Hungrige Schatten - Renate Eckert - E-Book

Hungrige Schatten E-Book

Renate Eckert

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Beschreibung

Anne hat es gut getroffen. Endlich hat sie einen tollen Job in der Lokalredaktion des Schweinfurter Tagblatts. Doch seit sie den charismatischen Lokalpolitiker Matthias Reininger porträtiert hat und seinem Charme verfallen ist, scheint ihr Leben langsam aber unaufhaltsam zu zerbrechen. Sie glaubt, sie sei glücklich, doch ihre Beziehung erweist sich mehr und mehr als dunkler Abgrund. Um sie herum geschehen seltsame Dinge. Sie wird in der Redaktion gemobbt, erhält anonyme Botschaften und der Fußgänger, den sie angefahren hat, ist nicht mehr aufzufinden. Verliert Anne langsam den Verstand – oder ist sie einem furchtbaren Geheimnis auf der Spur?

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Renate Eckert

Hungrige Schatten

Pyscho-Thriller

NEUAUFLAGE

Erstauflage Heyne Verlag (2007)

eISBN 978-3-947612-25-3

Copyright © 2018 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Olaf Tischer

Covermotiv: © Anand Anders, Fotograf, Atelier,

Dittelbrunner Str. 17, Untergeschoss, 97422 Schweinfurt

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Die Autorin

Renate Eckert, 1946 in Schweinfurt geboren, war von 1977 bis 1987 Journalistin beim Schweinfurter Tagblatt, von 1987 bis 2005 Pressereferentin im Landratsamt Schweinfurt, arbeitet seit 2005 als freie Autorin und hat sich dem psychologischen Krimi/Thriller verschrieben. Ihr Roman „Hungrige Schatten“ ist erstmals im Heyne-Verlag (2007) erschienen. Im mainbook Verlag, Frankfurt, liegen zwei Romane der Autorin vor: „Novemberfeuer“ (2016) und „Brunnenkind“ (2017).

Die Autorin ist verheiratet, hat eine Tochter und eine Enkelin und lebt in der Nähe Schweinfurts.

Für Frau Dr. Unrein,

die mich gelehrt hat,

das Risiko Leben zu wagen

Inhalt

Die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Anmerkungen der Autorin

Prolog

„Beschreiben Sie Ihre Gefühle, was ging in Ihnen vor, als Sie ihn kennenlernten?“ Die Stimme der Therapeutin war freundlich, ihr Mienenspiel unbewegt.

„Ich weiß nicht“, zögerte die Frau auf dem Sessel ihr gegenüber, „seine Präsenz nahm mir den Atem, ich fühlte mich schutzlos vor so viel Überlegenheit …“

„Und Sie haben diese Pose genossen“, folgerte Dr. Heitmann, einen Kugelschreiber in den Händen und den Notizblock auf den Knien, um ihre Reaktion aufzeichnen zu können. „Sie suhlen sich doch immer noch in der Rolle des Opfers“, fuhr sie unbarmherzig fort, während sie in ihren Unterlagen blätterte. „Wir wissen aber, dass Sie Täterin sind. Sie enttäuschen mich, ich dachte, Sie hielten Ihre wahren Beweggründe inzwischen besser aus.“

Die Patientin zuckte zusammen, ihr Blick irrte durch den Raum, der viel zu spartanisch eingerichtet war, um irgendeine Möglichkeit des Verstecks zu bieten. Eine Bücherwand mit wenigen medizinischen Fachbüchern, ein nackter Schreibtisch mit Telefon und die beiden Sessel, die sie und ihre Therapeutin belegten. Eigentlich verdienten sie die Bezeichnung Sessel gar nicht, so hart waren sie gepolstert. Sie wandte sich wieder Frau Dr. Heitmann zu, die sie gelassen beobachtete. Ein Sonnenstrahl durchschnitt das winterliche Dämmerlicht, spielte im kinnlangen, grauen Haar ihrer Therapeutin, bevor er sie blendete. Sie blinzelte, doch ebenso schnell, wie er aufgetaucht war, wurde er wieder von einer Wolke verschluckt.

Ich habe ihn doch einen Augenblick lang tatsächlich für einen eitlen Pfau gehalten, erinnerte sie sich, scheute sich aber, den Gedanken auszusprechen, er klang zu sehr nach lahmer Rechtfertigung.

„Sie haben wirklich kein bisschen hinter die Fassade geschaut?“, fragte Dr. Heitmann, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass sich eine erfolgreiche Frau wie das Kaninchen vor der Schlange verhält …“

Baute ihr die Therapeutin gerade eine Brücke? Warum zögerte sie, ihre Empfindung mitzuteilen? Hatte sie Angst vor dem Einsturz ihrer Verteidigungsbastion? Ganz dunkel, eher als Ahnung, drängten die Fragen in ihr Bewusstsein, verschwunden, ehe sie sie fassen konnte.

„Ich hatte nie eine Wahl, zu keinem Zeitpunkt“, hörte sie sich stattdessen sagen, ihre Stimme klang rau, als würde sie ihren Dienst verweigern. „Jede einzelne Minute schien schicksalhaft und vorbestimmt.“

„Das ist mir zu glatt, ein viel zu großes Klischee“, gab Dr. Heitmann zurück, „geht es nicht ein bisschen authentischer?“

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen …“, sagte sie und stellte fest, dass es die Wahrheit war. Sie wusste nicht, was Dr. Heitmann hören wollte. Warum half ihr die Ärztin nicht weiter? Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und nestelte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Als hätte sie genau diese Reaktion erwartet, stand Dr. Heitmann auf, holte aus der für solche Zwecke parat stehenden Schachtel ein Kleenex und reichte es ihr.

„Sie sind an einem Punkt, an dem Sie nicht lockerlassen sollten.“ Dr. Heitmann hörte sich jetzt verstehend und mütterlich an, was eigenartigerweise einem wahren Tränenstrom auslöste. Hilflos schniefte sie in ihr Taschentuch. „Weinen Sie, das ist ein ehrlicher Gefühlsausdruck. Sie dürfen gerne einen ganzen See vollweinen um alles, was Ihnen geschehen ist“, sagte die Therapeutin, „aber flüchten Sie nicht in Allgemeinplätze, die den Blick verstellen. Wie genau erlebten Sie diese Faszination? Sagen Sie es mir.“

„Ich schäme mich.“

„Erzählen Sie es trotzdem!“

„Es ging“, sie stockte, „ein Magnetismus von ihm aus, dem ich nicht widerstehen konnte, auch oder gerade wegen seiner Grausamkeit.

Ich fühlte, dass auch er gefangen war in einem Käfig. Ich glaubte, ihm helfen zu können …“

„Das war aber nicht alles, oder?“

„Nein“, gab sie zu, „es muss wohl auch so etwas wie Lust an der Unterwerfung dabei gewesen sein, das passive Element purer Weiblichkeit auf die Spitze getrieben. Dabei verschob sich die Erfüllung immer auf später, auf ein nächstes Mal. Die Sehnsucht nach der Einlösung dieses Versprechens hielt mich Tag und Nacht gefangen.“

„Wie der Traum, Ihr Vater könnte zurückkehren?“

Sie glaubte, sich verhört zu haben. Und doch fühlte sich genau diese Frage stimmig an. War die Erklärung wirklich so einfach – und warum hatte sich ihr nie diese Parallele eröffnet?

„Wiederholung nennt die Psychologie ein solches Verhalten“, erklärte Dr. Heitmann sanft. „In dieser Gefühlswelt fühlen Sie sich zuhause, während Ihnen ehrliche Zuneigung Angst einflößt. Es ist immer einfacher, sich als Opfer zu fühlen als Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.“

Sie schluckte, tapfer widerstand sie dem Impuls, aufzustehen und davonzulaufen. Sie wusste, Dr. Heitmann war noch nicht zu Ende und hätte sich gerne weitere Offenbarungen erspart, aber ihr war auch klar, dass sie diese Stunde durchstehen musste. Hinterher fühlte sie sich immer besser, so als hätte der Zahnarzt einen schmerzenden Zahn plombiert. Aber schließlich musste der Zahn vorher auch aufgebohrt werden.

„Verantwortung zu übernehmen, heißt sein Leben zu gestalten, anstatt es bestimmen zu lassen“, fuhr Dr. Heitmann fort.

„Oder zumindest so viel Mut aufzubringen, ihm ein Ende zu setzen …“, antwortete sie leise, „eine Courage, die ich nicht habe.“

„Nein, Sie bringen lieber andere dazu, Ihnen Ihre feige Flucht abzunehmen“, gab Dr. Heitmann schneidend zurück. „Aber um so manipulieren zu können, braucht es Täterqualitäten.“

Unerbittlich hielten die Augen der Ärztin ihren erschrockenen Blick fest.

Sie stand auf, während sie auf ihre Armbanduhr schaute. „Und wir wissen doch beide, dass Sie zur Märtyrerin nicht taugen.“ Dr. Heitmann ging zur Tür, zerknirscht folgte sie ihr.

„Aber …“, versuchte sie eine Rechtfertigung, Dr. Heitmann jedoch schnitt ihr das Wort ab und hielt ihr die Türe auf. „Vielleicht denken Sie bis morgen einmal über ihre Rolle als Täterin nach.“

Verwirrt ging sie auf dem vereisten Gartenweg zurück zu ihrem Zimmer, ein Mitpatient sprach sie an, doch sie hörte nicht, was er sagte. Sie legte sich auf ihr Bett, um das Gehörte Revue passieren zu lassen, sprang kurz darauf aufgewühlt wieder auf. Sie fühlte in roten Wellen einen Zorn auflodern, der sie zu verbrennen schien. Sie lief im Zimmer auf und ab, am liebsten wäre sie wieder zurückgerannt zu Dr. Heitmann, um ihr diese maßlose Wut ins Gesicht zu schleudern. Langsam nahm eine Idee Gestalt an in ihrem Kopf und sie ließ sich zögernd auf ihrem Bett nieder. Woher kam so viel Zorn, eine solche Aggressivität? Nie hatte sie es für möglich gehalten, dass so viel davon in ihr stecken könnte.

1

Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen. Anne blinzelte, als der Rückstoß sie aufweckte. Der einlullende Rhythmus ratternder Räder hatte ihr doch noch zu etwas Schlaf verholfen. Sie schüttelte ihre Müdigkeit ab und trat aus dem Dämmerlicht des Abteils in die Helligkeit des Bahnsteigs. Das pulsierende Leben dort schleuderte sie rücksichtslos in den Alltag und sie verwünschte jetzt ihre Entscheidung, die Urlaubstage auf Kreta buchstäblich bis zur letzten Minute ausgedehnt zu haben. Allerdings hatte sie schon mehr Arbeitstage mit Schlafmangel bewältigt.

Der Fahrer des ersten Wagens am Taxistand, ein Südeuropäer, lehnte an einem Mercedes und las eine Zeitung, deren Sprache Anne nicht identifizieren konnte. Nur widerstrebend faltete er sie zusammen, als sie ihm winkte. Der frische Oktoberwind ließ Anne frösteln und auch ohne den eindeutigen Blick des Taxichauffeurs auf ihre verschwitzte Seidenbluse hätte sie den obersten Knopf geschlossen. Der Fahrer roch nach Knoblauch und Annes Wunsch nach einer Dusche wurde fast übermächtig. Lange und ausgiebig palaverte er über die unzulänglichen Sportberichte des Tagblatts, als Anne ihr Fahrtziel genannt hatte. Sie war froh, seinem knoblauchgeschwängerten Redeschwall zu entkommen, als sie nach dem Stopp and Go des morgendlichen Stadtverkehrs das Zeughaus erreichten. Das altehrwürdige Fachwerkhaus in der Stadtmitte beherbergte nicht nur die größte Zeitung Schweinfurts, das Schweinfurter Tagblatt, sondern auch Annes Arbeitsplatz.

Ihr kleiner 1er BMW stand noch auf seinem Parkplatz vor dem Zeughaus, unter dem Scheibenwischer steckte ein Blatt, vorwurfsvoll wie ein Strafzettel. Sie würde Rechenschaft darüber ablegen müssen, dass sie mit ihrem Wagen zwei Wochen lang einen der wenigen Parkplätze belagert hatte, aber diesen Ärger nahm sie in Kauf. Hier hatte er wenigstens sicher gestanden. Anne verstaute ihren Koffer und nahm den offiziellen Weg in die Redaktion. Die Wendeltreppe im Turm des Gebäudes zum ersten Stock diente ihr täglich als Fitness-Gradmesser und auch heute nahm sie zwei Stufen auf einmal.

Ein wenig atemlos erreichte sie den Gang zu den Büros und sah Phil Eisenmann in seiner ganzen Länge von fast eins neunzig am Kaffeeautomaten lehnen. Sie verlangsamte ihren Schritt und fuhr sich mit den Fingern durch das kurzgeschnittene dunkelbraune Haar. Sie musste fürchterlich aussehen.

Sie verschluckte ihren spontanen Gruß – Phils Blick war nach links gewandt, wo jetzt Barbara auftauchte, die junge Praktikantin, die sich seit ein paar Wochen die Zeit bis zum Studium beim Tagblatt vertrieb. Phil erinnerte Anne an einen satten, schwarzen Kater, wie er sich nun reckte und ein paar Schritte auf Barbara zuging. Sie lachte perlend und erzählte irgendeine Belanglosigkeit. Wann hat sie jemals etwas anderes von sich gegeben, dachte Anne. Dabei gestikulierte die Praktikantin mit den Händen, wobei sich ihr knappes Top hob und ihre biegsame Taille mit dem gepiercten Bauchnabel freigab. Die beiden schienen sie nicht zu bemerken, stellte Anne mit leichter Enttäuschung fest. Da hielt ihr jemand von hinten die Augen zu.

„Geschenkt, Christian“, sagte sie im Umdrehen mitten in das strahlende Gesicht Christian Classens, des selbst ernannten Kulturredakteurs ihres Teams, einen Status, den er ausschließlich seiner liebenswerten Exaltiertheit zu verdanken hatte.

„Lass’ Dich anschauen.“ Christian hielt Anne auf Armeslänge entfernt, nachdem er seine obligatorischen drei Küsse an ihren Wangen vorbei in die Luft geworfen hatte. „Wie die schaumgeborene Venus.“

„Die schaumgeborene Aphrodite, wenn schon“, kommentierte Phil, der sich von Barbara gelöst hatte und auf sie zukam. „Anne war in Griechenland, das ist da, wo auch Zeus gewohnt hat.“

„Willkommen zu Hause“, begrüßte er sie mit festem Händedruck „wir haben dich verdammt vermisst.“

„Bist du versehentlich in eine Steckdose gekommen?“, wandte er sich an Christian und erst jetzt bemerkte Anne, dass dieser sein Haar verändert hatte. Es erinnerte stark an den Mantel einer Kastanie und sie lachte laut.

„Gefällt dir etwa meine neue Frisur nicht?“, fragte Christian so geknickt, dass Anne ihn augenblicklich tröstete: „Nein, deine Frisur ist in Ordnung, aber vielleicht solltest du etwas weniger Gel verwenden.“ Dabei zupfte sie an einigen Strähnen – und sofort sah Christian viel weniger wie ein gestylter Igel aus.

„Hast du schon einmal daran gedacht, ihn zu adoptieren“, fragte Phil und der Schalk blitzte in seinen Augen, deren Blau so intensiv war, dass er schon mal mit Paul Newman verglichen wurde.

Anne fühlte sich wieder zuhause – mein Gott, hatte sie die täglichen Sticheleien vermisst.

„Da habe ich ältere Rechte.“ Inzwischen kam auch Wolfgang Bauer aus dem Großraumbüro, das sich Phil, Christian, Wolfgang und halbtags auch Angie teilten. Ihre alte Schulfreundin Angie beim Tagblatt, wiederzutreffen, nachdem sie sich einige Jahre aus den Augen verloren hatten, war für Anne die Überraschung schlechthin gewesen.

Wolfgang, sommersprossig, gutaussehend und mit einem Schopf dichter blonder Haare, verkörperte perfekt das Klischee des Sunnyboys. Schon deshalb fühlte sich Anne wahrscheinlich in seiner Gegenwart unbehaglich.

„Ich störe ja höchst ungern.“ Carla, die Sekretärin des Redaktionsleiters, streckte ihren Kopf aus dem Zimmer. „Aber wollt ihr euer Meeting nicht auf später vertagen, Wieland wird gleich hier sein … Hallo, Anne.“

Carlas Gutmütigkeit den Kollegen gegenüber sah ihr Chef gar nicht gern. Deshalb wurde sie auch trotz ihrer engen Zusammenarbeit mit Wieland von allen heiß geliebt.

„Man hört euch schon am Eingang.“ Kurt Falser, Wielands Stellvertreter und Annes Mentor, seit sie beim Tagblatt war, tauchte am Ende der Wendeltreppe auf. „Aber ich hätte es mir denken können, dass Anne wieder da sein muss und alle Redakteure um sich schart.“ Ein gutmütiges Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, während er sich über seine Geheimratsecken strich.

„Es reicht“, schaltete sich jetzt Phil ein, „komm mit, Anne, ich muss dir noch ein paar Unterlagen geben, wir beide müssen in einer Stunde im Rathaus sein, Ordensverleihung für verdiente Kommunalpolitiker.“ Warum hatte Phils Ton jetzt scharf geklungen?, fragte sich Anne.

Sie schickte sich zum Gehen an und erstarrte plötzlich. Die Tür zu Wielands Zimmer war geöffnet und im Türrahmen stand er selbst. Sein rundes Gesicht war gerötet, noch betont durch die akkurat gebundene rote Krawatte. Er hatte bereits sein Jackett ausgezogen und auf dem weißen Hemd leuchtete sie wie ein Fanal. Wie lange stand er wohl schon dort? Er räusperte sich, bevor er zu sprechen begann, und alle Gesichter wandten sich in seine Richtung.

„Frau Anne Michel ist wieder da, wie ich sehe – oder besser höre … Ich schätze Mitarbeiter, die dazulernen können – sie war doch in einem Robinson-Club auf Kreta, oder?“ Er lachte wiehernd. „Bilden die eigentlich auch Animateure – äh – Animierdamen aus?“

Bis auf Phil lachten alle und Anne fühlte sich, als habe man ihr einen Eimer kaltes Wasser übergeschüttet.

2

„Anne, du schaust jetzt schon fast zehn Minuten aus dem Fenster ohne ein Wort zu sagen.“ Phil lenkte den Polo des Tagblatts auf einen freien Parkplatz am Straßenrand. „Möchtest du darüber reden, bevor wir uns gleich der Polit-Meute stellen müssen.“

„Entschuldige Phil – ich wollte dich nicht kränken. Erst fährst du mich nach Hause, damit ich mich frischmachen und umziehen kann, und dann sitze ich im Auto wie ein bockiges Gör.“

„Darum geht es doch überhaupt nicht … Du knabberst noch an Wielands Unverschämtheit, nicht wahr?“

Anne schluckte den Kloß im Hals hinunter. Phils Fürsorge machte alles nur noch schlimmer. Wenn sie jetzt über ihre Enttäuschung sprach, würde sie weinen müssen, und das war wohl keine Ideal-Voraussetzung für einen Termin im Rathaus.

„Danke Phil, es geht schon wieder. Weißt du, ich hatte mich wirklich auf meinen ersten Arbeitstag gefreut.“

„Und es gibt keinen Grund, dir diese Freude nehmen zu lassen. Weißt du, dass der Oberbürgermeister ausdrücklich nach dir gefragt hat?“

„Woher kennt er mich? Ich bin doch noch gar nicht lange beim Tagblatt …“

„Offenbar lange genug – es hat sich herumgesprochen, dass du schreiben kannst. So, und jetzt lass’ uns fahren, sonst kommen wir bestimmt zu spät.“

Auch wenn ihr klar war, dass Phil sie nur trösten wollte, seine Worte hatten bewirkt, dass es ihr besser ging. Der Parkplatz hinter dem Rathaus war schon besetzt und sie mussten im Parkhaus des Georg-Schäfer-Museums parken.

„Augenblick noch“, bremste sie Phil, als Anne aussteigen wollte und zog eine Krawatte aus der Tasche seines grauen Anzugs. „Nicht früher, als es unbedingt sein muss“, erklärte er auf Annes Kopfschütteln. Sie stand ihm hervorragend, er war sich ganz bestimmt bewusst, dass die Ton-in-Ton-Kombination von Hemd und Krawatte seine blauen Augen unterstrich.

„Hast du eigentlich jemals nach deinen Ahnen geforscht, Phil“, fragte sie, als sie gemeinsam über die Metzgergasse zum Rathaus gingen. Vor ihnen lag der Wochenmarkt. Unter den bunten Schirmen der Marktstände waren Kürbisse in allen Schattierungen von Orange neben violetten Astern und roten Dahlien ausgelegt und Anne genoss die bunte Pracht.

„Wären meine Altvorderen denn wichtig für dich?“

„Nein“, lachte sie, „aber du musst in direkter Linie von den Kelten abstammen.“

„Wieso das denn?“

„Blaue Augen und schwarzes Haar verweisen doch auf keltische Wurzeln – habe ich zumindest mal gelernt.“

„Das musst du Carla erzählen, wenn sie wieder mal behauptet, meine Haare sähen aus wie eine aufgeplatzte Matratze.“

Annes Blick fiel auf das Schaufenster eines Blumengeschäfts auf der rechten Seite, in dem sie sich spiegelten. Gut sahen sie zusammen aus, sie selbst in ihrem engen, schwarzen Satin-Kostüm und Phil im Anzug. Wenn er sie nur nicht so überragen würde. Die Vorstellung von Phil und Barbara vor dem Kaffee-Automaten drängte sich ihr auf. Mit ihren langen blonden Haaren hätte Barbara einem Renaissance-Maler Modell stehen können, auch ohne ihre Model-Figur und ihre endlos langen Beine. Sie passte doch viel besser an seine Seite als sie selbst mit ihren gerade mal eins fünfundsechzig.

Kleine Grüppchen festlich gekleideter Männer und Frauen standen schon vor der Rathausdiele und unterhielten sich gedämpft, als Anne und Phil ankamen. Die frühbarocke Rathausdiele, Forum vieler kultureller Marksteine der Stadt, war geschmückt zu dem feierlichen Anlass. Vor dem Rednerpult des Oberbürgermeisters stand ein Arrangement aus Sonnenblumen in einer Bodenvase. Davor waren die Stühle halbkreisförmig angeordnet. Im Hintergrund legten Mitarbeiter einer Catering-Firma letzte Hand an das kalte Büfett, das schon vor dem Festakt begehrliche Blicke auf sich zog und für Unruhe sorgte.

„Schlechtes Timing“, raunte Anne Phil zu, „der Oberbürgermeister wird es schwer haben, mit seiner Laudatio gegen so kollektiv auftretende Gier anzukämpfen.“

„Du sagst es! Drück dieser Herde hier Keulen in die Hände und wirf ihr Bärenfelle über und sie vergisst auf der Stelle, weshalb sie gekommen ist und wendet sich dem Eigentlichen zu. Aber, zur Sache, Anne – was hältst du von Aufgabenteilung? Du den Bericht, ich die Fotos und ein paar Interviews?“

„Ich den Bericht …“ Beklommenheit mischte sich in Annes Frage. „Ist das nicht deine Domäne?“

„Im Gegensatz zu dir weiß ich sehr wohl, was du kannst – nur Mut, Anne.“ Phil fasste sie am Ellenbogen und Anne fühlte seine Zuversicht auf sie übergehen. Mehrere Köpfe flogen herum, als sie sich einer Gruppe näherten.

Sie war noch nicht lange genug beim Tagblatt, um die Honoratioren richtig einordnen zu können, aber sie erkannte Johannes M. Rossol, dessen Glatze mit dem Glanz des polierten Silbers konkurrierte. Er betrieb eine Kette von Alten- und Pflegeheimen. Allein in Schweinfurt gehörten ihm zwei mit insgesamt 582 Pflegeplätzen. Mit der Gebrechlichkeit alter Menschen ließen sich offenbar gute Geschäfte machen, nach der Villa zu urteilen, die sich Rossol errichtet hatte und dem Wagenpark, den er unterhielt. Die Zahl der Pflegeplätze seiner Heime mit dem treffenden Namen „Monrepos“ war Anne ebenso geläufig wie das „M“ seines Namens, weil sie erstere in einem ihrer Anfangsberichte nach oben korrigiert und letzteres einfach weggelassen hatte. Ihr Fehler hatte zu massiven Irritationen geführt und sie hörte noch immer Wielands Hinweis: „Das ‚M‘ steht für Maria und Rossol legt Wert auf seinen gesamten Namen.“

„Wollen Sie uns nicht Ihrer bezaubernden Begleiterin vorstellen?“ Ein kleiner, drahtiger Mann mit energischen Gesichtszügen und einem nach außen spitzzulaufenden Schnurrbart löste sich aus der Gruppe und streckte Phil die Hand entgegen. Seine Augen waren wieselflink, ein Eindruck, der vielleicht auch durch den kleinen Tic ausgelöst wurde, der ihn sein linkes Auge immer wieder zusammenkneifen ließ.

„Hermann Sendner – Stadtrat.“ Bildete es Anne sich ein, oder hatte Phils Äußerung einen ironischen Unterton? „Meine Kollegin, Anne Michel.“

Sendner drückte ihre Hand und Anne bezwang den Impuls, ihre Finger zu dehnen, nachdem er sie wieder freigegeben hatte. Sein schütteres schwarzes Haar hatte Sendner auf die Seite gekämmt und mit Gel behandelt, ebenso wie seinen Schnurrbart. „Sie müssen über bemerkenswerte Vorzüge verfügen“, sagte er mit anzüglichem Lachen und einem Augenzwinkern, das Anne anwiderte. „Wenn so ein Chauvi wie Wieland seinen Grundsätzen untreu wird …“ Selbst die abfällige Bemerkung über ihren Chef machte ihn Anne nicht sympathischer.

„Wieland soll Grundsätze haben, höre ich gerade.“ Rossol schickte sich grinsend an, sich zu ihnen zu gesellen, als ein allmählich einsetzender Applaus die Aufmerksamkeit auf sich zog. Alle Köpfe drehten sich jetzt in Annes Richtung, sodass sie unwillkürlich nach hinten schaute. Mit flottem Schritt erschien jetzt Oberbürgermeister Dr. Reinhard Hasselberg.

Seine hagere Gestalt mit dem schneeweißen Haarkranz erinnerte an einen Leuchtturm. Und zweifellos verkörperte er Autorität, auch wenn er seinen Oberkörper leicht gebückt hielt, als sei ihm seine Körpergröße peinlich.

Zwei Schritte hinter dem Oberbürgermeister, eine Klarsichthülle mit Manuskripten unter den Arm geklemmt, ging Lutz Amman, der Pressesprecher der Stadt und neben ihm Lydia Zirkel, die Sekretärin des Oberbürgermeisters. Sie trug eine Unterschriftenmappe mit derselben Pietät wie ein Ministrant das Messbuch, ihr dunkelblaues Kostüm ebenso untadelig wie ihre Frisur. Anne fühlte sich an Maggie Thatcher erinnert.

Die Rathausdiele hatte sich inzwischen gefüllt. Anne entdeckte einige Kollegen von Schweinfurter Anzeigenblättern und auch die Mitarbeiter von TV Touring hatten ihre Kameras schon in Position gebracht.

„Wir setzen uns in die zweite Reihe“, raunte Phil Anne ins Ohr und umfing ihre Schultern mit einer intimen Geste, die sie ein wenig irritierte.

Amman verteilte großzügig Manuskripte und drückte erst Anne, dann Phil eine Namensliste in die Hand. Es war sicher keine bewusste Geste, doch Anne schätzte sie. Sie hatte es oft genug erlebt, dass sie übersehen wurde, wenn sie mit einem Kollegen unterwegs war. Nach einem stillschweigenden Code schienen sich Männer immer an ihre Geschlechtsgenossen zu wenden, wenn nach dem obligatorischen Smalltalk schließlich Inhalte erläutert wurden.

Anne schaute Amman genauer an. Er war groß und so schlank, dass er fast hager wirkte. Seine korrekte Kleidung – er trug einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug mit Weste und seine Goldrandbrille – gab ihm etwas Intellektuelles. Das verschmitzte Lächeln und die hellblaue Krawatte mit Snoopy-Motiven verrieten allerdings eine spielerischere Seite seiner Persönlichkeit.

„Du bist die Sensation heute Morgen“, flüsterte Phil, als sie sich hingesetzt hatten, „schau nur, wie sich Schweinfurts VIPs die Hälse verrenken.“

„Keine allzu große Kunst, ich scheine die einzige Frau unter 60 zu sein.“

Neben Anne saß ein hochgewachsener Mann schwer bestimmbaren Alters, der ihr freundlich zunickte. Er war attraktiv und Anne musste sich bezähmen, ihn nicht zu auffällig zu mustern.

„Ludwig Moreno, Mitinhaber der bekannten Maler- und Verputzerfirma, sie beschäftigen fast zweihundert Leute“, flüsterte Phil ihr ins Ohr. Konnte er plötzlich Gedanken lesen? „Er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Liberalen im Stadtrat und wird heute auch geehrt.“ Mit seinem Kugelschreiber tippte Phil auf seinen Namen auf der Liste.

Der Oberbürgermeister klopfte auf das Mikrophon hinter dem Rednerpult und langsam verstummten die Gespräche im Saal.

Anne schlug eine neue Seite ihres Notizblockes auf und versuchte, sich auf die Rede Dr. Hasselbergs zu konzentrieren. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich solche Reden glichen wie ein Ei dem andern, und dass es einer gewissen Kunstfertigkeit bedurfte, um etwas wirklich Originelles festzuhalten.

Sie erwischte sich dabei, wie sie verstohlen ihren Sitznachbarn musterte. Er spürte es, drehte den Kopf und lächelte ihr zu.

Rasch senkte Anne den Blick auf ihre Notizen und blendete den Oberbürgermeister wieder ein.

„… auf die eine oder andere Weise haben sich alle heute hier Anwesenden um die Allgemeinheit verdient gemacht und ich darf mit Fug und Recht sagen, dass unsere Stadt ohne ihr Engagement ein wenig ärmer wäre“, behauptete er gerade.

Danach rief der Oberbürgermeister verschiedene Namen auf und auch Ludwig Moreno erhob sich, um sich die Ehrennadel des bayerischen Ministerpräsidenten anheften zu lassen. Von vorne sah er nicht ganz so atemberaubend aus wie im Profil, wenn auch noch immer anziehend genug. Er hatte tiefliegende Augen und spitz nach oben gebogene Augenbrauen, die seiner Miene den Ausdruck gaben, als amüsiere er sich ständig. Vielleicht tat er das ja auch, dachte Anne, ihm fehlte jedenfalls der würdige Ernst, der sich auf den Gesichtern der anderen Geehrten abzeichnete.

„Dieser sogenannte Orden sieht aus wie das Abzeichen für zwanzig Kilometer Volkswandern“, murmelte er, als er wieder neben ihr saß und Anne entgegnete flüsternd: „Ich habe mich schon immer gefragt, warum der Staat seine Orden nur verleiht, traut er seinen eigenen Würdenträgern nicht?“

„Ein bisschen mehr Achtung“, sagte er lachend, „Sie haben schließlich eine frischgebackene Respektsperson vor sich.“

Unvermittelt brach er ab und wandte den Blick zur Seite. Anne wunderte sich über sein verändertes Mienenspiel, er verengte seine Augen zu Schlitzen und presste die Lippen zusammen zu einem schmalen Strich. Sein Gesichtsausdruck wurde hart und erinnerte Anne an einen Raubvogel.

Sie folgte seinem Blick und sah einen Mann in dunkelblauem Zwirn, der nach Armani aussah, den schmalen Gang entlangschlendern, den man in der Mitte der beiden Blöcke mit den Stuhlreihen gelassen hatte, langsam und unbekümmert wie bei einem Schaufensterbummel. Obwohl nicht überragend groß, schien er den Saal mit seiner Präsenz auszufüllen. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen silbrig meliert und er trug eine randlose Brille. George Clooney mit Brille, dachte Anne.

Alle Blicke wandten sich ihm zu und sogar der Oberbürgermeister unterbrach seine Rede für ein kurzes Nicken in seine Richtung. Annes Augen hingen wie gebannt an dem Fremden. Unvermittelt drehte er sich um und sah ihr direkt in die Augen. Hatte er ihre Blicke gespürt? Anne fühlte, wie ihr Herz laut und heftig zu klopfen begann. Sie hörte, wie Moreno neben ihr etwas sagte und riss sich mühsam vom Anblick des späten Gastes los.

„Bitte?“, fragte sie, während Morenos Lippen sich bewegten, ohne dass sie ein Wort verstand. Sie hatte die absurde Vision von einem Fernseher mit abgestelltem Ton und musste an sich halten, nicht hysterisch zu kichern.

„Vergessen Sie’s“, war der einzige zusammenhängende Satz, den sie verstand, bevor ihre Augen wieder zu dem Unbekannten glitten.

Der Oberbürgermeister beendete gerade seine Rede und ging unter dem Applaus der Zuhörer zurück zu seinem Platz. Der Dunkelhaarige schüttelte ihm auf eine Weise die Hand, als drücke ein Lehrer seine Zufriedenheit aus über die Leistung eines Prüflings. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er hereingeschlendert war, trat er jetzt ans Mikrofon. Der Dirigent der Gitarrengruppe, der bereits die Hand zu Vivaldis Gitarrenkonzert gehoben hatte, setzte sich wieder und schlug die Beine übereinander.

„Verzeihen Sie, wenn ich den Ablauf störe …“, sagte er, und ein Ruck ging durch die Versammlung. Die Zuhörer, die gegen ihre Schläfrigkeit gekämpft hatten, richteten sich auf und hörten zu.

Anne verstand nicht viel von seinen Ausführungen, während sie der suggestiven Kraft seiner Baritonstimme lauschte, doch sie spürte die Verwandlung, die mit dem Publikum vorging. Das unruhige Stühlerücken hörte auf und das Catering-Personal stellte sein störendes Geschirrklappern ein.

Er hatte das, worum ihn jeder professionelle Rundfunk-Moderator beneiden musste, ein Lächeln in der Stimme und mühelosen Witz. Mit wenigen Worten nahm er der Feierstunde die rituelle Strenge, machte die Zuhörer zu seinen Komplizen, während er warb und schmeichelte. Niemanden schien die Dreistigkeit zu stören, mit der er die Aufmerksamkeit an sich gerissen hatte. Er beendete seine Glückwünsche, nahm, fast schon gelangweilt, den Beifall entgegen und ging zum Büffet.

Die Catering-Firma hatte während des Festakts ganze Arbeit geleistet. Um die Bistro-Tische hatten sich bereits die ersten Gäste mit vollbeladenen Tellern und Weingläsern gruppiert.

Anne schaute sich suchend nach Phil um und fand ihn im Gespräch mit einigen der Geehrten, unter ihnen auch Moreno. Er stand an einem der Tische, sein kleines Aufnahmegerät und einen Block vor sich liegend. Anne bewunderte ihn für seine Effizienz, er musste seine Gesprächspartner sofort beim allgemeinen Run auf das Büffet mit Beschlag belegt haben.

Auch Anne nahm sich einige der kleinen appetitlichen Kanapees und ein Glas Rotwein. Sie konnte den Blick nicht von dem mysteriösen Redner wenden, über dessen Identität sie weder Phil noch Moreno aufgeklärt hatten. Er flirtete gerade hemmungslos mit einer blonden Serviererin. Ihre Augen blitzten, während sie ihm eine Platte mit Kanapees hinhielt. Irgendeine Schmeichelei, die er ihr ins Ohr flüsterte, brachte sie zum Kichern, bevor er mit geschickt inszenierter Verzögerung endlich zugriff. Anne wurde angerempelt und brachte sich vor dem überladenen Teller eines älteren Mannes mit auffallend rotem Gesicht in Sicherheit. Seine gestelzten Entschuldigungen wollten kein Ende nehmen. Als ihr Blick wieder auf den Fremden fiel, sah sie die Serviererin wie hypnotisiert seinen Artigkeiten lauschen, während das Glas, das sie gerade einschenkte, überlief und sich der Rotwein über die Tischdecke ergoss.

Mit schadenfrohem Grinsen ging Anne, mit Teller und Rotweinglas beladen, auf einen der Tische zu.

„Sie wollen also etwas frischen Wind in die stereotype Presselandschaft unserer Stadt bringen?“ Auf halbem Wege wurde Anne von Oberbürgermeister Dr. Hasselfeld aufgehalten, der ihr, von Rossol und Sendner eskortiert, zwanglos zu ihrem Tisch folgte. „Das soll keine Kritik am Tagblatt sein – wir können uns nicht über mangelnde Fairness beklagen“, setzte er hinzu, als er Annes fragenden Blick bemerkt hatte. „Aber ich habe natürlich einige Ihrer Berichte gelesen. Sie zeugen doch von einer gewissen Respektlosigkeit, die den eingefahrenen Gleisen Ihrer Zeitung nur guttun kann.“

„Ich gebe mein Bestes“, antwortete Anne, unsicher, was sie mit dem zweifelhaften Kompliment anfangen sollte. Sie würde den Teufel tun und sich aufs Glatteis begeben. Wahrscheinlich würde der Oberbürgermeister beim nächsten offiziellen Anlass Wieland von ihren Äußerungen berichten. Aus den Augenwinkeln sah Anne, dass Phil und Moreno jetzt ebenfalls auf ihren Tisch zukamen.

„Der Herr Oberbürgermeister und der Fraktionsvorsitzende der Opposition an einem Tisch – sollte so ein Orden tatsächlich die Kultur in unserem Stadtrat verbessern?“, witzelte Moreno, als er sich mit Phil im Schlepptau ihrer Runde zugesellte, und Anne bemerkte, dass Sendner ihn mit einem giftigen Blick bedachte, und dass sein Schnurrbart gefährlich zuckte.

„Gerade Sie sollten sich aber besser nicht über die eingefahrenen Gleise unserer Presse beschweren, Herr Dr. Hasselfeld. Sie trinken Wein, während sie Wasser predigen.“ Morenos Äußerung war ja geradezu bissig und Anne sah, wie sich der Oberbürgermeister versteifte.

Sie registrierte vage den Konflikt, der zwischen beiden Männern schwelte, doch ihr Blick wanderte zurück zum Büffet. Der Fremde war verschwunden. Annes Augen suchten den Saal ab nach ihm, während sie sich eine dumme Gans schalt. Ich bin doch kein Jota besser als die Serviererin, dachte sie und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch am Tisch, die vage Stimme in ihrem Innern ignorierend, die ihr einflüstern wollte, dass das Fest seinen Glanz verloren hatte.

„Die Kultur unserer Geselligkeiten war immer gut“, sagte Rossol mit röhrendem Lachen, während sein Bauch in dem engen Anzug hüpfte. „Sie sollten grundsätzlich Wein statt Kaffee ausschenken lassen in den Stadtratssitzungen …“

Der Augenblick der Anspannung, den Anne kurz vorher bemerkt zu haben glaubte, war vorüber.

„Wenn Frau Michel ihn ausschenkt, überlege ich es mir“, konterte Hasselfeld.

„Das wäre aber eine arge Verschwendung von Talenten“, gab Moreno zurück, während er Anne zulächelte. „Kennen Sie eigentlich Frau Michels preisgekrönten Essay über die Veränderung der deutschen Sprache in Politik und Medien während der vergangenen 20 Jahre, Herr Oberbürgermeister?“

Hasselfeld schaute überrascht zu Anne, die Blicke der anderen folgten ihm und sie stellte fest, dass sie errötete und sich unwohl fühlte so im Zentrum des Interesses zu stehen.

„Das ist lange her“, brachte sie unbestimmt heraus.

„Der Wettbewerb war doch von der ‚Zeit’ ausgeschrieben, wenn ich mich nicht irre. Dort war er zumindest abgedruckt“, wandte sich Moreno an sie.

„Herr Sendner, ich müsste auch mit Ihnen noch ein Gespräch führen“, intervenierte Phil und Anne war ihm dankbar für seinen gutgemeinten Versuch, das Thema von ihr abzulenken. „Rufen Sie mich an“, herrschte Sendner Phil an und richtete sich wieder mit unerwarteter Ernsthaftigkeit an Anne: „Ich bin mir fast sicher, dass unser Freund Wieland einen solchen Edelstein in seinem Mitarbeiterstab nicht zu schätzen weiß. Das soll keine Abwertung Ihres Chefs sein, Frau Michel, aber er hat nun einmal seine Grenzen. Vielleicht wissen Sie, dass die beiden regionalen Radiosender mir gehören. Wann immer Sie Ihrer Arbeit beim Tagblatt überdrüssig werden, ich habe einen Job für Sie.“ Er kramte seine Brieftasche heraus und reichte Anne seine Visitenkarte. „Berufen Sie sich ruhig auf unser heutiges Gespräch.“ Bevor Anne antworten konnte, wandte er sich nach einem Blick auf seine Armbanduhr zum Gehen. „Frau Michel, meine Herren.“ Mit einem imaginären Heben seines nicht vorhandenen Hutes strebte er dem Ausgang zu.

Phil schaute ihm mit wütendem Gesichtsausdruck nach – und Anne bekam eine Vorstellung davon, Phil zum Feind zu haben. Hoffentlich kam sie nie in diese Lage. „Müssen wir nicht auch langsam …“, fragte sie beiläufig, während sie die Visitenkarte in ihrer Handtasche verstaute. Phil signalisierte Zustimmung. Seine Lippen waren noch immer zusammengepresst und seine Kiefer mahlten. Hatte ihn allein Sendners Abfuhr so aufgebracht? Der Phil, den sie zu kennen glaubte, hätte doch mit einer ironischen Bemerkung der Situation den Stachel genommen.

3

Die Morgensonne schien durch das kleine Dachfenster in Annes Büro, sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und murmelte „Ja – Mama“ in den Hörer. Sie fragte sich, ob wohl je der Tag käme, an dem sie ohne Schuldgefühle mit ihrer Mutter telefonieren konnte.

„Ja – ich weiß“, gab sie zu und malte Kringel auf ihren Block. Langsam ergriff ein erdrückendes Gefühl Besitz von ihr.

Ein Klopfen an der Bürotür war zu hören und Anne hatte Mühe, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. „Ich muss Schluss machen, sagte sie zu ihrer Mutter und überhörte deren weitere Einwände, bevor sie auflegte.

Phil schob die Tür auf, in der Hand ihren redigierten Bericht von der Ordensverleihung. „Puh – ich frage mich immer, warum du in dieser Besenkammer keine Platzangst bekommst“, stellte er nach einem Blick in Annes kleines Büro fest.

„Immerhin habe ich ein eigenes Büro, das hat außer mir nur noch Wieland … Euer Großraumbüro ist doch der reinste Ameisenhaufen.“ Anne liebte den kleinen Raum mit seiner Dachschräge. Er war für sie Rückzugsort und ideal, wenn sie ihre Gedanken sammeln musste.

„Wir müssen das noch abgleichen.“ Phil legte ihr Manuskript in den Eingangskasten auf dem Schreibtisch. „Aber das hat Zeit, ich habe meine Interviews auch noch nicht im Kasten.“

„Das kommt mir sehr gelegen, weil wir doch jetzt erst noch die Redaktionskonferenz überstehen müssen. Ich muss unbedingt heute noch den Hintergrund-Report zur geplanten Müllverwiegung auf die Reihe bringen, auch wenn Wieland gesagt hat, der habe Zeit. Ich bin mir sicher, Wolfgang hat sein ‚Pro und Contra‘ längst geschrieben.“ Annes Stirn umwölkte sich, als sie an den unangenehmen Abend mit Wolfgang kurz vor ihrem Urlaub dachte. Sie war froh, dass zwei Wochen dazwischenlagen.

Vielleicht wusste Angie Rat, wie sie nach Wolfgangs plumpem Übergriff mit ihm umgehen sollte.

„Wann kommt eigentlich Angie wieder zurück?“

„So genau weiß ich das auch nicht“, antwortete Phil, „hattet ihr euren Urlaub nicht zur gleichen Zeit eingetragen?“

„Wahrscheinlich hat sie noch einen oder zwei Tage angehängt – tja, dann wollen wir mal.“ Anne stand auf, zog ihren Rock glatt und Phils Blick wie ein Magnet auf ihre Beine.

Er räusperte sich. „Du wirst dir noch eine Erkältung holen.“ Er lachte nervös und füge mit noch immer belegter Stimme hinzu: „Hoffentlich würdigst du auch meine Sorge um dich, zumal ich mich mit dieser Ansage um einen aufregenden Anblick bringe …“

4

Wieland saß bereits an der Stirnseite des Konferenztisches, Kurt an seiner Seite, als sie alle nacheinander ins Sitzungszimmer kamen. Kurt nickte Anne zu und winkte ihr, sich neben ihn zu setzen. Sie ging allerdings nicht darauf ein, denn neben Kurt zu sitzen hätte bedeutet, Wolfgang in die Augen schauen zu müssen und genau dies wollte sie vermeiden.

Kurt Falser war am längsten beim Tagblatt, ein journalistisches Urgestein, und Wieland nicht nur stilistisch überlegen. Er nahm nur noch selten einen Termin wahr und widmete sich größtenteils der Gestaltung der Zeitung. Anne bewunderte ihn für seine Geduld, mit der er die Berichte der vielen freien Mitarbeiter und Vereinsvorstände, die täglich seinen Schreibtisch überfluteten, in lesbare Artikel verwandelte. Anne hatte ihm viel zu verdanken. Es war Kurt gewesen, der sie mit viel konstruktiver Kritik von ihrem literarischen Parnass heruntergeholt und sie die sachliche Berichterstattung einer Tageszeitung gelehrt hatte.

Sie stand noch unschlüssig an der Tür, als Christian mit einem vollen Kaffeebecher neben ihr auftauchte.

„Scheußliches Gebräu, aber immer noch besser, als dem morgendlichen Ritual mit nüchternem Magen beiwohnen zu müssen“, flüsterte er ihr zu und Anne lächelte über seine getragene Ausdrucksweise, die er ebenso wenig ablegen konnte wie die Fliege, die er – täglich wechselnd und passend zum Hemd – trug.

„Erwartet uns heute ein österliches Hochamt oder zelebriert er nur eine einfache Messe?“, setzte Christian ebenso leise hinzu und Anne knuffte ihn in die Seite, worauf er seinen Kaffee verschüttete.

„Können die Herrschaften sich vielleicht endlich entschließen, Platz zu nehmen?“ Wieland sah demonstrativ auf seine Uhr, während er mit einer gebieterischen Bewegung auf die noch unbesetzten Stühle zeigte.

Anne hasste diese Zusammenkünfte, auch wenn sie rein faktisch notwendig waren, um Aufgaben zu koordinieren und Themenschwerpunkte zu diskutieren. Sie wusste von ihren Kollegen, dass auch sie die Redaktionskonferenzen verabscheuten, zu oft hatten sie alle erlebt, dass Wieland sie ausschließlich als Plattform für seine Selbstdarstellung missbrauchte.

Heute durften sie sich wohl auf eine solche Inszenierung gefasst machen, dachte Anne, wenn sie Wielands gerötetes Gesicht und sein ärgerliches Räuspern richtig interpretierte. Sie warf einen Blick auf Phil, der ihn musterte, und fragte sich, ob er wohl zu dem gleichen Schluss gekommen war. „Also – was haben wir heute?“, schnarrte Wieland, während er taxierend Annes Minirock begutachtete. Sie entdeckte etwas Lauerndes in seinem Blick und wappnete sich innerlich. Für einen Scherz auf ihre Kosten war Wieland immer gut.

„Sie wollten doch das ‚Pro und Contra‘ zur Müllverwiegung“, diente sich Wolfgang an und reichte Wieland einige Manuskriptblätter.

„Und wo ist der Bericht dazu?“, herrschte Wieland ihn an, während seine Augen dem Blick Wolfgangs folgten und an Anne hängen blieben.

Widerlicher Schleimer, dachte sie, als sie das triumphierende Aufblitzen in Wolfgangs Augen auffing, er musste sich genau überlegt haben, wie er sie am besten demütigen konnte.

„Hätte ich mir ja denken können“, sagte Wieland, wobei er sich nicht einmal die Mühe machte, Anne anzuschauen.

Sie würde sich nicht in die Defensive drängen lassen, er wusste sehr wohl noch, dass er zugesichert hatte, der Bericht habe Zeit. Mit herausforderndem Blick wandte Wieland sich an sie. „Im Übrigen warte ich auf Ihren Beitrag zur Kandidatenvorstellung für die Oberbürgermeister-Wahl“, zischte er. „Wenn Sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlen, geben Sie sie besser ab.“ Anne zählte bis zwanzig. Wieland wusste schließlich genau, dass die Serie in loser Folge für die nächsten Monate geplant und sie erst gestern aus dem Urlaub zurückgekommen war.

„Wir sollten die Demonstration der Bürgerinitiative gegen die Kernkraft als Aufmacher nehmen“, sagte Phil in ruhigem Ton. „Gestern war ein ziemlicher Auftrieb bei der Brennstäbe-Verladung, sogar Greenpeace war da. Das wird ein satter Vierspalter.“

Entspannt lehnte er sich zurück und Anne konnte nicht umhin, ihn für seine Souveränität zu bewundern. Nicht zum ersten Mal war es ihm gelungen, die Wogen zu glätten. Sie gestand es sich nicht gerne ein, aber unterschwellig beneidete sie ihn – auch um das Germanistikstudium, das Phil brillant abgeschlossen hatte. Anne war Übersetzerin und hatte in ihrer Freizeit als freie Mitarbeiterin gejobbt, weil sie ihre Übersetzungen mehr schlecht als recht ernährten. Eine Kurzgeschichte hatte ihr einen ersten Preis und schließlich ein Volontariat und die Übernahme als Redakteurin beim Tagblatt eingebracht. Kein Geringerer als der Verleger selbst war ihr Fürsprecher gewesen – er hatte der Jury angehört.

Annes Gedanken waren abgedriftet. Sie zwang sich zur Konzentration, sie musste Wieland nicht noch eine Steilvorlage zu einer weiteren sarkastischen Bemerkung geben.

„Nachdem uns mit den GRÜNEN jetzt endlich doch ein bisschen frischer Wind im Stadtrat beschert wurde, müssen wir ihnen auch ein Podium bieten“, hörte sie gerade von Kurt Falser, der es als Einziger schaffte, Wieland bei diesen Konferenzen einigermaßen wirkungsvoll zu unterbrechen.

„Nein, Kurt!“, unterbrach ihn Wieland mit seiner lauten, abgehackten Sprechweise, die wohl Autorität zeigen sollte und ein Relikt von seinem immer noch vermissten Kasernenhof war. „Diese Bürschchen werden wir nicht auch noch hofieren. Diese Chaoten müssen in der Kommunalpolitik erst einmal zeigen, ob sie außer flotten Sprüchen noch etwas anderes draufhaben.“ Unüberhörbar schlürfte er von seinem Kaffee und Anne schaute unwillkürlich zu Phil, der die letzte Bemerkung Wielands wohl nicht schlucken würde, als Carla hereinkam und ihm ein Fax hinlegte.

„Ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, ich möchte bei der Konferenz nicht gestört werden“, polterte er, ohne die resolute Sekretärin einschüchtern zu können.

„Ich weiß, Herr Wieland, entgegnete sie, aber dieses Fax ist unter Umständen wichtig.“

Ohne falsche Scheu setzte sie sich auf den einzigen freien Platz neben Wieland und reichte ihm das Fax, wobei ihr kurzer Rock noch ein Stück weiter nach oben rutschte, ein gewagter Vorgang bei fast 100 Kilo Lebendgewicht. Anne kannte keine andere Frau, die so unbehelligt von der weitverbreiteten Diätmanie zu ihrer Körperfülle stand.

Es musste eine Sensationsmeldung sein, die Carla dem Ressortleiter gegeben hatte, denn die Veränderung, die mit Wieland vor sich ging, war auffällig. Sein Gesicht lief dunkelrot an, er plusterte sich auf und blickte fast triumphierend in die Runde. Eigentlich wäre er die ideale Werbefigur für Meister Proper, dachte Anne, er muss jetzt nur noch die Arme verschränken …

„Wenn uns die Polizeimeldungen jetzt erst per Fax erreichen müssen, pfeife ich auf deinen ganzen Polizeifunk“, blaffte er Willi Heises Richtung, dem Unfallexperten der Redaktion und Junggesellen aus Überzeugung.

Die unterschwellige Anspannung, die während des morgendlichen Rituals fast greifbar gewesen war, entlud sich nun in aufgeregtem Stühlerücken und Fragen, die auf Wieland einprasselten. Der nahm die Haltung eines Kapitäns auf der Kommandobrücke ein und beauftragte Phil – offenbar um Willi für den verpassten Polizeifunk zu bestrafen. „Da gehen Sie hin, Eisenmann – es hat eine Sauerei drüben im Hafen gegeben. Auf dem Weg zur Arbeit hat heute Morgen der Lagerist eines Baumarkts einen ausgebrannten Wagen entdeckt und hinter dem Steuer eine verkohlte Leiche gefunden.“ Dabei wedelte Wieland das Fax wie ein Linienrichter eines Fußballspiels seine Fahne und fügte hinzu: „Bohren Sie nach, Eisenmann! Das kann eine heiße Kiste werden – von Fahrerflucht bis zum Mord ist da alles drin.“

5

Der Herbsttag erfüllte alle Erwartungen an das Klischee vom „goldenen Oktober“ und Anne versuchte, ihre abschweifenden Gedanken zu strukturieren, als sie sich in den Verkehr stadtauswärts einreihte. Sie würde Wieland keine weitere Gelegenheit geben, ihre Arbeit anzumahnen. Die Vorstellung des Oberbürgermeister-Kandidaten ging sie am besten gleich an. Sofort nach der Redaktionskonferenz hatte sie mit Matthias Reininger telefoniert und spontan einen Fototermin mit ihm vereinbart. Ihre Anspielung auf die klaren Farben, die das weiche Licht des Herbstes schuf, und die ein Portraitfoto im Garten besonders reizvoll machen würden, hatten ihn überzeugt.

Sie grübelte darüber, welche Motive Wieland umtrieben. Waren es ausschließlich Machtgier und Eitelkeit? Und was war ihr eigener Part in diesem Spiel? Gründete sich ihr angespanntes Verhältnis zu ihrem Redaktionsleiter möglicherweise auf der unbewussten Überzeugung, seine Position besser ausfüllen zu können?

Das Quietschen der Bremsen des roten Honda vor ihr riss sie aus ihren Gedanken. Gerade noch rechtzeitig brachte sie ihren Wagen zum Stehen. Ohne sich um die Ampelschaltung zu kümmern, überquerte ein alter Mann bei Rot den Zebrastreifen. Immerhin waren ihre Reflexe gut ausgebildet, dachte Anne.

Die Straße wurde schmaler, alte Bäume und hohe Mauern säumten sie. Die ganze Umgebung schien zu signalisieren – bitte nicht stören. In dieser Gegend war viel altes Geld unter sich und wollte es auch bleiben. Anne fand einen Parkplatz unter einer alten Platane und wappnete sich, gleich mit einer Sprechanlage diskutieren zu müssen, als sie sich nach einer Kurve vor einem kunstvoll gestalteten und vor allem offenen Gartentor wiederfand.

Ein gepflegter Kiesweg führte zu einem imposanten Backsteingebäude, einem Herrenhaus zweifelsohne. Es schien nach einem Stab von Bediensteten zu verlangen und hatte einen solchen in einer ruhmreichen Vergangenheit fraglos auch beherbergt. Anne fühlte sich seltsam befangen, als sie den Weg hinaufging, der einen gepflegten Park in zwei Hälften teilte und rechnete fast mit einem Butler nebst kleinem Tablett, auf dem sie ihre Visitenkarte zu hinterlegen hatte. Sie erreichte eine von wuchtigen Kübelpflanzen umrahmte Terrasse. Ein voluminöser Wintergarten, dessen seitliche Flügeltüren geöffnet waren, beherbergte Rattanmöbel. Auf dem kleinen Tisch zeugten eine Gießkanne, Gummihandschuhe und ein Küchentuch davon, dass sich hier jemand gärtnerisch betätigt hatte.

Sie wartete eine Weile und begann sich zu fragen, ob sie den Termin richtig genannt oder etwas anderes missverstanden hatte, als eine Frau aus dem Haus trat und sie argwöhnisch musterte. Die Frau war in den Vierzigern, schätzte Anne, konnte aber gut und gern auch jünger sein. Sie trug ein einfaches weißes Männerhemd über ausgebeulten Jeans, die nackten Füße steckten in Birkenstock-Sandalen, das lange blonde Haar war in einem nachlässig geknoteten Dutt aus dem Gesicht genommen, das von kühlen, grauen Augen beherrscht wurde.

„Das Gartentor stand offen“, begann Anne, „und ich …“

„Oh – entschuldigen Sie bitte den unhöflichen Empfang, Sie müssen Anne Michel vom Tagblatt sein, versetzte ihr Gegenüber mit so strahlendem Lächeln, dass sich Anne fragte, ob sie sich den unfreundlichen Blick nur eingebildet hatte.

„Ich bin Irene Reininger, nehmen Sie doch bitte Platz, mein Bruder telefoniert noch.“ Mit einer gewandten Geste nahm sie – inzwischen ganz Gastgeberin – die Gartenutensilien an sich und bedeutete Anne, sich zu setzen. „Trinken Sie einen Tee oder darf ich Ihnen etwas Stärkeres anbieten? Es dauert nur einen Augenblick, ich werde meinem Bruder sagen, dass Sie warten.“

Eine unerwartete Windböe, die an den Bäumen zerrte und die Vorhänge der geöffneten Terrassentür bauschte, trug den Modergeruch des Herbstes zu ihr und trieb einige verfärbte Blätter vor sich her auf die makellose Terrasse. Nach einem Blick auf die Uhr wurde Anne immer unruhiger. Sie zupfte an ihrem Haar, stand auf und setzte sich wieder. Hoffentlich gelang es ihr, noch brauchbare Fotos aufzunehmen, denn schon schoben sich Wolken vor die Sonne.

Sie hörte Türen schlagen und Irene Reininger kam endlich zurück. „Kommen Sie, mein Bruder wartet in seinem Arbeitszimmer“, forderte sie Anne auf und ging mit gemessenen Schritten voraus, Anne hätte sie gerne ein bisschen angetrieben.

Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und wandte sich um, als Anne die Tür schloss. Lediglich ein leichtes Stirnrunzeln und ein fast unmerkliches Zusammenkneifen seiner Augen verriet, dass er sie wahrgenommen hatte.

Sie erkannte ihn sofort. Der geheimnisvolle Fremde von der Ehrung im Rathaus war also Reininger. Anne sah ihn jetzt aus der Nähe und blickte in ein Gesicht, das Michelangelo hätte modelliert haben können. Es war blass unter einer Sonnenbräune, die entweder auf kürzlich verbrachte Ferientage im Süden oder auf regelmäßige Benutzung einer Sonnenbank hinwies. Sein Haarschnitt deutete auf einen Friseur hin, den sich Anne gerne gegönnt hätte.

Anne wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Es wurde beherrscht von einem riesigen Mahagonischreibtisch mit einem Ledersessel dahinter. Auf einem kleinen Tisch, um den zwei Sessel gruppiert waren, stand ein Strauß orangeroter Rosen, arrangiert mit dunkelgrünen Blättern und Zweigen roten Feuerdorns. Eine riesige Fensterfront gab den Blick frei auf den Garten, dessen Büsche in leuchtenden Herbstfarben glühten. Eine sensationelle Inszenierung, schoss es Anne durch den Kopf.

Der Mann am Fenster passte perfekt dazu. Geschmeidig kam er näher und ergriff Annes ausgestreckte Hand, während er direkt in ihre Augen schaute. „Mein Name ist Reininger“, stellte er sich vor und Anne antwortete gehorsam: „Anne Michel vom Schweinfurter Tagblatt.“

Die Art, wie er die vor ihm ausgebreitete Zeitung faltete und ihr bedeutete, ihm gegenüber Platz zu nehmen, hatte etwas Zeremonielles. Seine aristokratische Gestik wurde nicht einmal von der Schlinge gemindert, in der er einen bandagierten Arm trug. Er ist nicht übermäßig groß, stellte Anne verwundert fest und gestand sich ein, dass er zu jenen Männern gehörte, die auch die nachteiligste Kulisse zu ihrem Vorteil wandeln konnten.

„Sie sind noch nicht lange beim Schweinfurter Tagblatt?“ Tonfall und Stimme waren viel weniger eine Frage, als eine Feststellung. Anne fühlte sich kritisiert und antwortete verärgert: „Nun – dies ist nicht mein erstes Interview und man sagt mir ein gewisses Geschick im Umgang mit Menschen nach.“

Sein Lächeln kam schnell – zu schnell, um sie von seiner Echtheit zu überzeugen, auch wenn es ihn auf überraschende Weise verjüngte.

„Entschuldigen Sie.“ Reininger strich sich über die Stirn. „Ein Mann in einer so wenig präsentablen Lage“, er zeigte auf seinen bandagierten Arm, „rechnet nicht mit einer jungen und attraktiven Dame.“ Sein Tonfall wurde verhaltener. „Sie sind noch schöner, als ich Sie in Erinnerung hatte.“ Also hatte er sie auch bemerkt beim Empfang im Rathaus. „Wissen Sie, dass Sie Audrey Hepburn ähneln?“, setzte er überraschend hinzu.

„Ein schmeichelhaftes Kompliment, vielen Dank – es war doch ihre Zerbrechlichkeit, die Männer anzog.“ Annes Stimme klang belegt. „Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht gerade diese Eigenschaft mit mir assoziieren.“ Sie legte den kleinen Rekorder, den sie zu solchen Anlässen immer mitnahm, auf den Tisch. „Es stört Sie doch nicht, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?“

„Nun – alles im Leben hat seinen Preis“, antwortete er.

„Lernt man diese Lektion im politischen Leben?“, fragte sie provozierend und mit mehr Zuversicht, als sie empfand, aber er ging nicht auf ihre Herausforderung ein, trotz seines angedeuteten Lächelns.

Ohne Zweifel, es gelang Reininger, sie zu verunsichern, wobei sie noch nicht herausgefunden hatte, was ihre Verlegenheit eigentlich auslöste. Der ganze Mann schien bereits jetzt – noch vor seiner Nominierung – die pure Verkörperung von Macht. Die Siegerpose, die er einnahm, auf seinem Stuhl zurückgelehnt mit übereinandergeschlagenen Beinen, zeugte davon ebenso wie sein Geschick, sie dem Gegenlicht auszusetzen. Deshalb konnte sie auch sein unterschwelliges Misstrauen, das der gekonnten Vorstellung von Souveränität so krass widersprach, nicht einordnen.

„Sie haben sicher mit Herrn Wieland gesprochen, sodass Ihnen unsere geplante Serie geläufig sein dürfte“, begann Anne sachlich zu erläutern, um das Chaos ihrer widerstreitenden Gefühle in den Griff zu bekommen. „Wir wollen von jedem Kandidaten der anstehenden Oberbürgermeisterwahl ein kurzes Portrait im Tagblatt bringen – ein kleines Streiflicht, das nicht nur die politischen Ziele der Kandidaten, sondern auch ihre menschliche Seite beleuchten soll.“

„Sie sehen mich hier mehr als menschlich, ein Manifest des Misserfolgs, wenn Sie so wollen. Mein Unfall dürfte doch diesen Aspekt mehr als genügend berücksichtigen“, warf er ihr kurz, fast unwirsch hin, wobei er ein weißes, gestärktes Taschentuch aus der Tasche zog und sich die Stirn abwischte. Anne fragte sich gerade, wann sie zum letzten Mal ein solches Taschentuch gesehen hatte, als er aufstand und mit nervösen Schritten durch den Raum ging.

„Können wir uns darauf einigen, dass ich Ihnen meine Ziele und Vorstellungen kurz erläutere, Sie können mich dann abschließend ja gerne noch fragen, was Ihnen auf der Seele brennt“, verwies er Anne in die Rolle der passiven Zuhörerin. Sie nickte und unterdrückte das Verlangen nach einer Zigarette, das mittlerweile übermächtig zu werden begann.

„Sehen Sie, das Amt eines Oberbürgermeisters bietet eine Fülle von Möglichkeiten und Herausforderungen, die es anzunehmen gilt …“

Dabei nahm er die Zeitung vom Tisch, faltete sie und klatschte zu einem imaginären Rhythmus in seine Hände. „Unsere Stadt braucht neue Ideen – die Abhängigkeit vom Auto hat uns vor noch nicht allzu langer Zeit ein Heer von Arbeitslosen beschert. Auch der Mittelstand ist zu stärken. Wir brauchen innovative Ideen, die hoffentlich neue Arbeitsplätze bringen. Der Wirtschaftsförderung wird somit mein Hauptaugenmerk gelten müssen. Ich habe an eine eigene Stabsstelle gedacht, die ich dafür einrichten werde, sollten erst Partei und dann die Wähler mir das Vertrauen aussprechen …“

Es klopfte und seine Schwester brachte ein Tablett mit einer Kanne und zwei Tassen und stellte sie auf den Tisch.

„Sie haben sich bekanntgemacht?“, fragte er schroff.

„Ja, wir hatten bereits Gelegenheit“, entgegnete Irene Reiniger mit geheimnisvollem Lächeln, während sie formvollendet Kaffee eingoss.

„Sie trinken doch Kaffee?“, fragte er, an Anne gewandt.

„Ja, gerne, ohne Milch und Zucker“, antwortete sie artig, worauf er ihr mit einer fast intimen Geste die Tasse reichte. Seine Schwester entfernte sich auf Zehenspitzen und schloss leise die Tür.

„Darf ich Ihnen ein paar persönliche Fragen stellen“, nutzte Anne die unerwartete Nähe, die mit dem gemeinsamen Kaffee entstanden war. „Ihre politischen Ziele werden plastischer für unsere Leser und Ihre potenziellen Wähler, mit dem Menschen, der dahintersteht.“

„Fragen Sie, fragen Sie!“, entgegnete er jovial, wobei er mit einer schnellen Bewegung seinen Kaffee umrührte, „solange nicht etwa meine sexuellen Neigungen Gegenstand Ihres Interesses sind.“ Sein Lachen klang künstlich und Anne fühlte sich einmal mehr mit der Widersprüchlichkeit seines Wesens konfrontiert.

„Sie sind Jurist, soweit ich informiert bin und – verzeihen Sie meine Offenheit – die Menschen fragen sich, welche Ambitionen Sie bewogen haben, für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren, nachdem Sie augenscheinlich die Übernahme der doch florierenden Firma Ihres Vaters nach dessen Tod nicht reizen konnte …“

„Und deren Verkauf mir das Leben eines reichen Privatiers ermöglicht“, beendete er ihren Satz sarkastisch.

„Das ist es nicht.“ Anne verwünschte sich und ihre Impulsivität, die sie veranlasst hatte, gerade die Frage zu stellen, die ihn jetzt sicher wieder in sein Schneckenhaus zurücktreiben würde. In dem Bemühen um Schadensbegrenzung fügte sie hinzu: „Aber es gibt schon einige Spekulationen und ich denke, man kann ihnen mit einem offenen Wort die Spitze nehmen. Der Betrieb wurde doch auch vergrößert nach der Übernahme durch den Chemiekonzern …“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, ich bin Ihnen dankbar für diese Frage. Der Erhalt oder besser noch die Schaffung von Arbeitsplätzen war beispielsweise eine sehr wichtige Vertragsklausel beim Verkauf. Was allerdings die Gründe dafür angeht, verzeihen Sie, aber die waren sehr persönlich, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese auch als solche respektierten.“ Seine Stimme hatte einen harschen Unterton.

Ärgerlich wechselte Anne das Thema. „Ihr Interesse am Amt des Oberbürgermeisters kam überraschend“, sagte sie, „zumal doch der bisherige Stellvertreter als der Hoffnungsträger Ihrer Partei und als der Favorit des scheidenden Oberbürgermeisters gehandelt wurde – können Sie dazu etwas sagen?“

Sie stand auf und ging zum Fenster, langsam hatte sie es satt, dass ihr die Sonne ins Gesicht schien. Sofort bemerkte er ihren Stimmungsumschwung. Langsam ging er auf sie zu und ergriff mit einem warmen Lächeln ihre Hand. Anne konnte nicht umhin, seine feinen Antennen zu bewundern. Er war offenbar sensibel und ein Meister der Zwischentöne.

„Setzen Sie sich bitte wieder und seien Sie mir nicht böse – ich bin gewöhnlich nicht so ruppig“, begann er und in Anne schmolz jeder Widerstand angesichts seiner Nähe und seiner einschmeichelnden Stimme. Es war eindeutig besser, darauf nichts zu sagen, wahrscheinlich würde nur ein Krächzen herauskommen. Er schien auch gar keine Antwort erwartet zu haben, denn er fuhr leise fort: „Sie erinnern mich an frische Wäsche, die in der Sonne trocknet – und die Politik ist ein so schmutziges Geschäft. Ich denke, Sie wollen sich mit dem Procedere einer Nominierung sicher nicht belasten.“

„Wir sollten zum Zweck ihres Besuches kommen.“ Abrupt ließ er Annes Hand los. „Sie wollten mich doch fotografieren, obgleich, ich gestehe es ungern“, dabei stahl sich ein fast kokettes Lächeln durch sein Stirnrunzeln und entlarvte die Heuchelei, „ich mich dabei nicht unbedingt wohlfühle.“

„Ein Zustand des Ausgeliefertseins, nicht wahr, das Ergebnis nicht selbst bestimmen können, ist es das?“, fragte Anne und stellte fest, dass sie ihn offenbar verblüfft hatte. Seine Miene verschloss sich, er stand wortlos auf, rückte den Knoten seiner Krawatte gerade und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.

„Gehen wir in den Garten“, meinte er, vielleicht lässt sich ein passender Hintergrund finden.“

„Eher ein würdiger Rahmen, meinen Sie nicht?“, konterte Anne, „aber ich muss Sie warnen, das Auge einer Kamera ist unbestechlich und der Reiz gefärbter Büsche schmälert auf einem Zeitungsfoto eher den Gesamteindruck. Am besten wirken Kontrast und Klarheit.“ Was tat sie da, fragte sie sich. Wollte sie wirklich mit diesem Mann flirten?

Er ging voraus über ein paar kleine Stufen aus Naturstein, die zu einem Gartenteich führten und so aussahen, als lägen sie seit Jahrhunderten hier verwachsen. Bei ihren Worten hielt er unvermittelt inne. Galant reichte er ihr die Hand über die Stufen und hielt sie auch noch fest, als Anne sie längst überwunden hatte und nun direkt vor ihm stand.

Sein Blick schien sich in ihre Seele brennen zu wollen, als er raunte: „Klarheit, ja, aber nicht im Sinne harten Kontrasts, Klarheit und Frische kann ich erkennen, wenn ich Sie sehe.“ Seine Stimme klang eindringlich, als er ganz nahe an ihrem Ohr fragte: „Merken Sie auch, was mit uns geschieht?“

Anne sollte sich später immer wieder fragen, ob es diese schlichte Frage war, die ihr buchstäblich den Boden unter den Füssen wegzog oder der unerwartet feste Druck seiner Hand, als er ihr über die Stufen half. Sie hätte nicht zurückweichen können und wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Sein Kuss, entschlossen und bestimmt, nahm ihr jede Möglichkeit einer echten oder auch nur gespielten Gegenwehr.

Es war eine einzelne Rose, die ihren Blick auf sich zog und es ihr ermöglichte, sich aus dem Bannkreis des Mannes zu befreien, eine Rose so vollkommen, wie sie noch keine gesehen zu haben glaubte. Ihre äußeren Blütenblätter schienen aus matt glänzendem, altrosa Taft gemacht und ihre dunklere Innenknospe aus Samt. Eigentlich war sie erst die Verheißung der Rose, die sie werden würde. Anne ging zwei Schritte, bückte sich und sog ihren Duft ein. Wann hatte sie überhaupt zum letzten Mal an einer richtig duftenden Rose gerochen?

„Sie ist wunderschön.“ Ihr Blick suchte Matthias Reininger. Er stand unbeweglich da und beobachtete sie ernst. Nichts verriet, dass er ihre Bemerkung gehört hatte. Anne wandte sich ab. „Danke für das Gespräch“, murmelte sie und sah im Weggehen, dass am Fenster, das auf den Garten hinausging, rasch ein Vorhang zugezogen wurde. Wie lange hatte Irene Reininger sie beide wohl schon beobachtet?

Als sie schon im Wagen saß, fiel ihr auf, dass sie ihn gar nicht fotografiert hatte.

6

Es war nichts Einladendes an der Szenerie, der sich Phil Eisenmann näherte. Die zwei Polizeiwagen mit dem rotierenden Blaulicht am Straßenrand versperrten jeden Zugang. Das rot-weiße Absperrband der Polizei signalisierte ebenfalls „Keinen Zutritt“ und dennoch standen eine Menge Gaffer am Straßenrand. Die lange Wagenschlange verursachte schon einen Stau. Trotz der ungeduldigen Handbewegungen des Polizisten, bewegte sich die Fahrzeugkolonne nur schrittweise weiter.

Was treibt die Menschen zu dieser Art von Neugier, fragte sich Phil wohl zum hundertsten Mal in seiner Berufslaufbahn, und er hatte eine Reihe von Katastrophen dokumentiert. Eines war ihnen allen gemeinsam, ob Zugunglück, Brand, Verkehrsunfall oder Hochwasser: Sie zogen Schaulustige in Scharen an. Das Phänomen war nur schwer zu erklären. Billige Sensationslust allein konnte es nicht sein, eher Genugtuung, noch einmal davongekommen zu sein.

Ziehend wie unterschwelliger Zahnschmerz meldete sich sein Gewissen, dass ausgerechnet die Presse diese Sensationsgier ja schürte – ohne Sensationen keine Auflage. Er würde diesen persönlichen Konflikt heute allerdings so wenig lösen wie vorher. Entschlossen schob er sein Presseschild hinter der Windschutzscheibe ein bisschen mehr in Sichtweite und überholte die Schlange. Der junge Polizist, der den Verkehr regelte, war offenbar neu, denn sein Gesicht sagte Phil nichts. Er selbst schien von diesem allerdings erkannt zu werden, denn eine kurze Geste wies ihn hinter das Absperrband.