Hunde und Andere - Biljana Jovanović - E-Book

Hunde und Andere E-Book

Biljana Jovanović

0,0

  • Herausgeber: eta Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Lidija und ihr Bruder Danilo sind beide in die fatale Milena verliebt, Oma Jaglika sitzt in ihrem Schaukelstuhl, von dem aus sie alles sieht, die Mutter tritt nur in der Erinnerung und in kurzen Telegrammen in Erscheinung … In Hunde und Andere zeichnet Biljana Jovanović ein schonungsloses Bild von Familie und Gesellschaft. Sie stellt die Normalität auf den Kopf und fragt, wie Zusammenleben, Liebe, die Wahrnehmung von psychischer Krankheit und letztlich auch das Schreiben selbst anders aussehen können. Nicht zu vergessen: Es ist der erste jugoslawische Roman über lesbische Sexualität – er begeistert und provoziert bis heute.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 216

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Biljana Jovanović

HUNDE UND ANDERE

Aus dem Serbischen von Marie Alpermann und Tijana Matijević

1. Auflage 2023 © eta Verlag Alle Rechte vorbehalten

eta Verlag | Petya Lund Schönhauser Allee 26 10435 Berlin www.eta-verlag.de kontakt @ eta-verlag.de

Lektorat: Anne Grunwald Gestaltung & Satz: Stefan Müssigbrodt Titelfoto: Nndemidchick / Dreamstime.com

Originaltitel: Psi i Ostali; erschienen bei: Prosveta, Beograd 1980

ISBN 978-3-949249-17-4

Lidija und ihr Bruder Danilo sind beide in die fatale Milena verliebt, Oma Jaglika sitzt in ihrem Schaukelstuhl, von dem aus sie alles sieht, die Mutter tritt nur in der Erinnerung und in kurzen Telegrammen in Erscheinung … In Hunde und Andere zeichnet Biljana Jovanović ein schonungsloses Bild von Familie und Gesellschaft. Sie stellt die Normalität auf den Kopf und fragt, wie Zusammenleben, Liebe, die Wahrnehmung von psychischer Krankheit und letztlich auch das Schreiben selbst anders aussehen können. Nicht zu vergessen: Es ist der erste jugoslawische Roman über lesbische Sexualität – er begeistert und provoziert bis heute.

Jovanović ist für mich die wichtigste jugoslawische Autorin der 80er Jahre. Mit unvergesslich rotziger Stimme erzählt sie von einer jungen Belgraderin, die ihre dysfunktionale Familie und die heuchlerische Gesellschaft gleichzeitig trägt und nicht packt. – Barbi Marković, Autorin

Biljana Jovanović (1953–1996) war eine jugoslawische Schriftstellerin, Bürgerrechtlerin und Friedensaktivistin. Anfang der 90er Jahre organisierte sie mehrere große Antikriegskampagnen und -demonstrationen. Sie veröffentlichte Gedichte, drei Romane, vier Theaterstücke, Kurzprosa, Briefe und Appelle. Jovanović hat einen großen Einfluss auf die postjugoslawischen Feministinnen der Gegenwart. Ihr zu Ehren wurde ein bedeutender Literaturpreis in Serbien benannt.

Biljana Jovanović |

Hundeund Andere

Die Arbeit der Übersetzerinnen am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms „NEUSTART KULTUR“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

The European Commission's support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflect the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

Statt einer Einleitung:

Diese Geschichte besteht nicht aus tag-nächtlichen Phantasmagorien, sondern aus Hunden und Anderen. Ganz ohne Witz: Anderen und Hunden. Der Standpunkt, die Wahrheit sei relativ, ist gegenüber dem Standpunkt, die Wahrheit sei absolut, psychologisch gerechtfertigter, dabei ist nicht auszuschließen, dass sie auch epistemologisch verlässlicher ist, und deshalb stimmt (als stünde es in Kirchen- und sonstigen Büchern – Gott sei dafür Dank!): Hunde denken immer, sie würden zu den Anderen gehören (welche aus unerfindlichen Gründen – bis zum heutigen Tage – als besser angesehen werden). Die Anderen sind nicht immer überzeugt, keine Hunde zu sein. Und dennoch, Hunde sind trotzdem die Anderen und die Anderen sind trotzdem Hunde. Das Einzige, worin sie sich ab und zu wirklich unterscheiden (Grund genug, sie in dieser Geschichte getrennt voneinander mitwirken zu lassen), ist das Niveau ihrer, wie viele – selbstverständlich gelehrte – Persönlichkeiten es nennen würden, sozialen Angepasstheit.

Das ist doch echt nicht zu fassen! Warum sollten Hunde so etwas tun? Und erst recht die Anderen?!

Wie dem auch sei, letztendlich ersticken beide im typischen Mief des Lebens:

I

Eine längere und abgerundete Zeit (gleich einer Lüge auf Jaglikas Lippen) hielt ich mit der Sicherheit einer Idiotin Jaglikas und Marinas Geschichten für meine eigenen Bilder aus der Kindheit. Und ich glaubte felsenfest, versteht sich, selbst über diese Bilder zu verfügen. Keine Ahnung, wann das alles geplatzt ist! Bis dato waren meine Anstrengungen kaum wahrnehmbar (erfolglos) gewesen, wie wenn man mit trockenen, ungeschnittenen Nägeln schnippt oder mit einer Stecknadel beschämt an der Tischkante kratzt; wann immer ich versuchte, mich an irgendwas zu erinnern, und das bei meinem unangebrachten Ehrgeiz, mich ganz genau erinnern zu wollen, war in meinem Kopf ein riesiges Wirrwarr; sobald ich mich zu einem Teilchen durchgewühlt hatte, verlor ich es gleich wieder im konzentrischen Geflecht der anderen Bilder, bis ich gar keinen Anfang und kein Ende mehr finden konnte. Und irgendwann platzte alles wie eine Bombe; nein, wie 120 Gläser, die aus dem zehnten Stock geworfen werden; es blieb nichts übrig, nicht mal ein Fetzen wie bei einem geplatzten Luftballon oder einer aufgeblasenen Plastiktüte.

Ich war frei! Mir wurde klar, dass ich mich selbst an nichts erinnerte, dass sich vielmehr Jaglika und Marina an meiner Stelle erinnerten; dass ich mich selbst nie an irgendwas erinnert hatte; dass die beiden mir etwas untergeschoben und mich hintenrum und heimlich (Küsse und Babysprache) in das gemeinsame Familiengedächtnis hineingezogen hatten. Ich dachte mir: Wie dankbar doch die Leere ist! Dorthinein (in diese Leere, in das breiteste Loch der Welt) konnte ich alles stopfen: Lügengeschichten, von wem auch immer; jede noch so blöde, unverschämte Erfindung. Ich fing also an, mir meine eigene Kindheit auszudenken; ohne Boshaftigkeit, ohne Eitelkeit – nur der leere Raum in mir, vor mir, neben mir, ringsum, überall …

Was ich mir ausgedacht hatte, erzählte ich mir selbst zunächst flüsternd; einmal oder zweimal, je nach Länge der Geschichte. Dann wiederholte ich die Geschichte laut, immer wieder, vor dem Schlafengehen, die Augen weit aufgerissen, im Dunkeln, und die Geschichte (das Bild aus meiner Kindheit, das nur dem Anschein nach nicht existiert hatte) prägte sich meinem Gedächtnis ein.

Für gewöhnlich überprüfte ich das Ganze am nächsten Tag: Ich pirschte mich an Jaglika heran und begann zuerst ein Gespräch über ihre Brille, ihr Rheuma, ihre Prothese, das Wetter, Blutdruck, unsittliche Frauen und betrogene Männer, um dann mitten im Gespräch wie nebenbei zu fragen: »Sag mal, Oma … erinnerst du dich eigentlich an …« oder »Ach, und Oma, wie war das noch mal, du weißt schon …« Jaglika fragte dann, worum es gehe, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her vor lauter Freude darüber, dass ich mich auf ihr Gedächtnis verließ, und tappte in die Falle. Ich erzählte ihr nur die Rahmenhandlung einer Geschichte (eines Bildes), die ich mir in der Nacht zuvor ausgedacht hatte, ließ Zeitangaben und gewisse Details weg, und Jaglika, die den Betrug normalerweise aufgedeckt hätte, setzte die Geschichte einfach fort, der Reihe nach bis zum Ende.

Ein paar Tage in Folge trug ich jede ausgedachte Geschichte so (auf meinen Armen, Lippen) zur halb tauben, halb blinden Jaglika. Dass Jaglika in alles, in jede ihr angebotene Geschichte, voller Eifer einstieg, zeigt: Es ist eine realistische Annahme, dass die ganzen nachts erschaffenen und ausgedachten Bilder (Geschichten) – von jetzt an bis in alle Ewigkeit – schon einmal passiert waren, oder regelmäßig passiert waren, oder aber erst passieren sollten, egal wann, egal wem, ja sogar mir selbst!

Danach brauchte ich wieder lange Zeit, bis mir irgendwann klar wurde, dass ich einige von diesen Dingen verwechselt hatte mit: Einbildungsfreiheit, das heißt Erinnerungsfreiheit. Man könnte auch sagen, dass ich an ganz gewöhnlichen Krankheiten litt und ihnen nur gern eine besondere Bedeutung gab. Ich hatte gedacht, mich aus dem Familiengedächtnis ausstanzen zu können (Jaglika – der Schöpfer, der sich am längsten erinnert; Marina – der große Magier; Danilo und ich – ihre Gehilfen; die Verwandten – Gehilfen mit Kandidatenstatus), einfach, weil ich mich wirklich an rein gar nichts erinnerte! Ich hatte gedacht, dass das dehnbare Loch (unbegrenzt) in meinem Gehirn der Grund wäre, warum ich glaubte, aus eigenem Willen und Verdienst zur Ausgestoßenen geworden zu sein. Tatsächlich aber war jede Erfindung von Anfang an vorbelastet; erfinden ließ sich alles nur so, wie es auch passiert war, keinesfalls anders. Und das lief folgendermaßen ab: Ich dachte mir eine Geschichte aus; dann tat ich alles dafür (wie anstrengend, du meine Güte!), dass sie exakt gleich blieb; ich schob sie (die Geschichte) nur vorläufig beiseite, verrückte sie gerade so viel als nötig, um in meinem ansonsten mickrigen Hirn Platz zu machen, wenigstens ein kleines Eckchen, für das nächste Bild (die nächste Geschichte) und so immer weiter: Ich legte eins hinein, und wenn das nächste kam, schob ich das erste beiseite, und sobald das dritte kam, musste ich das zweite sogar quetschen; vor dem Quetschen stupste ich es vorsichtig, höflich in den Rücken, wie im Bus: »Entschuldigung, einen Moment bitte, ich müsste hier mal kurz meine Tasche, pardon, mein kleines Gehirn mit den Bildern abstellen, machen Sie mir bitte ein bisschen Platz!« Und die Leute (im Bus): »Oh Mann, die tut echt so, als wären ihre Bilder, ihr Gehirn was ganz Besonderes? … Nicht zu fassen!«

Ehrlich gesagt gibt es bei der erfundenen Kindheit eine kleine Sache, die gegenüber der nicht-erfundenen, sogenannten wirklichen Kindheit doch einen gewissen Vorteil hat: kein Unterbewusstsein und ähnlich Untergründiges, keine Deutungen, kein blödsinniges Herumpsychoanalysieren. Mögliche Einwände aus diesen Breiten (psychoanalytischen und anderen) würden meine erdachte Kindheit völlig in Frage stellen (und das Nicht-Erinnern ebenso) – die Sache an sich (also meine Sache) sei einfach nicht möglich, sie könne nicht ohne jeglichen Grund vom Himmel gefallen sein; doch da die Psychoanalyse den Ursprung der Dinge trotz allem nicht erkennt, das ist nun mal ihre Position, liegt sie, zumindest was mich betrifft, tief unter Wasser mit einem Stein plus Strick um den Hals, und für andere ist sie, okay, vielleicht nicht gerade ertrunken, aber doch: »Dunkel war's, der Mond schien helle.«

Jaglika erzählte ich es so: Ich war schrecklich lang in einem dunklen Flur; an den Wänden hingen Schwarz-weiß-Bildchen von Tieren, wie die Bilder in den blau eingewickelten Schokoladentäfelchen; ständig kamen sehr große Leute vorbei, wirklich ständig; ich glaube, immer um die Mittagszeit (wie konnte ich das denn wissen ohne Fenster!); immer wieder prüften sie meine Stirn, schrieben etwas auf Zettel, schüttelten im Gehen den Kopf; sie machten das alle auf die gleiche Art und Weise (als wären sie Duplikate, also Doppelgänger) und sagten immer, wirklich immer das Gleiche: »Ihr Gesicht ist länglich und mürrisch. Mal sehen, wie’s morgen aussieht, auf Wiedersehen.«

Und Jaglika erzählte es mir so: »Der dunkle Flur ist das Souterrain, wo wir gewohnt haben; dort war’s immer dunkel; du hast mit Scharlach im Bett gelegen. Jeden verfluchten Tag ist Doktor Vlada zu uns gekommen … erinnerste dich an Vlada … er hat dich untersucht … dir ging’s richtig dreckig, wir dachten alle, du stirbst …«

Jaglikas Version zufolge waren die Bildchen an der Wand also Fliegenfänger und die Zettel Rezepte; dass es mir im Dunkeln vorkam wie mitten am Tag, lag angeblich an einer großen »Lampe mit zweihundert Lichtern«, die Doktor Vlada über meinem Kopf anknipste, und so weiter …

Fantastisch! Jaglika hatte sich alles ausgedacht; Jaglika hatte sich wirklich alles ausgedacht – wie ich im Übrigen auch! Wir haben, das kann ich mit Sicherheit sagen, nie im Souterrain gewohnt; wir hatten nie klebrige Fliegenfänger an den Wänden; schon gar nicht eine große Lampe mit zweihundert Lichtern; ich hatte nie Scharlach und so weiter … Nach mehreren solchen Versuchen (Jaglika hört eine Geschichte und spinnt sie einfach anders weiter) war ich nicht mehr imstande zu unterscheiden, was Jaglikas und was meins und was das Dritte war, an das sich Jaglika als Demiurg wahrhaftig erinnerte (das Recht des Schöpfers ist unantastbar, selbst wenn er lügt). Mir schien, ich war wieder dabei, in die Falle fremder Erinnerungen zu tappen (welch dummes Tier!), ob echte oder ausgedachte, völlig egal; mir schien, die eingebildete Freiheit, die von der Leere kommt, hatte die bröcklige Form einer Lüge, einer Lüge auf Jaglikas schmollenden, hundert Jahre alten Lippen. Ich erzählte niemandem mehr Geschichten, abgesehen von mir selbst, abends, im Dunkeln, die Augen offen. Außerdem hatte ich ein neues Hirngespinst: Ich glaubte, jede Geschichte wäre unumstößlich wahr.

Doch Jaglika hörte nicht auf; es gefiel ihr, zu erzählen und dabei in mein gutgläubiges Gesicht zu blicken (auch der Schöpfer ist auf Schmeicheleien angewiesen). Stück um Stück zog sie die glatten Lügen (wobei man nie wissen kann!) aus ihrem Kopf, ganz vorsichtig, als würde sie Strähne um Strähne ihrer ansonsten nicht existenten Haare kämmen. Ich hatte nicht viele Möglichkeiten; genauer gesagt, hatte ich nur eine einzige: »Komm, Oma, ich les dir aus der Zeitung vor, komm, Oma ... Lass mal die Geschichten jetzt!« Doch Jaglika schüttelte unwillig den Kopf, führte ihren morgendlichen (eingestaubten – es war schon Mittag) Kamillentee (die Erzählerin erfrischt sich) an die Lippen und quasselte weiter; sie stopfte mir einfach die Ohren voll mit ihren Stückchen, ihren Lügen, die kein bisschen schlechter waren als meine, doch gerade deswegen ein unerträgliches Kuddelmuddel in meinem Kopf anrichteten. »Oma, lass gut sein … Ist doch nicht mehr wichtig, vorbei ist vorbei«, versuchte ich es immer wieder; wenn das nichts nützte, bombardierte ich sie mit Schlagzeilen aus ihrer Lieblingszeitung – Die Frau hält das Haus zusammen; Fabrikarbeiterin ermordet Kind, damit ihr Liebhaber sie heiratet; Kleine und große Gobelins: Anleitung zum Sticken; Verschönern Sie ihre Umgebung – und machte damit so lange weiter, bis ich ganz sicher war, dass Jaglika das, woran sie sich erinnerte, wieder vergessen hatte; so lange, bis sie aufhörte zu brummen: »Mach nur, mach nur, morgen brauchste deine alte Oma wieder.« Meistens dauerte es eine halbe Stunde, manchmal auch weniger, bis Jaglikas Gesicht zu strahlen begann; dann suchte ich ihr Zimmer nach der Brille ab – sie vergaß ständig, wo sie die eben hingelegt hatte – und jedes Mal war sie entweder auf dem Fensterbrett oder unter dem Kopfkissen.

II

Eine berühmte jugoslawische Dichterin hängte dieser Tage in meinem Zuhause, in meinem Zimmer, während Danilo und Jaglika schliefen, ihren roten synthetischen Schlüpfer an den höchsten Haken der Garderobe; sie schob ihren Rock hoch (entblößte ihre riesigen, wabbeligen Schenkel) und ging ins Bad; auf meinem Bett lag ihr gut zwanzig Jahre jüngerer Liebhaber, nur wenig älter als ich, der eine niedrige, auffallend niedrige Stirn und lange, krumme Beine hatte (das war alles, was ich von seiner vorteilhaften Figur sehen konnte, der Rest befand sich unter der Bettdecke). Die Dichterin zog die Tür nicht zu, weder Zimmer- noch Badezimmertür, und so entdeckte Danilo, der allem Anschein nach kein Auge zugetan hatte, seit die beiden in die Wohnung gekommen waren, sie breitbeinig über das Waschbecken (oder unter das Waschbecken!) gebeugt und stand wie angewurzelt da; dann stürzte er verwirrt und verängstigt ins Zimmer, sein starrer Blick glitt über mich (die auf dem Boden saß) und den Liebhaber der Dichterin auf dem Bett hinweg, dann noch einmal über mich, dann knallte er die Tür zu und rannte in sein Zimmer, ohne auch nur ein Wort, einen Laut oder das geringste Geräusch von sich zu geben (mein Gott, als wäre er vor Schreck verstummt); kurz darauf kam die Dichterin mit hochgeschobenem Rock ins Zimmer und bat um ein Handtuch.

In dieser Nacht schlief ich in Jaglikas Zimmer auf der Matratze, auf dem Boden; bis zum Morgen lauschte ich Jaglikas hingebungsvollem Schnarchen und einem leisen Summen, Jammern und Quietschen, von dem ich glaubte, es käme nicht aus ihrem zahnlosen Mund, also ihrer Seele, sondern vielmehr von ihren montenegrinisch-ungarischen Vorfahren, die wie alle Hautflügler nervtötend und hartnäckig die ganze gottverfluchte Nacht um ihren Kopf schwirrten (die Lampe an Jaglikas Bett brannte – Jaglika hat im Dunkeln Angst vor Albträumen, wie ich im Übrigen auch) und manchmal auch um meinen, wahrscheinlich, wenn sie sich daran erinnerten, dass ich Jaglikas Nachkommin bin. Da meine Oma mit ihren Hautflüglern, brennender Nachttischlampe, Quitten unter der Heizung und Auswurf auf einer alten, vierlagigen Zeitung unterm Bett im anderen Teil der Wohnung war, konnte ich nicht hören, wie Danilo vor der Zimmertür, hinter der die Dichterin und ihr Liebhaber schliefen, herumschlich, auf und ab lief und zeitweise hüstelte (wie in einem Horrorfilm), wovon sie mir am nächsten Morgen eingehend berichteten. Unter anderem, dass Danilo im Laufe der Nacht mindestens zehn Mal (sagt die Dichterin, allerdings übertreiben Dichter und Dichterinnen ja gerne) die Tür weit aufriss und jedes Mal ein paar Minuten (sagt die Dichterin: ein paar Minuten) unbeweglich auf der Türschwelle stand; die beiden hätten kein Auge zugetan, sagt sie. Anfangs riefen sie ihn zu sich und schalteten das Licht ein, sie habe lange keinen so schönen, gespenstischen Jungen mehr gesehen, sagt die Dichterin; ich sagte ihr, er werde diesen Herbst 29 und sei kein Junge mehr, doch sie wiederholte: »Der Kleine stand herum, stand bloß herum und glotzte uns mit großen Augen an!« Danilo hat tatsächlich Glubschaugen, doch ansonsten, Hand aufs Herz oder, wenn nötig, niedriger, bildete sie sich das meiste in Bezug auf ihn nur ein, aber ist ja auch egal.

Am gleichen Tag verließen die beiden mittags die Wohnung. Der Liebhaber rieb sich die Triefaugen und hielt mir gleichzeitig seine andere, ein wenig verschwitzte, aber warme Hand hin; die Dichterin war sichtlich wütend, sie sagte nicht mal Tschüss, dafür sprach Danilo auf einmal wieder, von der Wohnungstür aus warf er den beiden, die bereits am Fahrstuhl standen, seine Worte wie einen Pingpong-Ball fröhlich und heiter zu: »Warum seid ihr nicht in ein Hotel, da hättet ihr's sicher besser gehabt!«

Doch schon im nächsten Moment hörte ich die Dichterin von der Straße aus rufen: »Lidijaa, Lidijaaaa!« Ich stürzte die Treppe hinunter (beide Beine hätte ich mir brechen können), Danilo war unten, du lieber Gott, wie schnell der war, und eben noch …

Er umklammerte die dicken Arme der Dichterin wie ein Kleinkind und wiederholte stotternd, Sabber vor dem Mund und eine unbegreifliche Bitte in den starrenden (großen) Augen: »Warum kommt ihr nicht wieder rein … Warum kommt ihr nicht wieder …« Und dann zu mir blickend: »Lida, sag ihnen, Lida, sag ihr …« Die Dichterin lächelte teils boshaft, teils wie eine schlechte Schauspielerin; der Liebhaber starrte Danilo an, als wäre er ein tollwütiger (gefährlicher), aber auch trauriger Köter.

Danilo fragte mich den ganzen Tag immer wieder: »Warum hast du’s ihnen nicht gesagt, warum hast du’s ihnen nicht gesagt, Lida?« Ich antwortete ihm jedes Mal, nicht ganz sicher und ziemlich erschöpft, die Dichterin und ihr Liebhaber seien doch um Gottes Willen eben, gerade erst, vor zwei Stunden, kurz vorher gegangen, was er denn jetzt wolle, er habe sie ja selbst verabschiedet, die Dichterin und ihren Liebhaber mit der tief in die niedrige Stirn gezogenen Schmidt-Mütze, und sie seien danach wahrscheinlich weiter ins Hotel oder in eine andere Stadt, was wolle er denn, »mein Gott, Danilo, du hast es ihnen doch selbst gesagt!«

So wuchs Danilos Gefühl des Verlassenseins: Auf der Straße rannte er hinter unbekannten Leuten her, zu Hause ließ er die Gäste nicht wieder gehen, er rief ihnen vom Fenster aus nach, bettelte, jammerte, flehte sie an, dass sie zurück-, dass sie wieder reinkämen, und alle diese Leute (außer Marko – Danilos Schulfreund) schüttelten die Köpfe (ganz wie Gelehrte), plusterten sich auf und schauten zu und dachten genau wie die Dichterin und ihr Liebhaber: Der Junge ist krank (trauriger Köter), der Junge ist gefährlich (wütender Köter), und kamen nicht mehr zu Besuch. Er fragte den Taxifahrer, der uns zu Mira (Danilos vermeintlicher Freundin) fuhr, ob er ihn liebe, und der mit Weisheit gesegnete Taxifahrer antwortete, dass er ja wirklich gar keinen Grund habe, ihn zu hassen und dass er (Danilo) für ihn ein Kunde sei wie jeder andere. Aber Danilo drängte, er solle ihm sagen, ob er ihn liebe, was um Himmels willen absolut berechtigt war: Schließlich hatte er ihn gefragt, ob er ihn liebe, nicht, ob er einen Grund habe, ihn zu hassen. Dann, als wir ankamen (wenige Minuten später) und ich in meiner Tasche nach Geld kramte, sagte Danilo zum Taxifahrer: »Darf ich vorstellen, das ist meine Schwester Lidija.«

Er verschloss sich tage- und nächtelang in seinem Zimmer und kam nicht heraus, jedenfalls nicht, wenn ich zu Hause war. Und Jaglika – so alt, dass es älter nicht geht, kurz vor ihrem Tod, in Gedanken und Erinnerungen irgendwo vor zwanzig, fünfzig, dann wieder zwanzig Jahren – fragte mich: »Ja, wo ist denn mein Danilo hin, den hab ich ja, seit er sooo klein war, hab ich den nicht mehr gesehen!«

Dann kam die Wendung: Auf einmal saß Danilo den ganzen Tag, während ich in der Bibliothek war, bei Jaglika, und wenn ich nach Hause kam, wich er bis spät in die Nacht nicht mehr von meiner Seite; er schlief in meinem Bett ein, den Kopf an meinen Rücken geschmiegt. Morgens war er vor mir wach, lange bevor Jaglika vom anderen Ende der Wohnung herüberschrie: »Lidijaaa!«

Seine Augen waren trüb und allzu groß (Glubschaugen), als hätte er gar nicht geschlafen!

»In welchem Zimmer soll ich mich verstecken?«

»Hä … Danilo? Du bist doch im Zimmer?!«

»Du verstehst gar nichts … in welches Zimmer soll ich gehen, Lida, stell dich nicht dumm!«

»Danilo, ich muss zur Arbeit, komm, leg dich schlafen!«

»Ich hab dich was gefragt, Lidijaaa! Und was soll das mit der dicken Riesenfrau, Lidijaaa!«

»Welche dicke Frau denn, red keinen Blödsinn!«

»Tu nicht so, du weißt genau, wen ich meine, Lidija!«

»Hör mal, Danilo, ich komme zu spät!«

»Du zwingst mich die ganze Zeit, irgendwelche Leute zu lieben, und ich kann sie nicht lieben und diese dicke Frau, das geht so nicht mehr, nur dass du’s weißt, Oma erträgt es auch nicht mehr, hat sie gesagt.«

»Ich muss jetzt los, Danilo, mein Gott!«

»Warum schreist du, warum schreist du immer so, Lidija?«

»Halt deine idiotische Fresse, komm, geh schauen, was Jaglika macht, na los, tschüss …«

»Warte, Lidija, ich hab’s dir ja gesagt, und Oma sagt übrigens auch, dass sie die nackten Idiotinnen in der Wohnung nicht mehr erträgt, ständig schleppst du welche an, das will hier wirklich niemand mehr, außerdem ist sie eine Schlampe …«

»Stooopp, du Idiot, hör auf!«

»Brüll doch nicht so … brüll nicht so!«

»Nun geh schon schauen, was Oma macht …«, rief ich und knallte die Tür zu; Danilos Schrei verfolgte mich bis zur Eingangstür, während ich über die Straße rannte, hörte ich Danilo, wie er wahrscheinlich vom Balkon (ich habe mich nicht umgedreht) schrie und fluchte.

III

»Es wird niemals einen Menschen geben, der über die Götter und die Dinge, die ich sage, gesichertes Wissen hat. Selbst wenn er die Möglichkeit hätte, die ganze Wahrheit zu sagen, wüsste er selbst, dass es so nicht stimmt. Aber einbilden kann sich natürlich jeder was.«

(R. P. Lo4 [X of K.] J. B.)

»Hör mal, Lidija, heute Nacht habe ich wieder von dem Farbenkuddelmuddel geträumt; erst haben sich die Farben ausgebreitet, dann haben sie sich gegenseitig angestupst, Goldgelb, Purpurgrün, vergorenes Weinrot, dann Dunkelrot und noch so eine Sandfarbe wie von Miras Rock, dann Blau, ein schlankes Blau, du kennst dieses Blau, Lida, das saust immer wie der Blitz vorbei, davon tut mir der Kopf weh, wie ein Pfiff, Lida, zack und weg war’s, vorbeeei, Lida, hörst du mir eigentlich zu?« Ich nicke und denke mir, dass Danilo hundertpro mindestens zwei Stück Schokolade im Mund hat, wenn er derart unerträglich schmatzt und spuckt und ihm die Spucke in den Mundwinkeln hängt. Ich sammle weiter die herumliegenden Zeitungsseiten ein und sage: »Ich hör dir zu, red weiter!« Und er: »Ich habe geträumt, dass Mira mit einem riesigen Handtuch um den Kopf gekommen ist, sie hat sich wohl die Haare gewaschen, plötzlich tropft sie wie eine Eiswaffel, genauso, Lidija … dann taucht hinter ihr der von neulich auf, der mit den drei Pullovern, hörst du, Lidija, der, der mit der nackten Dicken geschlafen hat, die Oma nicht mehr sehen will, und die ist auch gekommen, ich hab sie nur nicht sofort gesehen; kurz nachdem Mira und der Typ sich ausgezogen haben und sich auf das Handtuch gelegt haben, das von Miras Kopf; als ob sie tot wären, Lidija, sie haben sich einfach hingelegt und dann nicht mehr gerührt; auch Mira, sie war schrecklich dünn … dann hab ich die nackte Dicke gesehen; beziehungsweise sie kam eigentlich von hinten auf mich zu und hat mir so schrecklich harte rosa Tampons in die Ohren gestopft und angefangen mich zu massieren, hier, hinter den Ohren und irgendwann auch meine Augenlider, Lidija, stell dir das mal vor, aber sie war grob, Lida. Lidija, ist die immer so grob? Als sie anfing mich auszuziehen, das war alles komplett aus dem Gleichgewicht, also ich mein, von ihr, als ob sie wahnsinnig geworden wäre, so gezittert hat sie am ganzen Leib; sie hat meine Gürtelschlaufen abgerissen und Lidija, als sie meinen Hosenstall angefasst hat, war ich schon halb verrückt, und als sie ihn aufgeknöpft hat, bin ich sofort gekommen, wie aus der Pistole, Lida, ich hab sie komplett vollgespritzt und sie hat, stell dir das mal vor, sie hat einfach so getan, als würd sie’s nicht sehen … später ist dann diese Sandfarbe über uns geflossen, sandfarbenes Dunkel, verstehst du, wir haben eine Weile gar nichts mehr gesehen wie durch nassen Sand, bis irgendwann die vergorene Weinfarbe aus Miras Augen schoss, Ehrenwort, Lida, aus Miras Augen, ungleichmäßig – wie beim Pinkeln, wenn der Strahl unterbrochen wird, genauso … dann hab ich gesehen, dass du daneben stehst und die Nagelschere so, schau, Lida, so auf dem Mittelfinger drehst, und hinter dir springt Jaglika herum, sie hat dir was zugeflüstert, und dann kam das Allerschlimmste mit den Farben, Lida, hörst du mir zu … menno, Lida, jetzt lass das doch mal, lass das, Lida, setz dich …«

Danilo kaute gar keine Schokolade, aber er hatte tatsächlich etwas im Mund, deswegen redete er so langsam: Eine riesige Lüge rollte an seinem Gaumen, zwischen den Zähnen, sie zerriss unter der Zunge, Danilo verhaspelte sich, Danilo log und spritzte dabei in alle Richtungen Spucke genau wie Jaglika, die seit diesem Morgen nicht mehr laufen konnte, als hätte sie der Blitz getroffen (Jaglika, die süße Jaglika, weiß, dass der Teufel selbst ihr ein paar unsichtbare Felsbrocken hingeschoben hat, deshalb kann sie sich nicht rühren), oder war’s vielleicht die blaue Farbe, von der Danilo ständig träumte, das schlanke Blau, es leuchtete auf, zack und weg waaars … Was war das doch, alles in allem, für eine Phantasmagorie in unserer Wohnung in der Svetosavska ulica: Danilo und Jaglika – Helden eines Zeichentrickfilms, in dem ein blitzendes Blau, ein Steine werfender Teufel und Miras eiscremefarbener Rock auftauchen.