Human Objects - Annalena Vasters - E-Book

Human Objects E-Book

Annalena Vasters

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Beschreibung

Ava, ein ganz normales Mädchen entdeckt eines Tages einen Antiquitätenladen in ihrer Stadt, welcher ihr zuvor noch nie aufgefallen ist. Aus reiner Neugier betritt sie den mysteriösen Laden und stellt bereits kurz daraufhin fest, dass sie ihn aus unerklärlichen Gründen nie wieder verlassen kann. Unter den vielen Fragen, die das alles aufwirft, ist auch die, was wohl der seltsame, aber sehr attraktive Ladenbesitzer mit den gelben Augen damit zu tun hat. Ihr bleibt keine andere Wahl als sich vorerst mit der Situation abzufinden. Doch schon bald findet sie heraus, dass der Laden nicht das ist, was er zu sein scheint.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Human Objects

1. Auflage, erschienen 9-2018

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Umschlag-Idee: Annalena Vasters, Jessica Eichhorn

Text: Annalena Vasters

Layout: Romeon Verlag

ISBN: 978-3-96229-942-2

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Kaarst

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Annalena Vasters

Human Objects

Roman

Für Jessi

Während mich Jason weiterzieht, wische ich mir die letzten Tränen aus den Augen und kann immer noch nicht ganz glauben, was da gerade passiert ist. Zwar habe ich nicht direkt jemanden umgebracht, aber es sieht doch sehr danach aus. Ein wenig bereue ich schon, was ich getan habe, um das hier zu tun, aber irgendwann wird das Schuldgefühl, ebenso wie der Schmerz, vergehen, denke ich. Als Jason uns den Weg zur Tür endlich regelrecht freigeboxt hat, verfliegt allerdings auch der letzte Zweifel. In dem Moment erinnere ich mich wieder an das kleine 16-jährige Mädchen, das ich vor zwei Jahren war. Sowohl das Gute als auch das Schlechte passiert nochmal Revue vor meinem inneren Auge.

Zwei Jahre zuvor:

1. Kapitel:

Ich war ein ganz normales Mädchen. Mit einem normalen Leben. Es war alles so normal, dass es schon richtig ätzend war, früh aufzustehen, um wieder das Gleiche wie am Vortag zu tun. Meine Mutter und ich wohnten in einem kleinen Haus, ein wenig abgelegen vom Zentrum der Stadt. Sie hatte ein leichtes Alkoholproblem, seit mein Vater uns kurz nach meiner Geburt wegen unserer Putzfrau verlassen hatte. Das zehnte Schuljahr hatte angefangen, aber ich war nicht sonderlich gut in der Schule. Allgemein war ich nicht besonders gut in irgendwas. Und wenn ich mal etwas konnte, war das immer nur mittelmäßig.

Aber der eigentliche Tag, um den es geht, ist der 23. Oktober. Eine Woche vor meinem Geburtstag im Jahr 2015. Oder eigentlich fing es schon einen Tag vorher an. Auf dem alltäglichen Weg zur Schule fiel mir ein Laden auf. Er war nicht besonders groß, und die Fensterscheiben waren aus Milchglas. Ich ging näher heran. Es kam mir absurd vor, aber irgendetwas an dem Laden fand ich gruselig. Über dem Laden stand in großen, schon ein bisschen angerosteten, goldenen Buchstaben: ANTIQUITÄTEN. Die Buchstaben wurden zum Ende hin immer kleiner; es sah aus, als hätte es ein Erstklässler, beim ersten Versuch schreiben zu lernen, geschrieben. Die Farbe blätterte an manchen Stellen ab, und auch sonst war das Schild absolut hässlich. Da habe ich festgestellt, dass ich noch nie - nicht ein einziges Mal in meinem ganzen Leben - in so einem Laden gewesen war. Und außerdem stellte ich fest, dass ich noch nie jemanden aus diesem Laden habe raus- oder reingehen sehen. Bei diesen Überlegungen fiel mir die Schule wieder ein. Ich hatte noch ganze zehn Minuten für den zwölf Minuten Restweg. Die vielen Treppen in unserem Schulhaus noch nicht mal mit eingerechnet. Ich begann also loszurennen. Da ich die drei Tage davor schon zu spät gekommen war, musste ich mich erst recht beeilen.

Der Schultag war einfach nur richtig ätzend. Ein ganz gewöhnlicher dummer Dienstag. Ich hatte neun Stunden, davon eine Doppelstunde Mathe und eine Doppelstunde Sport. Danach wollte ich einfach nur noch heim. Endlich zu Hause, fiel ich sofort in mein Bett. Leider haben meine inneren Instinkte versagt, sodass ich es tatsächlich geschafft habe, bis zum nächsten Morgen durchzuschlafen. Und trotzdem war ich müde, als ich aufgewacht bin. Es war zwar erst 5.30 Uhr, aber an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Also konnte ich mir das erste Mal, seit gefühlten drei Jahren, morgens richtig viel Zeit lassen. Und das wollte ich wirklich, aber ich glaube, durch die Tage davor war das einfach schon ein gängiger Rhythmus, der mich dazu zwang mich zu beeilen. Ich kippte also noch schnell meine morgendlichen drei Gläser Wasser hinunter, und dann ging es auch schon los. Ohrstöpsel rein, Musik an und im Takt der Musik loslaufen. Also innerlich sang ich gerade richtig laut zu „Country Roads“, als ich, statt weiterhin sicher einen Fuß vor den anderen zu setzen, kerzengerade in die Pfütze vor mir fiel. Meine Schnürsenkel hatten sich ineinander verwickelt, sodass ich mich nicht mehr rechtzeitig auffangen konnte. Meine Handflächen trafen auf das widerliche braune Wasser und anschließend auf den scharfen Asphalt darunter. Da ich aber zum Glück mit einer stylischen Softshelljacke in einem leuchtenden Hellgrün ausgerüstet war, bekam mein Oberteil nichts davon ab. Im Gegensatz zu meiner Hose, die war nämlich komplett durchnässt. Wie meine Haare, die es offenbar geschafft hatten, sich in der kompletten Pfütze auszubreiten. Da ich am Abend davor erst meine Haare gewaschen hatte, stellte das natürlich gar kein Problem dar.

Als ich da so lag, dachte ich darüber nach, ob es nicht besser wäre liegen zu bleiben. Ich könnte mich ohnmächtig stellen und darauf warten, dass mich jemand findet. Doch mein gesunder Menschenverstand hatte leider mal wieder gesiegt. Meine Hände brannten fürchterlich, da dieses ekelige Dreckwasser in meine Schürfwunden lief. Aber eine Sepsis würde dadurch wohl nicht zustande kommen. Ich richtete mich auf, wobei das Wasser aus meinen Haaren ganz langsam anfing, kalt meinen Nacken hinunterzulaufen. Ein grauenhaftes Gefühl. Ich musste in etwa aussehen wie eine Mischung aus Frankenstein und Oskar aus der Sesamstraße (der, der in der Mülltonne lebt). Ja, genauso habe ich mir den heutigen Tag vorgestellt. Ich habe überlegt, ob ich es aufgrund dessen, dass ich so viel Zeit hatte, nochmal nach Hause schaffen würde, ließ es dann aber sein, weil ich sah, wie im Laden neben mir plötzlich das Licht eingeschaltet wurde. Da fiel er mir wieder ein. Er war vollkommen aus meinen Erinnerungen verschwunden gewesen. Aber dann dachte ich wieder an den seltsamen Moment vom Vortag. Also beschloss ich, mir die Tür etwas näher anzusehen. Ich schaute mich um, doch da war keine Menschenseele weit und breit.

Ich hatte die Wahl zwischen einem furchtbar langweiligen Schultag, der eine Russisch-Stunde beinhaltete und der dazu noch unangenehm nass sein würde… ODER einem Tag in diesem kleinen, seltsamen Antiquitätenladen, in dem man mich niemals vermuten würde. Ich trat also etwas näher an die Tür heran: Verblichene dunkelrote Farbe überdeckte das dunkle Holz, was an manchen Stellen schon wieder zu sehen war, ein silberner rund geschliffener Türknauf und ein vergilbtes Schild, auf dem die Öffnungszeiten standen. Von 6.00-24.00 Uhr jeden Tag geöffnet. Da fing ich an noch neugieriger zu werden, als ich es sowieso schon war, fasste mir ein Herz und legte die Hand an den Knauf. In diesem Moment entdeckte ich noch etwas. Über dem Türknauf hing ein kleines Schild, auf dem stand: „Wenn Sie die Toilette benutzen wollen, müssen Sie etwas kaufen.“ Gut, dass sich die drei Gläser Wasser langsam bemerkbar machten. Der Knauf fühlte sich mittlerweile so kalt an, dass ich schon Angst hatte, meine Hand würde daran festfrieren. Dabei war es erst Herbst…

Ich drehte den Knauf nach links. Keine Reaktion. Dann versuchte ich es in die andere Richtung. Nichts. Die Tür bewegte sich nicht einen Zentimeter. Ich überlegte kurz, ob es sinnvoll wäre zu warten, aber meine Ungeduld siegte. Ich klopfte dreimal an die Tür und wartete, während gefühlte zwei Stunden vergingen. Dann hörte ich Schritte, und die Tür schwang wie von Geisterhand nach innen auf. Sie knarzte ein wenig, aber nicht so bedrohlich wie in den Horrorfilmen, die ich mir mit meiner Mutter manchmal angeschaut hatte. Nein, das war eher ein freundliches, einladendes Knarzen, insofern man das Geräusch einer Tür als freundlich bezeichnen kann.

An der Tür stand eine kleine Person, die sie eventuell geöffnet haben könnte, aber das kombinierte ich erst später, denn in dem Moment war ich viel zu abgelenkt von dem Geruch, der im Raum lag. Er vernebelte mir die Sinne. Ich trat ein und hatte das dringende Bedürfnis, die Tür hinter mir so schnell wie möglich zu schließen, was jedoch nicht nötig war, da sie bereits geschlossen schien. Doch auch das war mir in dem Moment erst einmal egal. Ich roch Zitrone, gemischt mit etwas Zimt, aber nach Weihnachten roch es nicht. Es war ein sehr angenehmer Duft. Als ich nochmal tief durch die Nase einatmete, nahm ich noch ein wenig Putzmittel wahr. Mein absoluter Lieblingsduft. Dann kam ich zum ersten Mal dazu, mich umzusehen: Der Raum war, zu meiner Überraschung, nicht menschenleer. Im Gegenteil. Viele ältere Menschen saßen auf alten Sofas oder Sesseln, nur ganz wenige standen. Aber alle starrten mich an oder schüttelten den Kopf. Zu dem Zeitpunkt fand ich das nicht wirklich verwunderlich, angesichts dessen, dass ich praktisch gerade einer Pfütze entsprungen war. Von innen schien der Laden um ein Vielfaches größer als von außen zu sein. Überall waren Sitzmöglichkeiten, Tische und Regale. Regale, so weit das Auge reichte. Alles Mögliche lag darin ungeordnet herum: Bücher, Münzen, alte Zeitungen und Spielzeug, viele Vasen und andere Porzellangegenstände. Ich wollte mir eine der Zeitungen genauer ansehen. Als ich sie gerade anheben wollte, vernahm ich ein leises „Aua!“ Instinktiv entschuldigte ich mich, ich konnte jedoch nur eine ältere Dame, etwa zwei Meter von mir entfernt sitzen sehen, welche es doch aber unmöglich gewesen sein konnte - oder etwa doch?

Das Licht in dem Laden kam aus verschiedenen Ecken. Alles Kerzen, aber keine war auch nur ein Stückchen heruntergebrannt. Von der Decke hing ein Kronleuchter, ebenfalls mit Kerzen besetzt. Ich fragte mich, wer sie wohl Tag für Tag wechselte. Und allgemein begann ich mich zu wundern, welcher Besitzer eines Antiquitätenladens sich so viele Kerzen leisten konnte. Die im Raum verteilten Kerzen standen fast alle auf Sockeln, in welchen offenbar menschliche Gesichter eingemeißelt wurden. Dann wurde ich durch meine nassen Haare, die mir ins Gesicht fielen, wieder an mein wohl furchteinflößendes Aussehen erinnert. Das Einzige, was außer meinem Oberteil auch nichts abbekommen hatte, war mein circa acht Tonnen schwer gefühlter Schulranzen. Blau und sauber stach er mir in die Augen, als ich in absetzte. Da bemerkte ich einen Schreibtisch in der Nähe des Eingangs. Meiner fachmännischen Meinung nach war er aus Ulme gefertigt.

Das Holz war dunkel, und die Oberfläche fühlte sich glatt an, als ich vorsichtig mit den Fingern darüber strich. Darauf befanden sich keine persönlichen Gegenstände. Nur eine weitere Kerze, die zu meiner großen Erleichterung schon ein Stück abgebrannt war. Wachs tropfte auf den Kerzenhalter. Außer der Kerze stand auf dem Schreibtisch noch eine Metallklingel, und etwa in der Mitte des Tisches lagen eine schwarze Feder und daneben das dazugehörige Tintenfass. Ich kam mir etwa zwei Jahrhunderte in der Zeit zurückversetzt vor. Mir fiel jedoch erst dann auf, dass sich in der Nähe des Tisches eine Tür befand. Sie sah aus wie die Eingangstür, ich glaube sogar, die Farbe war an den gleichen Stellen abgeblättert. Allerdings habe ich das in dem Moment für nicht möglich gehalten. Langsam musste ich ziemlich dringend mal die Toilette benutzen, also betätigte ich die Klingel. Das Geräusch ließ das Gemurmel, was bis dahin im Laden zustande gekommen war, wieder verstummen. Unauffällig jemanden anstarren, hatten die Menschen im Laden aber offenbar noch nicht gelernt. Ich begann mich zu fragen, ob es in dem Laden Kameras gab, denn wenn nicht, könnte man sich ja einfach einen Gegenstand nehmen und zur Tür rausspazieren. Nicht, dass ich das in Erwägung gezogen hätte. Nein, dafür wollte ich viel zu dringend wissen, was für eine Person wohl einen derartigen Laden besaß. Außerdem wollte ich immer noch zur Toilette.

Gerade war ich versucht, die Klingel erneut zu drücken, da sagte eine tiefe Stimme: „Nicht. Er ist auf dem Weg.“ Ich dachte, dass der Besitzer wohl ein etwas älterer Herr sein musste. Ein älterer Herr mit Stock und grauen Haaren. Ich malte mir aus, dass er vermutlich über dem Laden alleine in einer Wohnung lebte und das Geschäft gekauft hatte, weil das sein Herzenswunsch war und er nicht wollte, dass es leer steht. Ich stellte mir vor, dass er bestimmt eine Katze besaß. Aber dann wischte ich den Gedanken wieder weg, weil ich mir dann unwillkürlich vorstellen musste, dass er einsam - und halb aufgefressen von seiner Katze - irgendwann tot in seiner Wohnung gefunden werden würde. Vielleicht hatte er ein paar Hörschwierigkeiten, weswegen ich schon wieder Anstalten machte, die Klingel zu drücken.

Da hörte ich plötzlich Schritte. Aber es war mehr ein Poltern als eben nur Schritte. Das Poltern eines alten Mannes, wie ich immer noch vermutete. Es kam näher und stoppte plötzlich unmittelbar vor der Tür. Ich war gespannt, ob sich diese Tür auch so abrupt öffnen würde wie die am Eingang. Meine Augen fixierten die Tür, und ich spitzte die Ohren. Ein leises Metallgeräusch war zu hören. Die Tür war wohl abgeschlossen. Die andere war es aber definitiv nicht, denn ein Schlüsselloch wäre mir unter Garantie aufgefallen. Etwas klickte - vermutlich das Schloss - und die Tür sprang endlich mit einem Satz auf.

Im Türrahmen und dahinter war alles komplett dunkel. Ich konnte zuerst nichts erkennen. Da derjenige zu meiner großen Enttäuschung offenbar erstmal nicht vorhatte, mir sein Aussehen in irgendeiner Weise zu präsentieren, und ich das Gefühl hatte, mir gleich in die Hose machen zu müssen, fragte ich einfach drauflos: „Ähm, entschuldigen Sie bitte, aber dürfte ich vielleicht mal Ihre Toilette benutzen? Ich bin draußen außerdem noch in eine Pfütze gefallen und ...“ Abrupt wurde ich unterbrochen.

„Können Sie lesen?“, fragte mich eine tiefe, etwas rauchige, aber auch gleichzeitig irgendwie angenehme Stimme.

„Ja, natürlich“, war meine Antwort.

„Dann wissen Sie bestimmt, dass man hier nur die Toiletten benutzen darf, wenn man etwas käuflich ersteht.“ Das Schild an der Tür. Mist. Ich drehte mich zurück zu den Antiquitäten und suchte mir eine Kette, die zwischen zwei alten Büchern lag, aus. Ich habe sie überhaupt erst bemerkt, weil sie das Kerzenlicht reflektierte. Sie war silbern und hatte einen ebenfalls silbernen Anhänger. Dieser war rund wie eine Münze und umschloss einen tropfenförmigen Rosenquarz. Eigentlich war sie ganz hübsch. Ich ging damit zurück zum Schreibtisch.

„Wie viel kostet die?“, fragte ich in Richtung Tür.

„Diese Kette?“ – Er klang überrascht.

„Ja. Wieso nicht?“ Ich war neugierig, ob sich hinter der Kette vielleicht eine rätselhafte Geschichte verbarg. Aber die Frage „ob“ konnte ich mir eigentlich schon selbst beantworten. Vermutlich hatte jeder Gegenstand hier seine eigene Geschichte.

Wie recht ich damit hatte, würde ich jedoch erst später erfahren.

„Es hat mich einfach nur gewundert, dass sie wieder aufgetaucht ist. Ich dachte schon, sie wäre verschollen.“ Ich denke, wenn ich ihn zu diesem Zeitpunkt schon hätte sehen können, wäre sein Blick abwesend und leer gewesen.

Nach einiger Zeit jedoch hatte er sich wohl wieder gefangen und sagte: „Zwei Jahre. Obwohl sie eigentlich viel mehr wert ist.“

„Okay, und was genau heißt das jetzt?“

„Das sage ich Ihnen nach Ihrem Toilettenbesuch. Nach hinten den Gang entlang und dann die Tür links.“ Ich hatte schon wieder fast vergessen, dass ich ja eigentlich eine gewisse Dringlichkeit verspürte. Aber jetzt machte sie sich wieder bemerkbar. Außerdem war da eben etwas an seinem Tonfall, was ein wenig befehlend, aber auch beruhigend zugleich klang. Also ging ich den Gang entlang. Die Menschen, an denen ich vorbeilief, schüttelten entweder den Kopf oder sahen mich traurig an. Beides verwirrte mich. Ich stand plötzlich vor der gesuchten Tür, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich mich so schnell dorthin bewegen konnte. Und auch diese Tür sah wieder genauso aus wie die zwei davor, bloß mit einem kleinen Zusatz. Hier hing ein Schild, auf dem stand: „Genießen Sie Ihren Toilettenbesuch, es war hier sicher nicht Ihr letzter.“ Okay, merkwürdiges Schild, aber ich musste unbedingt da rein. Diese Tür hatte keinen Knauf und kein Schloss, sondern eine Klinke, welche allerdings nicht weniger kalt war als der Knauf an der Eingangstür. Ich trat ein.

Der Raum war viel größer als ich ihn erwartet hatte, und - es gab tatsächlich elektrisches Licht! Es gab eine Badewanne und eine Dusche, einen sehr großen Spiegel und ein Waschbecken. Nachdem ich die Toilette benutzt hatte, holte ich erstmal meinen großen Schminkbeutel aus meinem Ranzen und klatschte mir allerlei Make-up ins Gesicht, was normalerweise gar nicht mein Stil ist. Aber angesichts der Situation musste ich eine Ausnahme machen. Ich teilte meine Haare in zwei Strähnen und flocht sie zu einem Fischgrätenzopf. Beim Händewaschen fiel mir die Zitronen-Zimt-Seife auf, welche ich auch daheim hatte. Mittlerweile hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch, was ich nicht deuten konnte.

Es hatte sich wie eine halbe Stunde im Bad angefühlt, aber das konnte irgendwie nicht sein, da die Menschen im Laden erstens immer noch dieselben waren und zweitens sich immer noch an dem Platz befanden, an dem sie waren, als ich mich zum Bad begeben hatte. Vielleicht hatte ich mir das ja auch alles nur eingebildet. Da mir die Kette wieder einfiel, ging ich zurück zur Kasse. Und zu meiner wirklich großen Freude trat der Ladenbesitzer endlich ins Licht. Aber er war nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war eigentlich das genaue Gegenteil:

Er war relativ groß, hatte pechschwarzes verwuscheltes Haar, eine glatt aussehende Haut, volle Lippen, ein paar Sommersprossen, die aber nicht gut sichtbar waren und das Beste: grün-gelbe Augen, die aussahen wie die einer Katze. Er war unglaublich attraktiv, und ich musste mich bemühen, meinen Mund geschlossen zu halten. Er sah aus wie Mitte zwanzig und demzufolge auch nicht so alt, wie ich mir den Besitzer eines Antiquariats immer vorgestellt hatte.

„Bitte tragen Sie Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum in diese Liste ein“, sagte die Stimme, die jetzt noch um einiges besser passte. Und mit diesen Worten legte er die fetteste Namensliste, die ich je gesehen hatte, auf den Tisch. Zum Glück hatte sich mein Verstand noch nicht komplett verabschiedet, weshalb ich noch in derLage war Fragen zu stellen.

„Und warum?“

„Damit bezahlen Sie.“

„Und wie viel bezahle ich?“

„Zwei Jahre.“

„Und was heißt das?“ Obwohl es eigentlich unverständlich war,

aber er ging mir langsam auf die Nerven mit seinen ungenauen Angaben.

„Das heißt“, erwiderte er mit einem Blick, der zum einen böse und zum anderen verletzt wirkte, „das heißt, dass Sie die nächsten zwei Jahre und wohl alle darauffolgenden hier verbringen werden.“ Ich hielt es für einen schlechten Witz, aber er sah nicht aus, als würde er scherzen.

„In Ordnung, wenn ich hier keine vernünftigen Antworten auf meine Fragen bekomme, werde ich jetzt gehen.“

„Erst den Namen eintragen. Ich möchte meine Kunden doch nicht vergessen.“ Sein Lächeln war jetzt freundlich und sanft. Und irgendwie anziehend. Ich schrieb also: Ava Crawford, geboren 30.10.1998.

„Ich werde jetzt gehen.“

„Viel Glück dabei.“ Mit schnellen Schritten ging ich auf die Tür zu. Ich ging und ging und ging immer schneller, doch irgendwie kam sie nicht näher. Ich rannte jetzt, aber die Tür schien sich eher zu entfernen. Es musste wohl Einbildung sein. Ich lief immer weiter und war schon völlig außer Atem. Dann kam ich zu dem Schluss, dass das nichts weiter als ein Albtraum sein konnte. Alles andere schien mir unmöglich. Es durfte ganz einfach nicht sein! Ich gab mir eine Ohrfeige und hoffte darauf aufzuwachen, doch nichts geschah. Ich drehte mich langsam wieder in Richtung des Ladenbesitzers. Er stand direkt hinter mir, so wie der Schreibtisch. Ich hatte mich also nicht von der Stelle bewegt.

„Aber was ist mit meiner Familie und meinen Freunden, die ...“

„...werden wohl ohne Sie auskommen müssen. Sie gehören jetzt zu dem Laden.“

„Ich gehöre nach Hause“, protestierte ich sauer.

„DAS ist jetzt Ihr Zuhause“, antwortete er darauf. Ich war unfassbar wütend. Ich fing an zu weinen, was ich nicht wollte, aber die Tränen flossen nur so aus meinen Augen heraus, als wollten sie niemals aufhören.

Er beobachtete mich aufmerksam und dachte vermutlich, das sei irgendein Trick. Da nahm er mich in den Arm. Der Mensch, den ich vor etwa einer Stunde kennen gelernt hatte, der kalt wie Stein wirkte und der offenbar vorhatte, mich den Rest meines Lebens dort festzuhalten. Jedoch wehrte ich mich nicht. Was ich denken oder fühlen sollte, wusste ich nicht. Meine Gedanken waren völlig verwirrt. Ich heulte in sein schwarzes T-Shirt und fragte - noch gerade so hervorgepresst: „Wieso?“ Er schob mich von sich weg und musterte mich mit seinen gelben Augen von oben bis unten mit einem misstrauischen Blick.

„Nicht jetzt. Und vor allem nicht hier. Denn sie alle können jedes Wort von dem, was ich sage, verstehen.“ Etwas erschrocken sah ich mich um. Mittlerweile wurde ich nicht mehr angestarrt.

„Sie sehen gar nicht so aus, als wären sie an unserem Gespräch interessiert“, sagte ich.

„Doch, das sind sie… Sogar sehr. Sieh genau hin. Achte auf all ihre Bewegungen, auf jedes noch so kleine Detail.“ Ich sah mir die alten Menschen nochmal genauer an, welche ich davor nur mit einem flüchtigen Blick betrachtet hatte. (Dabei bemerkte ich nicht einmal, dass er mich gar nicht mehr so förmlich angesprochen hatte.) Ein älterer Herr saß ganz in unserer Nähe in einem Sessel. Er schien mit ein paar Münzen zu spielen. Eigentlich stellte dies keine Auffälligkeit dar. Doch als ich ihn länger beobachtete, sah ich, dass sein Blick auf keinen Fall auf die Münzen gerichtet war. Er starrte fast unmerklich daneben auf den Boden. Ich wollte etwas ausprobieren, also schnipste ich einmal mit den Fingern. Dabei beobachtete ich ihn genau. Für andere Betrachter wäre die Bewegung, die auf mein Schnipsen folgte, so gut wie unsichtbar gewesen, und trotzdem konnte ich sie an den tiefen Falten seines Gesichtes – welches mich ein wenig an den Sessel, in dem er saß erinnerte – ablesen. Er zog seine Stirn zu einem winzigen Stirnrunzeln zusammen. Nur ganz kurz. Etwa dreißig Sekunden nach dem Verklingen des Geräusches entspannten sich seine Gesichtszüge wieder vollkommen.

„Wissen Sie, was diese Menschen taten, bevor sie hierher-kamen?“, wollte ich wissen.

„Manche waren Ärzte, Verkäufer, Briefträger, Arbeitslose… eben völlig normale Menschen.“

Und wie lange sind diese Menschen schon hier?“

„Manche zwanzig Jahre, andere dreißig oder fünfzig. Oder schon länger.“

„Gibt es hier keine Kinder?“

„Sie stellen ganz schön viele Fragen. Ich beantworte Ihnen noch eine, aber nicht diese.“

„Wie ist Ihr Name?“ Er schien ein bisschen geschockt über diese Frage zu sein, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.

„Wieso wollen Sie das wissen?“

„Ich dachte, Sie wollen mir antworten, statt Gegenfragen zu stellen.“

„Darf ich denn keine Gegenfragen stellen?“, fragte er mit einer Unschuldsmiene.

„Nein.“ Er grinste. Und aus einem mir unbekannten Grund fing mein ganzer linker Arm an zu kribbeln.

„Robin. Robin Carter. Wollen wir uns jetzt vielleicht duzen?“ Der Name hat gepasst. Auf eine mir unerklärliche Art und Weise war ich froh, dass sein Name nicht Kevin oder so war. Aber was ging da eigentlich in meinem Kopf vor? Der Kerl hält Menschen in einem Antiquitätenladen fest!!!

„Wenn Sie mir noch eine Frage beantworten.“ Er nickte.

„Na los.“

„Sterben hier auch Menschen?“ Seine Miene verzog sich. Er drehte sich weg von mir. In die andere Richtung sagte er dann: „Nicht direkt.“

„Das ist keine genaue Antwort“, meinte ich nur monoton.

„Antworten musst du dir verdienen. Vor allem die genaueren.“ Er klang sauer.

„Na gut. Aber eine Frage wirst du mir wohl noch beantworten müssen. Wo schlafen alle, wenn man hier den Rest seines Lebens verbringt? Und mit alle, meine ich mich eingeschlossen.“

„Bist du etwa müde?“

„Hatten wir das mit den Gegenfragen nicht geklärt?“ Er drehte sich wieder zu mir. „Hatten wir das mit den Antworten nicht geklärt?“,da war wieder die beruhigende Stimme, die ich irgendwie sympathisch fand. Dazu muss ich betonen, dass ich zu dem Zeitpunkt das Ausmaß der ganzen Sache noch nicht wirklich begriffen hatte. Außerdem wusste ich, dass mich niemand ernsthaft vermissen würde. Wie Robin schon gesagt hat, sie würden alle ohne mich auskommen.

„Komm mit“, wies er mich an. Ich habe es gehasst, irgendwelche Befehle auszuführen, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Also fing ich an, ihm hinterherzulaufen wie ein kleiner Hund.

„Hier befindet sich das Bad, welches du ja schon gesehen hast.“ Er ging weiter und bog rechts ab. Dort war wieder eine Tür, die aussah wie die anderen.

„Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass du alle Türen in einer Farbe angestrichen hast? Ich meine, klar, die Farbkosten, aber ist das auf die Dauer nicht langweilig?“ Er blieb abrupt stehen und sah mich ein bisschen überheblich an.

„Doch es ist furchtbar langweilig. Aber es würde ewig dauern alle neu einzustreichen. Und außerdem wären sie nach ein paar Tagen wieder in ihrem ursprünglichen Zustand, denn ICH habe die Türen nicht angestrichen, und das ist alles was du dazu wissen musst. Ach ja und hinter dieser Tür befindet sich der Ruheraum, nur für den Fall, dass du mal depressiv werden solltest. Obwohl ich das bei deiner mehr als neugierigen Art bezweifle.“

„Ich fasse das mal als Kompliment auf. Gibt es eigentlich auch irgendwo was zu essen? Ich verhungere bald.“ Er zog eine Augenbraue hoch.

„Frühstück von 8.00-9.00 Uhr, Mittag von 12.00-13.00 Uhr und Abendessen von 19.00-20.00 Uhr.“

„Okay und woher soll ich wissen, wie spät es ist, denn ich habe mein Handy daheim vergessen?“

„Gar nicht. Du musst dich selbst daran gewöhnen. In der ersten Woche wird dir immer jemand Bescheid sagen, danach musst du deinen eigenen Rhythmus gefunden haben.“

„Okay, erstens: Was ist, wenn ich z.B. nie zum Frühstück komme?“

„Dann hast du Putzdienst.“

„Und wenn ich den nicht mache?“ Er trat einen Schritt näher an mich heran, aber ich wich nicht zurück.

„In dem Fall wirst du wohl abwarten müssen, bis es soweit ist.“ Er sah in meine Augen, und für einen kurzen Moment knisterte die Luft ein wenig. Doch dann gingen wir weiter.

Als er mir das Arztzimmer und die Apotheke zeigte, fragte ich mich, ob der Laden wohl irgendwo enden würde. Alle Gefühle, die mich hätten warnen sollen, schienen wie ausgeblendet, und ich weigerte mich zu glauben, dass das an ihm lag.

„Wie viele Zimmer gibt es hier eigentlich noch? Weil ich mittlerweile doch ziemlich müde bin?“

„Um die tausend. Aber es gibt nur ein wirklich wichtiges.“ Ich versuchte gar nicht erst die vielen Gänge, durch die wir liefen oder die vielen Menschen, an denen wir auf dem Weg zum einen wirklich wichtigen Zimmer vorbeikamen, zu zählen. Fest steht nur, es waren viele. Ich begann sogar schon mich zu fragen, ob so viele Menschen überhaupt in meine kleine Stadt hineinpassen konnten. Ich ging noch davon aus, ich könnte das irgendwann nachprüfen. Wir gingen an Tischen und unfassbar vielen Regalen vorbei.

„Woher kommen eigentlich all diese Gegenstände?“ Ich sah ihn an und versuchte aus seiner Miene schlau zu werden, aber es wollte mir einfach nicht gelingen.

„Noch nicht. Wenn überhaupt. Vielleicht hast du mich irgendwann so weit, dass ich dir alles erzähle.“ Ich sah den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht, doch er drehte sich weg, als würde er sich an etwas erinnern. Ich war intelligent genug um zu wissen, wann die Fragen ein Ende haben sollten. Ich sagte nichts mehr, denn ich kannte ihn noch lange nicht gut genug, um tiefer nachzuhaken. Doch irgendetwas in mir wollte um jeden Preis jedes noch so kleine Geheimnis ausgraben. Es kam mir so vor, als wären wir seit mindestens einer Stunde unterwegs, als wir wieder an seinem Schreibtisch ankamen.

„Hast du vielleicht eine Karte für mich? Ich denke, sonst werde ich mich hier hoffnungslos verlaufen und irgendwann verhungern, weil ich die Küche nicht finde.“

„Irgendwann zeichne ich dir vielleicht mal eine, aber du wirst wohl vorerst ohne auskommen müssen.“

„Na schön, hast du dann vielleicht eine Uhr für mich? Weil ich langsam wirklich wahnsinnig…“ Mich überkam eine Müdigkeit, und meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich sackte in mich zusammen, spürte noch, wie ich aufgefangen wurde und er fragte: „…müde bin? Ja, ich weiß.“

Ich begann zu träumen: Ich stand vor dem Laden und ging anschließend hinein, wie es am Tag geschehen war. Die alten Menschen waren alle ganz jung, aber trotzdem noch unterschiedlich alt. Und es standen auch noch nicht so viele Gegenstände in den Regalen. Ich wollte den Laden verlassen, aber die Tür ging nicht auf. Ich hämmerte so lange mit meinen Fäusten dagegen, bis das Blut an meinen Händen sie abrutschen ließ. Plötzlich fingen alle im Raum an zu altern, und es wurden immer weniger Menschen. Schließlich alterte ich selbst in rasender Geschwindigkeit - nur die Tür und der Laden blieben die ganze Zeit über unverändert.

2. Kapitel

Ich erwachte mit geschlossenen Augen und wollte sie noch nicht öffnen, da ich immer noch die Hoffnung hatte, wieder bei mir zu Hause aufzuwachen. Dann stieg mir der Geruch nach Sommer in die Nase, aber ich war mir sicher, dass wir Herbst hatten.

„Morgen“, sagte eine, mir leider bekannte, Stimme, wodurch ich erkannte, dass ich mich immer noch nicht daheim befand. Wohl oder übel musste ich irgendwann die Augen aufschlagen. Ich schaute in einen blauen Himmel und musste durch das helle Licht blinzeln. Es war Sonnenlicht, aber rein von meiner Theorie her konnte ich mich gar nicht draußen befinden, es sei denn, ich wurde weggetragen. Aber wieso sollte das jemand tun? Ich war zwar nicht dick, aber leicht ist etwas anderes. Nachdem ich mich relativ verlegen aufgesetzt hatte, sah ich als erstes Robin, der dasaß, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Und als wäre es vollkommen normal, dass er einfach so - unter freiem Himmel neben meinem… Moment, auf was lag ich da eigentlich? Es sah rein äußerlich betrachtet - aus wie ein ganz normales Bett. Allerdings aus Blättern. Ich stellte fest, dass ich noch die Klamotten vom Vortag anhatte, und ehrlich gesagt, war ich auch sehr froh, dass ich nichts anderes trug. Das Bett war weder zu weich noch kratzte es. Gerade als ich mir Gedanken zum Aufbau des Bettes machen wollte, wurde mein Gedankengang von Robin unterbrochen.

„Hast du Hunger?“, fragte er, als wäre es wirklich vollkommen selbstverständlich, dass er neben meinem Blätterbett saß und dass ich mich dort befand. Alles schien unfassbar normal.

„Wo bin ich?“, war die erste Frage, die mir einfiel.

„Wir sind im Laden.“

„Wir sind aber draußen.“

„Nein. Nicht direkt.“

„Und indirekt?“

„Auch nicht.“

„Aber, wie kann das sein?“

„Das wirst du wohl noch herausfinden. Oder auch nicht.“

Es würde wohl nichts bringen weiter nachzufragen, also gab ich es auf. Robins schwarze Haare fielen ihm leicht ins Gesicht, und er musterte mich, als müsste er etwas abwägen.

„Kann ich dich etwas fragen?“, platzte die Frage plötzlich aus ihm heraus.

„Wenn du mir auch eine Frage so beantwortest, dass ich damit zufrieden bin“, lächelte ich unschuldig.

„Das kommt ganz auf die Frage an“, erwiderte er übertrieben freundlich. Im Vergleich zu den circa zwei Millionen anderen Fragen, die ich gerne stellen wollte, war diese ziemlich albern: „Hast du das alles hier gepflanzt?“ Denn erst da wurde ich darauf aufmerksam, wie groß der Garten doch eigentlich war. Es gab viele Hecken und Sträucher, Statuen in Weiß und ich glaubte, sehr weit entfernt einen Springbrunnen zu erkennen. Er lachte. Es war nicht künstlich, sondern echt. Er schien selbst darüber überrascht zu sein.

„Ist es das, was dich am meisten interessiert?“, wollte er wissen.

„Jetzt in diesem Moment? Nein. Aber das ist die Frage, die ich gerne beantwortet hätte“, meinte ich.

„Also gut.“ Er grinste immer noch. „Ja, habe ich. Zumindest einiges davon. Das andere ist… selbst gewachsen.“

„Und die Statuen?“, hakte ich nach.

„Es hieß eine Frage“, erwiderte er knapp.

„Na gut. Dann frag du mich jetzt, was du wissen wolltest. Aber ich muss dich vorwarnen: An mir gibt es nicht sonderlich viel Interessantes, was sich zu erforschen lohnt.“

„Das möchte ich doch stark bezweifeln“, sagte er und sah mir zum ersten Mal an dem Morgen richtig in die Augen. Und obwohl mich das Gelb in seinen Augen nach wie vor irritierte, konnte ich nicht umhin festzustellen, dass er mir offenbar ein Kompliment gemacht hatte.

„Wieso bist du in den Laden gekommen?“, fragte er mit einem Unterton, den ich nicht ganz deuten konnte. An seinem Blick erkannte ich, dass er prüfend von meinem einen zum anderen Auge blickte.

„Ich weiß nicht… Ich kam am Tag davor schon an der Tür vorbei und nachdem ich gestern in die Pfütze gefallen bin… Außerdem liebe ich alte Dinge, und irgendwas an dem Laden hat eine gewisse Anziehungskraft ausgestrahlt. Klingt albern, oder?“, stammelte ich so vor mich hin.

„Ja, wahrscheinlich sollte es das. Warum bist du nicht einfach wieder gegangen, nachdem die Tür sich nicht gleich öffnen ließ?“, wollte er wissen. Er klang ein wenig sauer, und ich konnte mir nicht erklären, warum.

„Ich weiß es nicht“, konnte ich nur antworten. Nachdenklich fuhr er sich durch seine Haare. Um die Spannung wieder etwas aus dem Gespräch zu nehmen, fragte ich schließlich doch noch:

„Also, wo gibt es hier was zu essen? Ich bin kurz vorm Verhungern.“ Es schien zu wirken, denn er stand auf und wies mich an, mit ihm zu kommen.

„Warte, eine Frage habe ich noch.“ Ich kannte die Antwort zwar insgeheim schon, aber ich wollte eine Bestätigung. „Wie bin ich hier runtergekommen?“, fragte ich also. Ohne sich zu mir umzudrehen, sagte er: „Ich weiß, dass du die Antwort kennst.“ Ich konnte das Grinsen in seinem Gesicht förmlich hören.

Also lief ich ihm wieder hinterher. Bis wir an eine unglaublich große Treppe kamen. Sie führte so weit nach oben, dass ich das obere Ende nicht sehen konnte. Allerdings führte sie auch noch in den Boden, mitten auf der Wiese. Ich versuchte gar nicht erst, mir die Konstruktion der Treppe vorzustellen.

„Wohin…?“, setzte ich an, aber er unterbrach mich: „Zu den Frühstücksräumen.“ „Räumen?“, fragte ich. Jedoch machte er keine Anstalten, mir zu antworten, sondern deutete die Treppe hinab. Ich trat vorsichtig auf die erste Stufe, die aussah, als wäre sie aus Lehm oder Schlamm. Aber sicher konnte ich mir dabei nicht sein. Von einem Garten unter einem scheinbar unendlich großen Laden, mit einer Treppe, die aus dem Nichts in den Boden und in die Luft ragte, konnte man wohl nicht viel Normales erwarten.

„Moment mal. Hast du irgendwelche Allergien, oder bist du laktoseintolerant oder sowas?“, fragte er. Fast musste ich über diese einfache Frage lachen.

„Von Ananas bekomme ich Blasen auf der Zunge, aber sonst… Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber es gibt einiges, was ich absolut nicht ausstehen kann. Und ich sage dir: Solltest du versuchen, mich dazu zu zwingen, etwas zu essen, was ich nicht leiden kann, kotze ich dir auf den Tisch.“ Er lächelte wieder.

„Okay. Und was ist das zum Beispiel?“, erkundigte er sich.

„Bohnen.“, erwiderte ich, „Und Möhren, Rosenkohl, Paprika, Linsen, Zwiebeln, Rotkohl und Pilze.“

„WAS? Keine Pilze?!“, fragte er mit gespieltem Ernst. Als Antwort wandte ich mich wieder der Treppe zu und stieg auf die zweite Stufe. Dann, ganz plötzlich, wechselten die Stufen in lackiertes, weißes Holz. Da war kein bisschen Dreck. Nicht mal, nachdem ich darüber gelaufen war. Die Treppe war von dem, was sich an dessen Ende befand, abgeschirmt. Ich konnte es kaum erwarten, dorthin zu gelangen. Deshalb musste ich mich bemühen, den Rest nicht hinunter zu rennen. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, das unbedingt wissen will, was sich hinter dem nächsten Adventskalendertürchen verbirgt.

Direkt vor mir befand sich eine lange Reihe Türen. Eine sah aus wie die andere. Man konnte sie nur durch die Nummern unterscheiden.

„Hinter welcher gibt es Frühstück?“, fragte ich Robin, der hinter mir aufgetaucht war.

„Hinter allen. Du kannst wählen.“

„Egal, welche?“ Er nickte.

„Und was ist dann hinter der Tür, die ich wählen werde?“

„Es kommt nicht auf das Was an, sondern auf das Wen. Hinter jeder Tür sind Menschen. Unterschiedlich viele. Hast du eine Tür gewählt, bleiben dir die anderen verschlossen. Das garantiert, dass du deine Gruppe nicht mehr wechselst“, erklärte er. Es lagen nur etwa zwei Meter zwischen der offenbar endlosen Türreihe und mir. Da ich in Bezug auf meine schlechten Orientierungsfähigkeiten nicht gelogen hatte, wählte ich die Tür mir gegenüber, die die Nummer 247 trug.

„Na dann. Geh hinein“, sagte Robin.

„Kommst du nicht mit?“, fragte ich, plötzlich ein wenig erschrocken.

„Die Menschen darin mögen mich nicht besonders.“

„Kann ich gar nicht nachvollziehen. Würdest du mich trotzdem hineinbegleiten?“ Das Ganze erinnerte mich an meinen ersten Schultag. Meine Mutter brachte mich nur vor die Eingangstür und wollte dann wieder gehen, aber ich bettelte so lange, bis sie mich noch zu meinem Klassenraum brachte.

„Wieso?“, fragte er, ganz offensichtlich überrascht.

„Ich weiß nicht. In deiner Gegenwart fühle ich mich nicht so allein.“ Er sah verlegen aus.

„Gut, aber um endgültig die Tür zu wählen, musst du sie selbst öffnen.“ Ich bedankte mich und drückte die Klinke herunter. Sie sprang dieses Mal nicht auf, sondern ließ sich öffnen, so wie eine normale Tür nun mal geöffnet wird.

Das Erste, worauf ich achtete, als ich den Raum betrat, war nicht der runde Tisch in der Mitte, an dem drei Menschen saßen. Nein, das Erste, was mir auffiel, waren die Fenster, durch die das Licht hereinströmte. Was ja eigentlich nicht sein konnte, da wir uns streng genommen – und ohne, dass der schwarze Humor beabsichtigt ist – unter der Erde befanden. Ich drehte mich zurück zu Robin.

„Woher kommt das Licht?“

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir solche Fragen nicht beantworten kann. Noch nicht“, zischte er. Er wippte nervös auf und ab.

„Okay… Wer sind diese Menschen?“, ich verfiel in einen Flüsterton.

„Du wirst wohl eine ziemlich lange Zeit mit ihnen verbringen, also schlage ich vor, dass du versuchst, dich mit ihnen anzufreunden.“

„Aber Ro…“ Er hielt mir plötzlich seinen Finger an die Lippen. Die Berührung ließ uns beide zusammenzucken. „Pssst. Es gibt nicht viele hier, die meinen Namen kennen“, raunte er und nahm seinen Finger von meinem Mund.

„Wieso hast du ihn mir dann verraten?“, fragte ich so leise, wie ich konnte.

„Weil ich das Gefühl habe, dir vertrauen zu können.“

„Aber was, wenn sie mich nicht mögen?“, fragte ich weiter. Ganz plötzlich stieg in mir das Gefühl auf, dass ich nicht mit diesen fremden Leuten allein gelassen werden wollte.

„Das halte ich für vollkommen unmöglich“, sagte er. Ich wurde vermutlich leicht rot.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Weil man dich einfach mögen muss.“ Die ganze Situation wäre mir vermutlich unfassbar kitschig vorgekommen, wäre ich nicht von der Nähe seines Körpers abgelenkt gewesen.

„Magst du mich denn?“, fragte ich weiter.

„Ich kenne dich doch gerade mal seit einem Tag“, meinte er. Ich war zugegeben ein wenig enttäuscht. Doch auf einmal hob er mein Kinn, sodass ich ihm wieder in die Augen sah.

„Aber trotzdem… Da ist etwas an dir…“

„Gibt es jetzt Essen?“, unterbrach uns eine weibliche Stimme vom Tisch hinter uns. Ich hatte schon wieder vergessen, dass wir nicht alleine waren. Und als ich es bemerkte, war ich ein wenig verärgert darüber.

„Ja natürlich. Ava hatte nur noch ein paar Fragen“, sagte Robin, der seine Hand blitzschnell zurückgezogen hatte. Das Mädchen hatte sehr dunkelblondes Haar, welches ihr etwas über die Schultern reichte und sah in etwa so alt aus wie Robin. Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Seit wann werden irgendwelchen Neuen primitive Fragen beantwortet?“, fragte sie schnippisch und musterte mich von oben bis unten mit einem du-bist-genau-wie-alle-anderen-gewöhnlichen-Mädchen-auf-dieser-Welt-Blick.

„Kann dir das nicht egal sein?“, fragte ich, leicht gereizt.

„Mh. Und warum hat er dich bis hier runtergebracht?“, hakte sie weiter nach.