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Der Prager Frühling, die Ölkrise der 1970er-Jahre, das Attentat auf Papst Johannes Paul II. oder der Fall des Eisernen Vorhangs: Hugo Portisch war stets mittendrin. Als bedeutendster Journalist der Zweiten Republik berichtete er nicht nur von den Ereignissen in der Welt, er erklärte sie seinem Publikum. Durch seine Berichte werden politische Umbrüche verständlich, deren Folgen bis heute andauern. Ein Stück Zeitgeschichte, wie es erhellender und spannender nicht sein könnte.
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2024
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HUGO PORTISCHS
Peter Schöber (Hsg.):
Hugo Portischs
große Momente der Zeitgeschichte
Alle Rechte vorbehalten
©2024 edition a, Wien
www.edition-a.at
Coverfoto: First Look / picturedesk.com
Fotos im Buch: ORF
Cover: Bastian Welzer
Satz: Bastian Welzer
Redaktion: Sophia Volpini
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 27 26 25 24
ISBN: 978-3-99001-785-2
eISBN: 978-3-99001-793-7
Herausgegeben vonPeter Schöber
edition a
Vorwort von Peter Schöber
I. DIE SOZIALISTISCHE UTOPIE UND IHRE WIRKLICHKEIT
Der Prager Frühling
Der Sonderweg Jugoslawiens
Streiks in Polen
II. DER KALTE KRIEG
Der Vietnamkrieg
Ein kleiner Schritt für die Menschheit ...
Die SALT-Konferenz: Zehn Jahre verhandeln für den Frieden
III. EUROPA IM UMBRUCH
Der General und die Studenten: Mai 68
Der Nordirland-Konflikt
IV. DER LANGE WEG ZUR EU
Eine französischdeutsche Liebesgeschichte
Großbritannien und Europa: Eine wechselhafte Beziehung
V. WELTPOLITIK
Der Nahe Osten und seine Konflikte
Die Suez-Krise
Der Krieg zwischen Indien und Pakistan und die Entstehung Bangladeschs
Chinas Aufstieg zur globalen Macht
Die Islamische Revolution im Iran
Weltweite Wirtschaftskrisen: Reaganomics und die Folgen
VI. GUTEN ABEND, MEINE DAMEN UND HERREN
Jubiläum der Vereinten Nationen
Jahresrückblick 1979: Ein Friedensplädoyer
Jahresrückblick 1993: Hoffnung in der Krise
Nachwort von Herbert Hayduck
In memoriam Peter Dusek
Hauptabteilungsleiter des ORF-Fernseharchivs 1988 bis 2008
Der Welterklärer
»Guten Abend, meine Damen und Herren.« Mit diesen Worten begrüßte uns Hugo Portisch über Jahrzehnte hinweg. Kaum ein österreichischer Haushalt kannte sie nicht, die legendären Grußworte des Journalisten Hugo Portisch.
Im Hause Schöber gehörte es zur Pflichtübung, abends als Familie gemeinsam die Zeit im Bild zu schauen. Am Mittagstisch wurde politisiert, am Abend lauschte man Hugo Portisch, dem Welterklärer. Seine Analysen der 1970er und 1980er Jahre begleiteten mich als Kind und jungen Erwachsenen. Wenn die Zeit-im-Bild-Moderatoren sagten: »Und nun dürfen wir Dr. Hugo Portisch bei uns im Studio begrüßen, mit einem Kommentar zum aktuellen Weltgeschehen«, hörten alle gespannt zu. Er brachte die Dinge auf den Punkt, der Chef-Kommentator des ORF.
Denn das war es, was ihn so besonders machte: Dr. Hugo Portisch berichtete nicht bloß, er erklärte. Sein Hauptfokus lag auf dem Verstehen und Hinterfragen des Weltgeschehens und welche Bedeutung es für Österreich hatte. Es gab nur wenige Menschen, die in der Geschichte so unterschiedlicher Themenfelder wie dem Nahost-Konflikt oder dem Kalten Krieg so beschlagen waren wie Dr. Portisch. Dabei war es ihm wichtig, stets neutral zu bleiben und nicht Partei zu ergreifen. Das, was heute »journalistische Integrität« genannt und für so wichtig erachtet wird, wurde von Dr. Portisch immer mitgedacht und für nachfolgende Journalisten-Generationen definiert. Während ihm das einige zum Vorwurf machten, so finde ich doch, dass er damit eines der höchsten Güter eines guten Journalisten bewahrte. Denn als Journalisten ist es nicht unsere Aufgabe, Partei zu ergreifen, sondern neutral, »ohne bias«, wie er sagte, also ohne Vorurteil, zu berichten. Aus diesem Grund hatte Hugo Portisch auch gute Beziehungen in den Osten. Er war kein Sprachrohr des Westens, positionierte sich nicht, sondern schenkte beiden Seiten das gleiche Gehör.
Hugo Portisch wollte alle Seiten verstehen und das, was er verstand, mit der österreichischen Bevölkerung teilen. In seinen Augen war es wichtig, Prozesse nachvollziehen zu können. Warum handelt jemand so, wie er handelt? Warum greift dieses oder jenes Land ein anderes an? Was steckt dahinter? Woher rühren Konflikte und Unstimmigkeiten? Versucht man zu verstehen, so fällt es auch leichter, Lösungen zu erkennen. In unserer heutigen Zeit ist das leider eine seltene Gabe geworden. Zu oft wird der Wille zum Verständnis eines Tatbestands mit dessen Akzeptanz oder gar dessen Zustimmung verwechselt. Hugo Portisch war aber genau diese Unterscheidung immer wichtig.
Während ich nun also bereits im Elternhaus und danach im ersten Eigenheim Hugo Portischs Kommentare zum Weltgeschehen verfolgte, entwickelte ich mich selbst zum Journalisten. Hugo Portisch war dabei immer ein großes Vorbild für mich. Ich glaube, ich kann für viele Journalistinnen und Journalisten meiner und auch der jüngeren Generation sprechen, wenn ich sage, er war und ist eine Inspiration für uns.
Mein erstes Treffen mit Dr. Portisch fand im Zuge des Projekts »Schauplätze der Zukunft« statt. In den 1990er Jahren, als das Internet und die Computertechnologie die Allgemeinheit erreichten, suchte der ORF nach einem passenden Gesicht für die Sendung, jemanden, der an diese Schauplätze der Zukunft reisen sollte, an das MIT nach Boston zum Beispiel. Die Wahl fiel auf Hugo Portisch. Bescheiden und sich selbst infrage stellend war seine initiale Reaktion: »Bin ich denn überhaupt der Richtige dafür?«
Wir wussten, Österreich vertraute Hugo Portisch. So ging ich als noch junger leitender Redakteur und Büroleiter der Informationsintendanz gemeinsam mit Hannes Leopoldseder, der eine große Rolle in diesem Projekt spielte, zu Hugo Portisch, um ihn von unserem Vorhaben zu überzeugen. Nach anfänglichem Zögern sagte er schließlich zu. Daraus entstand eine tolle Informationsreihe. Noch schöner: Es war der Beginn einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit und Freundschaft. Ich durfte in den folgenden Jahren viel von ihm lernen. Der Initiative des damaligen ORF-Generaldirektors Alexander Wrabetz ist es zu verdanken, dass wir im Zuge des Starts von ORF III im Jahr 2011 Hugo Portisch überzeugen konnten, zuerst seine großen Reihen Österreich I, Österreich II und Hört die Signale komplett neu zu bearbeiten und mit neuen Folgen zu ergänzen. In weiterer Folge produzierte Hugo Portisch mit der ORF-III-Zeitgeschichte-Redaktion neue Reihen und Dokumentationen wie etwa Wir und Europa oder auch seine dreiteilige autobiografische Dokumentation Aufregend war es immer.
Nie zuvor und nie danach traf ich auf jemanden, der so genau, so exakt formulierte und solch einen Wert auf die richtigen Worte legte wie Hugo Portisch. Er ging jeden einzelnen Satz akribisch durch und lieferte Texte, die stets druckreif waren. Diese unglaubliche Qualität seiner Arbeit werde ich stets bewundern.
Zu einem guten Journalisten gehört es auch, sich mit Kollegen zu beraten und zu besprechen. Journalisten sind keine Einzelkämpfer. So kam es nicht selten vor, dass mich Herr Portisch zu einer Zeit anrief, die dem einen oder anderen ungewöhnlich vorkommen mag. Zum Glück war ich, wie er, ein Nachtmensch. Manch anderer hätte vielleicht nicht abgehoben, wenn das Telefon um Mitternacht läutete. »Störe ich eh nicht?«, fragte er höflich. Mich störte er nie, das wusste er auch, und so besprachen wir oft mitten in der Nacht, wie wir Texte und Formulierungen seiner vielen Dokumentarreihen neu bearbeiten sollten.
Hugo Portisch wusste schon immer: Das schärfste Schwert, das ein Journalist in der Hand halten kann, ist das Wort. Im Fernsehen auch das Bild, aber vor allem eben das gesprochene oder das gedruckte Wort. Er arbeitete genau und differenziert, pauschalisierte nicht, sondern vertiefte sich in Themen. Er war stets interessiert und unglaublich neugierig. Jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, lag ein Packen Zeitungen auf dem Tisch, allesamt bereits von ihm gelesen.
Eines von Portischs großen Mottos war die Formulierung »Check, Re-Check, Double-Check«. Während die klassische Methode des »Check, Re-Check« durchaus bei der Quellenprüfung anderer Journalisten üblich war, so reichte das Portisch nicht. Er hatte einen höheren Anspruch und setzte mit dem dritten Element, dem Double-Check, einen neuen Maßstab in der Quellenprüfung. Portisch prüfte jede Quelle, jedes Faktum, jede Jahreszahl, jeden Zusammenhang, den er beschrieb, nicht nur einmal, auch nicht zweimal, sondern dreimal. Portisch verbreitete geprüfte Fakten, keine Gerüchte, keine, wie wir sie heute nennen würden, Fake News und keine Halbwahrheiten. Gerade heute brauchen wir diesen Leitsatz von Check, Re-Check, Double-Check mehr denn je.
Doch Hugo Portisch war nicht nur Chronist und Berichterstatter, er war auch Zeitzeuge. Wenn wir uns seine Vergangenheit und seinen Lebensweg genauer ansehen, dann wird klar, warum er stets objektiv berichtete und doch auch ein harmoniesuchender Mensch war. Hugo Portisch war Jahrgang 1927. Er ist einer Einberufung durch die deutsche Wehrmacht, dem damaligen Volkssturm, gerade noch entkommen. Er war zu dieser Zeit Maturant, 18 Jahre alt, und konnte in diesen letzten, chaotischen Wochen des Zweiten Weltkriegs aufgrund einer Reise ins heutige Tschechien die aktive Kriegsteilnahme vermeiden. Auch wenn ihm der Einzug in den Krieg erspart blieb, so musste er dennoch die Schrecken dieses Kriegs als junger Mensch miterleben. Das prägte ihn mit Sicherheit im Sinne einer grundlegenden Antikriegshaltung.
Bereits sein Vater war Journalist, und Portisch entschloss sich, diesem Weg zu folgen. Er machte sich auf den Weg nach Wien, um dort an einer zerbombten Universität zu studieren und diese mit den anderen Studenten wiederaufzubauen.
Er wurde wie sein Vater Zeitungsjournalist, verbrachte im Zuge von Ausbildungsaktivitäten immer wieder mehrere Monate in Amerika, wo er das Zeitungs-Handwerk lernte. Von 1958 bis 1967 war er Chefredakteur des Kurier. Während seiner Tätigkeit als Kurier-Chefredakteur initiierte er 1964 das Rundfunkvolksbegehren für einen unabhängigen ORF. Neben inhaltlichen Reformen und der essenziellen Entpolitisierung des Senders stand auch die Wahl eines neuen Generalintendanten auf der Agenda. Eine neue Grundform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und ein Meilenstein in der Rundfunkgeschichte wurden mit dieser, von ihm initierten, Reform gesetzt. Der ORF wurde völlig neu aufgebaut, von der Führungsebene bis hin zur inhaltlichen Gestaltung. Der neue Generalintendant Gerd Bacher, selbst Zeitungsjournalist, holte im Jahr 1967 Hugo Portisch mit in sein Kernteam. Er wollte seine sogenannte Informationsoffensive starten und wusste mit Portisch einen würdigen Journalisten an seiner Seite. Ohne Hugo Portisch gäbe es den ORF in seiner heutigen Form wohl gar nicht. Erst nach diesem Volksbegehren wurden die ersten tatsächlich unabhängigen, vor allem innenpolitischen, Redaktionen gegründet. Das war auch der Startschuss für die Kommentare, auf die wir uns in diesem Buch beziehen.
Wie Sie im vorliegenden Werk lesen und sehen werden, war Portisch überall auf der Welt unterwegs und führte Interviews mit den politischen Größen des 20. Jahrhunderts. Er interviewte nicht nur Henry Kissinger und Prinz Philip, er war auch einer der ersten Journalisten, denen Zugang zu den amerikanischen Interkontinentalraketen gewährt wurden. Er legte mit seinen Kommentaren die Spannungslage des aktuellen Weltgeschehens dar: der Warschauer Pakt auf der einen Seite, die NATO auf der anderen. Wir behandeln im Folgenden prägende Momente und Konflikte der 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Die Spannungen, die Hugo Portisch in den hier angeführten Beiträgen beschreibt, halten bis heute an. Neben Friedensverhandlungen und Beendigungen von Kriegen stehen auch anhaltende Konflikte im Vordergrund, die sich weder damals noch heute einer diplomatischen und nachhaltigen Lösung erfreuen durften.
Wir werden vom Beginn einer Europäischen Union und dem Beitritt Englands lesen, der vor dem Hintergrund des Brexits in einem völlig neuen Licht erscheint. Allgegenwärtig und auch Herzensthema Portischs war der Konflikt zwischen Ost und West. Die damalige UdSSR gegen die USA. Und all die Stellvertreterkriege, die diese Dynamik mit sich brachte.
Doch auch Konflikte, die nicht direkt mit Mitteleuropa zu tun hatten, brachte Portisch in die Wohnzimmer der Menschen und zeigte ihre globale Bedeutung auf: Von der Spaltung Pakistans bis hin zu den blutigen Auseinandersetzungen rund um Nordirland – Portisch gewährte uns mit seinen Kommentaren einen Einblick in Auseinandersetzungen, die nichts an Aktualität verloren haben und unsere Gegenwart genauso bestimmen wie jene der Menschen damals.
Betrachten wir die Krisenherde der Welt von vor zwanzig, dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren, so wird ersichtlich, dass sich viel geändert hat und gleichzeitig doch vieles gleich geblieben ist. Dieser Sprung in die Vergangenheit, in das Fernsehen und die Berichterstattung vergangener Jahrzehnte, ist auch ein Bekenntnis zu ausgewogenem und objektivem Journalismus und gleichzeitig eine Mahnung. Ohne ihn geht es nicht. Ohne ihn wird der Wille zum Verständnis komplexer Sachverhalte ersetzt durch die Überforderung, durch eine ungefilterte, unseriöse, im besten Fall nicht eingeordnete, im schlimmsten Fall instrumentalisierte Informationsflut. Die folgende Auswahl der bedeutendsten Kommentare Portischs soll uns also nicht nur an wichtige historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnern, deren Auswirkungen auch für uns heute noch zu spüren sind, und sie verstehen helfen. Sie soll auch als Beispiel für hochqualitativen Journalismus dienen, der in unseren Zeiten alles andere als selbstverständlich geworden ist.
Sie lesen im Folgenden Abschriften von Fernseh-Kommentaren, die Hugo Portisch zwischen 1968 und 1993 in Nachrichtensendungen des ORF präsentiert hat und die im ORF-Archiv aufbewahrt sind.
Aus Gründen der Lesbarkeit sind Hugo Portischs Kommentare editiert und gekürzt. Inhalt und Sinn blieben dabei erhalten.
Historische Einordnungen geben einen Kontext für die Kommentare und erleichtern das Verständnis der Ereignisse, über die Hugo Portisch berichtet.
Die Entwicklungen der Sowjetunion, Jugoslawiens und des »Ostblocks« nach 1945
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelangte das Gebiet des heutigen Tschechiens und der Slowakei, die während des Kriegs von Nazi-Deutschland besetzt worden waren, unter sowjetischen Einfluss. Die Tschechoslowakische Republik entstand mit der Hauptstadt Prag, in der die kommunistische Partei Tschechiens de facto allein regierte.
Im Jänner 1968 wurde Alexander Dubček zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) gewählt. Unter seiner Idee des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« öffnete sich die Politik: Die Zensur wurde aufgehoben, Versammlungsfreiheit gewährt, politische Häftlinge wurden freigelassen, und auch die Wirtschaft wurde liberalisiert. Diese Bewegung wurde als »Prager Frühling« bekannt.
Die anderen Mitglieder des Warschauer Pakts beziehungsweise des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen »Ostblocks«, allen voran die Sowjetunion, sahen diese Bestrebungen kritisch.
Sie befürchteten, dass eine Liberalisierung den Kommunismus schwächen und andere Länder zu ähnlichen Bewegungen inspirieren könnte.
Im Juli 1968 erreichten die Reformen des Prager Frühlings ihren Höhepunkt. Die Spannungen zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion verhärteten sich. Der Erste Sekretär der kommunistischen Partei Russlands, Leonid Breschnew, und die sowjetische Führung sahen sich zum Handeln gezwungen. So wurde im Juli 1968 eine Sondersitzung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) ausgerufen. Ein entscheidender Moment im Prager Frühling, wie Hugo Portisch berichtete.
Tschechoslowakischsowjetische Verhandlungen
30. Juli 1968
Nun, meine Damen und Herren, zur Stunde, da wir diesen Kommentar in Prag abdrehen, abdrehen müssen, damit er Sie noch rechtzeitig in Wien erreicht, ist hier nur ein lakonischer Satz bekannt. Die tschechoslowakischen und sowjetischen Politiker hatten sich zusammengesetzt, um ihre Standpunkte und Ansichten auszutauschen. Allerdings weiß man schon einiges mehr. Zum Zeitpunkt, da die tschechoslowakischen und sowjetischen Führer beisammen saßen, sind sowjetische Divisionen in Polen und in der DDR in Marsch gesetzt worden, in die Richtung auf die tschechoslowakische Grenze.
Nun, die tschechoslowakischen Führer haben bei den Verhandlungen mit den Sowjets die Nerven nicht verloren. Sie betrachten diesen Aufmarsch der sowjetischen Armee, der jetzt nicht nur auf sowjetischem Gebiet stattfindet, sondern auch auf ostdeutschem und polnischem, zunächst einmal nur als ein weiteres psychologisches Druckmittel.
Hugo Portisch berichtet direkt von den Straßen Prags
Unter starkem psychologischem Druck sind die tschechoslowakischen Verhandlungspartner wohl gestanden. Die erste sowjetische Forderung lautete, von der Tschechoslowakei die Stationierung von zwei sowjetischen Divisionen zu fordern. Diese beiden Divisionen sollen in Westböhmen eingesetzt werden zur Sicherung der tschechoslowakischen Grenze nach dem Westen hin.
Meine Damen und Herren, auf ideologischem Gebiet hat die tschechoslowakische Führung eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die den Sowjets ebenfalls Garantien geben soll. Zum Beispiel dort, wo die Sowjetunion und die anderen fünf Warschauer-Pakt-Mitgliedstaaten [Deutsche Demokratische Republik, Volksrepublik Polen, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Volksrepublik Ungarn, Volksrepublik Bulgarien] meinen, dass die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit hier zu weit geht. So wäre man bereit, durch Beratungskomitees in Rundfunk und Fernsehen, die ja bereits eingesetzt worden sind, Beratungskomitees in den Ministerien, die die Chefredakteure der Zeitungen und das Fernsehen beraten würden, gewisse Auswüchse zu vermeiden, jene Artikel und Veröffentlichungen zu vermeiden, die die Sowjetunion am allermeisten gestört haben.
Man hat weiters angeboten, die Sowjetunion in ihrem außenpolitischen Kurs vorbehaltlos zu unterstützen, insbesondere was die deutsche Bundesrepublik betrifft. Man hat angeboten, dass man ein ganz großes Anliegen der Sowjetunion unterstützen würde, nämlich das Treffen der kommunistischen Parteien der Welt, das im Herbst dieses Jahres in Moskau stattfinden soll. Bei diesem Treffen wird es der Sowjetunion um jede Stimme gehen. Hier wäre die Tschechoslowakei bereit auszusagen, dass die Sowjetunion einem kleineren Land gestattet hat, seinen eigenen Weg zum Sozialismus zu gehen, und dass man sich unter der sowjetischen Fahne durchaus scharen kann, dass die Weltkommunistische Bewegung die Leitung Moskaus akzeptieren kann, also auch eine ganz wesentliche Konzession. Im Übrigen waren die tschechoslowakischen Verhandlungspartner sehr darauf aus, wenn es zu keinem positiven Resultat bei diesen Verhandlungen kommen kann, so zumindest eine Vertagung zu erreichen.
Sie plädierten für eine Bewährungsprobe. Sie schlugen sogar vor, man möge Beobachterteams in die Tschechoslowakei schicken, aus den Warschauer-Pakt-Staaten. Diese Beobachterteams könnten sich davon überzeugen, dass die tschechoslowakische Armee die Westgrenze verteidigt. Könnten sich davon überzeugen, dass in diesem Lande keine Konterrevolution vor sich geht, könnten sich davon überzeugen, dass hier keine reaktionären Kräfte am Werke sind. Und dann solle man den Dialog fortsetzen, wenn diese Beobachterteams referiert haben, wenn man weiß, was in diesem Lande tatsächlich vor sich geht. Also ein Aufs-Eis-Legen dieser Fragen. Mittlerweile aber haben nicht nur die Sowjets mit ihren Truppen psychologischen Druck auf die Tschechoslowakei ausgeübt, auch die Tschechoslowakei hat noch bestimmte Reserven.
So ist zum Beispiel der jugoslawische Staatspräsident Tito bereit, innerhalb weniger Stunden nach Prag zu kommen, wenn die tschechoslowakische Führung diese Unterstützung benötigt. Ebenso will auch der rumänische Staatspräsident Ceauşescu hierherkommen, um den Tschechoslowaken Unterstützung zu geben. Die Tschechoslowaken versuchen, überhaupt die Sowjets dazu zu bewegen, aus dieser Diskussion um die Entwicklung in der Tschechoslowakei eine internationale kommunistische Diskussion zu machen. Es mögen viele gefragt werden, es möge mit vielen diskutiert werden, und man will Zeit gewinnen. Eine Zeit, in der die Tschechoslowakei beweisen kann, dass sie ein treuer Verbündeter der Sowjetunion bleibt, dass sie ihre Liberalisierung und Demokratisierung zwar kompromisslos durchführt, dass aber die Kommunistische Partei in diesem Lande das Heft weiter in der Hand behält.
Nun, meine Damen und Herren, zu der Stunde, da dieser Kommentar Sie in Wien erreicht, wird vielleicht das Endresultat der Verhandlungen bereits bekannt sein. Hier jedenfalls fiebert man dieser Minute entgegen.
Auf Wiederhören und auf Wiedersehen.
Die Sondersitzung im Juli 1968 machte die Spannungen zwischen den reformwilligen Tschechoslowaken und dem konservativen Führungsstil der Warschauer-Pakt-Staaten, allen voran der Sowjetunion, deutlich. Die Sitzung brachte letztendlich keine endgültigen Ergebnisse hervor. Schließlich war die militärische Intervention des Warschauer Pakts im August 1968 nicht mehr abzuwehren. Am 20. August wurde die Tschechoslowakei von etwa 200.000 Soldaten und 5.000 Panzern aus der Sowjetunion, aus Bulgarien, Polen, Ungarn und der DDR angegriffen. Die Invasion erfolgte völlig überraschend, der Widerstand war allerdings weitgehend friedlich. Alexander Dubček und seine Parteikollegen wurden verhaftet und nach Moskau gebracht. Die kommunistische Leitlinie war so wiederhergestellt. Fast alle Reformen des Prager Frühlings wurden aufgelöst. Die Auflösung und Beendigung des Prager Frühlings hinterließ tiefe Spuren in der tschechoslowakischen Gesellschaft. Der Prager Frühling wurde zum Symbol des Widerstands. Erst durch die Samtene Revolution im Jahr 1989 erreichte die Tschechoslowakei den friedlichen Weg zu Demokratie und Unabhängigkeit.
Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands 1941 auf das Königreich Jugoslawien begann Josip Broz Tito, hochrangiges Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei Jugoslawiens, einen Partisanenkrieg gegen die deutschen Besatzer zu organisieren.
Tito war kein unbeschriebenes Blatt. Er wurde 1892 im heutigen Kroatien geboren, das damals Teil der Habsburger-Monarchie war. Tito arbeitete als Mechaniker, bis er im Ersten Weltkrieg aufseiten der Habsburger-Armee ins Feld zog. Er geriet 1915 in Russland in Kriegsgefangenschaft, kam während der russischen Februarrevolution 1917 frei und schloss sich den kommunistischen Bolschewiki an, die den Zaren stürzen wollten.
1920 kehrte er ins Königreich Jugoslawien zurück, wo er als Kommunist verhaftet und für mehrere Jahre inhaftiert wurde. Dann begann der Zweite Weltkrieg, der Überfall Nazi-Deutschlands auf das Königreich Jugoslawien und Titos Aufstieg.
Nachdem sich Tito als Partisanenführer im Widerstand gegen die Nazis hervorgetan hatte, erkannten die Alliierten ihn und seine provisorische Regierung für Jugoslawien an. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute Tito Jugoslawien als sozialistischen Staat auf, der die heutigen Länder Serbien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien und Slowenien umfasste.
Tito etablierte ein autoritäres Regime, das auf dem Einparteienstaat und einer zentralisierten Planwirtschaft basierte. Ein zentrales Ereignis in der jugoslawischen Geschichte stellt der Bruch Titos mit der Sowjetunion im Jahr 1948 dar. Somit entstand neben den Staaten des Warschauer Pakts, angeführt von der Sowjetunion, mit Jugoslawien ein zweiter großer kommunistischer Machtblock.
Tito wählte also einen anderen Weg als die Sowjetunion, den sogenannten dritten Weg zwischen Ost und West. Als von der Sowjetunion unabhängiges Land konnte Jugoslawien diplomatische Beziehungen zu vielen Ländern aufbauen, es schloss sich keinem der Machtblöcke des Kalten Kriegs an und förderte stattdessen internationale Beziehungen.
Der multiethnische Staat stand über die Jahre hinweg vor wachsenden Herausforderungen. Im März 1969 fand eine bedeutende Zusammenkunft in Belgrad statt. Der Parteikongress sollte die politischen Linien und Strukturen des Landes stabilisieren, außerdem sollten interne politische und wirtschaftliche Herausforderungen des Landes nach dem Bruch mit der Sowjetunion behandelt und internationale Beziehungen gestärkt werden. Neben Themen wie Dezentralisierung und Föderalismus sollten auch Wirtschaftsreformen und der jugoslawische Weg im Sozialismus angeschnitten werden. Das Stimmungsbild Jugoslawiens während dieses Kongresses zeichnete Hugo Portisch damals direkt aus Belgrad für die Zuseherinnen und Zuseher.
ZK-Sitzung in Belgrad
10. März 1969
Meine Damen und Herren, wir melden uns heute aus Belgrad, aus der jugoslawischen Hauptstadt. Morgen wird hier in diesem Gebäude der Parteikongress des Bundes der jugoslawischen Kommunisten beginnen, und es hat ganz den Anschein, dass dieser Kongress eines der bedeutendsten Ereignisse im Kommunismus sein wird, so bedeutend wie der Prager Frühling, so bedeutend wie Titos Absprung aus dem Ostblock im Jahre 1948.
Im Prinzip wird dieser Parteikongress eine Zangenoperation durchführen. Erstens ein außenpolitisches Konzept, zweitens eine innere Reform des jugoslawischen Kommunismus. Was das außenpolitische Konzept betrifft, so wird die jugoslawische Partei feststellen, dass es überhaupt kein Prinzip in der Welt gibt, das über die Souveränität eines Staates gesetzt werden kann, auch über die Souveränität eines kommunistischen Staates.
Mit anderen Worten, die Jugoslawen werden hier der sogenannten Breschnew-Doktrin schwer widersprechen. Diese Doktrin wurde angewendet, um die Tschechoslowakei zu besetzen [siehe Prager Frühling auf Seite 22]. Damals hieß es, alle kommunistische Staaten haben eine gemeinsame Souveränität. Einer hat auf den anderen aufzupassen.
Hier wird gesagt werden, es gibt ein solches Prinzip nicht. Die Souveränität auch jedes kommunistischen Staates ist heilig. Damit aber werden die Jugoslawen auch feststellen: Es gibt keine kommunistische Internationale, und es darf keine geben. Und es gibt kein Lenkungszentrum für den Kommunismus, also kein Moskau, kein Peking. Jeder kommunistische Staat hat sich selbstständig zu entwickeln.
Ist das schon Sprengstoff genug, so wird die innere Reform der jugoslawischen Kommunisten noch mehr Sprengstoff bieten. Da ist vorgesehen, dass sich die Partei nach außen dem Volke gegenüber zu öffnen hat. Geheime Wahlen werden zum ersten Mal hier als ein Muss in die reformierten Parteistatuten aufgenommen werden. Zweitens, die Führer müssen geheim gewählt werden, und es muss mehrere Kandidaten dafür geben. Drittens, und das ist noch in keinem kommunistischen Parteistatut der Welt enthalten, die Meinungsfreiheit jedes Parteimitglieds wird gewährleistet. Ja, das Parteimitglied hat sogar die Pflicht, seine Meinung zu äußern, auch dann und gerade dann, wenn sie der Führung widerspricht.
Das allein, meine Damen und Herren, wird schon dazu führen, dass die übrigen kommunistischen Parteien der Welt hier in Jugoslawien unter Umständen sich ein Beispiel holen werden. Die Jugoslawen werden aber noch weiter gehen. Sie werden das Zentralkomitee der Partei auflösen. Nur ein Drittel der Mitglieder der Parteikonferenz werden gewählt sein und immer in dieser Parteikonferenz sitzen. Zwei Drittel dieser Mitglieder werden jeweils nach den Problemen, die diese Parteikonferenz zu behandeln hat, einberufen. Das heißt, Fachleute werden in diese Parteikonferenz geholt, und sie werden innerhalb der Parteikonferenz die Mehrheit haben. Das Zentralkomitee aber bleibt abgeschafft. Das Präsidium der Partei, das wird es geben, die oberste Führung, das oberste Führungsgremium. Aber dieses oberste Führungsgremium wird ebenfalls vom Parteikongress gewählt, nicht mehr vom Zentralkomitee, also von einer breiten Basis ausgewählt. Und selbst der Präsident dieses Präsidiums, in diesem Fall wird es wieder Tito sein, muss vom Parteikongress gewählt werden. Er wird nicht aus den obersten Führungsgremien gewählt. Das ist eine weitere Neuerung hier in Jugoslawien. Also eine nahezu revolutionäre Ansage an alle anderen kommunistischen Parteien. Und die Jugoslawen haben diese kommunistischen Parteien nach Belgrad eingeladen, die westlichen und östlichen mit Ausnahme von China, Albanien und Kuba. Die drei wurden von vornherein nicht eingeladen. Der Ostblock aber wird nicht kommen.
Nur Rumänien hat zugesagt. Die Sowjets kommen nicht, auch die Tschechoslowaken kommen nicht. Die Polen und die Ostdeutschen, die Ungarn und Bulgaren, sie alle kommen nicht, denn sie wissen, welcher Sprengstoff hier in Belgrad für sie lagern wird. Hingegen hat man, auch ein Novum in der kommunistischen Bewegung, die sozialistischen, die sozialdemokratischen Parteien des Westens eingeladen. Man hat das sehr vorsichtig getan. Man hat angefragt: Wollt ihr kommen? Haben wir Aussicht auf eine Zusage? Jene sozialistischen Parteien, die gemeint haben, wir kommen, sind dann auch eingeladen worden. Die italienischen Sozialisten, die französischen Sozialisten werden kommen. Aber am bedeutungsvollsten: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, also der deutschen Bundesrepublik, wird hier mit einer 4-Mann-Delegation vertreten sein. Das wird als das bedeutungsvollste Ereignis gewertet.
Ich habe mich danach erkundigt, weshalb diese grundlegende innere Reform, weshalb diese Öffnung nicht nur im Innern, sondern auch nach außen, also zu den sozialdemokratischen Parteien? Und ein führender Parteifunktionär hat mir heute Vormittag hier erklärt: »Wir müssen es tun, sonst stagniert unsere Partei. Sonst wird das Schlagwort von der neuen Klasse absolut wahr. Sonst ist der Kommunismus verloren. Wenn wir nicht jetzt gründlich reformieren, gründlich unsere Grenzen aufreißen, dann wird es mit dem Kommunismus bergab gehen.« Das jedenfalls ist die Einschätzung eines Kommunisten. Alles hier spricht dafür, dass der Parteikongress ein bedeutungsvolles Ereignis sein wird. Wir melden uns wieder aus Belgrad.
Auf Wiederhören und auf Wiedersehen.
Neunter KP-Kongress Jugoslawien
12. März 1969
Meine Damen und Herren, wir melden uns heute wieder aus Belgrad vom neunten Kongress der jugoslawischen Kommunisten. Die Delegierten ziehen soeben in das Versammlungsgebäude ein, um den zweiten Tag ihrer Beratungen zu beginnen.
Nun, nach der großen Rede Präsident Titos, ist es vollkommen klar, dass Jugoslawien unter Umständen auf einen neuen ideologischen Bruch mit Moskau, mit der Sowjetunion zusteuert. Präsident Tito war in dieser Rede vorsichtig. Seine Ansprache war sehr abgewogen. Aber drei Dinge hat Präsident Tito klargestellt.
Erstens, der Stalinismus. Nicht wie man uns bisher weiszumachen versucht hat, sei der Stalinismus Personenkult gewesen, der Auswuchs einer einzelnen Person. Nein, der Stalinismus ist ein System, ist eine Denkungsart, ein System und eine Denkungsart, die auch heute noch existiert und die einfach darin besteht, dass Tausende und Zehntausende Funktionäre auf ihren Posten sitzen bleiben wollen, dass sie die totale Kontrolle über die Partei, den Staat und jeden einzelnen Bürger in einem Staat aufrechterhalten wollen und dass sie zu jedem Mittel greifen, um diese Kontrolle aufrechterhalten zu können. Selbst zu Mitteln der militärischen Intervention außerhalb des eigenen Landes. Also eine klare Kampfansage.
Zweitens aber hat sich Tito außerordentlich lange mit der Rolle der Komintern, also der früheren Kommunistischen Internationale, beschäftigt und festgestellt, welch unheilvolle Aufgaben diese Komintern hatte, hat sich streng dagegen gewandt, dass eine solche Internationale neuerdings geschaffen wird, und hat unter der Empörung der anwesenden Delegierten Namen von berühmten jugoslawischen Kommunisten bekannt gegeben, die von der Komintern vor dem Krieg und während des Krieges liquidiert worden sind. Kampfansage Nummer zwei.