Hufspuren: 136 Hufe zu viel - Christa Ludwig - E-Book

Hufspuren: 136 Hufe zu viel E-Book

Christa Ludwig

4,9

Beschreibung

Wer ein Pferd, das ihm nicht gehört, zu sehr liebt, muss früher oder später Abschiedsschmerz leiden. Jana und Felix steht in dieser Hinsicht einiges bevor. Und dazu noch Albertas und Theres' frische Begeisterung für Isländer. Als Käfigpferde bedauert Alberta die Pferde im Ulmenhof, seit sie den Offenstall des neuen Rappenhofes gesehen hat. Das ist einfach zu viel. Die Freundschaft knirscht in allen Fugen. Aber vielleicht sind Isländer doch etwas sehr Besonderes? Zögernd betritt Jana Neuland. Und das sind die jungen Pferdenarren: Jana, die sich alles traut und (fast) immer Glück hat - auch mit einer Reitbeteiligung an dem Wallach Askan. Alberta aus Kasachstan, die jedes Pferdebuch aus der Bibliothek kennt und im Stall hilft, wo sie kann, aber nur ausnahmsweise eine Longenstunde bekommt. Felix, hochtalentierter Reiter ohne eigenes Pferd, aber mit besten Beziehungen zu einem Tierarzt . Theres, ein bisschen ängstlich (wenn auch nicht so sehr wie ihre Mutter), deren Eltern ihr jedes Pferd der Welt kaufen könnten, die aber beim Reiten noch einiges zu lernen hat.

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Christa Ludwig

136 Hufe zu viel

Inhalt

136 Hufe zu viel

Getrennt

Verseuchtes Gelände

Falschmeldung

Der Glückskauf

Verbesserung

Drei Tage frei vom Ulmenhof

Dolly Hundesitter

Verheiratete Männer zum Verlieben

Pferdewechsel

Springflut im Mähnenmeer

Und wie geht’s weiter?

Mini-Lexikon der Pferdefachsprache

Über die Autorin

136 Hufe zu viel

Warum um alles in der Welt sollten Schüler nicht fernsehen? Jana saß immer noch vor einem leeren Blatt. Vielleicht sollte sie sich doch für das andere Thema entscheiden? Sie schaute an die Tafel:

Thema II: Brauchen wir eine Schülermitverwaltung?

Dazu fiel ihr erst recht nichts ein.

Also erst mal Gründe sammeln für: Schüler sollen fernsehen, weil ...

Aber dazu fiel Jana auch nichts ein. Sie hatte nicht viel Zeit zum Fernsehen. Auf dem Ulmenhof stand Askan in seiner Box, und dreimal in der Woche durfte, sollte, musste sie ihn reiten. An den anderen Tagen ging er im Schulbetrieb und montags hatte er frei. Aber an all diesen anderen Tagen war Jana auch im Stall und half Askan putzen, Hufe auskratzen, satteln, auftrensen, Nasenriemen kontrollieren – es gab immer was zu tun.

Wann also sollte Jana fernsehen?

Doch letzte Woche hatte sie einen Film über Westernreiten gesehen. Ein bisschen komisch fand sie diese verhinderten Cowboys, aber ihre Art zu reiten war eigentlich ganz interessant. Sie schrieb in die linke Spalte: Schüler sollten fernsehen, denn Fernsehen bringt wichtige Informationen.

Und nächsten Dienstag würde sie vielleicht wieder eine Sendung anschauen. Oder auch nicht? Theres und Alberta, die schräg vor ihr saßen, redeten seit fünf Tagen davon:

«Nächsten Dienstag ist ein Film über Islandpferde!»

«Direkt aus Island!»

«Du kannst zu uns kommen. Auf eurem Fernseher sieht man ja nichts.»

Das hatte Theres zu Alberta gesagt. Zu Jana hatte sie es nicht gesagt. Weil Janas Eltern ihren Fernseher nicht vom Sperrmüll hatten wie Albertas? Oder weil Jana keine Islandpferde sehen wollte?

«Scheißviecher», murmelte Jana. «Mistböcke. Sauböcke. Zottelpelze. Knuddelponys. Wie kann ein vernünftiger Mensch so was reiten?»

Und sofort füllte sich die rechte Seite ihres Blattes, es war die Spalte mit den Argumenten dagegen:

Wir brauchen keinen Reiterhof mit 34 Islandpferden,

– weil das 136 Hufe zu viel sind!

– weil wir hier schon einen Reitstall haben

– und zwar einen mit richtigen Pferden

– und weil Alberta und Theres meine besten Freundinnen sind und ich es saudoof finde, wenn wir in verschiedenen Reitschulen sind

– und weil ich nur eine halbe Reitbeteiligung an Askan habe und Theres die andere Hälfte bekommt, wenn sie nur will, und dann müsste Askan kein Schulpferd mehr sein, aber Theres spinnt nur noch von Islandpferden, die gar keine Pferde sind, sondern Ponys …

Jana merkte, dass jemand sie beobachtete. Jemand stand hinter ihr und schaute auf sie hinunter. Sie wusste, wer das war. Die Auswahl war nicht groß. Es war ja ganz ruhig in der Klasse, niemand rannte herum, alle hockten über ihren Aufsatzheften. Jana drehte sich um.

Herr Taggert hatte wieder dieses Gesicht, das sie alle so sehr an ihm mochten. Es wäre maßlos übertrieben zu behaupten, dass er grinste. Aber zu sagen, er mache ein ernstes Gesicht, wäre einfach falsch. Es war das Taggy-Gesicht, das niemand beschreiben konnte, das alle immer neugierig machte: Was wird er jetzt tun?

«Ähhhh», flüsterte Jana. «Thema verfehlt? Ich glaube, ich habe das Thema verfehlt?»

Taggy schob die Unterlippe etwas vor. Das verstärkte noch einmal die Frage: Was wird er jetzt tun?

Er zuckte die Achseln.

«Kommt drauf an», sagte er und ging zur Tafel. Sehr langsam. Wie jemand geht, wenn er zugleich nachdenkt. Ein paar andere aus der Klasse schauten auf. Auch Theres. Die guckte sowieso immer hinter Taggy her.

«Der ist doch viel zu alt für dich», hatte Jana mal gesagt.

«Du spinnst!», hatte Theres sie angezischt. «Ich mag ihn, weil er aussieht wie mein Vater.»

Das hatte Jana ihr nicht geglaubt. Kontrollieren konnte sie es aber nicht, denn sie hatte Theres’ Vater noch nie gesehen, obwohl Theres ganz nah bei ihr wohnte, nur auf der anderen Straßenseite. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass Herr Rohner auch nur ein bisschen so aussah wie Taggy.

Der stand nun an der Tafel und hatte die Kreide in der Hand. Langsam schrieb er:

Thema III: Braucht unsere Stadt einen Reiterhof mit Islandpferden?

«He!»

Es ging ein Raunen und Rufen durch die Klasse. Die Jungen maulten und Thomas rief: «Thema IV: Braucht unsere Stadt einen zweiten Fußballplatz?»

«Tut mir leid», sagte Taggy. «Das ist kein Thema für eine Erörterung. Der Aufsatz wäre mit zwei Buchstaben fertig. Du schreibst: Ja!, und ich könnte nicht einmal behaupten, du hättest das Thema nicht ausführlich genug behandelt. Aber du kannst die Idee wieder bringen, wenn wir demnächst mal eine Forderung für die Stadtverwaltung schreiben, ja?»

Theres wandte den Kopf, sah Jana an und verdrehte die Augen. Das hieß: Fantastisch, dieser Taggy. Damit waren jetzt nämlich sogar die Jungen zufrieden.

Aber Theres war nicht die Einzige, die auf Jana schaute. Alle dachten: Das hatte Taggy für sie getan – Jana Immerglück, der alles gelang, der alles zufiel. Für ein paar Augenblicke war sie wieder Jana Immerglück. Aber um das zu bleiben, musste sie diese Islandpferde vertreiben, sonst würde sie ihre beiden besten Freundinnen verlieren.

Ich schaffe es, dachte Jana, niemand will die blöden Knuddelponys hier, die rennen immer nur im Gelände rum, und die von der Stadt haben Angst um ihre Wanderwege – wir vergraulen die!

Aber ein gutes Gefühl war das nicht. Im Blickwechsel zwischen Jana und Theres war etwas, das da nicht hingehörte – fast so etwas wie Feindschaft.

Jana biss die Lippen zusammen und beugte sich wieder über ihr Blatt. Das schrieb sie nun ganz schnell voll, zumindest die rechte Spalte mit den Argumenten gegen die Islandpferde. Die andere Spalte blieb leer. Sie blickte auf die beiden Köpfe vor ihr, die hellen, dünnen, etwas flauschig gekrausten Haare von Theres und den dicken, schweren, tiefschwarzen Zopf im Rücken von Alberta, und sie wusste, bei denen ist es umgekehrt, die haben die andere Spalte vollgeschrieben.

Na toll, dachte sie grimmig. Wenn wir jetzt zusammensäßen, könnten wir wenigstens einen Superaufsatz schreiben.

Aber die wollten ja nicht mehr neben ihr sitzen, weil sie immer schwätzte, und Theres war zum Schwätzen zu artig, Alberta zu ehrgeizig.

Zusammen wäre unsere Stoffsammlung perfekt, dachte Jana. Dann hätte dieser Ärger mit den Ponys wenigstens etwas gebracht.

So ganz sicher war sie sich da allerdings nicht. Vielleicht hätten sie sich auch nur gestritten und gestritten und ...

Als es zur Pause läutete, hatten alle drei einen jeweils halben guten Aufsatz. Das musste reichen. Sie gingen in die Pause. Sonst standen oder saßen sie da immer zusammen und erzählten sich nach einer Arbeit gegenseitig, was sie geschrieben hatten. Heute taten sie das nicht. Sie guckten sich an und guckten woandershin. Alberta zog an ihrem Zopf und Theres leckte an ihrer Zahnspange. Sie schauten über den Schulhof und suchten Felix, aber der kam in den Pausen nie zu ihnen, er blieb bei den Jungen in seiner Klasse, sie schauten trotzdem dahin, wo er stand und ging. Das einzige Gemeinsame, das sie noch hatten, war: Sie schauten zu Felix, alle drei.

Nach der letzten Stunde gingen sie wie immer zum Fahrradkeller. Es war Ende September und ziemlich warm. Sogar Theres durfte noch mit dem Rad zur Schule fahren. Allerdings flatterte aus ihrem Rucksack ein blaukarierter Schal. 100 % Cashmere stand auf dem Etikett. Als Theres ihn vor 14 Tagen zum ersten Mal in ihren Schulrucksack gestopft hatte, war auch noch das Preisschild dran gewesen, und Jana hatte entsetzt gesehen, dass dieser alberne Streifen Stoff ziemlich genauso teuer war wie das Sidepull, das sie so gern für Askan gekauft hätte. Bettina, ihre Reitlehrerin, hatte ihr nämlich zugesagt, Askan könne in der Halle durchaus mit Sidepull gehen, da brauche er nicht unbedingt eine Trense mit einem Stück Metall im Maul, Sidepull wäre genug und dann könnten die Reitschüler ihm nicht mehr im Maul rumreißen. Aber Jana hätte das Sidepull selber kaufen müssen und dazu langte ihr Taschengeld nicht.

Sie ging schräg hinter Theres her, weil sie ihr nicht in die Augen schauen wollte, aber so musste sie sich jetzt wieder über den Schal ärgern, den Theres nicht einmal benutzte. Sonst war Jana immer vorausgegangen. Sie war die Jüngste, aber trotzdem immer die Erste. Sie war nicht so reich wie Theres und nicht so arm wie Alberta. Sie war nicht so lang und dünn wie Theres und nicht so dick wie Alberta. Sie war nicht so blond wie Theres und nicht so dunkel wie Alberta. Sie war überall in der Mitte und dennoch kein bisschen mittelmäßig. Sie war Jana Immerglück, sie ging voraus und machte den Weg frei – früher, als noch niemand an Islandpferde dachte. Felix kam aus der 9. Klasse. Er war ein Jahr älter als Jana, ein halbes Jahr älter als Theres, und Alberta war fast genauso alt wie er. Keine der drei erzählte ihm von dem Aufsatzthema, über das sie geschrieben hatten. Sie sprachen überhaupt nicht viel. Jana steuerte gedankenlos auf die dunkle Ecke zwischen der Tür und den Schließfächern zu und wartete dort. Sie kramte in ihrer Hosentasche und fand den Schlüssel nicht.

«Was suchst du?», fragte Alberta.

Und da fiel Jana ein, warum sie den Schlüssel nicht finden konnte. Er war nicht da. Sie brauchten kein Schließfach mehr. Seit Beginn der 8. Klasse durfte Alberta in der Schule anziehen, was sie wollte. Sie gehörte zu einer russischen Aussiedlerfamilie aus Kasachstan, und im letzten Jahr noch hatte ihr strenger Vater sie gezwungen, in die Schule zu gehen, wie es in Kasachstan üblich war: Zöpfe, Spitzenbluse, Rock, Kniestrümpfe.

Felix grinste.

«Nee», sagte er, «Irrtum, Jana, kein Striptease mehr. Schade.» In der letzten Klasse hatte Alberta ihre verhasste Schulkleidung im Schließfach versteckt und hier immer T-Shirt und Jeans von Jana angezogen.

Jana nickte. Sie ging an Alberta vorbei, schaute auf deren neue Jeans und sagte: «Du hast die zu klein gekauft. Viel besser als meine passen sie dir auch nicht.»

Das war gemein. Alberta vertrug es nicht gut, wenn jemand darauf anspielte, dass sie dicker war als die beiden anderen.

Felix, der immer gern zu allen nett war, sagte zu Alberta: «Dass Frauen mager sein müssen, ist nur eine fixe Idee von Frauen.» Und zu Jana: «Ich darf heute ausreiten. Kommst du mit?»

Damit hatte er leider danebengetroffen.

«Heute ist Freitag», sagte Jana. «Askan geht im Schulbetrieb. Ist aber nicht so schlimm. Theres hat Reitstunde und wird ihn reiten.»

Sie bemerkte einen seltsamen Blickwechsel zwischen Theres und Alberta, aber sie dachte nicht darüber nach und holte ihr Rad.

Sie hatten nur ein kurzes Stück gemeinsamen Schulweg. Als Erste trennte sich Alberta. Sie musste über den Hügel ins Hinterland. Dort wohnte sie mit ihrer Familie in dem nicht gerade gut erhaltenen Haus eines verlassenen Bauernhofes.

«Bis nachher!», rief Alberta.

Und wenn Jana gut aufgepasst hätte, wäre ihr aufgefallen, dass sie das eigentlich nur Theres zurief.

Dann war Felix an der Reihe zu sagen: «Bis nachher!» Und er sagte es wie immer, bevor er die Straße zum Bergholz hinaufstrampelte. Er wohnte oben in der Hochhaussiedlung.

Die beiden Übrigen hatten freie Fahrt. Für sie ging es abwärts zum See. Jana stellte verwundert fest, dass Theres vorausfuhr. Normalerweise war sie selber die Erste. Bevor sie in ihre Straße einbogen, zog Theres freihändig fahrend den Schal aus dem Rucksack und wickelte ihn sich um den Hals.

Das sollte ihre Mutter sehen, dachte Jana und musste grinsen. Was würde die schreien, wenn sie wüsste, in welche Gefahr sie ihre Tochter brachte mit diesem Schal, der so teuer war wie ein Sidepull, der Theres schützen sollte vor Erkältung, was er nicht tun konnte, solange er im Rucksack war, und dann fuhr sie auch noch freihändig, damit sie ihn gerade noch rechtzeitig um den Hals wickeln konnte, bevor sie in Sichtweite ihres Hauses kam. Was für ein Leichtsinn!, würde ihre Mutter sagen.

Theres bremste.

«Ähhh», sagte sie.

«Also bis nachher», sagte Jana.

«Ähhhh», sagte Theres. «Ich komm heut nicht.»

«Was?!?!» Jana glaubte, sie hätte sich verhört.

«Ich fahre heute mit meiner Mutter zum Rappenhof.»

«Rappenhof?»

«Ja», erklärte Theres. «So heißt der Hof mit den Islandpferden, da wo er jetzt ist. Und so wird er auch heißen, wenn sie zu uns umziehen.»

«Was machst du da?»

«Ja, ähhh, ich will Pferde ausprobieren.»

«Heute?!» Jana schrie. «Du hast heute Reitstunde.»

«Ich werd ja auch reiten.»

«Du sollst Askan reiten. Du bist die Einzige außer mir, die ihm nicht im Maul rumreißt.»

«Ja, aber ...»

Jana wusste, dass Theres’ Mutter ihr ein Islandpferd versprochen hatte, aber –

«Muss das heute sein?»

«Morgen ist Wochenende. Da machen sie Ausritte.»

«Dann geh Montag!»

«Da haben sie Ruhetag.»

«Dann geh Dienstag!»

«Da ist der Film im Fernsehen. Über Islandpferde.»

Das war zu viel für Jana. Sie riss ihr Rad herum und stieß es quer über die Straße. Sie wohnte auf der anderen Seite, der «billigeren», die keinen Seeblick hatte. In ihren Augenwinkeln flatterte dieser alberne blaue Schal. Wenn sie den wenigstens nehmen und in ein Sidepull verwandeln könnte. Dann hätte Askan heute kein Trensengebiss im Maul und kein Reitschüler könnte daran herumziehen.

Theres rief: «Jana!»

Sie bremste.

«Ja?»

Theres leckte an ihrer Zahnspange und fragte: «Willst du nicht mitkommen?»

«Mitkommen?»

«Ja. Du darfst doch Askan heute sowieso nicht reiten.»

«Zu diesen Isländern? Bist du verrückt. Soll ich mein Pferd verlassen?»

«Ich hätte gern – ich darf mir doch ein Pferd aussuchen – ich hätte dich gern ...»

«Ich verlasse mein Pferd nicht!»

Und da hatte Jana plötzlich einen Verdacht.

«Alberta?», fragte sie. «Fährt die mit?»

Theres nickte.

Jana riss das Gartentor auf. Ihr fiel eine neue Verwendung für den blauen Schal ein. Man könnte Theres damit erwürgen. Würgen! Würgen! Sie fasste sich an den Hals. Sie musste selber würgen. Freundschaft? Ist so was Freundschaft?

«Kauen!»

Christian war eigentlich der wundervollste aller Väter, aber er hatte diesen einen Tick: Er bestand darauf, dass man alles gründlich und sorgfältig zehnmal durchkaute, sogar Nudeln. Und Jana hatte dazu normalerweise keine Zeit. Es war Freitag, und da Theres nicht kommen würde, müsste sie eigentlich aufpassen, wer Askan reiten durfte, und verhindern, dass ‹wer auch immer› ihm den Nasenriemen zu eng schnallte.

«Kauen!», sagte Christian noch einmal. «Hallo, Fabian, ich rede mit dir!»

Er konnte tatsächlich nur den kleinen Fabian gemeint haben, denn Jana zerkaute die Spaghetti vorbildlich. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig. Alles zu Brei zerkauen war die einzige Möglichkeit, heute etwas in ihren Magen zu bringen. Denn es musste ja alles irgendwie vorbei an dem dicken würgenden Kloß in ihrem Hals.

Ungewöhnlich still war es. Sonst redete Jana immer beim Essen. Unaufhörlich. Heute erzählte nur Fabian und patschte den Löffel in die Tomatensoße.

«Fehlt dir was?», fragte Silke.

Jana schüttelte den Kopf und wich dem Blick ihrer Mutter aus. Sie kaute, schluckte. Aber dann brachte sie auch den Nudelbrei nicht mehr hinunter.

«Du musst mir helfen, Christian», sagte sie. «Uns musst du helfen, dem ganzen Ulmenhof. Du musst jeden Tag einen Artikel in die Zeitung setzen gegen diese Islandpferde, ich hab ’ne Menge Argumente, die sind …»

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

«Ich mache eine seriöse Zeitung und kein Hetzblatt, Jana. Das darf ich nicht.»

«Aber es gibt wirklich gute Gründe …»

«… die ich nicht zu veröffentlichen habe. Ich berichte nur.»

«Wenn die kommen, gehen Theres und Alberta zu den Isländern.»

«Euer Rundumbeschlag», sagte Silke leise. «Bricht er wirklich auseinander? Das ist schlimm.»

Rundumbeschlag bedeutet, dass ein Pferd auf alle vier Hufe Eisen bekommt. So hatte der Schmied die vier genannt: Jana, Alberta, Theres und Felix - weil sie immer zusammen waren, immer in dieselbe Richtung liefen, wie die vier Hufe von einem einzigen Pferd - das war nun vorbei.

Als Jana in ihr Zimmer ging, hatte sie kaum etwas gegessen. So langsam hatte sie sich noch nie umgezogen. Und dann trat sie auch noch ans Fenster und schaute hinüber zur anderen Straßenseite. Frau Rohner fuhr gerade das Auto aus der Garage, Theres stieg ein, sie trug ihre Reithose, die heute Askans Sattel nicht berühren würde. Sie öffnete die Heckklappe und ließ Barana einsteigen.

Bald hat die nicht nur so eine tolle Hündin, sondern auch ein Pferd, dachte Jana und verbesserte sich: Pony.

Barana war ein Hund mit einem Fell wie ein Pferd: fuchsfarben, glänzend und glatt, ein Vizsla, ein ungarischer Jagdhund, wahrhaftig eine Rasse, von der nicht an jeder zweiten Laterne einer pinkelte.

Theres sah sich um, blickte herüber zu Janas Fenster. Die verbarg sich hinter dem bunten Fensterbild. Das klebte da schon seit einem halben Jahr, obwohl es kein Pferd darstellte. Fabian hatte es ihr zu ihrem 13. Geburtstag gemalt, und eigentlich sollte es ein Porträt von Jana sein. Aber Fabian war erst sieben, es war ihm nur zum Teil geglückt, es sah eher aus wie ein Clownsgesicht, aber es lachte, es klebte immer lachend an Janas Fenster und bis vor Kurzem hatte Jana Immerglück auch gelacht.

Frau Rohner fuhr langsam an, nicht schneller als 30 km/h.

Die gehen und kaufen ein Pferd, dachte Jana.

Nicht dass sie neidisch war! Nicht das kleinste bisschen. Sie hatte lieber einen halben Askan als einen ganzen Isländer, auch wenn die andere Hälfte von Askan noch immer im Reitschulbetrieb … Um Himmels willen, sie musste schleunigst zum Stall und verhindern, dass jemand den Nasenriemen zu fest zuzog.

Als sie das Rad am Ulmenhof abstellte, kamen ihr die beiden schönsten Pferde des Reitstalls entgegen: die braune Trakehnerstute Dolly, das Spitzenpferd des Stallbesitzers Grohne-Wilte, und der weiße Araberhengst El Sham. Felix durfte Dolly regelmäßig bewegen, aber nicht allein ins Gelände gehen.

«Hat Bettina schon Pferde eingeteilt?», rief Jana ihm entgegen.

«Ich weiß nicht. Kannst du mir beim Nachgurten helfen?»

Viele beneideten Felix darum, dass er das Superpferd reiten durfte, aber eine leichte Aufgabe war es nicht. Er durfte nicht den kleinsten Fehler machen. Nie. Jana half Felix, den Sattelgurt enger zu schnallen. Dann ging sie in den Stall und auf das nächste Ärgernis zu. Natalie stand in Askans Box und prüfte gerade die Steigbügel. Ausgerechnet Natalie. Die lief dem Rundumbeschlag immer nach. Wahrscheinlich war sie hinter Felix her. Sie war das fünfte Eisen am Rundumbeschlag, das ‹Ersatzeisen›, das kein Pferd brauchte, und Jana konnte sie nicht leiden. Askan schnaubte und streckte ihr den Kopf entgegen. Sie streichelte seine Nüstern. Wortlos schob sie den Finger unter den Nasenriemen. Das war nicht zu eng, dagegen war nichts einzuwenden.

«Wehe, du ziehst am Zügel», zischte sie.

Natalie antwortete nicht. Jana strich über Askans Goldfuchsfell. Ordentlich geputzt war er auch. Sie wollte seinen rechten Hinterfuß heben, da war er ein wenig empfindlich, und tatsächlich, er gab ihn nicht, konnte er auch nicht, denn Natalie kratzte gerade den linken Vorderhuf aus. Jana wartete. Dann hob sie den Hinterhuf. Sauber. Hatte Natalie es wirklich geschafft, den rechten Hinterhuf zu heben? Gerade zupfte sie an Askans Mähne und schaute Jana nicht an, als sie sagte:

«Meine Eltern haben versprochen, ich kriege eine Reitbeteiligung.»

Was geht das mich an, dachte Jana.

«Grohne-Wilte und Bettina haben beide gesagt, ich sollte die zweite Hälfte von Askan haben. Theres will ihn ja nicht mehr.» So! Das hatte Jana noch gefehlt. Mit jedem würde sie sich Askan lieber teilen als mit Natalie.

«Nein!», sagte sie. Aber darüber hatte sie natürlich nicht zu bestimmen.

«Ich kann auch Smart haben, aber dann haben wir beide Pferde, die halb im Schulbetrieb gehen.»

«Ich kann dich nicht leiden», sagte Jana.

«Ich weiß», sagte Natalie. «Aber ich weiß nicht warum.»

«Ich auch nicht», knurrte Jana und ging aus dem Stall.

Sie wollte lieber gar nicht zuschauen, wie Natalie Askan ritt. Der offene Reitplatz war in den letzten Tagen verregnet, Bettina gab die Reitstunde in der Halle. Jana setzte sich draußen auf eine Bank und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Askan mit Natalie teilen? Das würde bedeuten: Zwei Freundinnen in der Schule haben und mit denen nicht über dieselben Pferde reden können - wenn man Alberta und Theres überhaupt noch als Freundinnen bezeichnen konnte. Und hier mit einer Nicht-Freundin ein Pferd teilen. Natalie war nicht in ihrer Schule.

Warum mag ich sie eigentlich nicht?, dachte Jana.

Ob sie sich daran gewöhnen könnte, Natalie zu mögen? Eigentlich tat die ihr nichts. Und wenn sie versuchte herauszufinden, warum sie Natalie nicht leiden mochte, fiel ihr nichts ein. Allerdings – wenn sie darüber nachdachte, warum sie Theres und Alberta so gern hatte, fiel ihr auch nichts ein. Es war eben so. Was kann man da machen?

Ich kann Natalie nicht leiden, weil …, dachte Jana. Das ging in ihrem Kopf herum wie die Aufsatzthemen vom Vormittag. Und wieder suchte sie nur die Argumente dagegen: Weil sie so aufdringlich ist! Uns dauernd irgendwas fragt. Meist Alberta. Warum eigentlich Alberta? Vielleicht weil Felix auf Alberta fliegt, die merkt es nicht, aber ich seh das, und Natalie ist hinter Felix her, und wenn Alberta hier weg ist, dann hauen vielleicht Felix und Natalie zusammen ab, reiten aus mit Dolly und Askan und ich –

Es war zum Heulen. Das war kein normaler Zustand für Jana Immerglück.

Als sie ins Reiterstüble hinaufging, war die Stunde unten in der Halle gerade zu Ende. Sie hörte Bettinas laute Stimme:

«Das war ziemlich gut, Natalie! Mit Askan hättet ihr ein Pferd, mit dem ihr richtig was machen könntet. Ich meine turniermäßig. Er kann ja alles. Er ist nur alt und hat es verdient, dass ihn keine Anfänger mehr plagen. Also einige dich mit Jana. Theres können wir ja wohl vergessen.»

Das machte lauter böse Bisse in Janas Herz. Sie wollte schreien und Theres verteidigen. Aber wie denn?

Grohne-Wilte, der Stallbesitzer, saß im Reiterstüble und schrieb etwas auf.

«Wart’s mal ab», sagte er zu Jana. «So schnell schießen die Preußen nicht. Natalie kann auch den Smart haben und du teilst Askan doch mit Theres. Diese Ponys sind noch lange nicht hier. Ich hab ein paar Freunde im Stadtrat. Die werden sicher gegen den Bauantrag auf noch eine Reitanlage stimmen. Was wir brauchen, sind ein paar gute Argumente.»

«Hab ich!», schrie Jana, flitzte zu Grohne-Wiltes Tisch und sprudelte ihren ganzen Aufsatz – der nur ein halber war – von diesem Vormittag heraus. Noch nie hatte sie etwas, das sie in der Schule gelernt hatte, so schnell im wirklichen Leben gebrauchen können.

«Du bist ja richtig gut», lobte Grohne-Wilte. «Du bringst Gründe, auf die ich nicht gekommen wäre. Hört mal: ‹Schlagzeile: 136 Hufe zu viel! Eine zweite Reitschule in einer solch kleinen Stadt wird zu einer Spaltung der Jugend führen. Es wird zu einem Konkurrenzkampf unter den Jugendlichen kommen. Uneinigkeit und Streit sind die Folge.› Sie hat das journalistische Talent von ihrem Vater geerbt.»

Felix kam und hatte wieder dieses Gesicht, das aussah, als hätte man ihn einmal ganz in eine Wanne voll mit Glück getaucht. Dolly im Gelände reiten war so ziemlich das Wundervollste, das man sich vorstellen konnte. Er setzte sich erst einmal nur hin und planschte in seiner Glückswanne. Viel Zeit blieb ihm dazu nicht. Bettina kam. Es war ihre Aufgabe, Dolly auszubilden, und Felix musste seine Gedanken sammeln und berichten: Nein, ich bin nicht gesprungen, kein Jagdgalopp, ruhiger Canter, ist kein Problem, wenn Rena mit Sham mitreitet, die hat ihr Pferd ja im Griff, nein, sie ist mir nicht gegen die Hand gegangen, das Martingal hing durch, die ganze Zeit, Ehrenwort …

Und danach konnte Felix’ Gesicht das Glücksgefühl nicht so vollständig wiederfinden. Je besser Dolly sich entwickelte, umso sicherer war es, dass sie bald sehr teuer verkauft würde. Jana schaute aus dem Fenster und sah Frau Rohners Wagen auf dem Parkplatz halten. Theres und Alberta stiegen aus. Sie öffneten rasch die Heckklappe. Barana sprang neben ihnen her. Frau Rohner wartete. Jana hörte Schritte im Treppenhaus, Theres riss die Tür auf und rief: «Robert, kannst du mich heute Abend zurückfahren?»

«Nein», sagte Robert, «ich muss noch …»

«Danke!», schrie Theres und verschwand. Alberta blieb.

Jana wusste, was das bedeutete. Sie kannte den Trick. Theres wollte bleiben und hatte kein Fahrrad am Stall. Sie würde jetzt ihrer Mutter versichern, dass Robert sie bis zum Domplatz mitnehmen würde. Denn dass sie auf Janas Gepäckträger die Straßen hinunter zum See sauste, durfte Frau Rohner nicht wissen.

Und du denkst, ich nehm dich mit, knurrte Jana in Gedanken. Theres und Alberta erzählten ihr nichts. Sie suchten ihren Blick, aber Jana drehte den Kopf weg. Nur Barana kam, legte ihr den schmalen Hundekopf aufs Knie und schaute sie genauso traurig an, wie sie selber war.

Die ist wenigstens traurig, dachte Jana. Es würde mir ein bisschen, ein ganz kleines bisschen besser gehen, wenn Theres und Alberta wenigstens traurig wären, weil wir uns trennen werden. Aber Menschen sind treulos. Nur Hunde sind treu. Und Pferde.

Der Rest des Nachmittags war ziemlich unerfreulich. Bettina schnauzte Theres und Alberta an: Was sie denn hier überhaupt noch wollten …

Theres hätte so gern gesagt, welche Pferde sie Probe geritten hatte, aber das wollte hier niemand hören.

Alberta hätte so gern erzählt, was für einen Offenstall die Isländer hatten, wie sie aus und ein gehen konnten, wenn sie wollten, keine Boxen, keine Käfigpferde, aber das wollte hier erst recht niemand hören.

Natalie wollte mit Jana über Askan reden, und das wollte Jana nicht hören.

Grohne-Wilte las seine Argumente gegen den anderen Reitstall vor. Theres starrte Jana an, und beide wussten voneinander, dass sie an den Aufsatz vom Morgen dachten.

Felix hätte viel lieber berichtet, dass Dolly sehr schlecht gegangen wäre und so bald nicht verkauft werden konnte, aber das war natürlich völliger Blödsinn. Und Jana hätte am liebsten – am liebsten – am liebsten – Theres und Alberta in den Arm genommen und so lange gedrückt, bis das alles nicht mehr wahr wäre.

Aber es war alles wahr und wirklich, und niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Barana ging immer zwischen Jana und Felix in der einen Ecke und Theres und Alberta in der anderen hin und her, fiepte manchmal leise und hatte ein blaues Faltblatt im Maul. Immer wenn Barana aufgeregt war, musste sie etwas im Maul haben und herumschleppen. Auf dem Faltblatt war ein Pferd, das seine Beine in einer Fußfolge hielt, die man auf dem Ulmenhof niemals sah: ein töltender Isländer. Jana las: «Rappenhof …» und dann nicht weiter. Das gehörte am allerwenigsten hierher.

Und später stand Theres tatsächlich neben Janas Rad und wollte mitgenommen werden. Jana schob ihr den Gepäckträger hin und sagte:

«Aber klemm dich nicht fest.»

Und Theres rutschte heraus: «Das hat Isa heute auch gesagt.» «Wer? Was?»

«Isa! Die vom Islandpferdehof. Dass ich mich nicht festklemmen soll. Mit den Beinen. Das mögen Islandpferde nicht. Dann sind sie weg wie ein Strich.»

Darauf sagte Jana nichts mehr und schwang sich aufs Rad. Theres fasste ihre Schultern und schob ihr Kinn dicht neben Janas Ohr.

«Es tut mir so leid, Jana», flüsterte sie. «Es tut mir so furchtbar leid, aber …»

Kein aber! Jana trat in die Pedale und Theres wurde nach hinten gerissen. Barana trabte neben ihnen her. Jana ließ das Rad in einem Tempo die Straßen hinuntersausen, dass Theres ihre Mutter nicht brauchte, um Angst zu verbreiten. Sie hielt sich fest.

«Nicht klemmen!», schrie Jana. «Sonst bin ich gleich weg wie ein Strich!»

«Vielleicht kann meine Mutter Askan kaufen», rief Theres. «Und ihr kommt zu uns in den Offenstall!»

Zu uns, hat sie gesagt! Zu uns! Und Askan von Dolly wegnehmen! Was für eine Idee! Askan und Dolly waren beste Freunde.

Sie weiß nicht, dachte Jana, sie weiß einfach nicht, was Freundschaft ist.

Sie bremste hart. Theres wurde gegen ihren Rücken geworfen. «Du weißt, wie Askan an Dolly hängt – und sie an ihm – du weißt es doch …»

«Aber Dolly wird verkauft. Im nächsten Frühjahr verkauft Grohne-Wilte sie.»

Jana winkte heftig. Sie hatte ein Auto erkannt. Weiter unten hielt der weiße Panda von Georg. Georg hatte im Sommer an ihrer Schule sein Abitur gemacht. Er wollte Journalist werden und arbeitete als Volontär bei Janas Vater in der Lokalredaktion.

«Georg!», schrie Jana. «Fährst du zur Zeitung? Nimmst du mich mit?»

Er winkte.

Jana stieg vom Rad und hielt Theres den Lenker hin.

«Hier», sagte sie, «fahr nach Hause. Aber stell es in unseren Garten. Ich will morgen damit zum Stall fahren. Mich bringt schließlich niemand mit dem Auto zu irgendeinem Schimmelhof.»

Sie schauten sich an, Theres traurig, Jana wütend. Sie war so wütend, dass sie Theres’ traurige Augen gar nicht bemerkte. Noch konnte Jana wütend sein. Und wenn ihr jemand gesagt hätte, dass alles noch viel schlimmer würde, so schlimm, dass auch sie nicht mehr wütend, nur noch traurig traurig traurig wäre – sie hätte es nicht geglaubt.

«Rappenhof», flüsterte Theres, «Rappenhof.»

Getrennt

«Ich soll hinten sitzen und mich anschnallen», sagte Theres.

Das konnte nur ein Befehl von ihrer Mutter sein. Als ob Bettina nicht Auto fahren könnte! Außerdem war es zunächst einmal gar nicht sicher, ob Bettina Theres überhaupt mitnehmen würde.