Hundert Jahre Türkei -  - E-Book

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Beschreibung

Zeitzeugen berichten von ihren Erlebnissen und gehen den Fragen nach, die seit je die türkische Gesellschaft umtreiben: sei es der türkische Nationalismus mit all seinen Facetten, der Umgang mit den Nationalitäten, die Stellung der Frau, sei es die Überlegung, wohin die kemalistische Revolution geführt hat. Diese Kernfragen sind nach dem Zusammenbruch des osmanischen Vielvölkerreiches über all die Jahrzehnte hinweg bis heute aktuell. Dieses Lesebuch ist Einführung und Quellenband zugleich – eine Geschichte der Türkei aus erster Hand, wie es sie noch nicht gibt.

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Über dieses Buch

Zeitzeugen berichten von ihren Erlebnissen und gehen den Fragen nach, die seit je die türkische Gesellschaft umtreiben: sei es der türkische Nationalismus mit all seinen Facetten, der Umgang mit den Nationalitäten, die Stellung der Frau, sei es die Überlegung, wohin die kemalistische Revolution geführt hat. – Eine Geschichte der Türkei aus erster Hand.

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Erika Glassen (*1934) habilitierte sich im Bereich Islamwissenschaften an der Universität Freiburg im Breisgau. Von 1989 bis1994 war sie Direktorin des Orient-Instituts. Sie ist zusammen mit Prof. Dr. Jens Peter Laut Herausgeberin der Türkischen Bibliothek.

Zur Webseite von Erika Glassen.

Hülya Adak (*1972) studierte in Chicago. Sie forschte über Memoiren aus der osmanisch-türkischen Epoche und zu Fragen nach Gender und Sexualität und veröffentlichte Artikel über die armenischen Deportationen während des Ersten Weltkriegs. Sie lehrt an der Sabanci-Universität in Istanbul.

Zur Webseite von Hülya Adak.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Hülya Adak und Erika Glassen (Hg.)

Hundert Jahre Türkei

Zeitzeugen erzählen

Türkische Bibliothek

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Erstausgabe erschien in der »Türkischen Bibliothek« im Unionsverlag, Zürich, herausgegeben von Erika Glassen und Jens Peter Laut. Eine Initiative der Robert Bosch Stiftung.

Der Verlag dankt den Autorinnen und Autoren bzw. ihren Rechtsnachfolgern für die Überlassung der Abdruckgenehmigungen.

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Ergin Inan, Mektup, 1988

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30109-2

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 13:25h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

HUNDERT JAHRE TÜRKEI

VorwortNebelDer Nebel lichtet sichMeine Kindheit in IstanbulDie Flaggen der FreiheitDie armenische FrageDer RuckIstanbul gehört den TürkenWährend der Besatzung durch die Alliierten in IstanbulVon Istanbul nach AnkaraAnkara nach dem Nationalen BefreiungskampfFreitagspredigt in der Moschee von BalıkesirDie Große RedeDie Anrufung GottesWarum ich die Frauenunion gegründet habeDie erste Begegnung mit Mustafa Kemal AtatürkWie ich Atatürks »Himmelstochter« wurdeDie Auswirkungen der kemalistischen KulturrevolutionDie Sprach- und SchriftreformDeutsche Professoren in der TürkeiDer wahre Führer ist die WissenschaftVergessene JahreIn Atatürks TischrundeDer türkische Nationaldichter Mehmet Emin Yurdakul in AnkaraDer junge Hofdichter Atatürks: Behçet Kemal ÇağlarDie ersten Tanzveranstaltungen in EdirneDie drei HügelÜber die drei Hügel hinausVon der osmanischen zur türkischen LiteraturAtatürks letzte TageAtatürks NationalgefühlSehnsucht nach AtatürkAtatürks Tod und BestattungDas letzte WortZurück zum arabischen GebetsrufEine Anwältin erinnert sichDie »antisemitische« VermögenssteuerDas Pogrom gegen die griechische Minderheit in IstanbulDer bevorstehende große JahrestagEin Gegner der SprachreformZurück zu den WurzelnDer Blaue Anatolische HumanismusDie Stimmen AnatoliensErinnerungen an das Höhere Dorfinstitut HasanoğlanNâzım Hikmets SchicksalDebatten über den SozialismusDie Provokation gegen die Zeitung TanDie Babeuf-AffäreOffener Brief an die PutschgenerationenDie Militärputsche und die LiteraturRückkehr zum SchleierDas MinderwertigkeitsgefühlFrauenforschung und FeminismusTürkisch sprechen ist PflichtMeine GroßmutterRenaissance des Alevitentums in der TürkeiDie kurdischen BardenIch, wir, die anderenAutorenbiografienDie ÜbersetzerUmschlagmotivZeittafelZur Aussprache des Türkischen

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Über Erika Glassen

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Vorwort

Die Türkei erlebte im 20. Jahrhundert eine Zeit stürmischer revolutionärer Umwälzungen. In unserer Anthologie kommen Zeitzeugen dieses Geschehens zu Wort. Es sind subjektive, authentische Texte: Presseartikel, Reden, Tagebücher, Memoiren, Geschichten und einige längere resümierende Artikel von engagierten zeitgenössischen Intellektuellen, denen die Probleme ihres Landes am Herzen liegen. Man spürt den Atem der Geschichte. Viele wichtige Mitspieler des historischen Dramas treten ins Rampenlicht. Die Texte sind weitgehend chronologisch angeordnet und nach Themenkomplexen gebündelt. Sie spiegeln zusammengesehen mosaikartig einen komplexen historischen Prozess: Nach der Auflösung des osmanischen Vielvölkerreiches zieht sich das Problem des türkischen Nationalismus wie ein roter Faden durch die türkische Geschichte, eng verknüpft mit naheliegenden Themen wie der Behandlung der ethnischen und religiösen Minderheiten, der abrupten Verwestlichung der Gesellschaft durch die kemalistische Kulturrevolution von oben, die den Bruch mit der orientalischen Tradition bewusst herbeiführen sollte, eng damit verbunden sind auch die Säkularisierung durch die Schließung religiöser Institutionen und die Frauenemanzipation. Doch um die Mitte des Jahrhunderts setzte eine gegenläufige Dynamik ein. Viele Intellektuelle empfanden einen Identitätsverlust und begaben sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln, während parallel dazu das religiöse Bedürfnis breiter Schichten allmählich zu einer Re-Islamisierung der Gesellschaft führte. Dieses historische Spannungsverhältnis beherrscht mit allen seinen Widersprüchen noch heute die türkische Gesellschaft, die auch nach hundert Jahren nicht zur Ruhe kommt.

Dieser Band bietet auch den kulturhistorischen Kontext zu den literarischen Werken der Türkischen Bibliothek, wobei andererseits die Romane der klassischen Moderne als ergänzende Lektüre zu empfehlen sind.

Als Prolog steht ein Gedicht, das im Jahr 1902 die Gemüter bewegte. Eine wortgewaltige, pathetische Hymne und zugleich ein Schmähgedicht auf eine der schönsten Städte der Welt: Konstantinopel-Istanbul, seit 1453 die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, das sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch über drei Kontinente erstreckte, aber schon als »Kranker Mann am Bosporus« in den letzten Zügen lag.

Die westlich inspirierten, »wohltätigen Reformen« (Tanzimat-i Hayriye), die seit 1837 das durch militärische Niederlagen geschwächte Reich heilen sollten, hatten die osmanische Gesellschaft verändert. Westlich gebildete Offiziere, Beamte und Dichter trotzten Sultan Abdülhamit II. 1876 eine Verfassung ab, die er aber nach wenigen Monaten wieder suspendierte. Abdülhamit war durch die permanente Staatsverschuldung und die ökonomischen Zugeständnisse an die Europäer in deren Abhängigkeit geraten. Er führte zwar neben den bestehenden traditionellen, islamischen auch westlich orientierte Schulen und Hochschulen ein, an denen Französisch gelehrt wurde, und machte sich moderne Errungenschaften wie Elektrizität und Eisenbahnen zunutze, doch der krankhaft misstrauische Monarch stützte sich auf ein effektives Spitzelsystem und eine Zensurbehörde, die die Presse in Schach hielt und die Stimmen der kritischen Literaten zum Schweigen brachte. Diese bedrückende geistige Atmosphäre symbolisiert der Nebel (Sis) in Tevfik Fikrets Gedicht, der dicht und lähmend über der Stadt liegt.

Doch eines Morgens im Juli 1908 wollen die Istanbuler ihren Augen nicht trauen: Zwischen den gewohnten, langweiligen Verlautbarungen des Hofes in den gleich geschalteten Zeitungen steht eine unscheinbare Nachricht, die bald wie eine Bombe explodiert. Der Sultan hatte die Verfassung von 1876 wieder in Kraft gesetzt. Was war geschehen? Hüseyin Cahit und Falih Rıfkı beschreiben sehr lebendig diese eigenartige »revolutionäre Atmosphäre« von 1908. Es war der erste Militärputsch im 20. Jahrhundert: Junge türkische Offiziere, die in Saloniki stationiert waren und dem damaligen Geheimbund Einheit und Fortschritt angehörten, waren nach Istanbul marschiert und hatten dem Sultan dieses Zugeständnis abgerungen. Man nennt die Zeit zwischen 1908 und 1918 die Jungtürkenzeit oder die Zweite Konstitutionelle Periode. Doch bevor sich ein verfassungsgemäßes demokratisches System konsolidieren konnte, mussten die Jungtürken eine religiöse Konterrevolution niederschlagen, zwei Kriege auf dem Balkan führen, Aufstände in den arabischen Provinzen und Überfälle westlicher Mächte auf osmanische Territorien in Afrika abwehren. Denn die Europäer hatten schon heimlich das Erbe des »Kranken Mannes« als Beute unter sich aufgeteilt und waren an einem Erstarken des Osmanischen Reiches nicht interessiert. Das Zeitalter des Nationalismus hielt nun auch im Vielvölkerreich der Osmanen Einzug. Die Völkerschaften, die unter seinem Dach versammelt waren und lange Zeit in relativer Harmonie miteinander gelebt hatten, verfolgten nun ihre eigenen nationalen Ziele. Aber das geistige Leben in Istanbul blühte auf, Zeitungen und Zeitschriften überschwemmten den Markt, und auch die türkischen Intellektuellen, die sich bislang nicht als Türken, sondern als Osmanen definiert hatten, suchten nach einer identitätsstiftenden Geisteshaltung. Geradezu rührend beschreibt Ömer Seyfettin (Die Flaggen der Freiheit) den Traum eines jungen Offiziers vom völkerübergreifenden osmanischen Patriotismus. Ideologien, wie der Panislamismus mit dem osmanischen Kalifen an der Spitze, der kosmopolitische Osmanismus und der Turkismus beziehungweise Panturkismus standen zur Debatte. Aus den von Türken bewohnten Gebieten im zaristischen Russland kamen Intellektuelle wie Ahmet Ağaoğlu, Yusuf Akçura und Sadri Maksudi Arsal nach Istanbul und versuchten durch Artikel und Vorträge das ethnische Bewusstsein der osmanischen Türken zu wecken. Ein Forum für geistige Auseinandersetzungen wurde der Türken-Herd (Türk Ocağı), ein Klub, in dem Vorträge gehalten wurden, wobei unter der Zuhörerschaft und den Rednern bald auch Frauen waren. In der Jungtürkenzeit gab es die ersten Emanzipationsbestrebungen, und das Erziehungssystem wurde von Frauen wie Halide Edip, Nakiye Elgün und Nezihe Muhittin reformiert.

Doch der Erste Weltkrieg, in den sich die jungtürkischen Führer (Enver Paşa, Talât Paşa und Cemâl Paşa) an der Seite Deutschlands einmischten, führte zur militärischen Katastrophe und damit zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Die jungtürkischen Führer befleckten in diesem Krieg die türkische Ehre, indem sie sich der grausamen Armenierverfolgung schuldig machten. Sie flohen 1918 nach Deutschland. Lange Zeit unbeachtete frühe Texte über die armenische Thematik von Hüseyin Cahit und Falih Rıfkı zeigen, wie selbst Persönlichkeiten, die den Jungtürken nahestanden (Hüseyin Cahit und Halide Edip), ihren Abscheu über diese Gräuel nicht verbergen konnten.

Alle Territorien außer Anatolien und einem kleinen Gebiet in Rumelien gingen dem Reich verloren. Die alliierten Mächte waren begierig, ihre längst vorbereiteten Aufteilungspläne zu verwirklichen. Die Zeit zwischen 1918 und 1923 nennt man die Zeit des Waffenstillstands (Mütareke), in der die Sultansstadt und die osmanische Regierung unter der Kuratel fremder Mächte standen, die die nicht türkischen, nicht muslimischen Bevölkerungsteile in ihren Animositäten gegen die Türken bestärkten und sie für ihre Pläne instrumentalisierten. Süreyya Ağaoğlu beschreibt, wie sie als rebellische Halbwüchsige diese Besatzungszeit erlebt, nachdem ihr Vater Ahmet Ağaoğlu, wie viele andere türkische Patrioten, von den Alliierten als Sympathisant der Jungtürken nach Malta deportiert worden war. Als am 14. Mai 1919 unter dem Schutz der Entente-Mächte griechische Truppen in İzmir einfielen, schlug der türkische Patriotismus erstmals hohe Wogen. Auch Halide Edip und Nakiye Elgün hielten flammende Reden auf öffentlichen Plätzen gegen die Ungerechtigkeit der Westmächte, die vor Abschluss eines Friedensvertrags vollendete Tatsachen schaffen wollten. In Anatolien regte sich Widerstand, und am 19. Mai 1919 landete Mustafa Kemal Paşa, der sich 1915 als heldenhafter Kommandeur im Krieg an der Dardanellenfront bewährt hatte, in Samsun am Schwarzen Meer. Er hatte den offiziellen Auftrag von der Sultansregierung, die osmanische Restarmee in Anatolien zu inspizieren und die aufflammenden Aufstandsbewegungen unter Kontrolle zu bringen. Doch wie er in einer in diesem Band abgedruckten Passage aus seiner berühmten Rechtfertigungsrede von 1927 ausführt, hatte er angeblich bereits damals das Ziel vor Augen, das osmanische Sultanat und Kalifat abzuschaffen, eine demokratische Regierung zu ermöglichen und dem türkischen Volk damit die Souveränität zu übertragen. Diese Ideale wurden durch vorbereitende Kongresse in Erzurum und Sivas und die Wahl und Einberufung einer Nationalversammlung sowie die Bildung einer nationalen Regierung in dem zentralanatolischen Provinzstädtchen Ankara sukzessive verwirklicht. Damit stellte sich Ankara gegen den osmanischen Sultan und Kalifen Vâhitettin, der mit den Besatzungsmächten kollaborierte und durch eine Fetwa des Şeyhülislam die Führer der Nationalbewegung, neben Mustafa Kemal u. a. auch Halide Edip und ihren Gatten Dr. Adnan Adıvar, zum Tode verurteilen ließ. Aus dem besetzten Istanbul strömten national gesinnte Helfer herbei. Der Schriftsteller Yakup Kadri, der als Berichterstatter für Istanbuler Zeitungen nach Anatolien zog, beschreibt die unterschiedliche Atmosphäre der Jahre 1920 / 21 in der unterdrückten Sultansstadt Istanbul und in Ankara, der Hochburg der Nationalisten.

Zunächst musste aber Anatolien von den Feinden befreit werden. Innerhalb von drei Jahren gelang es Mustafa Kemal und seinen Mitstreitern in einer unglaublichen Kraftanstrengung, die inneranatolischen Kämpfe für die nationale Sache zu entscheiden und die Griechen 1922 wieder aus Anatolien und İzmir zu vertreiben. Damals wurde ihm der Ehrentitel Gazi, heldenhafter Frontkämpfer, verliehen. Diese Ereignisse werden von Halide Edip, die in Ankara und an der Front in unmittelbarer Nähe des Führungsstabs als Journalistin und Soldatin mitwirkte, in ihren Erinnerungen Mein Weg durchs Feuer, die auch in der Türkischen Bibliothek erschienen sind, detailliert beschrieben. Wie Halide Edip äußern sich auch andere Persönlichkeiten, die damals eine wichtige Rolle spielten, wie etwa der General Kazım Karabekir und Dr. Rıza Nur (er hatte verschiedene Ministerämter inne), in ihren erst später publizierten Memoiren sehr kritisch über Mustafa Kemals Vorgehen und den Tenor seiner Rechtfertigungsrede, in der er alle Erfolge sich selbst zuschreibt.

Doch die unermüdliche Willenskraft, das Durchsetzungsvermögen und taktische Geschick Mustafa Kemals befähigten ihn zu der Führungsposition, die er nun übernahm. Das Scheitern des kosmopolitischen, multiethnischen, multilingualen osmanischen Vielvölkerstaats machte die Erfindung des türkischen Nationalismus zu einer dringlichen Aufgabe. Mustafa Kemals Vision war ein säkularer, monoethnischer, türkischer Nationalstaat, der eingebunden war in die westliche Zivilisation. Mithilfe der Ankaraner Nationalversammlung schaffte er 1922 das Sultanat ab, rief 1923 die Republik und Ankara zu ihrer Hauptstadt aus und annullierte 1924 das Kalifat. Der freiwillige Verwestlichungstrend bei vielen gebildeten Osmanen der Tanzimat-Zeit wurde nun zu einer von oben verordneten Verpflichtung für alle türkischen Bürger. Mustafa Kemal bemühte sich jedoch zunächst, die islamische Religion für die nationalen Interessen zu nutzen. Das zeigen seine Freitagspredigt in Balıkesir und der Bericht des Koranlesers Yaşar Okur über die Türkisierung des Gebetsrufes (Ezan).

Die türkischen Intellektuellen, die schon in der Jungtürkenzeit im Istanbuler Türken-Herd um eine tragfähige nationale Ideologie gerungen hatten, scharten sich in Ankara um den Republikgründer: Falih Rıfkı Atay, Ruşen Eşref Ünaydın, Yakup Kadri Karaosmanoğlu, Hasan Cemil Çambel sowie die oben genannten Russland-Türken gehörten zu den häufigen Gästen in der berühmten Tischrunde. Sie erzählen selbst aus ihren Erinnerungen, die durch ihren panegyrischen Stil wesentlich zum Atatürk-Mythos beitrugen, aber vor allem wird diese Zeit von ihren Töchtern, Süreyya Ağaoğlu und Adile Ayda, lebendig geschildert. Texte von Frauen sind in unserem Band zahlreich vertreten, fühlten sie sich doch als »Töchter der Republik«, die nun in der Öffentlichkeit wirkten und alle Berufe ergreifen durften. Sabiha Gökçen, Atatürks Ziehtochter, wurde sogar eine anerkannte Pilotin.

Mustafa Kemal, der zwar endlose anregende Gespräche über alle ihn umtreibenden Themenbereiche führte und oft Spezialisten in die nächtliche Runde herbeiholen ließ, pflegte einen autoritären Führungsstil und traf nach intensivem Brainstorming schließlich seine Entscheidungen doch selbstherrlich. Einer der kritischen Geister, der Journalist Zekeriya Sertel, der mit seiner Frau Sabiha später die linke Presse in Istanbul repäsentierte, schildert eine solche Tischrundensitzung aus seiner Perspektive. Wie Mustafa Kemal in seiner Rede selbst andeutet, konnten manche seiner alten Freunde und Kameraden diese so folgenreichen, aber meistens spontan und unerwartet gefassten Beschlüsse nicht guten Gewissens mittragen. So waren bald nach der Republikgründung einige der alten Gefährten nach dem versuchten Attentat auf Mustafa Kemal 1926 in İzmir zum Tode verurteilt oder verbannt worden oder waren wie Halide Edip und ihr Mann Adnan Adıvar freiwillig ins Exil gegangen. Zwei Versuche, ein demokratisches Mehrparteiensystem einzuführen, waren gescheitert, doch Mustafa Kemal, der seit der Einführung der Nachnamen 1934 nur noch Atatürk, Vater der Türken, genannt wurde, blieb – wie die Nachrufe zeigen – bis zu seinem Tode und darüber hinaus der von vielen hochverehrte, ja vergötterte Retter des Vaterlands und segensreiche Reformator. Selbst der Sozialist Zekeriya Sertel zollt ihm im Rückblick Respekt für seine Lebensleistung.

Mustafa Kemals Reformwerk, das er in den 1920er- und 1930er-Jahren mit außerordentlicher, atemberaubender Konsequenz verwirklichte, betraf nicht nur das Rechtswesen und die Religion, sondern alle Bereiche des Alltagslebens. Einen recht umfassenden Überblick über die Auswirkungen der Reformen in einer eher konservativen Familie bietet Nezih Neyzi in seinen Erinnerungen aus der Villa in Kızıltoprak in Kadıköy.

Ganz besonderen Wert haben wir darauf gelegt, von den Zeitzeugen etwas über die Folgen des Alphabetwechsels (1928) und der forcierten Sprachreform für die Entwicklung der modernen türkischen Literatur zu erfahren. Der rigorose Bruch mit der literarischen Tradition der osmanischen Zeit führte dazu, dass die jüngeren Generationen die alten Texte gar nicht mehr lesen konnten. Wie schwer es war, unter diesen Bedingungen aus dem Nichts mit einer permanent künstlich bearbeiteten Sprache eine neue türkische Literatur von Weltgeltung zu schaffen, bringt uns die abwägende Rede des Dichters Ozansoy 1935 vor den Schülern des Galatasaray-Gymnasiums nahe. Der Westen applaudierte der Türkei Atatürks. Wie Ozansoy voller Stolz bemerkt, schrieb damals eine französische Zeitung, die junge Türkei habe »sechs Jahrhunderte in zwölf Jahren« übersprungen. Aber aus der Perspektive des anatolischen Metris-Hügels, wie sie mitten im Befreiungskrieg von den Feldherren vorgegeben und von Yahya Kemal und Yakup Kadri im Feuer nationaler Begeisterung durch den Artikel Die drei Hügel ins historische Licht gerückt worden war, ließ sich dann doch nicht so einfach ein nationales Epos von Rang schreiben. Wie Adile Ayda berichtet, äußerte sich Mustafa Kemal recht unzufrieden gegenüber dem Nationaldichter (Millî Şair) Mehmet Emin, der in Ankara einfach nicht produktiv genug war. Trotz aller Gesetze und Verordnungen aus Ankara lebte die einfache Bevölkerung weiter im traditionellen Milieu, das fest verwurzelte Patriarchat verhinderte in konservativen Familien die Frauenemanzipation, und wenigen gelang es wirklich, die nun vorgegebenen westlichen Werte zu verinnerlichen. Da auch die jungen Lehrer bei allem guten Willen die westlichen Reformen nur halb verdaut hatten, wurde viel Verwirrung in den Köpfen angerichtet. Eine sehr aufschlussreiche Hintergrundlektüre über die Probleme der frühen Republikjahre bietet Adalet Ağaoğlus Roman Sich hinlegen und sterben, der in der Türkischen Bibliothek vorliegt.

Der Republikgründer selbst hatte wohl erkannt, dass es nötig war, eine Hochschulreform durchzuführen, um sein Projekt der tief greifenden Verwestlichung nicht scheitern zu lassen. Das ließ sich mit den verfügbaren einheimischen Hochschullehrern kaum erreichen. Daher wurde eine ganze Reihe von deutschen Professoren, die als Juden oder Antifaschisten im Dritten Reich unerwünscht waren, in die Türkei berufen, um in Istanbul und Ankara an den Hochschulen zu unterrichten. In den Erinnerungen ihrer türkischen Studentinnen und Studenten (Mina Urgan, Azra Erhat, Niyazi Berkes) entsteht ein vielschichtiges Bild dieses Unternehmens. Eine andere Perspektive auf das türkische Hochschulleben, nämlich auf die Technische Universität, vermittelt der in der Türkischen Bibliothek erschienene biografische Roman Der Mathematiker von Oğuz Atay über den Gelehrten Mustafa İnan, der den mühevollen Aufstieg über die kargen Internate der anatolischen Provinz und ein Studium in Zürich zur internationalen Kapazität geschafft hatte.

Einige türkische Intellektuelle, die auf Staatskosten im westlichen Ausland studiert hatten und die säkulare, westlich orientierte Politik des Republikgründers grundsätzlich bejahten, beklagten gleichzeitig aber den Verlust einer kontinuierlichen eigenen Tradition.

Allmählich wurde die rigorose Verwestlichungspolitik wohl doch als eine Art Gehirnwäsche empfunden. Die Suche nach den eigenen Wurzeln und einem nationalen Geschichtsbewusstsein beginnt bei Sabahattin Eyuboğlu schon im Todesjahr Atatürks 1938. Der Freundeskreis, den er um sich scharte, arbeitete enthusiastisch an den kulturpolitischen Aktivitäten des Erziehungsministers Hasan-Âli Yücel mit, der 1938–1945 unter İnönu amtierte. Yücel initiierte das Projekt des literarischen Übersetzungsbüros in Ankara, wo die herausragenden Werke der Weltliteratur von bekannten Schriftstellern, wie etwa Orhan Veli und Sabahattin Ali, ins Türkische übertragen wurden, und er beförderte die Einrichtung von Dorfinstituten, die endlich auch den Kindern in den anatolischen Dörfern eine gediegene Schulbildung vermitteln sollten. Der Bericht eines der Absolventen dieser Dorfinstitute, des Schriftstellers Talip Apaydın, zeigt einerseits die rückständige Haltung vieler Verantwortlicher im anatolischen Hinterland, die die Dorfinstitute misstrauisch beobachteten, und andererseits das Engagement der Idealisten um Eyuboğlu, die hohe Ansprüche an die Dorfjugend stellten und anscheinend auf begeisterten Widerhall stießen. Dieses vielversprechende Projekt verlief nach 1946 im Sande, als mit der Gründung der Demokratischen Partei (DP) und ihrer Propaganda allen sozial engagierten Persönlichkeiten eine linke Gesinnung unterstellt wurde. Aber der Kreis um Eyuboğlu ließ sich nicht entmutigen. Zusammen mit dem Althistoriker und Schriftsteller Halikarnas Balıkçısı und der Altphilologin Azra Erhat trat er für einen türkischen, sogenannten Blauen Humanismus ein, der das kemalistische Geschichtsbild, das vor allem an der zentralasiatischen Herkunft der Türken orientiert war, variierte. Azra Erhat, eine glühende Verehrerin Atatürks, war mutig genug, dessen berühmte nationalistische Formel »Wie glücklich, wer sagen kann, ich bin Türke« abzuwandeln in den Satz: »Wie glücklich, wer sagen kann, ich stamme aus Anatolien.« Damit konnte der unheilvolle monoethnische, monolinguale türkische Nationalismus unterlaufen werden. Alle Kinder Anatoliens, angefangen bei den Hethitern, waren Vorfahren und Brüder der Türken. Die Geschichte Anatoliens war die Geschichte der Türken. Zentralasien lag so unendlich fern, aber auch Anatolien war den Istanbuler Intellektuellen lange fremd geblieben. Es musste erst geistig erobert werden. Eyuboğlus Freundeskreis rief Blaue Fahrten in die Ägäis ins Leben, die bis heute in dessen Tradition fortgeführt werden. Man wollte sich die griechische Kultur Kleinasiens, die inzwischen nach Meinung der türkischen Humanisten mit der islamisch-mystischen Religiosität (Mevlana, Yunus Emre) verschmolzen war, selbst aneignen und nicht durch ein christlich geprägtes Antikenbild des Westens vermitteln lassen. Murat Belge kritisiert zwar diese Ideen als eine konstruierte Ideologie, bejaht aber die Proklamation der historischen Kontinuität, weil sie auch die osmanische Geschichte einbezieht, die von den frühen kemalistischen Ideologen, ebenso wie die osmanische Sprache und Literatur, verunglimpft und negiert worden war.

Auch der westlich gebildete Literaturhistoriker, Dichter und Romancier Ahmet Hamdi Tanpınar begab sich auf die Suche nach der verlorenen osmanischen Kulturtradition. Sein Artikel über die Vorbereitung der 500-Jahr-Feier der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen 1953 zeigt eindringlich, wie er diese Stadt liebte, die zugunsten Ankaras in der Republikzeit vernachlässigt worden war. In seinem Roman Seelenfrieden, der auch in der Türkischen Bibliothek erschienen ist, macht er die schmerzliche Zerrissenheit zwischen den zwei Welten, der westlichen und der östlichen, in der Geisteshaltung seines Protagonisten Mümtaz vor allem am Beispiel der Musik spürbar.

Diese intellektuellen Bemühungen, ein türkisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen, das auf historischer Kontinuität beruhte, waren weder antiwestlich noch antikemalistisch. Vielmehr hätte der selbstbewusste Rückgriff auf die Geschichte des multikulturellen osmanischen Vielvölkerreiches die Härten des monoethnischen, monolingualen Nationalismus mildern können.

Doch in der Zeit nach Einführung des Mehrparteiensystems 1946 und während der Regierungszeit der Demokratischen Partei wurde die Minderheitenpolitik aggressiver, wie die Berichte über die wohl vom faschistischen Deutschland inspirierte Vermögenssteuer zeigen, die den Nichtmuslimen, besonders den Juden, auferlegt wurde. Hinzu kamen das antigriechische Pogrom im September 1955 und der auf die Minderheiten ausgeübte Zwang, Türkisch zu sprechen. Zudem wurde auch bald ein antikemalistischer, populistischer Zug in der Religionspolitik deutlich. Der Dichter Orhan Veli bemerkt ironisch und bestürzt zugleich, dass die erste Maßnahme der Menderes-Regierung die Wiedereinführung des arabischen Gebetsrufs war und befürchtet, dass nun bald die Verunglimpfung aller säkularen Geister erfolgen werde. Falih Rıfkı zieht schon Anfang der 1960er-Jahre die bittere Bilanz, dass seit der Einführung des Mehrparteiensystems durch Zugeständnisse an die religiösen Gefühle breiter Schichten die säkularen Reformen Atatürks, die die Türkei aus dem Mittelalter in die westliche Zivilisation führen sollten, gescheitert seien, denn die Religion sei wieder fest verankert im türkischen Schulsystem und die Türkei wieder ein Land der Derwische und Scheiche.

Die Kommunistenfurcht, die trotz des Bündnisses der Ankaraner Nationalregierung mit der Sowjetunion, das schon im Befreiungskrieg geschlossen wurde, immer latent vorhanden war, steigerte sich nach 1950 fast zur Paranoia. Nâzım Hikmets Schicksal, das uns seine Freunde, die Sertels, schildern, steht am Anfang dieser Entwicklung. Auch die Sertels selbst, in deren Zeitschrift Tan freimütig über Demokratie und Sozialismus debattiert wurde, mussten 1950 das Land verlassen. Selbst so harmlosen Gemütern wie den Blauen Humanisten wurde eine sozialistische Gesinnung nachgesagt. Die Schilderung Vedat Günyols über die Babeuf-Affäre ist ein einzigartiges Zeugnis dieser irrationalen Politik.

Die Innenpolitik der Türkei wurde seit 1960 von Militärputschen bestimmt. Im Zehnjahresrhythmus übernahm das Militär die Macht und schaltete kurzfristig die Parteien aus. Das Eingreifen des Militärs in den Jahren 1960, 1971 und 1980 wird von den Intellektuellen verschieden beurteilt. Es richtete sich gegen linke, religiöse und partikularistische Bestrebungen, die angeblich die Einheit der Türkei und die säkularen kemalistischen Errungenschaften gefährdeten. Das Militär gilt daher als Hüter des Kemalismus, aber im Einzelnen bleiben das Vorgehen des Militärs und seine Motive undurchschaubar. Wir haben einen Artikel des Juristen und Literaten Tahir Abaci ausgewählt, der die Militärputsche im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die Literatur behandelt. Der Aufruf der Schriftstellerin und Journalistin Oya Baydar richtet sich an die Intellektuellen ihrer Generation, die sich trotz der bösen Erfahrungen mit Militärputschen nicht deutlich genug von einem angeblich geplanten Putsch durch die sogenannte Ergenekon-Gruppe distanziert haben. Dieser Artikel von 2009 ist noch aktuell. Dabei zeigt sich deutlich, wie gespalten die türkische Gesellschaft heute ist. Die nationalistischen Kemalisten und die alten Linken sind sich einig in der Ablehnung der Re-Islamisierung. In diesem Zusammenhang fürchten sie die neue gebildete Schicht, die aus Anatolien in die Städte gezogen ist und durch deren religiöse Haltung der Islam in der Politik wieder mehr Macht gewonnen hat. Das zeigen die Wahlerfolge der AKP unter Tayyip Erdoğan und Abdullah Gül seit 2002.

Den »alten Eliten« ist vor allem die islamische Frauenbewegung unheimlich. Nermin Abadan-Unat, eine Frauenforscherin und Feministin der ersten Stunde, verteidigt die kemalistische Frauenpolitik, während türkische Neofeministinnen eine Instrumentalisierung der Frauen in der frühen Republik herausstreichen und dagegen die Selbstbestimmung junger muslimischer Frauen anerkennen, die aus eigenem Antrieb das Kopftuch tragen. Unter den islamischen Intellektuellen ragt die Schriftstellerin und Journalistin Cihan Aktaş hervor, deren Artikel die Probleme und das Ansehen Kopftuch tragender muslimischer Studentinnen behandelt. Der Dichter und Politologe İsmet Özel, der vom Kommunismus zum Islamismus konvertierte, sieht die verwestlichte Schicht der türkischen Intellektuellen, die in einem permanenten, unheilbaren geistigen Zwiespalt leben, als leere, charakterlose Wesen. Für ihn ist die bedingungslose Hinwendung zum Islam der einzige Ausweg.

Es erscheint wie ein Lichtblick, dass nach der Öffnung der Türkei in die globale Welt seit den späten 1980er-Jahren viele Tabuthemen, die jahrzehntelang verdrängt worden waren, allmählich zur Sprache kommen. So wurden die Erinnerungen von Fethiye Çetin an ihre armenische Großmutter und deren grausames Schicksal ein Erfolg in der Türkei. Auch der kurdische Schriftsteller Mehmed Uzun konnte an die volkstümlichen kurdischen Erzähltraditionen anknüpfen und sogar in kurdischer Sprache schreiben. Reha Çamuroğlu repräsentiert die große Gruppe der Aleviten, der Ali-Verehrer, die ihre synkretistischen religiösen Traditionen fast vergessen hatten, weil sie jahrhundertelang (ausgenommen in der Zeit des Befreiungskrieges) von der sunnitischen Mehrheit ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Çamuroğlu beschreibt die verschiedenen Definitionen des Alevitentums, die nach der Renaissance, die es seit 1989 erlebte, im Schwange sind und eine Spaltung der Aleviten herbeigeführt haben.

Den Abschluss unseres Bandes bildet ein bemerkenswerter Essay des marxistischen Kulturkritikers Murat Belge, der vor allem den türkischen Nationalismus kritisch beleuchtet und in diesem Zusammenhang auch die Kurdenproblematik historisch untersucht. Er spricht die Hoffnung aus, dass die Menschheit durch eine zukünftige globale Gesellschaft aus der Sackgasse des Nationalismus gerettet werden kann. Für einen marxistischen Denker scheint es erstaunlich, dass er den multikulturellen Vielvölkerstaat der Osmanen als das vormoderne Modell einer kosmopolitischen Gesellschaft gelten lässt. Damit hat sich der Kreis geschlossen.

In unseren vielen Treffen in Istanbul und Freiburg haben wir versucht, aus einer Fülle faszinierender Texte eine Auswahl zusammenzustellen, die die letzten hundert Jahre der türkischen Geschichte lebendig machen. Wir selbst haben dabei viel Überraschendes entdeckt und hoffen, dass auch die Leser die Lektüre genießen und von diesen ganz persönlich gehaltenen Aufzeichnungen und Reflexionen angerührt, erheitert und belehrt werden.

Hülya Adak und Erika Glassen

Tevfik Fikret

Nebel

Mitte Februar 1902, wieder einmal hat sich der berüchtigte Istanbuler Nebel über die Stadt gelegt. Die Despotie Abdülhamits II. (1876–1909) war in den Jahren zuvor immer schlimmer geworden, die Literaten wurden bespitzelt und sollten schweigen. Als Tevfik Fikret damals aus seinem Nest (Aşîyân) auf der Höhe von Rumeli Hisar dieses Naturschauspiel beobachtete, musste er an die Finsternis denken, die sein Land umschloss. So schrieb er Nebel – eines seiner berühmtesten Gedichte. Er verhöhnt die stolze Sultansstadt als abgetakelte, immer noch attraktive Hure, die dem verhassten Sultan und seinem heuchlerischen und korrupten Hofstaat dient. Da das Gedicht unter Abdülhamit nicht gedruckt werden durfte, kursierte es handschriftlich und war bald in aller Munde.

Nebel

Zäher Nebel umhüllt deine Horizonte,

weiße Finsternis, die immer dichter wird.

Wie ausgelöscht die Formen unter schwerer Nebellast,

alles ruht verborgen unter dichtem Staub.

Diese Staubschicht ist so stark und mächtig, dass sie Blicke

nicht durchdringen und sich daher fürchten.

Dir steht er gut, der dunkle Schleier;

Verhüllung passt zu dir, du Bühne der Grausamkeiten.

Oh Bühne der Grausamkeiten, die strahlt vor Eleganz,

du prächtiges Theater, das in Trägodien schwelgt.

Oh Wiege, oh Sarg voll Glanz und voll Prunk,

seit je die verführerischste Herrscherin des Ostens.

Oh wollüstiger Busen, der du ohne Abscheu und Zaudern

all deine blutigen Liebschaften nährst.

Tief versunken, lebendiger Koloss, schläfst du wie tot

in der blauen Umarmung des Marmara-Meeres.

Oh Byzanz, wie alt und verkommen bist du, magische Greisin,

die Witwe Tausender Gatten, doch immer noch unberührt.

In deiner Schönheit strahlt noch der Zauber alter Frische;

die Blicke bleiben bebend an dir hängen.

Wie liebenswert mit deinen schmachtend blauen Augen

erscheinst du, wenn man dich von ferne so betrachtet.

Liebenswert, aber wie ein liebenswertes Luder,

gefühllos gegen alle Tränen, die man über dich vergießt.

Als hätte eine treulose Hand dir zur Gründung

giftiges Wasser ins Fundament gemischt – wie einen Fluch.

Durch deine Adern fließt der Schmutz der Heuchelei;

darunter ist kein Tröpfchen Redlichkeit.

Heuchelei, Missgunst, Profitgier: alles nur Unflat;

Sonst nichts … als könnte man’s bei dir nur so zu etwas bringen.

Wie viele reine Häupter werden sich erheben,

aus den Millionen Leibern, denen du Unterschlupf gewährst?

Ja, verhülle dich, entsetzliche Tragödin, ja verhülle dich, oh Stadt;

verhülle dich und schlafe ewig, du Hure unsres Weltenkreises!

Oh Glanz, Gepränge, Pomp und Prunk,

mörderische Türme, wehrhafte Paläste mit finsteren Kerkern.

Versiegeltes Grab der Erinnerung, oh erhabener Tempel;

oh prahlerische Säulen, wie gefesselte Riesen steht ihr da.

Beauftragt, das Vergangene in die Zukunft zu retten; zeigst

Mauernkarawane, du, uns grinsend deine Lücken wie verfaulte Zähne.

Oh ihr Kuppeln prächtiger Moscheen, in denen Beter niederknien.

Oh stolze Minarette, die fromme Mahnungen verkünden!

Oh Medresen und Gerichte, deren Dächer schon verfallen.

Heerscharen geduldiger Bettler haben Platz gefunden

im Schatten der Zypressen;

Grabsteine erflehen: »Erbarmen für die Toten!«

Oh Türben, euer Rühmen lärmender Taten

erweckt eure stumm schlummernden Ahnen.

Oh alte Gassen, in denen Staub und Schlamm sich streiten,

wo jeder Mauerriss ein Geheimnis offenbart!

Oh Ruinen, mit euren schwarzen Dächern, ein Bild des Jammers,

Schlafplatz niederen Gesindels.

Ihr gleicht stummen und verfall’nen Stätten,

in denen Störche und Milane nisten,

triste Herde aus Bitterkeit erloschen,

haben längst schon vergessen, was Rauch ist …

Oh knöcherne Mäuler, ihr schluckt jede Schmach,

weil in euren Mägen das Gift gärt.

Du bist gierig und unfruchtbar und faul,

obwohl die Natur dir so viel Reichtum beschert hat.

Alle Wohltaten und Segenswünsche und jedes Mittel zur Rettung

erflehst du vom Himmel schicksalsergeben … Oh, Heuchlerin!

Oh Hundegebell, oh Klagelaut, der den Undank der Menschen verflucht,

hört ihn, die ihr mit der Gabe der Rede begnadet seid!

Sinnloses Weinen, vergiftetes Lachen,

oh Blicke voll Hass: Ausdruck von Schwäche und Leid.

Oh Ehre – du lebst vergraben in Legenden,

nur der Fußkuss weist den Weg zum Erfolg.

Oh Mär von der Verfassung, die das Recht zum Atmen gewährt,

verbunden mit der Freiheit und Unantastbarkeit der Person.

Unerfülltes Versprechen und ewige, offenbare Lüge;

oh Recht, wie oft du gebeugt wirst vor Gericht.

Oh Schnüffler, die selbst das Gewissen belauschen,

getrieben von Wahn und ohne jedes Mitgefühl.

Oh Münder, ihr seid verschlossen aus Furcht vor Spitzelei.

Oh nationaler Eifer, verhasst und missachtet.

Oh Schwert und Feder, politische Gefangene seid ihr,

Übung von Tugend und Anstand: eine längst vergessene Augenweide.

Oh, die ihr gebückt geht und auf der Hut seid,

ob Herren, ob Diener aus einem einst so berühmten Stamm.

Gesenkter Kopf, ganz rein und weiß, doch widerlich;

oh junge Frau, oh Jüngling, der ihr folgt.

Oh trauernde Mutter, gekränkter Gefährte;

oh Waisenkinder, schutzlose Vagabunden … vor allem ihr,

vor allem ihr!

Ja, verhülle dich, entsetzliche Tragödin, ja, verhülle dich, Stadt;

verhülle dich und schlafe ewig, du Hure unsres Weltenkreises!

Der Nebel lichtet sich

Hüseyin Cahit Yalçın

Hüseyin Cahit gehörte zu den politisch engagiertesten, westlich orientierten Literaten und Journalisten. Er schrieb für die erste berühmte osmanische Kulturzeitschrift Schatz der Wissenschaften (Servet-i Fünun) und beteiligte sich aktiv an den literarischen Fehden der Zeit. Als Servet-i Fünun von Abdülhamit verboten wurde, wirkte er als Literaturlehrer. In seinen Erinnerungen, die zuerst in Fortsetzungsserien in der Presse erschienen, gibt er einen lebendigen Bericht über die jungtürkische »Verfassungsrevolution« von 1908. Unmittelbar danach gründete er mit seinem Freund Tevfik Fikret die Zeitschrift Tanin und trat der Union für Einheit und Fortschritt bei. Später kritisierte er die Jungtürken und stand auch in Opposition zu dem Regime in Ankara unter Atatürk. Hüseyin Cahit war ein kritischer Geist, mischte sich politisch ein und wurde deswegen mehrmals verbannt und verhaftet.

24. Juli 1908 – nach dem alten Rumi-Kalender Freitag, 11. Juli 1324. In einer kurzen Bekanntmachung der Regierung wird in der Zeitung mitgeteilt, dass ein Befehl des Sultans ergangen sei, die Verfassung wieder in Kraft zu setzen.

Obgleich ich manche der Anzeichen, die herannahende Stürme ankündigen, im Voraus wahrnehmen kann, blieb mir diesmal vor lauter Überraschung der Mund offen stehen. Ich traute meinen Augen nicht: Sollte das Parlament wiedereröffnet und damit die konstitutionelle Staatsform eingeführt werden? War die Herrschaft Abdülhamits zu Ende? Aufgeregt und neugierig überflog ich die Zeitungen, doch ich stellte keine Veränderung fest. Wie in den gestrigen Ausgaben standen dort nur leere, nichtssagende, falsche und leblose Floskeln!

Sah so das Leben mit der Verfassung aus? Nachdem wir viele Jahre lang unter tausend Sorgen und Schmerzen von der Verfassung wie von einem unerreichbaren Ziel geträumt hatten, sollte sie nun noch unauffälliger, mit noch weniger Aufsehen als die kleinste polizeiliche Maßnahme wieder Gültigkeit erlangen, so als sei dies der natürlichste Vorgang auf der Welt? Warum wurde die Welt nicht in ihren Grundfesten erschüttert, warum wurde kein Salut geschossen, warum bevölkerten sich die Straßen nicht mit begeisterten Menschen, wie konnte die Erde weiter ihre natürliche Bahn ziehen?

Der Begriff Konstitutionalismus ist heute auf das Niveau eines ganz normalen Wortes herabgesunken. Für die Kinder der Republik ist er darüber hinaus zu einem bloßen Terminus geworden. Doch welchen großen und bedeutenden Wert hatte dieser Begriff im Juli 1908 im Land der Türken!

In diesem Land gab es unter all denen, die denken konnten und ihre Heimat liebten, gab es unter Jung und Alt nur einen Begriff, nur ein Ziel, auf das sich die Blicke der Türken richteten, von dem sie Rettung erwarteten und das für das Wohlbefinden stand: die Konstitution! In unserer Kindheit und Jugend haben wir uns immer mit der Hoffnung auf die Verfassung getröstet. Ihr zuliebe ging man ins Gefängnis, wurde man in die Verbannung geschickt, bot man dem Tod die Stirn. Doch schließlich entschwand die Verfassung unseren Blicken wie ein Trugbild. Nie ging sie wirklich wie eine Sonne am Horizont unseres Landes auf, was auch immer der Grund dafür sein mochte. Jeden Tag trieb die Heimat der Türken ihrem Untergang ein Stück weiter entgegen. Und jeden Tag wurde die Atmosphäre des Landes ein wenig mehr durch jene atemberaubende Bürde belastet, durch die Grausamkeit und die absolutistische Herrschaft immer stärker vergiftet. Für einen Türken, der ein Gefühl für die Würde des Menschen hatte, nahm dieses Gefangenendasein unerträgliche Formen an. Und weil niemand das Leid, das alle erduldeten, zur Sprache bringen, weil sich niemand dagegen auflehnen konnte, ging die Heimat unter. Die durch Hoffnungslosigkeit, Kraftlosigkeit und Kummer verschlossenen Lippen, die zu Eis erstarrten Herzen hatten nur eine einzige Hoffnung: Die Verfassung sollte eingesetzt, das Regime sollte gestürzt werden, und es sollte Freiheit herrschen – dann würde sich schon alles Weitere finden. Doch wie sollte es gelingen, die Regierung Abdülhamit zu beseitigen und der Verfassung wieder Geltung zu verschaffen?

Nun also war sie wieder da! Aber hieß das auch, dass sich alle Hoffnungen, alle Träume erfüllt hatten? Wenngleich es so schien, als wäre dem so, sah man doch nirgendwo eine Veränderung. Ich rannte auf die Straße und schaute den Leuten ins Gesicht. Die Menschen sprachen und gingen wie immer – daran war nichts Außergewöhnliches. Nicht einmal geflüstert wurde irgendwo. Nahm ich das etwa alles falsch wahr? Auch ich wusste nicht, wohin ich gehen und was ich tun sollte. So bestieg ich die Straßenbahn und wollte bis in die Bâbıâli-Straße, bis zum Laden des Buchhändlers Karabet fahren. Ein Befehl aus der Tiefe meines Bewusstseins, ein plötzlicher Schwung, der mich ergriff, stieß mich in das Getümmel der Zeitungsredaktionen. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen: Wenn eines Tages das Ende der Herrschaft Abdülhamits mit Böllerschüssen verkündet würde, wollte ich – selbst wenn es mitten in der Nacht wäre, selbst wenn ich mich auf dem Meer nahe dem anatolischen Ufer befinden würde – in ein Boot springen, nach Istanbul zur Zeitungsredaktion fahren und sofort beginnen, frei zu schreiben.

Nun galt es auch andere Aspekte zu berücksichtigen. Als Erstes mussten wir eine Volksfeststimmung, eine Festtagsatmosphäre herstellen. Daher hielten wir es für angemessen, am Gebäude der Druckerei eine Flagge zu hissen. Also wurde bei der Zeitung İkdam die türkische Fahne aufgezogen. Auch der Buchhändler Karabet hisste vor seinem Laden eine Fahne. Nach und nach sah die Bâbıâli-Straße mit dem roten und weißen Lächeln der Flaggen wie ein zauberhafter Blumengarten aus. Nie zuvor in meinem ganzen Leben habe ich das liebenswerte, warmherzige, edle und geheiligte Wesen der türkischen Flagge so von ganzem Herzen gespürt. Die türkische Fahne, die wir heute mit eigenen Händen zu Ehren der Freiheit und zum Segen der neuen Regierung aufgezogen haben, war eine Zuflucht, die das Glück und das Leben der Türken beschützen sollte – die Flagge nahm sie unter ihre Fittiche, so wie sie hier frohgemut im Wind flatterte.

Doch reichte es nicht, nur die Bâbıâli-Straße zu schmücken. Ganz Istanbul musste aufwachen und die Freiheit mit Beifall begrüßen. Daher schickte Ahmet Cevdet Bey einen jungen Mann namens Acem Hüseyin, einen Nachrichtenreporter der İkdam-Druckerei, nach Şehzadebaşı. Er sollte in den Teehäusern bekannt machen, dass nun Freiheit herrsche und die Verfassung eingesetzt sei, und er sollte sie dazu bewegen, ebenfalls zu flaggen, um damit anderen ein Vorbild zu sein.

Nachdem Hüseyin in Şehzadebaşı unterwegs gewesen war, kehrte er gegen Abend in die Druckerei zurück. Die ursprünglich so kleine Zeitungsnotiz war auf seinem Weg nach Şehzadebaşı zu einer glaubwürdigen und wichtigen Nachricht geworden. Doch verhielten sich die Menschen dort unentschlossen, besorgt und ängstlich. Vielfach wollte man ihn nicht einmal anhören. Darüber hinaus vertrieben ihn manche mit den Worten: »Erst wiegelst du uns auf, dann denunzierst du uns!«

Im Juli des Jahres 1908 beschrieb dieser Satz treffend die Stimmung in ganz Istanbul: Keiner vertraute dem anderen. Alle waren von einer schläfrigen Mattigkeit befallen und erwarteten, dass Gott schon alles richten werde. Von den edlen Menschenrechten, von jeder Menschenwürde weit entfernt, verkrochen sie sich in ihre Winkel und fürchteten sich davor, das Wort Freiheit auch nur zu hören.

Natürlich fielen der Polizei die in der Bâbıâli-Straße gehissten Flaggen auf. Schließlich kam ein Kommissar und fragte Cevdet Bey nach dem Grund für den Fahnenschmuck seiner Druckerei. Und Cevdet Bey antwortete ihm: »Weil der Konstitutionalismus ausgerufen und die Verfassung wieder eingesetzt wurde!«

Endlich konnte man glauben, dass sich in Istanbul wirklich etwas verändert hatte. Jemand, der noch einen Tag zuvor solch strafverdächtige Worte riskiert und Wagemut bewiesen hätte, wäre sofort von Kommissaren verhaftet und durch Gefängnisse und Kerker geschleift worden. Doch heute konnte sich der Kommissar, der ein Vertreter jener schrecklichen und despotischen Herrschaft war, angesichts dieser mysteriösen und geheimnisvollen Worte nur schweigend und kraftlos davonstehlen.

Wir haben nicht erst nach dem Sieg geflaggt, sondern wir haben durch das Flaggen gesiegt! Und erst später haben wir erfahren, dass gegen Abend aufgrund der Nachrichten, die in der Bâbıâli-Straße ihren Anfang nahmen, schließlich auch an verschiedenen anderen Stellen in Istanbul Fahnen gehisst wurden.

Am nächsten Morgen war die Zeitung İkdam mit ihrem Beifall für die Verfassung nicht mehr allein. Alle Zeitungen verbreiteten glückstrunken eine begeisterte Stimmung der Freiheit. Alle Zeitungen? Tatsächlich waren es nur die İkdam und die Sabah.

Die bei der Sabah beschäftigten Kollegen Babanzade İsmail Hakkı, Ali Reşat und Mahmut Sadık kamen in die İkdam-Druckerei, denn sie waren mit uns einer Meinung. Voller Begeisterung diskutierten wir die Ereignisse: Am nächsten Morgen sollten die Zeitungen der ganzen Nation in einer Aufmachung gegenübertreten, die der neuen politischen Situation angemessen war.

Doch wie verhielt es sich mit der Zensur? Gemäß der bis zu diesem Tag gültigen Vorschriften musste ein Artikel, nachdem er gesetzt und korrigiert worden war, in Spaltenform abgezogen und der Zensur vorgelegt werden. Sollten wir unsere Artikel weiterhin zum Zensor schicken? Kaum war uns diese Möglichkeit in den Sinn gekommen, spürten wir den Widerspruchsgeist in uns aufkeimen: Endlich gab es eine Verfassung, da konnte die Presse doch nicht länger der Zensur unterworfen sein! Doch wie sollten wir reagieren, wenn der Zensor einen Beamten schickte, um die Probeabdrucke zu holen? Oder wenn er selbst in die Druckerei käme, um unsere Artikel durchzusehen?

Unsere Gefühle, unsere Gedanken hatten seit diesem Morgen eine neue Freiheit erlangt. Daher haben wir angesichts einer solchen Möglichkeit ohne jedes Zögern entschieden: Wir würden uns dem Zensor nicht beugen und ihm unsere Artikel nicht zeigen.

Abdullah Zühtü sagte: »Wenn sich dieser ›Tagedieb‹ hier blicken lässt, dann werden wir ihn ins Klo stecken.«

»Tagedieb« – so nannte er den Zensurbeamten. Der Gedanke, den Beamten in der Druckerei einzusperren, war für uns Autoren, die wir unter der Verrücktheit, unter der Dummheit und unter der Unerbittlichkeit der Zensur fast umgekommen wären, eine neue, angenehme und lustvolle Vorstellung, sodass in uns geradezu der Wunsch aufkam, der Zensor möge doch einen solchen Versuch wagen, damit wir entsprechend mit ihm verfahren konnten.

Cevdet Bey war sich mit uns einig, dass man dem Zensor keine Bedeutung beimessen sollte. Doch an der Spitze der Zeitung Sabah stand Mihran Efendi, und da wir uns umsichtig verhalten wollten, mussten wir auch ihn in unsere Überlegungen einbeziehen. Cevdet Bey sagte: »Die beiden Zeitungen müssen sich gemeinsam weigern, den Zensor zu akzeptieren.«

Wir vertrauten fest darauf, dass Mihran Bey schon das Richtige unternehmen würde, und gingen alle zusammen zu ihm hin. Auch ihm gefiel der Gedanke, die Probeabzüge der Artikel nicht mehr an die Zensur zu schicken, allerdings nur unter der Bedingung, dass sich beide Zeitungen daran beteiligten.

Doch wie weit konnte man dieser Aussage vertrauen? Wie sollten wir wissen, was passieren würde, nachdem wir Feierabend gemacht hatten und nach Hause gegangen waren? Daher beschlossen wir als erste Maßnahme, dass keiner von uns an diesem Abend irgendwohin gehen sollte. Wir wollten uns so verhalten, als sei die Druckerei autonom. Wir würden Herren über diesen Betrieb sein und das tun, was wir für richtig hielten.

Doch wie sollte das gehen? Nach Cevdet Beys Ansicht bestand kein Grund, zu zögern oder sich zu fürchten. Doch er, dessen vorsichtige Haltung in langen und schmerzlichen Erfahrungen begründet war, wollte, dass wir, was immer wir auch unternahmen, stets gemeinsam und in Übereinstimmung handelten. Dementsprechend brauchten wir eine Anzahl von Männern, auf die sich Mihran Bey verlassen konnte, die die Ankunft der Zensoren abwarten sollte und die einer zu erwartenden kleinen Polizeitruppe die Stirn bieten konnte. Abdullah Zühtü fand einen Weg, dies zu bewerkstelligen, und schlug vor: »Ich lade unsere Setzer ein, serviere ihnen Rakı und ziehe sie so auf unsere Seite.«

Die Maschinen begannen zu laufen. Wir stürzten uns auf die ersten gedruckten Zeitungen, und uns war, als sähen wir etwas ganz Neues. Mit großer Ergriffenheit nahmen wir sie zur Hand, und zitternd lasen wir mit einem göttlichen Gefühl der Ehrfurcht unsere eigenen Artikel, so, als seien sie eine Stimme des Himmels, der Katechismus eines neuen Lebens und einer neuen Religion. Denn das bedeutete: Was wir den ganzen Tag über besprochen und durchdacht hatten, war kein Traum. Nun lagen diese Worte in gesetzter und gedruckter Form vor. Schon bald würden sie auf allen Straßen Istanbuls verbreitet und die frohe Kunde der Freiheit bis an den äußersten Rand des türkischen Vaterlands tragen.

Am Samstag, den 25. Juli – nach dem alten Rumi-Kalender 12. Juli 1324 –, bot sich der über Istanbul aufgehenden Sonne ein Anblick, wie man ihn sonst am Himmel über dieser Stadt nicht zu sehen bekommt. Die neuen, freien Artikel in den Zeitungen dieses Tages hätten ausgereicht, um in den eng bebauten Stadtvierteln mit ihren alten Holzhäusern, von denen jedes einzelne nach all den langen Jahren wie Kienholz brennen würde, einen riesigen Brand zu entfachen. Sie waren die Streichhölzer, derer es bedurft hätte, diesen Brand auf die ganze Umgebung auszuweiten, und sie hätten ausgereicht, um Istanbul, das einen Albtraum voller Grausamkeit und Gewalttätigkeit durchlebte, das litt und sich in dem Bedürfnis nach einem kurzen Augenblick der Freiheit wand, völlig aus der Fassung und gänzlich um den Verstand zu bringen.

Meine Kindheit in Istanbul

Falih Rıfkı Atay

Falih Rıfkı war ein Schüler Hüseyin Cahits. Während des Unabhängigkeitskriegs wurde er ein enger Vertrauter Mustafa Kemal Atatürks und blieb sein Leben lang überzeugter Kemalist. Diese Erinnerungen schrieb er Anfang der 1960er-Jahre für die republikanische türkische Jugend, um den Kontrast aufzuzeigen zwischen der düsteren, rückständigen Ära Abdülhamits, die er als Kind erlebt hatte, und den Errungenschaften der Republik, die er in Gefahr sah. Der Sammlung seiner Artikel gab er den Titel Untergangsjahre (Batış Yılları). Er geht besonders auf das Spitzelwesen unter Abdülhamit ein, von dem man heimlich nur als »Hasan Ağa« sprach, erzählt, wie er die jungtürkische Revolution erlebte, und besonders aufschlussreich sind seine Bemerkungen über das schlechte Ansehen der Türken in jener Zeit.

Der Spitzname Abdülhamits: Hasan Ağa

Wann ich mich zum ersten Mal als Türke bezeichnet habe, weiß ich nicht mehr genau. »Türkisch«, das war in unserer Kindheit noch gleichbedeutend mit »grob und wild«. Wir betrachteten uns vielmehr als Mitglieder der islamischen Gemeinschaft und als »Osmanen«. In den Katechismen bestand unsere wichtigste Lektion darin zu lernen, dass Religion und Nation eins seien.

Das Wort »Vaterland« war verboten. Als ich etwas älter war, habe ich es in einem der Bücher von Namık Kemal gelesen. Mit eigenen Ohren gehört habe ich es erst während der Konstitutionellen Periode. Wir waren Untertanen des Sultans, den man mit dem persischen Ausdruck Padischah bezeichnete. Jeden Abend bei Schulschluss stellten wir uns in eine Reihe und riefen: »Lang lebe unser Padischah!«

Bilder vom Sultan waren verboten. Genauso wenig durfte der Name des Yıldız-Hügels, auf dem er wohnte, genannt werden. In Poesie und Prosa musste man das Arabische und das Persische, die Sprachen des Himmlischen, benutzen. Der Name Hamid in den Personalausweisen wurde in meiner Kindheit in Hâmid geändert. Ebenso erinnere ich mich daran, dass der Name meines Bruders Reşad nachträglich in Neşet umgewandelt wurde, weil Reşad auch der Name des Thronfolgers war. Und ich habe munkeln gehört, dass einer aus unserem Viertel ins Exil verbannt wurde, weil er dem Thronfolger Reşad Tinte verkauft hatte.

Es kam vor, dass wir den Prinzen begegneten, die in ihren offenen und bunt ausstaffierten Kutschen fuhren. Sie trugen hohe, dunkle Fese und hatten ihre sauerstoffgebleichten Haare seitlich nach oben gekämmt. Ihre Gewänder waren in hellen, einnehmenden Farben gehalten, und ihre schwarzen Diener saßen mit gefalteten Händen neben den Kutschern. Wir konnten keinerlei Ähnlichkeit zwischen den Prinzen und ihren Vorfahren feststellen, den »Eroberern« und »Grausamen« der alten Kriegszüge.

Hin und wieder hörten wir, dass die Erwachsenen sich über einen Hasan Ağa beklagten. Wer aber war dieser Hasan Ağa? Fragen durfte man nicht. Wie ich schließlich herausgefunden habe, war Hasan Ağa im Kreise unserer Verwandten und ihrer Freunde ein Spitzname für den Sultan. Niemand war mit ihm oder, besser gesagt, mit denen, die ihm zur Seite standen und ihn auf Abwege brachten, zufrieden.

Immer wieder seufzten sie und sagten: »Was soll nur aus uns werden« oder »Nichts ändert sich, alles bleibt beim Alten« oder »Selige Religionsgemeinschaft nennt man das«, »selig« im Sinne von »tot«, worauf ich erst später gekommen bin. Selbst in einem Alter, in dem wir uns noch nicht unseres Verstandes bedienen konnten, hatten wir dadurch das Gefühl, dass das Ende bevorstand. Warum das so war und was genau vor sich ging, das wussten wir freilich nicht.

Als das Fest der Thronbesteigung unseres Sultans anstand, das in den August fiel, blieb im Wettbewerb um die beste Dekoration seines Hauses oder seiner Villa niemand hinter seinem Nachbarn zurück. Ich habe heute noch vor Augen, wie am nächsten Tag in den Zeitungen Sabah und İkdam die Liste dekorierter Villen ganze Seiten füllte.

Eines Tages ergriff der Wunsch von mir Besitz, den Sultan von Nahem zu sehen. Mit ein, zwei Freunden wollte ich zum Freitagsempfang gehen. Nur einmal im Jahr, wenn der Sultan den Mantel des Propheten besucht hatte und vom Meer kam, hatte man die Möglichkeit, auf dem kurzen Wegstück zwischen dem Tor des Yıldız-Palastes und der Yıldız-Moschee vielleicht einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Ich weiß nicht, ob wir zu spät dran waren, gesehen habe ich jedenfalls nichts. Fast wäre ich erstickt in dem Gedränge auf dem Hügel. Es war eine wahre Flut einfacher Bürger, niemand trug Krawatte, die meisten waren offenbar Hocas oder aus der Provinz stammende Gewerbetreibende in Pluderhosen und Baumwollturbanen. Alle waren in Hochstimmung, weil sie den Sultan für einige Augenblicke gesehen hatten, wenn auch nur von Weitem. Wer einen Blick auf sein Gesicht hatte werfen können, sah ganz beseligt aus.

Später fügte sich für mich eins zum anderen, und mir wurde klar, wie sehr die Kritik der Intellektuellen in unserem Hause und in unseren Kreisen zu der Liebe des Volkes im Widerspruch stand. Über Staatsangelegenheiten wurde aus Angst, wir könnten uns draußen einmal verplappern, in unserer Anwesenheit nicht offen geredet, und so konnten wir uns keine Meinung darüber bilden. Wir fragten auch nicht, warum in Zeitschriften und Almanachen das Bild der englischen Königin abgedruckt wurde, das unseres Sultans aber nicht. Wir waren dazu erzogen zu schweigen und den Älteren, sofern sie es erlaubten, zuzuhören.

Als wir in der letzten Klasse der osmanischen Mittelschule waren, hatte sich die Situation freilich grundlegend geändert.

Die jungtürkische Revolution von 1908

Eines Morgens herrschte eine besondere Atmosphäre – ich war nicht sicher, war das Freude oder war das Angst? Es lag etwas in der Luft, aber wir konnten uns nicht recht erklären, was. Alle Blicke hingen an einer winzigen Anzeige auf der ersten Seite der Zeitungen. In dieser Spalte pflegte der Sultan jeden Tag einem seiner Untertanen ein Abzeichen, eine Medaille oder einen Rang zu verleihen, an jenem Tag aber schenkte er der Nation die Verfassung. Aus purer Gnade. Weder vom rumelischen Aufstand noch vom jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt war die Rede. Am nächsten Morgen aber war in der İkdam ein ganzseitiger Artikel, der des Staunens voll war. Unsere ganze Schule ging hinaus auf die Straßen. Wir erfuhren, dass Hüseyin Cahit, unser Direktor, die Mercan-Schule verlassen habe, um eine Zeitung herauszugeben. Als Erstes stürmten wir nach Beyoğlu und Tepebaşı hinauf. Vor den Geschäften der Ausländer und der Christen schrien wir herum, als hätten wir gerade ihre Staaten besiegt und in die Knie gezwungen! Noch gab es keine Hymne und auch kein Freiheitslied. Immer wieder skandierten wir Kinder und das ganze Volk aus voller Kehle die Parole »Lang lebe mein Padischah!«. Und sorgten so dafür, dass die Ladenbesitzer vor Angst ihre Rollgitter herunterließen.

Eines Morgens lag im Schaufenster des Krämerladens, der auch Zeitungen verkaufte, eine Zeitung namens Tanin aus, und auf der Titelseite stand Tevfik Fikrets Gedicht Nebel (Sis), das wir noch bis zum Tag davor heimlich auswendig lernen mussten. Für mich war es, als wäre alles deshalb passiert. Würde nun auch Halid Ziya seinen Roman Zerbrochene Leben (Kırık Hayatlar), der in der Servet-i Fünun nur zur Hälfte erschienen war, zu Ende schreiben können?

Erst eine Zeitung, dann noch eine, dann immer mehr. Ein Angriff auf die Wesire Abdülhamits; über Arap İzzet Paşa, der sich, mit einem Hut getarnt, aus dem Staub machte; dann nach und nach die Namen der Freiheitshelden Enver, Niyazi und Fethi. Über ihnen allen schwebte das Schlagwort vom »Heiligen Komitee«. Aus dem Stegreif komponierte Volkslieder. Und die Schule? Keine Rede davon! Vor Aufregung konnten wir nicht mehr still in der Klasse sitzen. Geografie, Chemie: Man hätte uns festbinden können, es hätte nichts geholfen. Wir steckten unsere Köpfe lieber in die Zeitungen, die in unseren Pulten lagen. In Gedanken waren wir auf den Straßen und Plätzen.

Die Reiferen unter uns machten sich Sorgen, was aus uns werden würde. Und jetzt haben sie alle Angst, der für die Freiheit demonstrierenden Jugend diese Zweifel mitzuteilen oder auch nur spüren zu lassen. Anstelle der Angst vor dem Yıldız-Palast nun die vor Thessaloniki. Wer oder was wird von dort wohl noch kommen? Wen oder was werden sie als Nächstes zermalmen?

Wir Jugendlichen aber wussten nichts anderes und dachten an nichts anderes, als dass Helden einen Berg erklommen und uns gerettet hatten, während der russische Zar und der englische König beim Treffen von Reval damit beschäftigt waren, unser Land unter sich aufzuteilen.

Vom Osmanen zum Türken

Das Wichtigste, was wir der Verfassungsbewegung von 1908 zu verdanken haben, ist, dass sie unserer Generation das Ideal des Turkismus geschenkt und unsere Sprache auf dem Weg der Türkisierung vorangebracht hat. Die angesehene und einflussreiche Literatur allerdings blieb noch sehr lange osmanisch. Und die Turkisten waren, verglichen mit den Anhängern des Osmanismus und besonders mit der erst später abnehmenden Gruppe der Islamisten, nur eine Handvoll Leute. Aber so wie die Anhänger des Kemalismus noch in dem Jahr, in dem Atatürk starb, unter den Intellektuellen in der Minderheit waren, dann aber, nachdem alle Schulen Kemalisten herangezogen hatten, zur lebendigsten und dynamischsten Kraft der heutigen Türkei wurden, so erging es auch der türkischen Sprachbewegung und dem Turkismus.

Weil wir Fachbegriffe zunächst noch aus dem Arabischen herleiteten, war die Entsprechung für »Ideal« nicht »ülkü«, sondern der von Ziya Gökalp geprägte Begriff »mefkûre«. Auch wir hatten also nun ein Ideal (mefkûre), nach dem wir streben konnten.

Bei den Jungen Federn (Genç Kalemler) waren es die Literaten Ömer Seyfettin, Ali Canip und deren Freunde, beim Türkischen Vaterland (Türk Yurdu) die Russland-Türken Yusuf Akçura und Ağaoğlu Ahmet, beim Türken-Herd (Türk Ocağı) Hamdullah Suphi und beim Neuen Magazin (Yeni Mecmua) Ziya Gökalp und seine Mitstreiter, die der Türkisierung der Sprache und dem Turkismus den Weg bereiteten. Die Jungen Federn stellten sich in den Dienst der Sprache. Auf den Bühnen des Türken-Herds gab erstmals eine türkische Frau, wenn auch verschleiert, ein Konzert. Und im Neuen Magazin war Ziya Gökalp der Vordenker der Türkisierungs- und Verwestlichungsbewegung.

Beide Strömungen waren allerdings nicht neu. Sowohl die Grundlagen für die Türkisierung der Sprache als auch für den Turkismus waren schon vor 1877 in verschiedenen Publikationen Ali Suavis gelegt worden. Ali Suavi stand mit seinen Thesen, dass etwa das Kalifat in der Religion nichts zu suchen habe und religiöse von weltlichen Angelegenheiten zu trennen seien, zwar etwas hinter dem Kemalismus der Republikzeit zurück, dem Turkismus der Konstitutionellen Periode aber war er weit voraus. Die ganze Bewegung erwies sich jedoch erst in der Folge der Balkan-Niederlagen als schlagkräftige und innovative Macht gegen die osmanische Sprache und das Osmanentum. Damals legte der Turkismus mit seinen Prinzipien der Nationenbildung und der Verwestlichung bereits die Grundlagen des Kemalismus.

Weil sich auch die Araber von uns trennen wollten, wurden die Islamisten, die das Komitee für Einheit und Fortschritt unter ihrer Kontrolle hatten, empfindlich geschwächt. Und die Lektion der Konterrevolution gegen die jungtürkische Verfassungsbewegung vom 31. April 1909 hatte die Angehörigen des jungtürkischen Komitees gehörig gegen die Scharia und das Koranschulwesen aufgebracht. Die Angehörigen des Komitees verhielten sich, als sie einem fortschrittlich denkenden Fes-Träger einen Turban aufsetzten und ihn zum Şeyhülislam machten, allerdings sehr viel mutiger und verständiger als die Demokratien von 1950 und 1962. Ziya Gökalp versuchte mit seinem Begriff des Säkularismus den Laizismus zu erklären. Die Hocas übersetzten »säkular« jedoch statt mit »nicht religiös« mit »ungläubig« ins Türkische und nannten auch seit je die Komiteeangehörigen wegen deren westlicher Kultur »die Freimaurer«. So wie sie jetzt zu den Kemalisten »die Kommunisten« sagen.

Die Reformbestrebungen der Turkisten, sowohl im Staat als auch in der Sprache, fielen im Vergleich zu Atatürks revolutionären Maßnahmen wohl oder übel bescheiden aus. Weder mochte man sich in der Sprache vom Arabischen loslösen, noch konnte man vermitteln, dass es keine Staatsreligion geben dürfe und dass Kalifat und das Amt des Şeyhülislam weder in der Religion noch in einem modernen Staat etwas zu suchen haben.

Wir waren gegen den Purismus in der Sprache und gegen Rassismus im Nationalismus. Ich selbst habe in jener Zeit, was meine geistige Ausbildung angeht, von Ziya Gökalp, was meine literarische Erziehung betrifft, von Yahya Kemal viel profitiert.

Yahya Kemal spielte für die Entwicklung der türkischen Literatur über die Gedichte hinaus auch mit seinen Reden eine wichtige Rolle. Selbst in der Poesie wagte er einmalige Experimente. Er war ein Anhänger der »Parnassiens«. Uns pflegte er Gedichte aus den Trophées von José-Maria de Heredia vorzulesen. Aber es gelang ihm partout nicht, etwas zu Ende zu schreiben. Es gibt eine sonderbare Anekdote darüber, dass er in einem fort die gleichen Verse vor sich her sagte. Der griechische Kellner des Hotels auf Büyükada, in dem er zu wohnen pflegte, hatte einen dieser Verse auswendig gelernt. Noch Jahre später gingen ihm jedes Mal, wenn er Yahya Kemal am Landesteg sah, die Worte »Eine Schale Wasser werden sie trinken gewiss aus diesem Brunnen« über die Lippen. Den Weg, den Yahya Kemal uns gewiesen hatte, ging er selbst nicht weiter, er wandte sich zurück in die Vergangenheit, der Nachahmung der osmanischen Diwan-Dichtung zu. Und doch war Yahya Kemal in der Epoche des Turkismus ganz vorne im Istanbuler Kunst- und Geistesleben mit dabei. Er war es, der Nâzım Hikmet das Dichten lehrte. Erst später fühlte er sich vom Traditionalismus und von einem seltsamen Konservatismus angezogen.

Uns hatte der Turkismus, wie gesagt, davor bewahrt, ohne Ideale im leeren Raum zu schweben. 1923, als Atatürk seine Revolutionen plante, die die kühnsten Träume der Nationalisten zu Konstitutionszeiten noch übertreffen sollten, waren es stets die Turkisten, die an ihn glaubten, ihn verstanden und sich ihm anschlossen.

Istanbul, das große Dorf

Ich möchte etwas aus meinen Erinnerungen an das Leben in Istanbul und die türkischen Bewohner in der Zeit zwischen meiner Kindheit und der Verfassungsrevolution von 1908 erzählen. 1908 war ja dann in jeder Hinsicht ein bedeutsamer Wendepunkt.

Wer Istanbul vor fünfundfünfzig bis sechzig Jahren nicht gesehen hat, kann sich nicht vorstellen, warum europäische Ausländer die Stadt damals als »ein großes Dorf« bezeichneten. Dabei muss man allerdings zwischen christlich-europäischen Vierteln und muslimischen Vierteln unterscheiden. Denn die Verwestlichungstendenzen, die mit den Tanzimat-Reformen seit 1839 einsetzten, waren nur bei den Christen und Europäern sowie bei den europäisch gesinnten Muslimen im Palast und an der Hohen Pforte zu spüren. Die überwiegende Mehrheit der Muslime gehörten zu den Armen, kleinen Gewerbetreibenden und den Leuten auf der Straße.