aus.

Ich als Kind zusammengerollt bei ihr im Bett.

Ein.

Katie mit dem Bescheid der Durham University, blass vor Schreck und Stolz.

Aus.

Unsere Umarmung an dem Tag, als ich sie mit ihren Sachen in einem Lieferwagen nach Hause holte, nachdem sie das Studium geschmissen hatte.

Ein.

Die kleine Katie, die sich den Grashang neben unserem Haus hinunterrollt.

Aus.

Wie ich ihr als kleines Mädchen sage, sie solle wegen Dad keine Angst haben.

PING.

Oh, Gott sei Dank. Es hat geregnet, und es ist kalt, also war die Nacht ziemlich ruhig, aber jetzt will jemand meine Hilfe. Jemand braucht mich. Ich überfliege die Nachricht und lese sie dann noch einmal langsam. Sie ist schwer zu entschlüsseln, so als wäre die Schreiberin sturzbetrunken.

Htditür abgeschossen

Was?

Er schieb nett sber Utz gehz mir schlecht ich gkaub es war was im Wein.

Etwas in ihrem Wein? O Gott, sie ist nicht betrunken, sie wurde unter Drogen gesetzt! Ich schreibe hektisch, weil ich unbedingt wissen muss, wo sie ist, bevor sie nicht mehr antworten kann. Mein Handy pingt wieder – sie war so klug, ihren Standort zu teilen. Es folgt eine weitere Nachricht:

32

Ich starte den Motor, obwohl ich noch keinen Plan habe. Meine Gedanken überschlagen sich, ich sehe nur Drogen und junge Mädchen, Blut und Wein, Katie und mich.

Zehn Minuten später stehe ich vor einem Reihenhaus im viktorianischen Stil. Als ich an der genannten Adresse ankomme, schaue ich mich hektisch um und entdecke eine blaue Tür mit der Nummer 32 darauf. In der Regel führt mich Message M immer zu denselben Bars und Clubs; manchmal melden sich auch Frauen, die allein auf dem Heimweg sind. Aber ab und zu werde ich auch zu Häusern wie diesem gerufen. Das sind die, wo es mir eiskalt den Rücken runterläuft, wo wirklich Gefahr lauert.

Aber einfach an die Tür zu klopfen und zu sagen, dass ich meine Freundin abholen will, funktioniert in der Regel gut – die Überraschung hält den Denkprozess des Mannes lange genug auf, um die Frau in Sekundenschnelle aus dem Haus zu schaffen. Nur einmal musste ich die Polizei rufen. In jedem Fall nehme ich mir einen Moment Zeit, um die Situation einzuschätzen, damit ich sie nicht noch schlimmer mache oder mich selbst in Gefahr bringe.

Heute Abend jedoch kreisen meine Gedanken um meine Schwester und ihren Vergewaltiger, meine Mutter und mein eigenes Versagen. Deshalb nehme ich mir nicht die Zeit für einen Plan. Vielleicht wünsche ich mir insgeheim eine Konfrontation. Wut muss irgendwohin, sonst frisst sie einen auf.

Aufgeregt und wütend steige ich aus dem Auto und laufe zu der Haustür. Die namenlose SMS-Schreiberin ist zu meiner Schwester geworden, im oberen Stock in der Northumberland Road 32, bei jemandem, der nett zu sein schien, ihr dann aber etwas in den Wein geschüttet hat.

Ich klopfe dreimal laut und sofort noch dreimal, dazu ein Tritt gegen das Holz. Ich höre Schritte, und schließlich wird die Tür einen Spalt breit geöffnet.

Zum Glück fange ich mich. Ich muss ruhig sein. Nur so funktioniert die ganze Sache. Ich atme tief durch und ringe mir ein Lächeln ab, wahrscheinlich sieht es aber eher wie eine Grimasse aus. Der Spalt wird breiter, und ich sehe einen Mann Ende dreißig. Er sieht verblüffend gut aus. Groß, dunkle wellige Haare, kantiges Gesicht, hellbraune Haut, ein paar schwarze Bartstoppeln, große dunkle Augen. Augen, die viele junge Frauen in sein Haus, in sein Bett locken könnten.

Wegen des nasskalten Wetters habe ich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass er darunter schauen muss, um zu erkennen, ob ich ein Mann oder eine Frau bin, eine Bedrohung oder ein Leckerbissen.

»Hi! Ich bin Jessica!«, sage ich in einem kecken Frageton. Fehlen nur noch Pompoms und ein kurzer Rock. »Ich suche meine Freundin? Sie sagt, sie ist hier?« Ich lächle breit, um ihn freundlich zu stimmen, versuche aber weiterhin, meine obere Gesichtshälfte mit der Kapuze zu verbergen.

»Falsche Adresse.« Er lächelt mich an, um den Schlag abzumildern.

»Hmm, das glaube ich nicht! Es war definitiv hier!« Ich lächle noch breiter, fast schon irre. Ich muss in das Haus rein! Sein kantiges Gesicht erinnert mich an Katie, ihre kränklich blasse Haut und ihre leicht vergilbten Zähne. Konzentriere dich. »Was dagegen, wenn ich reinkomme?«

Sein freundliches Lächeln wird schwächer, seine Brauen ziehen sich zusammen. Er verliert die Geduld. »Wozu willst du reinkommen? Deine Freundin ist nicht hier, tut mir leid.« Er will die Tür schließen, aber ich schiebe einen Fuß vor. So leicht kommt der Scheißkerl nicht davon, aber ich bleibe erst mal noch freundlich.

»Es ist nur so, dass ihr Vater wartet.« Ich deute vage zu ein paar parkenden Autos. »Sie sollte eigentlich bei unserer Freundin Jade sein, aber wenn er aussteigt und sieht, dass sie bei einem Typen ist, dürfte er sauer werden. Also, ehrlich gesagt, es ist besser, wenn ich sie jetzt hole.« Ich gebe ein Kichern von mir, das konspirativ wirken soll, aber eher wie ein Rasenmäher klingt, der nicht anspringt.

»Aber sie ist nicht hier«, sagt er langsam, als wäre ich begriffsstutzig, schiebt meinen Fuß mit seinem weg und schließt die Tür. Scheiße.

Ich sehe mein Spiegelbild in dem Glasquadrat, meinen zerzausten Haaransatz und den verschmierten Eyeliner, umgeben von einer großen, bauschigen Kapuze. Das irre Aussehen ist wahrscheinlich nicht hilfreich. Dieser Job erfordert einen kühlen Kopf, und ich war immer stolz darauf, dass ich meine Emotionen im Zaum halten kann. Ich stemme die Füße an den Boden und dränge meine Wut durch den Körper und die Füße tief in die Erde.

Nummer 32 ist das drittletzte in der Häuserreihe. Ich weiß, dass ich die Polizei rufen sollte, aber es würde zu lange dauern, bis sie hier sind. Und schließlich, was sollte ich ihnen sagen? Ich denke an Katie, die am Neujahrsmorgen zitternd in meinen Armen lag, und weiß, dass ich schnell handeln muss.

Ich laufe zum Ende der Häuserreihe, finde eine leicht zu überwindende Mauer, und bevor ich kneifen kann, klettere ich hinüber. Es ist dunkel, hoffentlich sitzen die Bewohner dieses Hauses glücklich in ihrem Wohnzimmer und gucken Strictly Come Dancing oder Celebrities Go Fishing oder welchen Mist die Leute heutzutage gucken. Ich bin froh, dass ich schwarze Schnürstiefel und schwarze Hosen trage. Aber leider trage ich auch einen weißen Rollkragenpullover, der sicher im Dunkeln leuchtet.

Ich falle in das Blumenbeet von Garten Nummer zwei. Es bleibt still, nichts rührt sich. Eine schwarz-weiße Katze beobachtet mich von einer Fensterbank im Obergeschoss. Wir sehen uns in die Augen, und sie miaut. Mir fällt auf, dass sie nur an der Brust weiß ist und mir dadurch ähnlich sieht. Ich frage mich, ob sie über mich lacht.

So liege ich in dem morastigen Beet und denke über meine Lebensentscheidungen nach, als der GAU