Hüte deine Zunge - Hallie Ephron - E-Book

Hüte deine Zunge E-Book

Hallie Ephron

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Beschreibung

Gerade erst hat Emily zwei lukrative Aufträge an Land gezogen, als die professionelle Aufräumerin plötzlich des Mordes verdächtigt wird: Denn der Tote ist der Ehemann einer ihrer neuen Kundinnen und der Tatort ein Lagerraum, den Emily entrümpeln sollte. Alles Zufall? Nein, Emily findet sich in einem fein gesponnenen Netz von Intrigen und Indizien wieder, das sich immer mehr zuzieht …

Hüte deine Zunge ist der neueste Thriller der New-York-Times-Bestseller-Autorin – spannend, überraschend und höchst unterhaltsam.

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Seitenzahl: 388

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Hallie Ephron

Hüte deine Zunge

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Meßner

Insel Verlag

Dieses Buch ist ein fiktionales Werk. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse sind von der Autorin frei erfunden oder werden ausschließlich im fiktionalen Sinn verwendet und sollen keine Wirklichkeit beschreiben. Jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, Örtlichkeiten, Organisationen sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

1 Samstag

Emily Harlow war nicht überzeugt, dass ihre Sockenschublade sie wirklich glücklich machte. Früher hatte sie ihre Socken wild durcheinander in die oberste Schublade ihres Mahagonischreibtischs gestopft, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Hatte sich bemüht, dem Mantra des Aufräumgurus zu folgen und nur Socken behalten, die »zu ihrem Herzen sprachen«. Stramm wie die Soldaten standen sie da, brav nach Anweisung paarweise zusammengelegt (die Zehen auf das Bündchen) und nach Farben aufgereiht. Monate später, frühmorgens an einem schwülheißen Augusttag, sie stand gerade in Shorts, Tank-Top und Flipflops im sonnendurchfluteten Schlafzimmer, flüsterten diese Socken ihrem Herzen zu, sie seien wohl eher Ausdruck ihres Privilegs als ihres Glücks. Wer brauchte denn so viele Socken?

Dennoch, das Sockensortieren hatte ihr Leben komplett umgekrempelt. Aus einer Laune heraus machte sie damals eine Reihe von Schnappschüssen, schnitt sie zu einem Stop-Motion-Video, einer ruckeligen Bildsequenz, die den Übergang vom Chaos zur Ordnung dokumentierte. Sie ließ Socken vor der Kamera salutieren, und zum krönenden Abschluss machte sie ein Selfie, wie sie grinsend eine Mülltüte mit ausrangierten Socken in den Altkleidercontainer warf. Überblende zum Schlussbild mit der frisch sortierten Sockenschublade. Dieses Video machte einen wirklich glücklich.

Das Bild postete sie auf Instagram. Später wurde es tausendfach gelikt und geteilt, und in der Sparte »Leute von heute« brachte der Boston Globe einen Beitrag über Emily und ihr Sockensortiervideo. Ein TV-Sender lud sie in die Talkshow des Morgenprogramms ein. Und ehe sie es sich versah, bekam sie Anfragen von Leuten, die Hilfe beim Ausmisten ihrer Schubladen und Kleiderschränke brauchten und den Prozess gern von ihr filmen lassen wollten.

Das war kurz vor Schuljahresende gewesen, als ihr jeder Vorwand recht war, um im darauffolgenden Herbst mit dem Unterrichten aufzuhören. Früher hatte sie gern unterrichtet. Hatte nichts lieber getan, als im September das Klassenzimmer einzurichten. Ihren Materialienschrank auszumisten und mit Tonnen von Papier und Kunstmaterialien auszustatten. Fünfundzwanzig rotwangigen Drittklässlern zu begegnen und sie mit den Wundern der Bruchrechnung vertraut zu machen, mit dem Sonnensystem und mit Schweinchen Wilbur und seine Freunde. Aber nachdem sie nun schon ganze acht Jahre das Schulsystem von East Hartwell ertragen hatte, in dem sich alles nur um Prüfungen drehte, und sie sich noch um die wohlmeinenden Eltern kümmern musste, denen Grammatik und Aussprache wichtiger waren als Kreativität und Problemlösungskompetenz, war das Unterrichten nicht länger etwas, das ihr wirklich am Herzen lag. Jedenfalls nicht auf die unkomplizierte Art des Sockensortierens.

Die überwältigende Reaktion auf ihr Video und die Aussicht auf viele zahlungswillige Kunden, deren Leben sie ausmisten durfte, fühlten sich an wie ein kleines Wunder. Emily reichte unverzüglich ihre Kündigung ein, verbrannte stapelweise Lehrpläne und Notenspiegel, verschenkte tonnenweise Lehrhandbücher und Unterrichtsmaterialien. Ihre große Hoffnung war es, nie wieder den Geruch von Whiteboard-Markern ertragen oder Wellpappe auf Pinnwände heften zu müssen.

Dass Frank, ihr Ehemann, sie darin unterstützte, hatte sie angenehm überrascht: Mach es einfach. Geh das Risiko ein. Gib dem Ganzen ein Jahr und schau, was passiert. Dabei zahlten sie immer noch die Kredite ab, mit denen Frank und sein bester Freund, Ryan Melanson III., eine Anwaltskanzlei eröffnet hatten. Die Höhen und Tiefen, die mit der Gründung des neuen Unternehmens einhergingen, waren ein Spaziergang im Vergleich zu der emotionalen Achterbahnfahrt, die sie und Frank gerade erlebten, weil sie sich beide ein Kind wünschten.

Allerdings war Frank nicht wohl dabei, dass sie zu fremden Leuten nach Hause ging. Man wusste ja nie. Daher hatte er auf ihrem Smartphone die Ortungsfunktion aktiviert, damit er nach ihr suchen konnte, falls sie nicht nach Hause kam, und ihr eine babyblaue Elektroschockpistole von der Größe einer TV-Fernbedienung besorgt. Erst ein Mal hatte sie sie ausprobiert, und die Funken und das Knattern der Lichtblitze hatten sie fast zu Tode erschreckt. In der Hoffnung, sie nie benutzen zu müssen, hatte sie die Pistole in der Tasche mit ihrer Ausrüstung verschwinden lassen.

Emily gründete das Unternehmen zusammen mit ihrer besten Freundin Becca Jain, einer ehemaligen Krankenschwester, die zunächst als Sozialarbeiterin und später als Coach tätig gewesen war. Sie besaß ein großes Talent, die Kunden an die Hand zu nehmen und bei Laune zu halten, wenn sie den persönlichen Besitz loslassen mussten, was für einige höchst schmerzhaft war. Erfahrungsgemäß trennten die Menschen sich leichter von der Herde heißgeliebter Plastikpferde, die sie als Achtjährige gesammelt hatten, oder von dem fließenden Chiffonkleid vom Abschlussball, wenn sie ein Bild davon behalten konnten, gespeichert in einem digitalen Archiv. Emily erstellte Stop-Motion-Videos, in denen sie das allmähliche Schwinden des Besitzes dokumentierte. Sie und Becca nannten sich selbst die Stop-Motion-Krempel-Kicker, ihr Logo war ein hochhackiger Stiefel, der einem kaputten Videotape einen Tritt versetzte.

Emilys Sockenvideo hatte ihnen einen erfolgreichen Geschäftsstart beschert. Jetzt wollte sie ein Video übers Kleiderschrankausmisten drehen, um weitere potenzielle Kunden anzulocken.

»Emmy, ich bin dann mal weg!«, rief Frank von unten. Als sie nach oben gegangen war, hatte er noch in der Küche gesessen und Gartenflohmarktanzeigen gelesen, die er sich von Craigslist und Facebook ausgedruckt hatte. Jeden Samstag legte er mit militärischer Präzision eine Route fest und verließ spätestens halb acht das Haus, denn wenn es hieß: keine Frühaufsteher, stimmte das angeblich nie.

Emily verließ das Badezimmer und durchquerte den Flur im ersten Stock, der recht schmal war wegen der mit Franks Büchern vollgestopften, wandfüllenden Regale. Weiter ging's durch die Tür in einen ursprünglich als Gästezimmer geplanten Raum, der sich jedoch in Franks Lagerraum verwandelt hatte.

Als sie zum Treppenabsatz trat, schickte Frank ein breites Grinsen zu ihr hoch. Wenn er zu Gartenflohmärkten ging, sah er in seiner abgerissenen Levi's und dem T-Shirt, das Emily ihm hatte fertigen lassen, höchst unanwaltlich aus. Das Shirt zierte ein Cartoon aus dem New Yorker: Ein älterer Mann liegt auf dem Pflegebett und sagt zu der Frau, die seine Hand hält: »Ich hätte mehr Krempel kaufen sollen.«

»Brauchst du was?«, fragte Frank und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

»Keine Schlafzimmer-Sets«, sagte sie.

Frank leckte den Zeigefinger und löschte es in der Luft wie von einer Tafel.

»Aber eine Salatschleuder könnte ich gebrauchen.«

Er salutierte und ließ die Hacken knallen.

Emily kehrte ins Schlafzimmer zurück. Ihre Bitte, kein Schlafzimmer-Set mitzubringen, war eigentlich kein Scherz gewesen. Sie hatte Frank im Verdacht, in der Garage und im Keller einige Kopfteile und Bettgestelle zu bunkern, ganz zu schweigen von den Schreibtischen und Frisierkommoden. Leichtere Fracht – also Radios und kleinere Geräte aller Art (er hatte eine Leidenschaft für klassische Metallföns und Soda- und Milchshake-Maker mit Porzellansockel) – schleppte er heimlich auf den Dachboden, wenn er dachte, dass sie nichts mitbekam. Zog Emily sich in ihr winziges Arbeitszimmer in ersten Stock zurück, mit weißen Plisseerollos, dem Becher mit frisch gespitzten Bleistiften (die sie nie benutzte, aber gern ansah) und den wohlgeordneten Aktenordnern, spürte sie trotzdem, wie Franks Fundstücke ruhelos zum Leben erwachten wie das Besen-Heer des Zauberlehrlings aus Disneys Fantasia, das aufmarschiert, um ins Haupthaus einzudringen.

Nicht alles war wertloser Kram. Vergangene Woche erst hatte er das Originalcover einer Ausgabe seines Lieblings-Horror-Comics Creepy ergattert. Das signierte Aquarell hatte sich zwischen den Seiten eines Sammelalbums für zwei Dollar versteckt. Emilys Geschmack traf es nicht gerade – ein haariges Monster mit gebleckten Zähnen und erhobener Faust, das eine vor ihm kauernde üppige Blondine bedrohte. Doch als Emily den Künstler recherchierte, entdeckte sie, dass einige der Originalcover mehrere tausend Dollar wert waren.

Wie aufs Stichwort begann das Haus zu erzittern. Emily hörte die Hintertür zuknallen. Sie ging zum Fenster und sah in die Auffahrt hinunter. Schwerfällig rumpelte Franks alter Chevy Suburban (zu Flohmärkten fuhr er nie mit dem BMW Z4) rückwärts auf die Straße hinaus.

Wähle deine Schlachten, lautete der weise Ratschlag, den ihre Mutter ihr am Hochzeitstag gegeben hatte, und genau das hatte sie versucht. Der Ironie, dass sie hier im ersten Stock Sachen aussortierte, während Frank zum Jagen und Sammeln in die Welt hinauszog, war sie sich durchaus bewusst. Sie betrachtete es gern als eine Art Nullsummenspiel, auch wenn die ausgemisteten Kleider nichts waren im Vergleich zu dem Krempel, den er bald wieder ins Haus schleppen würde.

Doch darauf herumzureiten war sinnlos. Es gab schlimmere Hobbys als Franks zwanghaftes Garten-Flohmärkte-Abklappern, und ändern würde er sich gewiss nicht. Außerdem musste sie in die Puschen kommen. Becca und sie hatten am Nachmittag einen Termin mit einer neuen Kundin, und die Fertigstellung dieses Videos würde sie noch einige Stunden kosten.

Zunächst musste eine Eingangsszene her. Durch den Kamerasucher warf sie einen Blick ins Innere ihres Kleiderschranks. Auf einer einzigen Stange drängte sich ihre Garderobe, Winterkleidung auf der einen Seite, Sommerkleidung auf der anderen. Schuhe und Handtaschen bildeten einen Haufen auf dem Boden. Selbst für Drillinge wären es mehr, als sie gebrauchen konnten.

Sie schoss ein Bild. Als Nächstes musste sie die Kamera fixieren, um die Stop-Motion-Serie aufzunehmen. Sie schraubte sie auf ein Stativ, das sie in die Ecke stellte, und brachte beidseitig am Bett LED-Lichter an, damit es keine Schatten gab. Ließ die Rollläden herunter. Zündete auf der Fensterbank eine Kerze an. Die Kerze sollte helfen, sich zu sammeln und inneren Frieden zu finden. Zudem wurde sie im Lauf des Filmens immer kleiner, sodass der Zuschauer eine Orientierungshilfe bekam.

Nachdem sie alles hergerichtet hatte, nahm Emily ein Kleiderbündel nach dem anderen aus dem Schrank und stapelte alles auf einer Seite des Kingsize-Bettes. Für die ausgemusterten Kleider breitete sie drei leere Plastikmüllbeutel auf dem Boden aus und warf die verwaisten Kleiderbügel außerhalb des Sichtfeldes der Kamera in eine Ecke.

Dann sah sie sich den Haufen durch den Sucher an. Als die Kleider noch auf den Bügeln hingen, schien die Aufgabe fast nicht zu bewältigen, aber der Anblick des Haufens auf dem Bett war restlos entmutigend. Sie stellte Fokus und Belichtung ein und trat einen Schritt zurück, um sicherzustellen, dass sie nicht mit aufs Bild kam. Sie betätigte die Fernbedienung der Kamera und hatte gleich die erste Aufnahme ihrer Animation im Kasten – das große Chaos. Von jetzt an bis zu dem Moment, da sie den Kleiderstapel sortiert haben würde, musste die Kamera exakt an Ort und Stelle bleiben, und Emily durfte nicht an die Lampen stoßen.

Emily schnappte sich das oberste Kleidungsstück, eine gefütterte Wollhose mit Umschlag, ein Anachronismus in der heutigen Zeit der Leggings und Jeans. Sie breitete die Hose auf dem Bett aus. Machte eine Aufnahme. Fuhr mit der flachen Hand über die Oberfläche. Klick. Strich sie glatt. Noch mal klick. Behalten oder wegwerfen? Einfache Entscheidung. Mottenlöcher und eine sich allmählich auflösende Naht machten niemanden glücklich.

Sie kreuzte die Hosenbeine. Klick. Verkrumpelte sie. Klick. Warf die Hose in eine Mülltüte und machte eine letzte Aufnahme der leeren Fläche auf dem Bett. Dann sah sie sich die einzelnen Bilder der Sequenz an, um sicherzustellen, dass sie scharf und klar waren.

Nächstes Kleidungsstück: eine seidenartige weiße (Polyester-)Bluse mit einer Bohème-Schleife (allein das Wort ließ Emily zusammenzucken). Alljährlich zum ersten Schultag hatte sie diese Bluse getragen. Es war ihre Version einer Power-Krawatte, mit der Schleife sollte noch dem aufmüpfigsten Kind klargemacht werden, dass mit dieser Lehrerin nicht zu spaßen war.

Keine ersten Schultage mehr, kein Auftrumpfen vor Achtjährigen, somit auch kein Bedarf mehr für eine Bluse mit Bohème-Kragen. Und das Beste war, sie musste nicht mehr ihre Zeit damit verschwenden, die hohe Kunst des Ausfüllens von Sprechblasen auf Lösungsblättern zu lehren.

Zunächst machte Emily ein Bild von der Bluse mit ungebundener Schleife. Es folgten weitere – mit gebundener Schleife, mit aufgebundener Schleife, dann mit über der Brust gekreuzten Ärmeln, als wollte die Bluse sie auffordern, sich zu entscheiden. Und schließlich: weg damit.

Kurzen Prozess machte sie mit drei kastenförmigen, zweireihigen Blazern (einer rot, einer schwarz, einer marineblau). Erst reihte sie sie auf wie Soldaten. Klick. Dann ließ sie einen nach dem andern den Arm zum spöttischen Salut heben. So arbeitete sie sich durch den Kleiderstapel und warf auch das Brautjungfernkleid weg, das sie zu Beccas Hochzeit getragen hatte.

Gerade stopfte sie das Kleid in die Mülltüte, als sie den Kies auf der Auffahrt knirschen hörte. Sie trat zum Fenster und zog das Rollo hoch. Frank war wieder da. Der SUV parkte in der Auffahrt. Die Tür ging auf, und Frank stieg aus.

Von oben konnte sie die kahle Stelle erkennen, über die er immer sorgfältig die Haare kämmte. Offensichtlich hatte er etwas eingekauft, denn er beugte sich zum Griff der Kellerluke, die ins Untergeschoss führte. Quietschend öffnete er die Metalltür.

Auf dem Weg zurück zum Auto sah Frank zu ihr hinauf und winkte. Sie winkte zurück und ließ das Rollo hinunter. Was er da ins Haus schleppte, wollte sie gar nicht sehen.

Nach einem weiteren Bild des nur wenig geschrumpften Kleiderstapels griff sie nach einem türkisfarbenen Jumpsuit mit Reißverschluss, den sie in einem Second-Hand-Laden in Venice Beach gekauft hatte. Damals, frisch vom College und mit abgeschlossenem Lehrdiplom, war sie ein anderer Mensch gewesen. Und Frank ein idealistischer, frischgebackener Anwalt, der sich für Menschenrechte und Gleichberechtigung einsetzte und kurze Zeit später für zwei Jahre als Pflichtverteidiger in einem Anwaltsbüro in Massachusetts zu arbeiten begann. Venice Beach mit den alternden Hippies und Secondhand-Läden hatte sich zu einem Viertel der Hipster, Yoga-Studios und Sauerstoffbars gewandelt. Ob Frank sich wohl noch an den unglaublichen Sex erinnerte, den sie auf der überdachten Veranda eines Freundes gehabt hatten, mit Blick auf den Kanal? Gedankenfreien Sex. Sex ohne Blick auf den Kalender und ohne Temperaturmessen.

Jahre war das her, damals hatte sie geglaubt, ein Baby bekäme man einfach so. Sie hatte sich keine Gedanken über Bohème-Schleifen und Blazer gemacht, und nicht im Traum wäre ihr eingefallen, Frank werde ihr Haus zunehmend mit Krempel füllen.

Würde er ihr doch nur ein Mal gestatten, ihren Aufräumzauber auf seinen Kram anzuwenden, dachte Emily beim Blick auf die überquellenden Schreibtischschubladen. Die Kleiderschranktür ließ sich auch schon nicht mehr schließen. Franks in Kleidertaschen gequetschte »Anwaltsanzüge« könnten viel mehr Raum zum Atmen haben, wenn er nur …

Sinnlos, den Gedanken zu vollenden. Beim Entrümpeln gab es eine eherne Regel: Du darfst nur deinen eigenen Scheiß ausmisten. Und lagen sie an einem faulen Sonntagmorgen Haut an Haut in der Löffelposition, schien ihr das auch gar nicht mehr wichtig.

Sie griff nach dem Jumpsuit und hielt ihn sich vor dem lebensgroßen Spiegel an der Tür unters Kinn. Er erinnerte sie an eine reizvollere und nicht ganz so mausgraue Version ihrer selbst. Dass sie ihr altes Ich auf ihrem Weg vom Freigeist zur Grundschullehrerin und anschließend zur professionellen Ordnungsexpertin in den Mülleimer geworfen hatte, war ihre große Hoffnung.

Den Jumpsuit warf sie aufs Bett. Machte ein Foto.

Hätte es sich verhindern lassen, dass Frank zum fanatischen Sammler mutierte? War es vielleicht sogar genetisch bedingt? Als sie vor Jahren bei der Auflösung des Zwei-Zimmer-Apartments von Franks Großvater geholfen hatte, waren sie auf Stapel von Zeitungsausschnitten gestoßen, die bis in die vierziger Jahre zurückreichten. Und was tat ein Mann, der sich, außer für die Hochzeit, nie herausgeputzt hatte, mit all den in zwei Reihen im Schrank hängenden Anzügen und Sportjacken? Wie sich herausstellte, waren die Taschen ein elaboriertes Ablagesystem. Nach einem beherzten Griff in die Brusttasche einer Sportjacke hatte Frank eine Handvoll solider Vierteldollarmünzen und Dimes herausgeholt. Eine Ein-Dollar-Note mit Fehlprägung steckte in der Hosentasche. Ein Penny, eingewickelt in ein Stück Toilettenpapier, trug einen doppelten Datumsstempel. Ansonsten zählten eine wertlose Sammlung von Topfhaltern der New Yorker Weltausstellung von 1964 sowie Berge von Hotelseifen und Shampoos zu den Schätzen seines Großvaters. Frank hatte das wahrscheinlich alles aufbewahrt, und nur Gott und Frank wussten, wo.

Bei ihrer Hochzeit hatte Franks Mutter ihr im Vertrauen erzählt, das erste Wort ihres Sohnes sei »meins« gewesen. Damals hatten Franks besondere Fähigkeiten den Ausschlag gegeben und sie über das, was Emily für eine skurrile Sammelleidenschaft hielt, hinwegsehen lassen. Er sah höllisch gut aus, hatte dieses Eine-Million-Dollar-Lächeln. Er war klug. Er lachte über ihre Witze. Und er hatte nicht tausend Affären wie sein Anwaltspartner Ryan, der seine neue Freundin, nachdem er sich erst kürzlich von Frau Nummer zwei getrennt hatte, auch schon wieder betrog.

Sie widmete sich wieder dem Jumpsuit. Strich noch einmal über den weichen Stoff, während sie sich vorstellte, es sei Frank. Zärtlich glättete sie ihn. Zog die Schultern gerade. Strich die Falten aus den Beinen. Behalten oder wegwerfen?

Noch während sie darüber nachdachte, vernahm sie einen dumpfen Knall. Wahrscheinlich war die stählerne Kellerluke zugefallen. Sie blickte aus dem Fenster und sah Frank gerade noch ins Auto steigen. Gleich darauf erschallte im Haus ein lautes, misstönendes Krachen. Das Echo schickte einen Schauder Emilys Rücken hinunter. Was um Himmels willen hatte er dieses Mal angeschleppt?

2

Emily stand auf dem oberen Treppenabsatz und lauschte. Es gab einen leiseren, fast musikalischen Nachhall, doch ein Klirren wie von zerschellendem Glas ließ sie die Treppe hinuntereilen. Sie durchquerte die Küche, ihr Reich, mit den weißen Wänden, den Schränken mit Glasfront und den marineblauen Resopal-Arbeitsplatten. In dem langen, schmalen Regal standen die Gewürze in alphabetischer Reihenfolge. Selbst die Putzmittel, unterm Spülbecken versteckt, waren ordentlich in die beiden Fächer eines Drahtgeflecht-Regals einsortiert. Es roch nach Kaffee und Spüli.

Durch den kleinen Waschraum ging Emily weiter bis zur Tür zum Keller. Zögernd blieb sie stehen. Sie hatte keinen Grund, in den Keller zu gehen, es sei denn, die Sicherung war durchgebrannt. Sie öffnete die Tür, starrte in die unergründliche Dunkelheit und lauschte. Stille und Feuchtigkeit. Ein kalter Lufthauch wehte zu ihr herauf. Sie drehte das Licht an und wartete, bis die Energiesparlampen flackernd aufleuchteten und langsam heller wurden.

Auf den ersten Blick war klar, dass Frank diese Treppen nicht als schnellen Zugang zum Kellergeschoss nutzte: Sämtliche Stufen waren mit Kisten und Taschen vollgestellt. Ein »MAD-Spiel« des MAD-Magazins lugte aus einer Box. Frank hatte eine Schwäche für Alfred E. Neumann. Emily griff in eine der Taschen und zog einen alten Horror-Comic heraus, Geschichten aus der Gruft. Vorsichtig legte sie ihn wieder zurück. Jetzt roch ihre Hand nach Schimmel.

Nachdem sie einen schmalen Durchgang freigeräumt hatte, bahnte sie sich einen Weg durch den Keller, hinüber zur Wand mit der Lukentür. Dabei kam sie an einem kufenlosen Schaukelstuhl vorbei, auf dem das Skelett saß, das sie immer an Halloween vor die Tür stellten. Eine Tischtennisplatte mit gestapelten Bilderrahmen, zwei lebensgroße Keramikkatzen, die ein Schüler ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, ein grinsender grellbunt kolorierter Glasclown, ihr Gewinn bei einer Tombola, und ein Stapel 3-Ring-Binder. Die Bilderrahmen hatte Frank auf privaten Flohmärkten gekauft, aber die Binder, den Clown und die Katzen hatte Emily eigenhändig für die Sammlung einer Hilfsorganisation vors Haus gestellt. Offensichtlich hatte Frank damit andere Pläne.

Bisher hatte sie nichts entdeckt, womit der Krach hätte erklärt werden können. Sie war beinahe schon auf der anderen Seite angelangt, als ihr eine Art lebensgroße, golden angemalte Harfe ins Auge fiel. Bei näherer Betrachtung erwies es sich als der gusseiserne Rahmen eines Klaviers. Um von einem Flügel zu stammen, war er zu klein, aber doch recht eindrucksvoll. Sogar sie wusste die Schönheit des anmutig geschwungenen Rahmens zu schätzen, der größere und kleinere kraterartige Löcher aufwies. Am Rand waren die Buchstaben muskegon mich eingeprägt. Das arme Ding war weit weg von zu Hause. Der Rahmen lehnte an einem Beistelltisch, der Boden ringsum war übersät mit zerbrochenem Glas und Porzellan. Sie versuchte ihn zu verrücken, doch für sie allein war er zu schwer. Frank würde sich darum kümmern, wenn er zurück war. Oder auch nicht. Es war nicht ihr Problem.

Emily stieg die Treppe hinauf und kehrte zurück in die Küche. Im Trockenständer auf dem Tresen lag eine blaue Salatschleuder aus Plastik. Wahrscheinlich hatte Frank sie ihr mitgebracht. Er hatte sie sogar gewaschen. Sie setzte den Deckel auf und ließ sie ein paar Umdrehungen machen. Ein stechendes Schuldgefühl überkam sie. Wenn Frank eine Salatschleuder für sie erbeuten konnte, wäre den Dreck im Keller aufzufegen doch das Geringste, was sie für ihn tun konnte. Das dürfte in einer Minute erledigt sein.

Mit Besen, Kehrschaufel und einer Papiertüte bewaffnet kniete sich Emily neben den Klavierrahmen und begann, die Scherben aufzukehren. Es war eine Mischung aus Glas und Porzellan, vielleicht von einer Vase und Weingläsern. Sie warf eine Schaufelvoll in die Mülltüte, dann watschelte sie in der Hocke weiter. Nieste, kehrte noch mehr Scherben auf, warf sie ebenfalls in die Tüte.

Sie streckte sich, presste die Schulter gegen den Beistelltisch, und während sie versuchte, die letzten Scherben zu erreichen, ging die Kellerluke auf. Licht strömte herein, und eine angenehme Brise. Emily hob den Blick und erkannte Franks Umriss. Er kam die Treppe herunter, das helle Haar ein lichter Heiligenschein, und duckte sich unter dem Türrahmen hindurch. Der Blick war in eine sehr große, braune Mappe gerichtet. Diesen gierigen Blick kannte sie. Er hatte etwas ergattert.

»Hey, Frank«, sagte Emily.

Überrascht sah er auf und linste in ihre Richtung. »Emily?«

»Was hast du gefunden?«

»Was machst du da unten?«, fragte er, klappte die Mappe zu und verschloss sie. Emily schien, als wollte er sie verstecken. Vielleicht hatte er zu viel bezahlt.

Sie stand auf. Oder versuchte es vielmehr, kam aber ins Straucheln und kippte nach hinten. Sie ließ die Tüte fallen und stützte sich auf den Beistelltisch, um wieder ins Gleichgewicht zu gelangen. Das hielt der Tisch nicht aus. Er zerbrach und knickte in der Mitte ein. Wie in Zeitlupe rutschte der Rahmen, der daran gelehnt hatte, zur Seite weg. Emily warf die Arme über den Kopf und kauerte sich hin, zuckte bei dem Krach zusammen, dem eine ohrenbetäubend laute Version des lange nachhallenden Misstons folgte, den sie schon oben gehört hatte.

Der Staub legte sich wieder, und Emily hob den Blick. Stumm und verdutzt starrte Frank sie an. Schließlich sagte er. »Himmel, Arsch und Zwirn! Bist du verletzt?«

»Ich glaube nicht.« Emily richtete sich langsam wieder auf. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie einen Flip-Flop verloren hatte, und dass der nackte Fuß zwischen dem Klavierrahmen und etwas, das unter dem Beistelltisch gestanden hatte und aussah wie eine Kirchenbank für vier Personen, eingeklemmt war. Sie versuchte, ihren Fuß freizubekommen, erreichte aber nur das Gegenteil. »Autsch! Verdammt!« Sie sah zu Frank hinüber. Dieser durchwühlte die Scherben, die sie in die Tüte gekehrt hatte. »Frank, kannst du mir helfen? Ich stecke fest.«

Franks Telefon meldete sich mit einem Pling. Er zog es aus der Tasche und sah aufs Display. Wahrscheinlich ein Alarm, der ihn erinnern sollte, nicht zu spät zum nächsten Flohmarkt aufzubrechen. Er lächelte.

»Frank! Ich bitte dich! Ich komme einfach nicht …« Emily versuchte, den Fuß ein Stück freizubekommen, doch der Klavierrahmen rutschte weiter, prallte auf die Kirchenbank und ihren nackten Fuß. Emily schrie vor Schmerz auf und zog den Fuß heraus. Der Klavierrahmen krachte auf den Betonfußboden und brachte mit donnerndem Getöse einen Stapel Kisten zum Kippen.

»Autsch, autsch, autsch.« Emily hüpfte herum und hielt sich ihren verletzten Fuß.

»Emmy.« Frank ließ die Mappe fallen und eilte zu ihr, packte sie unter den Armen und zog sie von dem Gussrahmen und dem zerbrochenen Beistelltisch weg. »Geht's dir gut?«

Nein. Emily schüttelte den Kopf. Ihr Fuß pochte.

»Was machst du überhaupt hier unten?«

»Ich war oben. Da habe ich einen lauten Krach gehört und wollte nachschauen, was passiert ist.«

Kurze Stille. »Und was ist … passiert?« Sein Blick wanderte von dem Besen, der auf der Seite lag, zu der Tüte mit den Scherben und weiter zu den zerbrochenen Teilen überall auf dem Boden. Dann zurück zu Emily. Behutsam untersuchte er ihren Fuß. Er sah übel aus, war über dem Rist bereits blau angelaufen.

»Das tut höllisch weh.« Sie jaulte auf bei dem Versuch, ihren Fuß anzuwinkeln. Wenigstens hatte sie nicht das Gefühl, es sei etwas gebrochen.

Frank half ihr hoch. Vorsichtig stellte sie den verletzten Fuß auf und verlagerte ein wenig das Gewicht darauf. Kein Schmerz, der ins Bein schoss. »Das musst du sofort mit Eis kühlen«, sagte Frank. Er schob die Kisten von der Treppe, um Platz zu schaffen, schlang den Arm um ihre Taille. Sie lehnte sich an ihn und erklomm vorsichtig die erste Stufe. Dann noch eine.

»Ich habe den Lärm gehört«, sagte Emily. »Da bin ich runter, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist. Als ich das Chaos sah, habe ich nur …«

»Ich weiß. Saubergemacht. Ordnung gemacht«, sagte er und half ihr noch eine Stufe hoch. »Das machst du immer. Genau wie meine Mutter.«

Emily hielt mitten im Schritt inne. Franks Mutter war wirklich eine nette Person, aber im Grunde war Frank das Einzige, was sie und Emily gemein hatten. Wie dem auch sei, immer wenn sie in einem Streit an diesem Punkt angekommen waren, lenkte Frank das Thema auf die arme Frau. Sobald er aufs College ging, hatte seine Mutter in seinem Zimmer klar Schiff gemacht. Hatte seinen Kleiderschrank ausgemistet. Seine Schubladen. Hatte seine heißgeliebten Comics weggeworfen. X-Men #1. Spider-Man. Miracleman. Sie hatte seine Spielfiguren von Voltron, He-Man und StarWars in den Müll gekippt, zusammen mit einem ganzen Haufen Transformers-Bauklötzen.

»Deine Mutter …«, wollte Emily schon loslegen.

»Ich weiß«, sagte Frank mit einem nachsichtigen Lächeln. »Sie kann nicht anders.«

»Du bist es, der nicht anders kann«, schoss Emily zurück. »Du hast dieses … dieses … nutzlose Monster hier runtergeschleppt und einfach irgendwo abgestellt. Völlig ungesichert. Das musste ja zu einem Unfall führen.« Sie drehte sich um und starrte auf den gestapelten Plunder auf den Treppenstufen und im Kellergeschoss. »Welcher vernünftige Mensch braucht denn so viel Krempel? Hier liegt so viel Zeug rum. Und du kommst nicht mal dran. Wozu ist das gut? Das ist doch krank.«

Frank war fassungslos. »Ich bin also krank?« Er ließ sie los und ging weiter. »Mit mir ist alles in bester Ordnung. Du bist diejenige, die allergisch …« Er verstummte.

Hätte er tatsächlich die Ergebnisse ihres Fruchtbarkeitstests als Argument für seinen Plunder angeführt? Während Emily sich mit eigener Kraft die letzten Treppenstufen hinaufschleppte und Frank in die Küche folgte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Er öffnete den Kühlschrank, nahm einen Eiswürfelbehälter und knallte ihn in die Spüle. Einige Stücke schlitterten über den Fußboden. Er sammelte eine Handvoll davon auf und packte sie in ein Geschirrtuch.

»So, jetzt weißt du's«, sagte Emily. »Ich kann dein Gerümpel nicht ausstehen. Ohne Ausnahme. Ich finde es grauenvoll, dass du nichts wegschmeißen kannst. Oder weiterschenken. Dass du immerzu den Krempel anderer Leute anschleppen musst. Und es macht mich wahnsinnig, zu wissen, was du alles auf unserem Dachboden gebunkert hast. In unserer Garage. In unserem Keller. Ich habe das Gefühl, das wächst alles, immerzu. Vermehrt sich!« Sie holte in abgehackten Atemzügen Luft. »Im Gegensatz zu uns.«

3

Frank schrak zusammen, als habe ihn etwas gestochen. Emily war ebenfalls überrascht. Jäh und unbedacht waren die letzten Worte aus ihr herausgeplatzt. Frank ließ die Eisauflage auf den Küchentisch fallen, stürmte aus dem Haus und ließ die Tür hinter sich zuknallen. Emily sank in einen Stuhl und presste sich die Eisauflage seitlich aufs Gesicht. Sie wartete, bis die Kälte schmerzte und sie es nicht länger aushielt.

Vorsichtig hob sie das Bein und legte ihren Fuß auf den Küchenstuhl. Der Rist hatte blaue Flecke und war geschwollen, aber den Knöchel konnte sie drehen. Sie packte die Eisauflage auf die Stelle, die es am schlimmsten getroffen hatte. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.

Sie hätte Frank nicht angreifen dürften. Wenn sie seinen Krempel so sehr verabscheute, war das fast, als würden seine Nase oder sein Lächeln ihr nicht gefallen. Und seine Sammelwut war auch keine Überraschung, nicht nach acht Jahren Ehe. Doch die Bemerkung über das Fruchtbarkeitsproblem – ihr Fruchtbarkeitsproblem, wie er es genannt hatte – war gemein und gedankenlos gewesen. Vor wenigen Wochen, als die jüngsten Testergebnisse kamen, hatte Frank erleichtert gewirkt, dass vielleicht wirklich etwas nicht stimmte, es aber nicht sein Fehler war. Emily produzierte Antikörper gegen Franks Spermien. Sie hatte mit Frank darüber reden wollen, was sie als Nächstes unternehmen sollten, aber er hatte sie abgewimmelt. Zu müde. Zu beschäftigt. Nur Flohmärkte waren ihm nie zu viel.

Womöglich war er sogar erleichtert, denn der Gedanke, eine Familie zu gründen, hatte ihn nie so sehr begeistert, wie er vorgegeben hatte. Vielleicht war es aber auch ihre Ehe, von der er nicht begeistert war. Hier gebot Emily ihren Gedanken Einhalt, es schnürte ihr die Kehle zu.

Eine halbe Stunde später saß sie in ihrem Schlafzimmer, um den Fuß den improvisierten Eisbeutel. Im Geiste ging sie die Männer durch, mit denen sie vor Frank zusammen war. Da war zum einen Brad, der Student im Aufbaustudium, der sie immer zu spät am Flughafen abgeholt hatte, wenn sie ihn in Berkeley besuchte. Er trainierte in einem Volleyballteam und zum Saisonende war ihr Spiel in die Verlängerung gegangen. In eine dreistündige Verlängerung. Dann Richard, der Anwalt. Er hatte sie zwar sehr nett behandelt, war aber mit Bedienungen und Verkaufspersonal unerträglich grob umgesprungen. Ed, der Ingenieur, der den Klimawandel für Schwindel hielt und Ronald Reagan für die Wiederkunft des Herrn. Jim, der … vielleicht war es nicht fair, ihn mitzuzählen. Ihr Kontakt hatte im Wesentlichen aus anzüglichen Textnachrichten bestanden und einem Foto, von dem sie wünschte, sie hätte es nie gesehen.

Im Vergleich zu ihnen allen war Frank ein Prinz. Ja, er hatte seine Schwächen. Aber er vergaß nicht, dass sie eine Salatschleuder brauchte.

Tränen traten ihr in die Augen, als sie das Hochzeitskleid – ein kurzes, weißes, ärmelloses Seidenkleid mit V-Ausschnitt und einem Bund zarter (und mittlerweile zerdrückter) auf das Mieder genähter pinkfarbener Seidenblümchen – von dem schon ziemlich geschrumpften Kleiderstapel zog. Sie blickte zum Schreibtisch hinüber, zum Hochzeitsfoto: neben ihr, stark und gutaussehend, Frank, wie er ihr auf eine etwas dümmliche Art liebevoll in die Augen sah.

Schon bei der Hochzeit hatte sie gewusst, dass Frank nicht perfekt war, aber sie liebte ihn dennoch. Sie würde dieses Kleid gewiss nie wieder tragen, trotzdem legte sie es beiseite, um es in den Schrank zurückzuhängen. Vielleicht würde sie ja eines Tages eine Tochter haben, dann könnte sie es ihr in die Verkleidungskiste packen.

Ein kleines Mädchen. Emily schluckte schwer.

Es war drei Uhr, als sie ein letztes Mal die Kerze fotografierte, die einige Zentimeter heruntergebrannt war. Sie blies sie aus und schoss noch ein Foto. Während sie das Teleskop zusammenschob, meldete sich mit einem Pling ihr Telefon. Becca, pünktlich wie immer.

Treff dich in einer halben Stunde beim Park ‌'n' ‌Ride.

Emily schrieb zurück.

Breche in fünf Minuten auf.

Sie schlupfte in ein frisch gewaschenes T-Shirt mit himmelblauem Kragen, auf dem seitlich das neue Geschäftslogo gestickt war, außerdem Baumwollhosen mit Kordelzug. Die dazugehörige Baseballmütze, die, wie sie zugeben musste, ein wenig bescheuert aussah, lag in ihrer Packtasche. Sie versuchte ihren Fuß in den blauen Sneaker zu zwingen, der zur offiziellen Kombi gehörte, aber es tat zu weh. In den nächsten Tagen würde sie diese Schuhe unmöglich tragen können. Lieber zog sie bequeme Crocs an, wie sie sie sonst für die Gartenarbeit benutzte. Vorsichtig tat sie einen Schritt, dann noch einen. Den Besichtigungstermin vor Ort, den sie und Becca immer gemeinsam wahrnahmen, ehe sie einen Vertrag mit einem Kunden schlossen, würde sie in diesen Schuhen gewiss gut überstehen.

Sie huschte noch ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Bürstete ihr Haar und band es zum Pferdeschwanz. Dann ging sie ins Erdgeschoss. Frank würde bei seiner Rückkehr sehen, dass sie schon wieder weg war. Sie hinterließ ihm eine Nachricht – ein weinendes Gesicht mit gerunzelten Brauen und darunter eine Reihe XXX und OOO.

Dann nahm sie die Segeltuchtasche, in der sie die Ausrüstung aufbewahrte, warf den kleinen Geldbeutel und das Mobiltelefon hinein, und verließ das Haus.

Emilys weißer Honda Civic mit Fließheck war der letzte aus der 2006er-Serie, und das Modell war in seiner Grundausstattung so elementar, dass es nicht einmal eine automatische Türverriegelung besaß. Vor einem Monat hatte sie das Stop-Motion-Krempel-Kicker-Logo auf die Türen schablonieren lassen. Das Auto sprang sofort an. Das tat es immer. Für Emily war Verlässlichkeit tausendmal wichtiger als Protz. An einem Samstagnachmittag dauerte die Fahrt zum Park ‌'n' ‌Ride nur knappe zehn Minuten, und bei Emilys Ankunft gab es noch viele freie Plätze. Sie parkte gleich neben Beccas Wagen, einem weißen kompakten Kia mit dem gleichen Logo auf der Tür.

Becca ließ das Seitenfenster herunter. »Los, packen wir's an.«

Becca sah noch immer aus wie in der Grundschule, ihre Kleine-Waise-Annie-Locken waren kaum zu bändigen. Auf der High School und am College waren Becca und sie beste Freundinnen gewesen, zwei Streberinnen, die sonst mit keinem etwas zu tun hatten und deren Freundschaft von dem Tag an, an dem sie einen großen Fundus an Barbiekörperteilen und Barbiepuppenkleidern miteinander geteilt und aus Pappkisten und Rohren ein gewaltiges Barbieschloss gebaut hatten, täglich wuchs.

Emily stieg in Beccas Wagen ein. Diese wartete ostentativ, bis Emily sich angeschnallt hatte. In ihrem früheren Leben als Notfallkrankenschwester hatte sie viel zu viele sinnlos verstümmelte Unfallopfer gesehen. Sie hatte etwas Saubergeschrubbtes, Krankenpflegerisches behalten, und ihr Auto war auch innen makellos rein und roch nach Pinienölreiniger. Das Krempel-Kicker-Shirt und die Hose waren frisch gebügelt.

»Geht's dir gut?«, fragte Becca. »Du siehst so …«

»Bestens.« Emily wollte mit Becca nicht über den Streit mit Frank reden. Oder über die Ergebnisse des Fruchtbarkeitstests. Becca war mit einem der nettesten Männer auf Erden verheiratet und hatte zwei wundervolle Kinder. Stolz war Emily nicht auf ihre Eifersucht, aber gestand sie sich wenigstens ein.

»Du humpelst.« Becca drehte sich zu ihr um. »Ist das ein Bluterguss?«, sie zeigte auf Emilys Wange.

Emily klappte die Sichtblende hinunter und sah in den Spiegel, der an der Innenseite angebracht war. Da war ein schwarzer Fleck auf ihrem Wangenknochen. Sie leckte ihren Daumen und wischte ihn weg. »Schmutz. Ich war im Keller.«

»Ich dachte, du filmst deinen Kleiderschrank.«

»Habe ich auch. Aber ich war auch im Keller. Die Innereien von Franks Klavier sind mir auf den Fuß gesprungen. Du weißt schon, dieses Ding aus einem Klavier, das aussieht wie eine Harfe? Und das eine Tonne wiegt. War nicht seine Schuld. Ehrlich.«

»Ehrlich?«

Emily sah auf die Uhr, obwohl sie genau wusste, wie spät es war. »Los, lass uns fahren. Wir sind spät dran.«

Emily war dankbar, dass Becca die Sache auf sich beruhen ließ. Als sie auf dem Highway fuhren, sagte Emily: »Erzähl mir etwas über diese Kundin.«

»Ruth Murphy«, sagte Becca. »Buchhalterin im Ruhestand. Angeblich eine Freundin von Mrs Arnoldy.«

Susan Arnoldy war eine ihrer ersten Kundinnen gewesen. Eine Freundin von Beccas Mutter. Auf der Messie-Skala wurde sie als eher moderat eingestuft. Becca und Emily hatten einige hundert leere Plastikbehälter gestapelt und sortiert. Die arme Mrs Arnoldy war in Tränen ausgebrochen, als sie sie wegwerfen sollte. Was wäre, wenn sie sie noch einmal brauchte?

Ganz kleine Schritte machen, daran erinnerte Becca ihre Kunden immer gern. Die ersten waren die schwersten. Allerdings warteten sie bis heute auf Mrs Arnoldys Anruf, dass sie bitte zurückkommen und mit dem Rest des Hauses weitermachen sollten. Emily war überrascht, dass sie sie weiterempfohlen hatte.

Fünfzehn Minuten später fuhr Becca vor Ruth Murphys terrassiertem Haus vor. Auf dem Rasen spross der Löwenzahn, und die Eiben unterm Vorderfenster hätten einen Schnitt nötig gehabt. Zu beiden Seiten der Vordertreppe blühte die Schwarzäugige Susanne in üppiger Pracht. Emily setzte ihre Kappe auf, zog den Pferdeschwanz durch die Öffnung auf der Rückseite. Dann stieg sie aus dem Wagen und folgte Becca die Auffahrt hinauf.

Becca klingelte. Jung oder alt? Dieses Spiel spielte Emily schon seit der Zeit, als sie noch für die Pfadfinder an den Haustüren Cookies verkauft hatte und sich dabei immer vorzustellen versuchte, was für eine Art von Person ihr öffnen würde. Klein, untersetzt und eher altmodisch, entschied sie.

Emily hatte in zwei von drei Punkten richtiggelegen. Mrs Murphy hatte weißes Pusteblumenhaar, dürfte weit über siebzig sein und ging Emily bis zum Kinn. Aber sie war schlank wie ein Schilfrohr. Sie schüttelte Emily mit stählernem Griff die Hand und führte sie in ein ordentlich aufgeräumtes Wohnzimmer mit spießigen Möbeln im viktorianischen Stil, einem gepolsterten Sofa und passenden Stühlen. Die rundgezackten Holzblenden über den Fenstern waren original 1950er Stil, wie in dem Haus von Emilys Eltern, das sie verkauft hatten, bevor sie nach Cape Cod zogen. Es duftete, als wären die Kekse, die auf einem Servierteller aus geschliffenem Glas auf dem Couchtisch lagen, frisch gebacken.

Emily sah sich um. In diesem Haus gab es einen Platz für alles und alles war an seinem Platz – was man auch erwarten durfte von einer Person, die ihr Geld damit verdient hatte, dass sie Kontoabschlüsse machte und ordentlich Buch führte. Was sollte hier aufgeräumt werden?

Sie holte Klemmbrett und Stift aus der Tasche und warf Becca einen fragenden Blick zu. Becca deutete mit dem Kopf auf einen großen Ruhesessel in der Ecke, der nach hinten gekippt war, mit hochgestellter Fußstütze, als säße immer noch jemand darin. Auf dem Boden daneben lagen zwei Herrenslipper und ein Zeitungsstapel. Auf dem Beistelltisch gleich daneben standen ein leeres geschliffenes Becherglas und ein Aschenbecher mit einem Zigarrenstummel. Emily schnupperte. Kein Zigarrengeruch im Raum.

Mrs Murphy griff nach einem silbernen Fotorahmen, der auf einem biederen Klavier stand. Auf dem Bild war ein junges Paar zu sehen, Braut und Bräutigam steif nebeneinander, als habe man sie auf eine Hochzeitstorte gesteckt. Die Braut trug ein Seidenkleid mit hochgeschlossenem Kragen und Keulenärmeln, der Rock bildete hinter ihr eine anmutig fallende Schleppe. Ein üppiger Rosenstrauß lag in ihrem Arm. Der Mann neben ihr war viel größer als sie, sein dickes schwarzes Haar war gescheitelt und geglättet. Er trug eine Militäruniform, Epauletten auf den Schultern und einen engen Lederriemen quer über der Brust. Seine Mütze hatte er unter den Arm geklemmt, der andere Arm war der Braut untergehakt.

»Ich und Murph«, sagte Mrs Murphy. »1960. Wir haben in Fort Bragg geheiratet.«

»Ein gutaussehender Mann«, sagte Becca.

»Gott hab ihn selig, das war er, und nicht nur das. Ein listiger Teufel in der einen Minute und ein Heiliger in der nächsten. Ich weiß einfach nicht …« Sie holte ein Papiertaschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit die Augen. »Es war hart für mich. Manchmal fühle ich mich so verloren, dass ich am liebsten verschwinden würde.« Becca ging zu ihr hin und fasste sie beim Arm.

»Wann ist er denn von Ihnen gegangen?«

Mrs Murphy holte tief Luft, konnte einen Moment lang gar nicht sprechen. »Vor einem Jahr. Plötzlicher Herzinfarkt. Nur wenige Wochen nachdem er seine Praxis verkauft hat, er war Zahnarzt. Ich hatte ihm gesagt, er solle noch nicht in den Ruhestand gehen.« Sie griff nach einem anderen gerahmten Foto auf dem Klavier. Der ältere Mann auf dem Bild war immer noch gutaussehend. Sein Haar war üppig, mit Schmalzlocke über trotzigen dunklen Augenbrauen. Mrs Murphy hielt das Bild kurz an die Brust gedrückt, dann legte sie es mit dem Gesicht nach unten aufs Klavier.

»Und dann war er weg.« Ihr Fingerschnalzen machte kein Geräusch. »Die Ärzte meinten, selbst wenn er im Krankenhaus gewesen wäre, als es passierte, hätten sie ihn nicht retten können.«

»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Becca auf ihre unnachahmliche Weise, als teile sie tatsächlich Mrs Murphys Schmerz über den Tod dieses Mannes, den sie nie kennengelernt hatte.

Emily sah sich den Zeitungsstapel neben dem Polstersessel an. Die Zeitung, die zuoberst lag, war vom 14. Juli 2019. Das war über ein Jahr her. Auf dem Kaminsims stand eine Belleek-Vase, weißes Porzellan mit Kleeblättern, und darin … was genau? Vielleicht waren es Rosen gewesen, aber jetzt waren sie grau und mumifiziert. Rings um die Vase waren Weihnachtskarten dekoriert, vermutlich die vom letzten Jahr.

»So«, sagte Mrs Murphy, holte tief Luft und streckte den Rücken. »Murphs Sachen.« Sie strich ihren Rock glatt. »Ich war außerstande, mich mit irgendetwas zu befassen. Ich musste mich um das Testament und die Versicherung kümmern, musste Kreditkarten und Bankkonten ändern lassen, mich ständig mit jemandem herumärgern, um alles zu regeln. Es zieht einen ganz schön runter, wenn man mit Bürokraten reden muss, die einen bloß so schnell wie möglich wieder aus der Leitung haben wollen.« Sie seufzte tief. »Wenigstens ist das jetzt größtenteils geregelt. Nur das hier bleibt mir noch zu erledigen. Ständig habe ich es vor mir hergeschoben, nun ist es an der Zeit, mich damit zu beschäftigen. Aber es ist so viel. Ich wollte eigentlich allein damit klarkommen, doch sobald ich mir eine Sache herausgreife und zu entscheiden versuche, was damit geschehen soll, fällt mir eine andere ins Auge, und es kommen Erinnerungen hoch …« Sie bekam Schluckauf. »Es ist so anstrengend. Und wo sollen die ganzen Sachen denn hin? Wir haben keine Kinder, von daher …« Ihre Stimme erstarb. Emily konnte sich gut in Mrs Murphys Situation hineinversetzen – kinderlos, verwitwet und hilflos in den Abgrund von Franks Keller starrend. »Deshalb habe ich Sie angerufen. Ich dachte mir, wenn ich doch nur Hilfe hätte und wüsste, wie ich die Dinge, die ihm gehörten, im Gedächtnis bewahren kann. Verstehen Sie? Die Videos schienen mir genau die richtige Methode zu sein. So könnte es gelingen. Wenigstens einen Anfang könnte ich damit machen.«

»Wenn Sie uns um Hilfe bitten«, sagte Becca, »dann haben Sie es ganz in der Hand, was wir tun und wie sehr wir eingreifen. Sobald Sie genug haben, hören wir wieder auf. Denn es geht um Ihr Leben. Ihr Zuhause. Es sind Ihre Erinnerungen. Sobald wir einen Überblick haben, was alles da ist, können wir Ihnen eine Vorstellung geben, wie lange es von Anfang bis Ende dauern wird. Aber Sie legen die Regeln fest. Wenn Sie das Gefühl haben, es ist genug für Sie, dann müssen Sie nur Stopp sagen, schon hören wir auf.«

Mrs Murphy war ganz Ohr. Nickend schürzte sie die Lippen.

»Dann wollen wir uns die Sache mal ansehen, wie wär's?« Becca hatte jetzt einen munteren, tatkräftigen Ton angeschlagen, und Emily spürte die nachlassende Anspannung.

Mrs Murphy führte sie den Flur entlang, vorbei an einem Schlaf- und einem Badezimmer, hin zu einer geschlossenen Tür. Sie drückte sie auf und trat dann zur Seite, um Becca und Emily vorbeizulassen. Es roch nach Staub, nach altem Papier, und ein wenig nach Zigarre. Im Zentrum stand ein massiver Eichenholztisch, auf dem sich Briefe und diverse Auktionskataloge stapelten. Sotheby's in Boston. T. ‌E. Kalmus in Hyannis. Auf einem ungeöffneten Umschlag an Dr. Charles Murphy, Zahnarzt, war als Rücksendeadresse die Amerikanische Zahnärztegesellschaft angegeben.

»Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich ein paar Fotos mache?«, fragte Emily.

»Nur zu«, antwortete Mrs Murphy.

Auf der Schreibunterlage lag ein Block mit liniertem Papier, die oberste Seite zur Hälfte mit Rotstift beschrieben. Bei genauerem Hinsehen erwies es sich als Liste, die mit FA LIBRARY begann, gefolgt von Twelve Months of Flowers, The Pinetum Britannicum und etwa einem Dutzend weiteren Titeln. Offenbar hatte Mr Murphy gerade zur Bibliothek gehen wollen, als er verstarb. Beim Block lag ein roter Stift, daneben stand eine Kaffeetasse, den Boden bedeckte eine getrocknete Schicht Kaffee. Emily machte einige Fotos. Der Raum war die perfekte Zeitkapsel. In einer Ecke strich Emily mit dem Finger über das Schreibtischholz. Staubfrei, und doch eine Zeitkapsel.

»Das Zimmer betrete ich nie. Ich halte die Tür immer geschlossen, denn ich ertrage es nicht, dass …«, sagte Mrs Murphy.

»Darf ich?«, fragte Becca und deutete auf den Schreibtisch.

»Bitte, nur zu.«

Becca zog die Schreibtischschubladen auf. Sie waren vollgepackt mit Mappen und Hängeordnern, jede einzelne bestückt mit einem maschinengeschriebenen Etikett. Emily begann eine Liste anzulegen, die sie »Büro des Ehemannes« nannte, und unterteilte die Dinge, die sie sichten mussten, in verschiedene Kategorien. Sie machte weitere Fotos von dem Zimmer, dem Schreibtisch, dem Regal, zoomte die Prozession von geschnitzten Holzvögeln heran, die Schwanz an Schnabel auf einem der obersten Regale aufgereiht standen. Entenlockvögel, langbeinige Stelzvögel, kleine Singvögel. Emily erkannte einen Papageientaucher und eine Eule.

Mrs Murphy betätigte einen Wandschalter, und ein Spot erstrahlte über den Vögeln. Becca zog einen Stuhl heran und kletterte von dort auf den Schreibtisch. Sie holte einen der Vögel herunter und wischte ihn mit dem Saum ihrer Hemdbluse ab. Eine Weile starrte sie ihn an, dann reichte sie ihn an Emily weiter. Der blassgraue Vogel mit dem langen, schmalen Schnabel stand auf einem Fuß und hatte den Kopf gebeugt, als wollte er einen Fisch aufspießen. Die zarte, sorgfältig bemalte Schnitzarbeit mit den glänzenden Briefbeschwerer-Glasaugen und der Signatur auf der Unterseite dürfte einen großen Sammlerwert besitzen.

Emily machte Fotos und reichte den Vogel zurück an Becca. Als Nächstes nahmen sie sich den Kleiderschrank vor, dessen Schiebetür Becca nur mühsam öffnen konnte. Emily fotografierte, zählte die Kisten und Koffer und setzte sie auf ihre Liste. Eigentlich müsste sie jede einzelne öffnen und zumindest einen kurzen Blick auf den Inhalt werfen. Ihr Fuß begann wieder zu schmerzen.

»Da ist noch mehr.« Mrs Murphy deutete mit flattriger Hand zum Fenster hinüber. »Murph war ein Bootsnarr. Wir haben eins im Garten.«

Emily sah hinaus. Tatsächlich, draußen im Garten, neben einer freistehenden Garage, stand ein Motorboot auf einem Trailer. Emily machte eine Aufnahme. »Und in der Garage?«, fragte sie.

»Werkzeuge. Farben und Lacke und was weiß ich noch alles.«

Emilys Liste war so lang geworden, dass sie ein zweites Blatt benötigte. Die Überschrift lautete: Sondermüll.

»Wenn wir schon einmal hier sind, sollten wir einen kurzen Blick hineinwerfen«, sagte Becca.

»Es sind auch Waffen dabei. Antiquitäten. Sein Gewehr ist sicher im Erdgeschoss verwahrt. Und dann«, Mrs Murphy fischte einen Schlüsselbund aus einem Aschenbecher auf dem Schreibtisch, »ist da noch das hier.« Sie machte einen Schlüssel ab und reichte ihn Becca. Becca reichte ihn an Emily weiter. Mit abblätterndem, rotem Nagellack war die Nummer 217 auf den Schlüssel geschrieben.

»Ich glaube, das ist ein Lager«, sagte Mrs Murphy. »Er muss ein Jahr im Voraus bezahlt haben. Die erste Rechnung, die ich zu Gesicht bekam, ist diese hier.« Sie griff in ihre Tasche und holte ein gefaltetes Stück Papier heraus. Ihre Hände zitterten, als sie es auseinanderfaltete. »Das hier kam vor wenigen Wochen.«

Emily steckte den Schlüssel in eine der Innentaschen ihrer Packtasche. »Darf ich?«, fragte sie und richtete die Kamera ihres Handys auf die Rechnung. Mrs Murphy nickte. Die Rechnung war auf den Juni datiert, der Betrag deckte die Kosten für zwölf Monate. Absender war die Firma »Inner Peace Storage«. Emily hatte das Logo schon mal gesehen. In einem nahe gelegenen Industriepark am Fluss wurden Lagerräume vermietet, die Firma machte mit einer nervtötenden Radiowerbung auf sich aufmerksam.

»Haben Sie die Rechnung bezahlt?«, wollte Emily wissen.

»Ja, habe ich. Dadurch wurde das Rätsel gelöst, was es mit diesen Schlüsseln auf sich hat. Gott sei Dank hatte ich sie nicht weggeworfen.«

»Wissen Sie, was er dort eingelagert hat?«, fragte Becca.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Wir müssen uns anschauen, was drin ist, damit wir uns eine genaue Vorstellung machen können, wie viel Zeit wir benötigen, um alles zu ordnen.« Ordnen. Becca hatte Emily eingetrichtert, weniger aggressive Begriffe zu verwenden, wie etwa ordnen und aufräumen, statt ausmisten und Reinschiff machen. Selbst entrümpeln konnte verletzend klingen für jemanden, der sich mit Krempel wohl fühlte, oder für jemanden wie Mrs Murphy, für die der Krempel mit teuren Erinnerungen aufgeladen war. »Möchten Sie mit uns kommen?«