Hufspuren: Geschecktes Glück - Christa Ludwig - E-Book

Hufspuren: Geschecktes Glück E-Book

Christa Ludwig

4,9

Beschreibung

Selbst Jana und Theres ahnen nur entfernt, mit welchen Schwierigkeiten ihre Freundin Alberta zu Hause zu kämpfen hat. Ihr altmodischer Name ist da noch das Geringste. Der harte Widerstand ihres kasachischen Vaters in Dingen, die für andere 14-Jährige selbstverständlich sind, macht Alberta das Leben schwer. Aber da ist der Rappenhof mit der verständnisvollen Isa und da sind die geliebten Isländer. Nur ihr Pferd hat sie noch immer nicht gefunden. Sie will ein Lieblingspferd, das braucht sie jetzt. Sofort! Dann wird diese gescheckte Stute auf den Hof gebracht und Alberta sieht ihr ins Auge, in dieses seltsam blaue, fast menschliche rechte Auge...

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Christa Ludwig

Geschecktes Glück

Inhalt

Lügen

So einer

Der Teppich «Zuhause»

Messer im Dreieck

Ein Eisen ist locker

Wohin?

Schwergewicht im Sattel

Wilderer

Lieblingspferd

Pferde auf Pfoten

Schnabelschuhadventskalender

Namen

Im Club der schwarzen Pferde

Sofapferd

Karo König Dame Bär

Und wie geht’s weiter?

Mini-Lexikon der Pferdefachsprache

Über die Autorin

Lügen

Lügen! Eigentlich konnte sie das doch. Eigentlich gab es doch kaum jemanden, der es besser konnte.

Alberta fuhr schnell. Noch ging es nur leicht bergauf, und dieses Rad war absolute Spitzenklasse. Die kalte Novemberluft war ihr angenehm¸ sie kühlte ihr Gesicht und das tat der Wunde an ihrer Schläfe gut.

Wenn sie ehrlich zu sich selber war, dann waren ihre vielen täglichen Verdrehungen der Wahrheit auch Lügen gewesen.

Langsam! Sie ließ das Rad ausrollen. Sie wollte da, wo sie hinfuhr, doch gar nicht ankommen. Natürlich war sie zu spät, viel zu spät, schon jetzt hatte die erste Schulstunde längst angefangen. Jana und Theres saßen in der Klasse und fragten sich, wo sie wohl blieb. Sie war nie krank. Langsamer fuhr sie weiter, hielt den Kopf in den Wind, fühlte wieder den Schmerz über der rechten Schläfe. Bloß nicht ankommen da! Sie war allein auf der Straße. So weit außerhalb der Stadt fuhr um diese Zeit niemand, und der Weg, von dem sie kam, führte zu nichts als dem verlassenen Bauernhof, in dem man ihre Familie nach der Übersiedlung aus Kasachstan untergebracht hatte. Im letzten Schuljahr noch war Alberta jeden Morgen von dort mit stramm geflochtenen schwarzen Zöpfen und weißen Schleifen aufgebrochen, in einer weißen Rüschenbluse und buntem Glockenrock, mit weißen Kniestrümpfen und schwarzen Schnallenschuhen – eben so, wie in Kasachstan anständige Mädchen zur Schule gingen.

Und genauso war sie auch zu Hause wieder angekommen. Und ihre Eltern hatten niemals geahnt, dass sie in der Schule die Schleifen aus den Zöpfen riss, sich in Janas Jeans und T-Shirts quetschte und in Nikes oder Reeboks von Theres schlüpfte. Janas Hosen waren ihr zu eng. Sie konnte darin kaum atmen. Theres war zwar noch dünner als Jana, aber sie war lang und hatte große Füße. So waren die Schuhe von Theres ein Schuljahr lang alles gewesen, was Alberta gepasst hatte. Trotzdem hatte sie sich in Janas Kleidern wohler gefühlt als in ihren flatternden Glockenröckchen.

Das alles waren doch Lügen gewesen. Sie hatte den Vater, die Mutter, ihre beiden Brüder angelogen, nur ihre Schwester hatte die Wahrheit gewusst und mit ihr gelacht. Lügen, über die man lachen konnte! Und jetzt musste ihr – sofort – eine ganz andere Lüge einfallen, da gab es nichts zu lachen, und da würde es niemals etwas zu lachen geben.

Seit Beginn der 8. Klasse durfte Alberta mit Jeans und Sportschuhen zur Schule fahren. Aber dieses Rad war auch eine Lüge. Der Weg wurde jetzt steil. Sie schaltete in den 3. Gang. Die Schaltung funktionierte vorzüglich. Mit diesem Rad war sehr wahrscheinlich nicht nur ihr Vater betrogen worden. Alberta wusste das nicht genau.

Theres und Jana waren vor zwei Wochen mit ihren Rädern in den Wald gefahren und hatten sie nicht gefragt, ob sie mitkommen wollte. Das war schon komisch gewesen. Sie hatte aber sowieso noch im Stall zu tun, um sich eine Reitstunde zu verdienen. Und mit ihrem Sperrmüll-Klapperrad traute sie sich kaum auf die holprigen Waldwege. Theres und Jana hatten behauptet, sie wollten mit dem Kilometerzähler an Theres’ Rad die Pass-Strecke abmessen, jenen langen, ebenen Weg am Waldrand, auf dem man Rennpass reiten konnte. Alberta hatte sich gewundert, dass Jana sich dafür interessierte. Die ritt keine Isländer und also auch keinen Rennpass. Aber, na ja, die beiden waren allerbeste Freundinnen, und wenn sie schon nicht mehr zusammen ritten, warum sollten sie dann nicht wenigstens zusammen mit den Rädern durch den Wald fahren?

Und bei dieser Radtour war Theres dann etwas wirklich Komisches passiert: Der Lenker war ihr aus den Händen geglitten und das Rad war einen Steilhang hinabgestürzt, nur das Rad, nicht sie. Ihre Mutter hatte ihr daraufhin sofort verboten, dieses Rad weiter zu fahren. Und das war das Einzige an der ganzen Geschichte, worüber Alberta sich überhaupt nicht gewundert hatte. Natürlich würde Frau Rohner niemals zulassen, dass ihre Tochter ein «Unfallrad» fuhr, bei dem sich wahrscheinlich «der Rahmen verzogen hatte». Theres hatte das «Unfallrad» Alberta angeboten. Aber die konnte nur mit den Schultern zucken.

«Für meinen Vater ist das ein Almosen. Niemals nimmt er ein Almosen von stinkreichen Leuten an, nie!»

Und da war Theres mit der Sperrmüllidee gekommen, und zwei Tage später war Sperrmüll gewesen. Komischer Zufall? Sie stellten das Rad in das Suchgebiet von Albertas kleinem Bruder. Grinsend schauten sie hinter einer Hecke zu, wie sich Jakob auf das Rad stürzte. Da war keine Gefahr, dass er es für sich beanspruchen würde. Ein Mädchenrad für einen zehnjährigen Jungen? Unmöglich! Und wie hatte er sich gefreut, als er am Abend die überraschte Schwester zu seinem Fund führte! Und ihr Vater!

Alberta schaltete in den 1. Gang.

Ihr Vater hatte das Rad ganz auseinandergebaut. Mit Kettenschaltung kannte er sich aus, aber mit 21 Gängen hatte er noch nie etwas zu tun gehabt. Doch so etwas konnte er! Er hatte gesungen bei dieser Arbeit. Seit sie in Deutschland waren, hatte sie ihn nicht mehr singen gehört. Und sie liebte seine Stimme. Sie hatte die dunkle, weiche Stimme und die Neigung zu singen von ihm geerbt. Und die schwarzen Kirgisenaugen, die hatte sie auch von ihm. – Ihre Mutter sah vollkommen deutsch aus. – Und als er ihr das Rad blank geputzt und frisch geölt übergeben hatte, war er glücklich gewesen.

War diese ganze Geschichte mit dem Rad nun ein Betrug gewesen? Eine Lüge? Was ist das für ein Betrug, der so viele Menschen glücklich macht und niemandem schadet?

Die Finger ihres Vaters waren noch etwas ölig gewesen und der Lenker ein wenig verschmiert, als er ihn ihr in die Hand drückte. Und er hatte gelacht, und seine Kirgisenaugen hatten geglänzt und tief schwarz geleuchtet und …

Sie hatte die Höhe erreicht. Sofort ging es steil bergab. Sie ließ sich ein paar Meter rollen, dann zog sie beide Bremsen an, so heftig, dass sie nach vorn geworfen wurde, über den Lenker. Da hing sie und heulte.

Ist das bei allen Menschen so, dass Tränen solche Schmerzen machen, wenn sie aus den Augen laufen?

Sie wusste es nicht. Woher sollte sie das wissen? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Vielleicht war bei ihren Augen der Tränenkanal inzwischen verkümmert? Oder verstopft. Und die Tränen mussten sich hinauskämpfen. So ungefähr fühlte sich das an. Sie wischte die Tränen nicht weg. Nur die Wunde an der Schläfe berührte sie mit einem Finger, und da war der Tränenschmerz bloß noch lächerlich. Da wusste sie wieder, was richtiger Schmerz war, und ihre Hände krallten sich fest um den Lenker, damit ihr das Rad nicht die Straße hinuntersauste und wirklich ein Unfallrad wurde.

So stand sie lange und ließ die Tränen laufen.

Aber auf dem Hügel, auf der Höhe hatte man einen guten Blick. Zwar gab es nichts zu sehen, aber viel zu ahnen. Links unten hinter dem Viertel mit kleinen Einfamilien- und ein paar Hochhäusern lag das Schulgelände. Da sollte sie hin. Sie schaute nach rechts. Wenn man dort durch den Wald fuhr und immer auf der Höhe blieb, war es nicht weit bis zu ihren kleinen bunten Freunden, 34 Islandponys, und einer davon …

Blesi, dachte sie, wie immer das jetzt ausgeht, ich will wieder Blesi reiten!

Und dann fiel ihr zwar immer noch keine Lüge ein, aber:

Taggy! Wir haben Taggy in der ersten Stunde. Ich muss noch in der ersten Stunde ankommen. Taggy wird mir helfen. Dem fällt etwas ein. Taggy fällt immer etwas ein.

Sie fuhr durch die Straßen mit den kleinen Einfamilienhäusern, an den Hochhäusern und dem großen Spielplatz vorbei, musste noch einmal bergauf fahren und erreichte das Schulgelände. Alle Tore waren offen, obwohl jetzt niemand mehr ankam. Sie musste nicht absteigen, ließ das Rad die Rampe zum Fahrradkeller hinunterrollen und lenkte es zu ihrem gewohnten Abstellplatz. Jana und Theres hatten ihn für sie frei gelassen. Kurz empfand sie ein warmes Gefühl von Glück. Sie gehörte hierher, die anderen warteten auf sie, hier hatte sie ihren Platz. Daneben war Janas Rad. Am Lenker hing statt des Fahrradhelms ihre Reitkappe. Wahrscheinlich hatte sie den Helm mal wieder nicht gefunden. Alberta löste den Schnappverschluss ihres eigenen Helms, der völlig gewichtslos über ihrem Kopf schwebte. Sie spürte ihn überhaupt nicht. Auch der hatte einmal Theres gehört. Die hatte ihn verschenken müssen, als ihre Mutter in Stiftung Warentest las, dass er nicht mehr Testsieger war. Theres hatte einen neuen Helm bekommen, eben den Testsieger, und der hing jetzt ordentlich an der Lenkstange ihres neuen Rades, das nie einen Hang hinabgestürzt war.

Alberta schaute auf ihre Uhr. Noch 16 Minuten bis zum Ende der ersten Stunde. Sie sollte sich beeilen. Nun hatte sie kaum noch Zeit, sich eine Lüge einfallen zu lassen, nur noch den Weg durch den Fahrradkeller und durch drei Viertel der Pausenhalle. Sie schloss das Rad ab und nahm ihre Tasche vom Gepäckträger.

Felix?

Ja, er war da. Sein Rad stand mitten unter denen der anderen Jungen aus der 9a.

Was will Felix mit therapeutischem Reiten?, dachte sie. Wenn der sich nicht eingemischt hätte, wäre das alles nicht passiert. Und sie verstand ihn nicht. Er hatte das wirklich nicht nötig. Er kriegte doch sowieso immer die besten Pferde unter den Hintern geschoben. Warum wollte er da mitmachen? Niemand macht so etwas freiwillig, oder? Sogar sie hatte ein bisschen Angst davor.

Die dicken Sohlen ihrer Sportschuhe machten kein Geräusch. Trotzdem war es ein wenig gespenstisch, allein durch die große Glashalle zu gehen, vorbei an Papierkörben, Bänken und unter den riesigen grünen Pflanzen in ihren eimergroßen Kübeln. Jana hatte den neuen Fünftklässlern erzählt, dass ein paar davon aus Plastik seien, und nun liefen die Kleinen in verregneten Pausen von Pflanze zu Pflanze, zwickten die Blätter an, suchten die künstlichen und fanden keine.

Lüge?

«Die müssen was zu tun haben, wenn es regnet», fand Jana, «dann rennen sie nicht so viel. Ich helfe dem Aufsichtslehrer.» Alberta ging die Treppe hinunter. Ihr Klassenzimmer lag im Untergeschoss. Selbst bei Sommersonne gab es hier nur künstliches Licht. Zum ersten Mal seit Beginn dieses Schuljahres hatte sie das Gefühl, hier ins Unterirdische, in eine Schlucht, eine Falle zu laufen. Sie drückte die Glastür zum Vorraum auf, zog ihren Anorak aus und hängte ihn neben die von Jana und Theres. Dann stand sie vor der Tür des Klassenzimmers. Dahinter war wieder Licht, das wusste sie doch. Da waren Fenster die ganze Südseite entlang, Blick auf den See. Ein Raum, den man gern haben musste. Nur, ohne eine glaubhafte Lüge wollte sie da nicht hinein. Sie klopfte.

Sie hörte Taggys Stimme von innen, öffnete die Tür einen Spalt, blieb stehen. Sie trat einen Schritt zurück in das lichtlose Dunkel des Vorraums. Sie sah ihn besser als er sie. Seine Augen mussten sich erst an das Dunkel gewöhnen. Sie wartete, den Kopf hoch erhoben. Kein Verstecken, das war sinnlos. Sie sah, wie seine Augen sich dem dämmrigen Licht anpassten, sie sah es an dem Schrecken in seinem Blick.

«Mein Gott, Alberta», flüsterte er, «wie ist das passiert?»

Keine Tränen. Keine Lüge. Sie erzählte ihm die Wahrheit: der Streit mit dem Vater, eine Ohrfeige, weiter nichts, aber sie war mit dem Kopf auf die Tischkante gefallen. Und sie stellte eine Forderung: «Kommen sie mir jetzt nicht mit Jugendamt oder was. Er hat das nicht mit Absicht getan.»

«Aber er hat dich geschlagen?»

Warten. Zögern. Dann gab sie zu: «Ja.»

«Hm.»

«Aber das war nur Pech! Ich werde nicht misshandelt. Da brauche ich keine Hilfe. Sie sollen mir vor der Klasse helfen. Denen will ich das nicht erzählen.»

«Du gehst jetzt zunächst einmal ins Lehrerzimmer, lässt dich weiter vermitteln zu Frau Frick, die wird die Wunde waschen und entscheiden, ob das genäht werden muss.»

«Nein!»

«Willst du ein Leben lang da eine Narbe behalten?»

Alberta schloss die Augen. Das rechte tat dabei weh.

«Und was erzähle ich Frau Frick?», flüsterte sie.

Herr Taggert holte tief Luft.

«Also gut, zuerst die Klasse. Jana und Theres sollen es auch nicht wissen?»

«Nein.»

«Ich verstehe. Ich helfe dir. Also, wir lügen?»

«Genau.»

«Was soll ich erzählen?»

«Das ist es ja. Mir ist nichts eingefallen.»

«Sonst hättest du mich schon angelogen?»

«Ja – oder – ich weiß nicht – es ist nicht so leicht, Sie anzulügen.»

«Danke, das wollte ich hören. Also – kannst du nicht mit dem Rad gestürzt sein?»

«Hab ich auch schon gedacht. Aber dann kriegt Theres die Krise. Weil ich doch ihr Rad bekommen habe. Die denkt dann, es war wirklich ein Unfallrad. Das will ich nicht.»

«Ich verstehe.»

«Sie müssen etwas finden, dass die keine Fragen stellen. Gar keine.»

«Ich?»

«Mir fällt nichts ein.»

«Ah. Also ich.»

Herr Taggert lehnte sich an die Tür. Sie öffnete sich weiter. Alberta trat tiefer ins Dunkle.

«Du bleibst hier stehen», sagte er langsam. «Lass die Tür einen Spalt offen, das sieht man von innen nicht. Du musst mich hören, damit du weißt, was ich denen erzähle.»

«Und was?»

Herr Taggert warf einen Blick zurück in die Klasse.

«Ungefähr acht Meter», murmelte er, «es sind so acht Meter bis zum Lehrerpult. Bis dahin muss mir etwas einfallen.»

Er drehte sich um. Ging langsam zurück. Sehr langsam. Alberta konnte ihn durch den Türspalt nun nicht mehr sehen. Er hatte dann doch etwas mehr Zeit zum Denken: acht Meter plus Lärm in der Klasse. Er forderte nicht «Ruhe!», sondern wartete, bis die Schüler allmählich von selber still wurden. Dann begann er: «Also, Leute, das ist Alberta, die da gekommen ist, und die hat ein Problem. Ich hab sie zum Lehrerzimmer geschickt. Sie soll nicht hören, was ich euch jetzt sage.»

Super! Das war schon mal eine Lüge. Er lügt sich ein, er lügt sich warm, wie langsames Warmreiten am Beginn einer Reitstunde.

«Ihr wisst ja, dass Alberta nicht viel Geld hat. Aber was ihr vielleicht nicht wisst, ist, dass ihre Familie in Kasachstan eine ziemlich gute soziale Stellung hatte. Ihr Vater war Stationsvorsteher an einem Bahnhof. Das war schon was …»

Das war schlecht! Alberta wurde ganz kribbelig. Das war doch die reine Wahrheit, was Taggy da erzählte.

«Ihr müsst also verstehen, wie ungewohnt und unangenehm es für Alberta ist, dass sie nun um jeden Cent kämpfen muss. Sie will nichts geschenkt. Also arbeitet sie. Und sie kann ja was! Sie kann zum Beispiel sehr gut mit Pferden umgehen.»

Die Wahrheit! Immer noch alles die reine Wahrheit.

«Ja, und niemand von uns wusste, nicht mal Jana und Theres, dass sie manchmal schon vor der Schule arbeitet. Bei einem Schmied. Hufe halten. Nicht auf deinem Ulmenhof, Jana, und nicht auf deinem Rappenhof, Theres, sondern in kleinen privaten Ställen. Und da ist heute Morgen ein Unfall passiert.» Genial! Taggy ist genial!

«Das Pferd hat ausgeschlagen und Alberta an der Stirn getroffen. Sieht übel aus. Ist aber vielleicht gar nicht so schlimm. Viel schlimmer ist für Alberta, dass es überhaupt passiert ist. Sie ist nämlich sehr stolz auf ihre Fähigkeit, auch mit schwierigen Pferden umzugehen. Und darum möchte sie nicht darüber reden. Auch nicht mit Jana und Theres. Habt ihr verstanden? Fragt sie einfach – nichts!»

Taggy!, dachte Alberta. So einen Vater müsste man haben. Sie war nicht die Einzige, die sich das wünschte. Theres hatte das auch schon gesagt.

«Ich guck jetzt mal», hörte sie ihn sagen, «ob sie wirklich ins Lehrerzimmer gegangen ist. Das wollte sie nämlich nicht.»

Er kam zur Tür, schloss sie leise und öffnete sie laut. Er grinste Alberta an.

«Okay?», flüsterte er.

«Super! Danke!»

«Ich habe keine Ahnung, ob ein Pferd, das beim Schmied ausschlägt, einen an der Schläfe treffen kann.»

«Den Schmied schon.»

«Den, der die Hufe hält nicht?»

Alberta zuckte die Achseln.

«Wird schon gehen, hab ich noch nicht erlebt, aber wird schon gehen. Hauptsache, die fragen nicht. Danke. Dann geh ich jetzt zu Frau Frick.»

Sie schaute ihn noch einmal an, lächelte, wollte gehen.

«Wart mal», sagte er.

Und plötzlich sah er gar nicht mehr zufrieden aus.

«Ich bin ein schlechter Lügner», seufzte er. «Wenn du das der Frau Frick erzählst und wenn sie dich ins Krankenhaus schickt, weil das genäht werden muss, dann haben wir ein Problem. Wir und dein armer ahnungsloser Schmied, den es gar nicht gibt. Dann ist das ein Arbeitsunfall.»

«Shit», sagte Alberta.

«Wie kommen wir da raus?», überlegte er. «So ist das, wenn man einmal anfängt zu lügen. Du sagst der Frau Frick am besten die Wahrheit.»

«Nein!»

«Versprichst du mir, dass du zu mir kommst, wenn dein Vater noch einmal …»

«Ja.»

«Dann erzähl der Frau Frick was von Fahrradunfall. Und dass deine Freundinnen das nicht wissen sollen.»

«Gut.»

«Ich hoffe, du hast Glück und das muss nicht genäht werden.»

Sie hatte Glück. Nachdem Frau Frick die Wunde gewaschen hatte, sah man, dass es nur eine kleine Platzwunde war.

Und dann hatte Alberta sogar einen Grund, sich zu freuen: auf die 4. Stunde, Geschichte, das hieß: noch einmal Taggy. Am Morgen hatte sie nicht zur Schule gehen wollen und nun saß sie da mit einem Pflaster über dem rechten Auge und wünschte sich, dass diese Stunde niemals aufhören würde. Sie wollte nicht nach Hause. Als Taggy das Klassenzimmer verließ, konnte sie nur noch denken: Ich fahre nicht nach Hause! Ich – fahre – nicht – nach …

So einer

Jana und Theres hatten nichts gefragt!

Alberta schob das Rad die Straße hinauf. Sie hätte mit diesem Rad im 1. Gang die Steigung auch fahren können, aber warum sollte sie? Sie wollte nicht nach Hause. Also ging sie langsam, und ihre Gedanken sammelten alles zusammen, woran sie sich freuen konnte: Blesi in seinem fuchsroten Winterpelz, der sie nichts fragen konnte. Isa vom Rappenhof, die niemals dumme Fragen stellte. Aber auch Jana und Theres hatten sie nicht mit Neugierde genervt.

Das ist Freundschaft, dachte sie. Sie kümmern sich um mich, wenn ich sie brauche, und sie lassen mich in Ruhe, wenn ich nicht gefragt werden möchte.

Natürlich würde sie den beiden die Wahrheit sagen, nur jetzt ertrug sie das noch nicht, und die anderen in der Klasse würden nie etwas erfahren. Felix? Mit dem konnte man reden. Aber den würde sie zunächst selber etwas fragen, nämlich, wie er auf die absurde Idee gekommen war, beim therapeutischen Reiten helfen zu wollen.

Als sie die Höhe erreichte, musste sie sich entscheiden. Sie zögerte nicht, sie hatte die Entscheidung ja schon längst getroffen. Sie schwang sich auf das Rad und lenkte es nach links auf den Feldweg. Nach wenigen Metern ging es ein kurzes Stück steil hinab. Alberta stürzte sich in die Senke, ließ sich hinunterfallen, genoss den Wind, schüttelte ihre nur noch kinnlangen Haare, nützte den Schwung, als es ebenso heftig nach oben ging, musste sich dennoch anstrengen, schaltete nur bis in den 5. Gang herunter, fuhr im Stehen und hatte das Gefühl, dem ganzen Elend entkommen zu sein. Die Wunde an der Stirn, der Streit mit dem Vater, seine Wut, sein Verbot – alles war jenseits der Senke zurückgeblieben, da, wo die Straße geradeaus nach Hause führte. Hinübergerettet hatte sie ihre Sammlung von all dem, was ihr Freude machte.

Sie war auf diesem Feldweg völlig allein. Da niemand sie hören konnte, sang sie ein kleines russisches Lied und dachte keinen Augenblick daran, dass sie es mit einer Stimme sang, die der ihres Vater so sehr ähnlich war, nur eine Mädchenstimme eben, aber dunkel und volltönend wie seine.

Es wurde eine Freude-Sammelfahrt: Ihre Gedanken verwandelten das Geräusch der raschelnden Blätter unter den Fahrradreifen in den knatternden Viertakt töltender Islandpferde. Der Regen hatte aufgehört, und der weiterhin frische Wind schob immer mal wieder die Wolken von der Sonne, Novembersonne, selten genug. Sie schaute nach rechts in einen Weg, der schon zu ihrer Ausreitstrecke gehörte. Und links lag der Hang, den einmal dieses Rad hinabgestürzt war – das erzählte Theres, das behauptete Jana – Freundschaft! Man kann mit jedem Vater leben, wenn man solche Freundinnen hat. Und dann der Blick auf den Hof …

Da waren sie! Wahrscheinlich alle im Paddock. Welches Islandpferd geht im November in den Stall? Auch Don Pedro Calderón de la Barca und Federico García Lorca, die beiden weißen Andalusierhengste, standen draußen in ihrem eigenen Paddock und dösten in der Sonne. Alberta suchte Blesi. Er war einer der Kleinsten, vielleicht der Kleinste von allen, ein heller Fuchs mit Blesse, breit auf der Stirn und schmal auf der Nasenlinie – da, er zwickte den großen Mausfalben Gustur gerade in die Kruppe, das musste er sein, klein und frech und genauso lieb.

Alberta näherte sich dem Hof von hinten. Sie musste die Scheune umfahren und radelte über den weiten gepflasterten Platz. Rechts in dem Fachwerkhaus hielten Isa und Sven gerade ihre Mittagspause, sie würde nicht stören. Oder Sven war in der großen Scheune. Da wurde gearbeitet, denn aus der Scheune sollte eine Reithalle werden. Sie stellte das Rad vor dem Stalltor ab und öffnete die schwere Tür. An der Tafel neben dem Reiterstüble stand noch die Einteilung der Pferde für den Ausritt von gestern. Links die Krankenbox war leer. Svala, die verletzte schwarze Stute, war noch in Zürich in der Pferdeklinik. Morgen oder übermorgen sollte sie zurückkommen. Alberta kroch durch die Balken, die den Vorraum vom Stall trennten und ging in den Paddock. Vor ihr stand Isas kleine Stute Harpa, bunt wie kein anderes Pferd in dieser Herde, denn sie war ein Braunscheck mit schwarzer Mähne. Ausgerechnet Svens Fuchsschecke Kari ging hinter ihr vorbei, blieb stehen und knabberte an ihrem hellen Schweif. Für einen Augenblick würfelten die beiden fast alle Farben und Flecken der Schecken durcheinander: Weiß und Braun und Rot und Schwarz. Dann quietschte Harpa und Kari nahm Abstand von ihren Hinterbeinen. Blesi stand noch neben Gustur. Ob er auf sie zukommen würde? Sie verbreitete keine Aufregung, als sie durch die Pferde lief. Die Schlafenden blieben liegen, die Ruhenden dösten weiter, zwei Rappen stiegen und jagten sich. Gustur hatte Blesi den Biss in die Kruppe offenbar nicht übel genommen. Die beiden standen sich gegenüber und beknabberten sich gegenseitig den Widerrist.

«Blesi!», rief Alberta.

Sein linkes Ohr zuckte in ihre Richtung. Das war alles. Sie war ein wenig enttäuscht, schloss die Augen und holte tief Luft. Sie versuchte ihre Freude-Sammlung bis tief in die Lungen zu atmen.

Festhalten, dachte sie, ich geb das nicht her.

Aber an ihrer rechten Schläfe pochte der Schmerz, und seit wann die Wolken wieder die Sonne verdeckten, wusste sie nicht.

Ich will ein Pferd, dachte sie, kein eigenes, Unsinn, ich will nur, dass es mich mag, und es soll auf mich zukommen, wie Bjalla immer zu Theres gegangen ist.

«Blesi!», rief sie.

Aber da zuckte nicht einmal mehr ein Ohr. Blesi hatte keine Zeit für sie.

Ich hab doch Glück!, redete sie sich ein. Ich darf ihn immer mal wieder reiten, und ich darf immer hier sein, nein, darf ich nicht mehr, doch, tu ich doch, aber ich will, dass er mich gern hat – Theres hat auch kein Pferd mehr, aber immer noch einen Hund, und Jana –

Sie drehte sich um und ging zurück durch den Stall.

Vielleicht sollte ich mal in eine Disco gehen, dachte sie. Wenn er sich sowieso schon aufregt – wegen Felix, Himmel! –, dann kann ich ihm auch einen Grund geben und gleich in eine Disco gehen. Ich bin vierzehn und ich bin jetzt hier. Die anderen Mädchen haben mit vierzehn wirklich einen Freund. Vielleicht hat Irina ja recht. Es kommt vor, dass ältere Schwestern recht haben. Aber doch nicht Felix! Dieses Kind! Dieses blonde Mädchengesicht. Wenn er nicht so große Hände und Füße hätte, würde man ihn glatt für ein Mädchen halten.

Alberta schaute wieder auf die Tafel, auf der noch die Pferde für den Sonntagsausritt eingetragen waren. Blesi war also gestern im Gelände gewesen, und heute war er mit Sicherheit auch eingeteilt, sie würde ihn also nicht reiten dürfen. Unter der Tafel stand das Regal, in dem Isa und Sven immer alle Fundsachen aufbewahrten: eine Reitkappe, zwei Gerten, eine Trinkflasche und ein mit einem Stein beschwertes Stück Papier, dazu ein weiterer Zettel, auf dem stand:«Alberta?» Sie faltete das Blatt auseinander, aber darauf war nicht ihre Schrift, sie las:

Bleikálóttur – Fifilbleikur – Halastjörnott – Vindott – Steingrár – Hvitur – Stjörnótt – Albinói …

Woran erinnerte sie das? Natürlich! Natalie! Vor zwei Wochen, beim Reitkurs war die dabei gewesen, hatte sie alle genervt, hatte aus Sven lauter isländische Wörter für Pferdefarben und Namen gequetscht und dauernd etwas aufgeschrieben. Nun war sie wieder verschwunden. Niemand vermisste sie. Auf dem Ulmenhof, wo Jana noch immer ihre geliebten Großpferde ritt, war sie auch nicht wieder aufgetaucht. Das hätte Jana mit Sicherheit und mit schnaubender Empörung erzählt. Aber irgendwo hatte Natalie eine Gelegenheit zu reiten. Egal! Völlig egal, wo Natalie ritt, wenn es nur nicht hier war. Alberta wollte den Zettel zurücklegen, aber ihre Augen blieben an den seltsamen isländischen Buchstaben und Silben hängen. Gar nicht so verkehrt von Isa, zu glauben, dass dies ihr gehöre. Auch ihr gefielen die isländischen Wörter.

Den Zettel in der Hand und murmelnd: «Raud Breidblesóttur – Fuchs mit breiter Blesse …», ging sie zurück zu der Herde.

So viele Worte für Pferdefarben! So viele eben, wie Isländer Farben haben. Das waren Worte wie Zaubersprüche, magische Formeln, Beschwörungen von Glück, Trab und Licht, von Spaß, Tölt und Wind, von Genuss, Galopp und sprühender Lebensfreude. Ein Pony kam auf sie zu. Dunkle Augen blickten durch die hellen Strähnen eines schneereifweißen Schopfes. War das Hrimfaxi, Reifmähne? Oder war es Vindfaxi, Windmähne? Auf jeden Fall einer von den beiden Faxis. Der Windfarbene mit dem eisendunklen Körper schnaubte ihr ins Gesicht.

Hrimfaxi? Nicht Blesi?

Vielleicht suchen Pferde sich ihre Menschen selber aus? Aber es würde mindestens ein Jahr dauern, bis sie den reiten durfte. Er war nicht gerade ein Anfängerpferd. Und er war sehr beliebt bei den fortgeschrittenen Reitern. Sie spielte mit den Strähnen seiner hellen Reifmähne und wartete auf den Knacks, auf den Kick, wartete auf das Gefühl, dass ihr dieses Pony mehr bedeutete als die Schecken, Rappen, Falben …

Es muss nicht unbedingt Blesi sein, dachte sie. Es ist gar nicht Blesi.

Eigentlich hatte sie noch nie ein richtiges Lieblingspferd gehabt. Der Gedanke schmerzte wie die Wunde an der Stirn. Gern hatte sie alle, aber keines hatte sie vor allen geliebt.

So ist es, dachte sie, und so ist es mit mir auch. Ich bin nur so nebenbei. Jana und Theres sind schon meine Freundinnen, aber Theres leidet furchtbar darunter, dass Jana auf dem Ulmenhof bleibt, und sie freut sich nur ein bisschen darüber, dass ich mit ihr hier bin.

Auch diese Erkenntnis tat weh. Und Felix? Immer vergaß sie Felix. Sie mochte ihn sehr, ungefähr so, wie sie alle diese Pferde mochte, aber keines mehr als die anderen, auch nicht Blesi. Und Hrimfaxi war inzwischen gegangen.

Er hat nur vorsichtig gefragt, ob er ein Leckerli haben könnte, verstand sie, er ist nicht zu mir gekommen.

Sie faltete den Zettel zusammen und ging zurück durch den Stall. Kater Isidor kam ihr mit einer Maus entgegen. Der kleine graue Tiger war immer auf Jagd.

Ich will ein Lieblingspferd, dachte sie, das brauche ich jetzt. Sofort!

Unter dem Pflaster auf ihrer Stirn spannte das verkrustete Blut auf ihrer Haut.

Sie beschwerte den Zettel wieder mit dem Stein im Fundregal und verließ den Stall. Sie nahm ihr Rad, jetzt konnte sie nur noch nach Hause fahren. Das hätte sie gleich tun sollen. Es würde Ärger geben. Und hier war nichts für sie zu tun. Wenn sie hier keine Arbeit hatte, wartete niemand auf sie.

Sie fuhr nicht wieder durch den Wald zurück, sondern ihre gewohnte tägliche Strecke zwischen Haus und Stall. Sie fuhr schnell und blickte starr geradeaus. Dabei sieht man natürlich nicht viel von dem, was rechts und links in den Feldern passiert. Sie schaltete in den oberen Gängen herum, sie suchte einen Widerstand, damit sie fest zutreten konnte, voller Wut. Aber die schmale Straße war eben, und je wütender sie in die Pedale trat, desto schneller wurde sie. Sie flog dahin über Erdbollen, platt gewalzt von Autos, erst vor zwei Wochen war das Maisfeld abgeerntet worden. Sie raste auf eine sanfte Kurve zu, die war kein Problem, auch nicht bei diesem Tempo, und Autos fuhren hier erst am Nachmittag, wenn die Reitstunden begannen. Niemand überholte sie, niemand kam ihr entgegen, nur rechts von ihr wieherte etwas im Feld.

Bremsen!

Vorsicht! Erst das Hinterrad. Hatte Theres ihr eingeschärft: Bremsen immer erst rechts. Noch machte Alberta das nicht automatisch. Ihr Sperrmüll-Klapperrad war ein altes Fünfgang mit Rücktritt gewesen. Und Vorsicht! Die Erdbollen.

Sie stand. Sie schaute nach rechts. Mitten im abgeernteten Maisfeld schnaubte ein Pony. Sie erkannte es sofort. Die fünf Schecken vom Rappenhof hatte sie auswendig gelernt wie ein Gedicht:

Da ist Harpa, die dreifarbene Harfe,

Isas Dreiklang,

schwarz und weiß und kastanienbraun.

Da ist Kari Apfelsinenscheck,

Svens heller Passer,