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Gefahr für unsere Gletscher! Das neue Schuljahr an der Gletscherakademie beginnt! Am gleichen Tag weiht Jacques Frost seinen neuen Skilift ein, mit Menschenmassen und Lärm. Seitdem gehen immer wieder Lawinen ab! Ist Jacques Frost schuld, da er Teile des Gletschers abgetragen hat? Cléo vermutet, dass es mit dem magischen Eissplitter zusammenhängt, der aus der Akademie gestohlen wurde. Der Eissplitter soll dem, der ihn trägt, zu Unsterblichkeit und unbegrenzter Macht über die Gletscher verhelfen. Eigentlich ist Cléo damit beschäftigt, ihre eismagischen Fähigkeiten unter Kontrolle zu bringen, doch sie fühlt sich verfolgt. Hat es jemand auf ihre Fähigkeiten abgesehen? Und was hat das alles mit ihrer Mutter zu tun, die den Eissplitter einst hütete? Ice Guardians 2. Der magische Eissplitter: Die Ice Guardians schützen unsere Gletscher - Eine geheimnisvolle Familiengeschichte: Fantastische Abenteuergeschichte für Kinder ab 10 Jahren, die von spannenden Freundschaftsgeschichten nicht genug bekommen können - Mitreißend und tiefgründig: Das Buch thematisiert einfühlsam und altersgerecht die Auswirkungen der Gletscherschmelze. - Starke Hauptfigur: Cléo sucht mit Mut, Klugheit und ihren eismagischen Fähigkeiten nach ihrer Bestimmung. - Der Rückgang des ewigen Eises: Die renommierte Drehbuchautorin Anna Maria Praßler sensibilisiert dafür, dass die Gletscher weltweit bis zum Jahr 2050 rund 25% ihrer Masse verlieren werden.Auch im zweiten Band der Reihe "Ice Guardians" wartet eine Welt voller Geheimnisse und uralter Legenden auf die junge Cléo. Die Mischung aus realen Umweltproblemen und magischen Elementen macht das Kinderbuch zu einer unterhaltsamen Lektüre, bei der Kinder ab 10 Jahren viel über den Schutz der Gletscher lernen können.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Cléo hat die Aufnahme in die sagenumwobene Gletscherakademie geschafft und ist überglücklich! Dort angekommen, fühlt sie sich jedoch verfolgt. Hat es etwa jemand auf ihre eismagischen Fähigkeiten abgesehen? Denn die braucht es, um die Kräfte des Eissplitters zu erwecken, der aus der Akademie gestohlen wurde. In den falschen Händen stellt der mächtige Eissplitter eine riesige Gefahr für die Gletscherwelt dar! Und was hat das alles mit ihrer Mutter zu tun, die den Eissplitter einst hütete?
Band 2 der atemberaubenden Reihe um Cléo und die Ice Guardians
Für Zita
Die Luft schien zu schimmern und zu leuchten. Cléo hatte noch nie eine so tiefe Stille erlebt. Sie atmete die eiskalte Luft ein, ließ sie durch ihren Körper strömen, und plötzlich fühlte sie sich wieder wach. Sie wusste: Es war ihre Aufgabe, den Eissplitter zurückzuholen und ihre Mutter zu erlösen. Sie hatte nicht vor zu kneifen. Cléo spürte die wohlige Kälte in ihrem Gesicht. Sie legte sich in den Schnee, streckte ihre Arme und Beine von sich und schloss die Augen. Wie gut es tat, das Eis zu spüren! Eins zu werden mit dem Eis.
Cléos Herz klopfte heftig, stolperte, schlug wild, doch dann bemerkte sie, dass all das aufgeregte Pochen nicht allein aus ihr kam: Auch der Edelstein ihrer Armbanduhr pulsierte so kräftig wie nie zuvor, und in Cléos Hosentasche vibrierte Danas Funken. Sie fischte ihn heraus. Er leuchtete nicht nur, er strahlte in einem so funkelnden Blau, dass er Cléo blendete und sie ihre Augen zusammenkneifen musste. Da begann er, sich zu bewegen – zeigte er eine Richtung an? Cléo konnte auf keinen Fall nachts über den Gletscher, sie würde sofort in einer Gletscherspalte landen! Doch der Funken wollte gar nicht, dass Cléo sich auf den Weg machte. Danas Funken zappelte in Cléos Fingern, bis diese sich öffneten, und dann stieg er in die Luft …
Sonnenstrahlen brachen zwischen den Gipfeln hindurch, und Cléo spürte die sanfte Wärme auf ihrer Haut. Sie saß auf einem moosbewachsenen Baumstumpf neben einem kleinen, plätschernden Bachlauf und streckte ihre nackten Füße ins Wasser, das in der Sonne glitzerte. Blinzelnd schaute sie nach oben zur höchsten Bergspitze. Dort thronte die Gletscherakademie, die sie ab diesem Schuljahr besuchen würde. Cléo fühlte ein Kribbeln am ganzen Körper.
Sie hörte Geröll poltern – waren das Gämsen, die die Steilhänge durchschritten? Durchs Wasser purzelten quirlige, runde Vögelchen, wie hießen die? Hätte ich mal in Animalia besser aufgepasst, dachte Cléo und musste lächeln. Sie war wieder in den Bergen, nur das zählte. Vier Wochen Ferien lagen hinter ihr. Aus dem Holz des Baumstumpfs stieg eine leichte, feuchte Kühle auf, die wahrscheinlich schon den nahenden Herbst ankündigte. War das typisch für einen September in den Alpen?
Mit Jahreszeiten kannte Cléo sich nur schlecht aus. Sie war unter Palmen aufgewachsen und mit ihrem Vater elf Jahre lang von einem heißen, sonnenverwöhnten Ort zum nächsten gezogen. Doch bald würde es Winter werden, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Und es würde Winter bleiben. Auch auf dem Gletscher gab es keine Jahreszeiten, nur das ewige Eis – zumindest sollte es so sein: ewig und unzerstört.
Wo blieb Héctor? Cléo zog ihre Füße aus dem Bach, schüttelte sie aus und trocknete sie an der Fleecejacke ab, die sie oben an ihrem großen Rucksack befestigt hatte. Kaum war Cléo wieder in ihre Wanderschuhe geschlüpft, erhob sie sich, schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne ab und blickte suchend in den Schulhof hinab. Direkt unter ihr lag die Schule, die sie vor den großen Ferien besucht hatte: das Mont-Blanc-Internat, kurz MB. Dort hatte sie den gestrigen Tag und die Nacht verbracht – besser gesagt verschlafen –, um sich von ihrem Jetlag auszuruhen und frisch gestärkt den Weg zum Gipfel anzutreten. Im Moment waren nur wenige Kinder zwischen den Gebäuden – zwischen Schneeflocke, Schneeball und Turnhalle – unterwegs, schließlich hatte das Schuljahr noch nicht begonnen.
Dennoch hatte Héctor, ein älterer Schüler der Gletscherakademie, der am MB als Mentor aushalf, schon mal die allerersten Neuankömmlinge begrüßen wollen. »Nur fünf Minuten, okay?«, hatte Héctor beteuert. Cléo hatte ihm versprechen müssen, auf ihn zu warten. Allerdings dauerten die fünf Minuten inzwischen schon eine halbe Stunde. Mindestens.
Oh Mann, wie lange denn noch? So langsam wurde Cléo ungeduldig. Als sie auf den Baumstumpf stieg, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, sah sie, dass Héctor gerade zwei Viert- oder Fünftklässlern mit schwerem Gepäck den Weg in die Schneeflocke wies und dem Kleineren der beiden die Reisetasche abnahm, aus der Skier ragten. Cléo machte Héctor ein Zeichen, er solle sich beeilen, doch er schaute nicht zu ihr.
Am liebsten wäre Cléo alleine losmarschiert. Die Gletscherakademie wartete doch auf sie, sie musste hoch! Cléo blickte in den nahen Wald, durch den der Weg nach oben führte, und glaubte, schon die würzigen Tannennadeln, die harzigen Bergkiefern und die süßlichen Pilze zu riechen. Es war der Wald, in dem Cléo zum ersten Mal ihrem Patentier begegnet war, einem wunderschönen Luchs. Mit golden funkelnden Augen hatte er sie angesehen, als würden sie sich schon immer kennen. Wenn er in ihrer Nähe war, fühlte Cléo sich sicher.
Doch das war sie nicht. Auch deshalb musste sie auf Héctor warten – ein kleiner Kompromiss, andernfalls hätte ihre Grand-mère sie gar nicht erst in die Ferien ziehen lassen. Mit Schaudern dachte Cléo an Jacques Frost, den Seilbahnbesitzer aus dem Val de Chavoix, der hinter ihr her war. Weil sie – vielleicht – die Eissplittermagie besaß, die er brauchte. Cléo wusste nicht viel mehr über diese Magie als deren Namen und Abkürzung – ESM. Alles Weitere würde sie wahrscheinlich an der Gletscherakademie lernen.
Falls sie jemals dort ankäme.
Cléo gähnte. Der lange Flug nach Europa steckte ihr noch in den Knochen. Eigentlich hatte Cléo nicht fliegen wollen – mit einer Schiffspassage wäre jedoch von ihren großen Ferien so gut wie nichts übrig geblieben. »An der Gletscherakademie leistest du doch deinen Beitrag, Cléo«, hatte Rick, ihr Vater, versucht, ihr gut zuzureden. »Du tust mehr fürs Klima als die meisten Menschen, die ich kenne.« Cléo war sich nicht sicher, ob das reichte, und hatte vor, den nächsten Besuch bei Rick ohne Flieger zu planen.
Sie blickte wieder in den Schulhof hinab – Héctor war nicht mehr zu sehen. Hatte er sich schon auf den Weg gemacht? Doch auf dem Pfad, der vom MB hochführte, lief niemand. Vermutlich begleitete Héctor gerade die zwei Neuankömmlinge in die Schneeflocke. Cléo tippte seine Nummer auf ihrem neuen Handy an, und als er nicht ranging, machte sie ein paar Fotos und schickte ihrem Vater ein Guten-Morgen-Selfie nach Martinique. Dort, einen ganzen Ozean entfernt, war es noch mitten in der Nacht. Cléo stellte sich vor, wie ihr Vater genau in diesem Moment einen kräftigen Schnarcher ausstieß, wie er sich umdrehen und weiterschlafen würde. Sie lächelte.
Ping! Cléo blickte auf ihr Handy. Die Erstis brauchen auch noch meine Hilfe, sorry!, las sie Héctors Nachricht.
Cléo seufzte. Héctor half gern, genau genommen ein bisschen zu gern. Das war seine Art. Cléo hatte ihn erst in den Ferien näher kennengelernt, weil beide in die gleiche Richtung aufgebrochen waren – nach Amerika. Héctor zu seiner Familie nach Peru, Cléo zu ihrem Vater in die Karibik, auf die Insel Martinique, wo er – nachdem er mehrere Wochen im künstlichen Koma gelegen hatte – endlich wieder er selber war und seinen Alltag bewältigen konnte.
Die Grand-mère – Madame Dulac, ihres Zeichens Schulleiterin des MB und der Gletscherakademie – ging nicht davon aus, dass sich Jacques Frosts Einfluss bis auf einen anderen Kontinent erstreckte, dennoch hatte sie darauf bestanden, dass Héctor ihre Enkelin zumindest ein Stück weit begleitete; sicher war sicher. Zwar fand Cléo das ziemlich übertrieben, letzten Endes hatte sie sich aber doch gefreut, auf der langen Reise jemanden zum Reden zu haben. Zumal Rosalinde, Cléos treue Gefährtin, eine braune Langschwanzmaus mit rosa Schnauze, die großen Ferien bei Malaika in Tansania verbrachte. Die kleine Maus wollte einfach mal so richtig Urlaub machen, Martinique kannte sie schließlich in- und auswendig! Im neuen Schuljahr wollten Rosalinde und Cléo sich an der Gletscherakademie wiedersehen.
»Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen«, hatte Rosalinde beim Abschied gesagt. »Nicht in vier Wochen, nicht in fünfzig Epochen, sonst muss ich vor Wut kochen … und, ähm, werde noch zum Rochen, und dann, blubb, bin ich weg! Nee, nee, nicht mit mir, das sag ich dir!«
Cléo hatte gelacht, und Rosalinde hatte ihren Kopf schief gelegt: »Oh Mann, das findest du jetzt wieder mal schlecht gereimt, oder? Seeeehr schlecht etwa?!«
»Auf keinen Fall!«, hatte Cléo sich zu sagen beeilt und ihr Kichern notdürftig unterdrückt.
»Oh doch, Cléo Dulac!«, hatte Rosalinde gerufen und sie zum Abschied fest umarmt. »Ich kenne dich!«
Ja, Rosalinde kannte Cléo, und das war ein großes Glück. Schweren Herzens hatte Cléo sie nach Tansania ziehen lassen, auch wenn sie wusste, dass Rosalinde bei Malaika in guten Händen war. Rosalinde war nun mal eine Weltenbummlerin, und das musste sie akzeptieren, so schwer Cléo der Abschied auch gefallen war.
Cléo schwang sich ihren großen Rucksack auf den Rücken und ging ein paar Schritte – nicht weit, nur ein klein wenig in Richtung Wald. Sie wollte endlich hoch zur Gletscherakademie. Wie würde ihr Zimmer aussehen? Welche neuen Schulfächer gab es? Mit wem würde sie die Klasse teilen? Hoffentlich mit Tara. Und mit Malaika.
Doch hatte Malaika die Große Prüfung überhaupt bestanden? Oder musste sie zurück aufs Mont-Blanc-Internat? Malaika hatte die ganzen Ferien vergeblich auf eine Nachricht der Schulleitung gewartet – und mit ihr Cléo; jeden Tag waren die Sprachnachrichten, Fotos und Emojis zwischen Martinique und Tansania hin- und hergeflitzt, gemeinsam hatten sie gebangt, vier Wochen lang. Was, wenn Malaika nicht aufgenommen war …? Cléo spürte einen Kloß im Hals. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie gedankenverloren bis an den Waldrand gelaufen war. Sie schloss die Augen und sog den Duft des Waldes tief in sich ein.
Cléo wusste, dass sie umkehren musste, um an der Weggabelung oberhalb des MB auf Héctor zu warten. Eigentlich. Und doch blieb sie einfach stehen, als hielte etwas – sie konnte nicht sagen, was – sie zurück. Cléo öffnete ihre Augen wieder. Ein sanfter Windhauch trug ein leises Rascheln zu ihr, das aus den Geräuschen der Umgebung fein und klar heraustrat. Es schien direkt an sie gerichtet.
Cléo sah, wie sich die Zweige wiegten. Ein Tier musste durchs Unterholz streifen. Oder waren es mehrere? Das Rascheln wurde lauter, deutlicher, und es waren nicht nur die Äste eines einzigen Baumes, die erzitterten.
Schlichen die Tiere direkt auf sie zu? Cléo hielt den Atem an. Doch nicht aus Furcht. Schon sah sie helles Fell durch die Zweige schimmern – weiches, helles Fell mit dunklen Tupfen. Und Pinselohren! Aber nicht nur zwei … War das ihr Luchs, der immer näher kam – und zwar mitsamt seiner ganzen Familie? Cléos Herz machte vor Freude einen Sprung.
Sie hörte schnellen Atem. Viel zu schnell ging er, beinahe abgekämpft klangen die Tiere. Ging es ihnen nicht gut? Im nächsten Augenblick trat der Luchs vor Cléo – ihr Patentier. Er hinkte. Hinter ihm sammelten sich zwei Jungtiere und zwei ausgewachsene Luchse, ähnlich groß wie Cléos Patentier, alle mit dünnem, struppigem Fell. Irgendetwas stimmte nicht, so viel stand fest. Es war ungewöhnlich genug, sie zusammen zu sehen. Luchse waren Einzelgänger.
Cléos Patentier blinzelte aus seinen goldenen Augen, die glanzlos aussahen.
»Was ist passiert?«, fragte Cléo, obwohl sie wusste, dass sie mit ihrem Patentier nicht sprechen konnte. Und es auch nicht durfte. Unser Patentier ist ein wildes Tier und weder ein Spielzeug noch ein Freund, lautete eine der wichtigsten Regeln des MB.
»Ich …«, begann Cléo trotzdem, »ich würde euch gerne helfen.« Verstand ihr Luchs ihre Worte?
Das Tier schien zu nicken und dankbar zu lächeln. Oder bildete Cléo sich das alles nur ein? Die Jungtiere und die ausgewachsenen Luchse schnurrten. Sie blickten Cléo an – erwartungsvoll, so kam es ihr vor. Cléos Luchs reckte seine Schnauze in ihre Richtung, als wollte er ihr ein Zeichen geben. Der Blick des Tieres traf Cléo bis ins Mark. Sie spürte eine Verbindung, die sie nicht in Worte fassen konnte.
Die Jungtiere waren die Ersten, die weiterzogen, nicht majestätisch, stolz und elegant, sondern schwerfällig und niedergeschlagen. Die drei ausgewachsenen Tiere folgten ihnen. Ein letztes Mal wand Cléos Luchs seinen Blick zu ihr um.
»Ich helfe euch!«, rief Cléo den Tieren hinterher, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das bewerkstelligen sollte und bei was sie überhaupt helfen konnte.
»Scheiße, die hat’s auch erwischt!«
Cléo zuckte zusammen. Héctor war unbemerkt neben sie getreten. Mit sorgenvoller Miene sah er den fünf Luchsen hinterher und seufzte.
»Wie, erwischt?« Cléo blickte Héctor an. »Und wieso auch?«
»Jacques Frost hat einen Teil vom Wald abtragen lassen, für die neue Seilbahn«, erklärte Héctor, während er seinen Eispickel, der heruntergerutscht war, wieder an seinem Rucksack befestigte. »Dabei funktioniert die alte Seilbahn einwandfrei! Ich habe gerade mit Monsieur Katō gesprochen: Mehrere der Patentiere vom MB haben ihren Lebensraum verloren. Jacques Frosts Maschinen waren ziemlich rücksichtslos … Einer der Füchse ist gestorben.«
»Was?!« Cléo erschrak.
Héctor nickte traurig. »Samys Patentier. Er ist untröstlich … Komm, Cléo, wir brechen auf. Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.«
Nachdenklich liefen die beiden los. Auf dem weichen Weg, der durch den Wald führte, knirschten ihre Schritte nur leise. Die Salven eines Spechtes hallten dagegen laut und kräftig zwischen den schattigen Bäumen hindurch.
Dass Jacques Frost über Leichen ging, wusste Cléo. Dass er sich ausschließlich um seinen eigenen Vorteil kümmerte und ihm die Natur und die Tiere der Alpen egal waren, war ebenfalls nichts Neues. Und doch traf es sie mit voller Wucht. Ein Patentier war gestorben. Samys Fuchs, wegen dem er die Große Prüfung nicht bestanden hatte – er hatte eine zu enge Bindung zu ihm aufgebaut, was ihm zum Verhängnis wurde. Dass Samy nicht an der Gletscherakademie aufgenommen worden war, war für die meisten Kinder am MB ein kleiner Schock gewesen, schließlich hatte Samy sonst immer zu den Gewinnern gehört. Cléo hatte seine obercoole Art nie gemocht, aber jetzt tat er ihr leid. Wie schlecht ging es ihm?
Cléo dachte an ihre ersten Tage am MB zurück. Die Tatsache, dass sie ein eigenes Patentier hatte und eine Verbindung zu ihm spürte, hatte Cléo schon bald nach ihrer Ankunft das Gefühl gegeben, in den Bergen vielleicht doch am richtigen Platz zu sein. Auch wenn sie vor über zwölf Jahren im Val de Chavoix geboren worden war, hatte sie sich hier vollkommen fremd gefühlt.
Aber da war jemand, der ihr Kraft gab.
»Ich helfe meinem Luchs«, kündigte Cléo entschlossen an, während sie mit Héctor Schritt zu halten versuchte.
»Er ist nicht dein Luchs, Cléo.«
»Ich meine, ich helfe dem –«
»Auch an der Gletscherakademie gilt: Das Patentier wird nicht gezähmt, es bekommt keinen Namen –«
»Das weiß ich alles!«, warf Cléo ein. Sie war außer Puste, denn obwohl sie auf Martinique täglich Sport gemacht hatte – ein bisschen zumindest –, fiel es ihr nun schwer, gleichzeitig zügig zu laufen und zu sprechen.
»In der siebten Klasse ist dein Patentier noch ein wildes Tier«, erklärte Héctor und hielt inne.
Cléo blickte ihn an. Hieß das etwa …?
»Die Betonung liegt auf noch«, bestätigte Héctor und lächelte. »In der achten darfst du aktiv Kontakt zu ihm aufnehmen.«
Cléo begann zu strahlen. »Vielleicht könnte ich auch jetzt schon –«
»So weit bist du noch nicht, Cléo.«
»Ich kann ein neues Zuhause für die Luchse finden, ich –«
»– respektiere die natürliche Umgebung meines Patentiers und seine Fähigkeit, sein Überleben zu sichern«, ergänzte Héctor. »Regel Nummer –«
»Sieben«, ergänzte Cléo resigniert. Dass sie im Umgang mit ihrem Patentier seine Fähigkeit, sein Überleben zu sichern, respektieren sollte, war neu. Hatte Héctor diesen Zusatz erfunden? Weil es irgendeine verstaubte Regel erst ab der achten Klasse erlaubte, seinem Patentier zu helfen? Doch warum sollte sie untätig bleiben, wenn ihr Patentier in Gefahr war und ihr Signale sendete?
Das Einzige, was Cléo am MB nicht gefallen hatte, waren die vielen Regeln. Sicher, einige davon fand sie gut und wichtig – etwa die, die das Töten und Essen von Tieren verboten. Doch andere schienen hauptsächlich dazu zu dienen, Kindern das Leben schwer zu machen.
»Ich soll dich übrigens von Monsieur Zavattini und Madame Girard grüßen«, sagte Héctor. »Madame Fanon kommt erst später. Sie ist noch … ich weiß nicht genau –«
»Irgendwo die Welt retten«, ergänzte Cléo und lächelte. Eine tiefe Bewunderung lag in ihrer Stimme. Madame Fanon, das war Gabrielle, Cléos Begleiterin seit ihrer Kindheit. Ohne sie hätte sie Jacques Frosts Attacke – und so manch andere schwierige Situation – womöglich gar nicht erst überlebt.
Dass Gabrielle dazu in der Lage war, die Welt zu retten, das stand für Cléo zweifelsfrei fest.
Der Waldboden knirschte unter ihren festen Schritten. Hoffentlich kehrte Gabrielle bald zurück. Und hoffentlich wären sie bald wieder alle zusammen. Alle.
»Weißt du eigentlich was von Kiran?«, fragte Cléo Héctor.
»Ich habe ihn nicht gesehen, tut mir leid.«
Cléo schluckte. Kiran hatte die Große Prüfung nicht bestanden. Er war so frustriert gewesen, dass er davon gesprochen hatte, auch das Mont-Blanc-Internat zu verlassen und nach den Ferien einfach bei seiner Familie in Indien zu bleiben. Hatte er es wahr gemacht? Kiran war der erste MB-Schüler, den Cléo kennengelernt hatte, und bei ihm hatte sie sich sofort wohlgefühlt. Mehr als das. Geborgen und aufgehoben. Wie gerne würde sie weiterhin ihre Wochenenden mit ihm verbringen! Sie könnten zusammen kochen – abgefahrene Gerichte zu erfinden war Kirans Leidenschaft –, sie könnten über neue (natürlich ebenso abgefahrene) Ideen für den Klimaschutz nachdenken und einfach nur ganz viel miteinander lachen und Spaß haben.
Kirans Mitbewohner am MB war Pierre gewesen, den Cléo auch richtig mochte. Zumindest den Pierre, den sie kennengelernt hatte. In Wirklichkeit hatte er alle getäuscht. Erst nach der Großen Prüfung war aufgekommen, dass Pierre Jacques Frosts Sohn war. Héctor hatte Pierre daraufhin verdächtigt, Jacques Frosts Spion am Mont-Blanc-Internat zu sein – auch wenn Pierre beteuert hatte, dass Vater und Sohn sich kaum kannten. Die Grand-mère hatte Pierre sofort vom Internat geworfen.
Wie ging es ihm nun? Was machte er? Cléo vermisste ihn.
»Heute, mesdames et messieurs, verehrte Frau Bürgermeisterin, ist ein guter Tag für das Val de Chavoix!«, tönte es plötzlich so laut und schrill, dass Cléo zusammenzuckte. Sie war vor der Biegung des Weges stehen geblieben. Am liebsten wäre sie davongerannt – doch sie konnte keinen Schritt mehr gehen, sich überhaupt nicht mehr rühren.
Was nicht daran lag, dass sie vom Aufstieg erschöpft war, weil sie eine Höhenwanderung nicht mehr gewöhnt war. Nein.
Hinter dem Felsvorsprung brandete Applaus auf. »Unsere neue Gletscher-Gondel ist ein Wunderwerk der Technik und ein echtes Kraftpaket!«, rief die Stimme. Cléo zitterte am ganzen Körper.
»Hey«, flüsterte Héctor, während er Cléo den Arm um die Schultern legte. »Er wird dir nichts tun.« Noch sah Cléo niemanden, aber sie wusste, wer sprach: Jacques Frost.
»Bei uns im Val de Chavoix können die Touristen auch im Sommer ihrem liebsten Hobby nachgehen und Ski fahren«, rief Jacques Frost aus.
Héctor schnaubte verächtlich auf. Cléo löste sich aus der Umarmung und atmete tief durch; sie musste Ruhe bewahren. Durchatmen und Ruhe bewahren.
»Ich kann nicht glauben, dass unsere Lehrer dachten, man könnte mit ihm reden«, regte Héctor sich auf. »Vernünftig diskutieren. Wir sind alle auf sein Geschwätz reingefallen, dass auch ihm die Alpen wichtig sind! In Wirklichkeit geht es ihm nur um seinen Profit.«
Es war mehr als das, wusste Cléo. Tief vergrub sie ihre Hände in den Taschen ihres Anoraks. Jacques Frost wollte nicht nur Geld, sondern vor allem Macht. Genauer gesagt die ewige Macht über die Gletscher.
Dafür brauchte er, wie Cléo von Gabrielle und der Grand-mère erfahren hatte, zwei Dinge: den Eissplitter, einen jahrhundertealten, nie schmelzenden Kristall, der aus dem einstigen Palast der Gletscherhüterinnen stammte, und jemanden, der sich auf die Eissplittermagie verstand. Der Eissplitter war kurz vor den großen Ferien aus der Gletscherakademie gestohlen worden – von Jacques Frost? Eigentlich sollte Cléo nichts darüber wissen, nur zufällig hatte sie das Krisengespräch zwischen ihrer nervösen Grand-mère und den anderen Lehrkräften gehört. Cléo wusste nicht, ob Héctor eingeweiht worden war.
Falls Jacques Frost im Besitz des Eissplitters war, fehlte ihm nur noch dieser Jemand, der die ESM beherrschte. Und das könnte sie sein, Cléo Dulac. In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung von irgendetwas hier oben, dachte Cléo und schnaubte leise auf. Aber die Grand-mère ging davon aus. Jacques Frost ebenfalls. Deshalb hatte er bereits einmal – zum Glück erfolglos – versucht, sie auf dem Berg in seine Gewalt zu bringen.
»Wir müssen einen anderen Weg nehmen«, sagte Cléo und zog sich ihre Kapuze über den Kopf, als wollte sie sich verstecken. Oder gleich ganz verschwinden. »Héctor, ich schaffe es auch über den schwierigen Grat –«
»Du brauchst Jacques Frost heute nicht zu fürchten«, entgegnete Héctor mit ruhiger Stimme. »Es sind Dutzende Leute hier oben, Presse, Kameras. Deswegen gehen wir doch heute hoch. Er wird nichts anderes machen, als in jede Kamera zu grinsen, Hände zu schütteln und immer wieder zu betonen, wie viele Touristen er dem Tal bringt. Cléo, er wird den Teufel tun und dir gefährlich werden – bei so vielen Zeugen.«
Das klang einleuchtend. Trotzdem saß Cléos Angst tief. Ihr Zittern hatte noch immer nicht nachgelassen. So schnell wie möglich wollte sie nach oben zur Gletscherakademie. Aber was würde hinter der Wegbiegung auf sie warten? Würde Jacques Frost sie entdecken? Und dann? Er würde ihr nichts antun – nicht jetzt –, da hatte Héctor wahrscheinlich recht. Am liebsten jedoch wollte Cléo diesen Mann gar nicht erst zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig seine neue Seilbahn, wegen der ein Fuchs, womöglich weitere Tiere und ganz gewiss viele Pflanzen zu Tode gekommen waren. Cléos Patentier hatte sein Zuhause verloren. Die Gletscher-Gondel war ein brutaler Eingriff in die Natur.
Wie brutal, das sah Cléo, als sie Héctor zögerlich folgte. Kaum hatten Héctor und Cléo den Felsvorsprung umrundet, erstreckte sich vor ihnen ein schneebedeckter Hang, in dessen Mitte eine Wunde zu klaffen schien: Es war die neue Seilbahnstation, die grellbunt und mit mächtigen Betonmauern den sanften Berg durchschnitt. Dort, wo extra für Jacques Frosts Gletscher-Gondel ein Felsen abgetragen worden war, standen noch immer gewaltige Maschinen mit riesigen Greifarmen und schweren Raupenketten. Die Seilbahnkabinen waren kugelförmig und sahen aus wie misstrauisch funkelnde Augen, die alles im Blick behielten; sie wirkten bedrohlich. Cléo erschauderte.
Ein-, zweihundert Meter von ihr entfernt, auf einer eigens gebauten Bühne, stand Jacques Frost und grinste breit und selbstgefällig, während die Bürgermeisterin ihn gerade als Wohltäter des Val de Chavoix pries. Von wegen! Cléo hatte herausgefunden, dass er vor elf Jahren durch eine künstliche Sprengung eine Lawine ausgelöst hatte, die viele Menschen in den Tod gerissen hatte. Die Schuld dafür hatte er geschickt auf Dana Dulac gelenkt – Cléos Mutter. Das würde Jacques Frost büßen müssen! Die Grand-mère hatte Cléo bei ihrer Abreise versprochen, dass sie alles tun würde, um dem mächtigen Seilbahnbesitzer das Handwerk zu legen.
Was ganz offensichtlich nicht passiert war. »Mit der Gletscher-Gondel in die Zukunft!«, rief die Bürgermeisterin gerade. »Merci beaucoup, Jacques Frost!«
»MerciFÜRNICHTS!«, ertönte es plötzlich aus der entgegengesetzten Richtung. Cléo drehte sich um – und lächelte: Es waren Kinder aus dem MB und ein paar Erwachsene, die sich in einem Demonstrationszug der Bühne näherten! »Wofür sollen wir danken, madame le maire?«, sprach Lenya, eine MB-Schülerin, gerade ins Megafon. »Für zwanzig Hektar abgeholzten Wald? Dreißig Tierarten, die ihre Lebensgrundlage verloren haben? Für täglich Tausende Touristen mehr, die unsere Gletscher zerstören? MerciFÜRNICHTS!«
»Merci für nichts!«, stimmten die demonstrierenden Kinder und Erwachsenen lauthals einen Sprechchor an, und sofort rief auch Héctor begeistert mit.
Cléo dagegen zog ihre Kapuze noch tiefer in ihr Gesicht. Sie blieb stumm. Womit sie wahrscheinlich erst recht Aufmerksamkeit auf sich zog, überlegte sie im nächsten Moment und stolperte Héctor kurzerhand in die bunt zusammengewürfelte Menge hinterher. Alle streckten selbst gemalte Plakate hoch, manche hielten sich an den Händen, andere reckten ihre Fäuste kämpferisch in die Luft.
Jacques Frosts Security-Männer sprachen geschäftig in ihre Headset-Mikrofone. Der Demonstrationszug blieb hinter den Presseleuten und den applaudierenden Gästen stehen. Leiser wurde er jedoch nicht, im Gegenteil.
»Wir sind hier, wir sind laut … weil ihr uns die Zukunft klaut!«
»Cléo!«
Cléo blickte um sich. Wer hatte sie gerufen? Augenblicklich begann sie zu lächeln, denn diese samtweiche Stimme kannte sie … Das war doch –
»Tara!«, rief nun auch schon Héctor und winkte dem Mädchen zu. Tara schlüpfte an mehreren Kindern und Erwachsenen vorbei, strahlte breit und lag im nächsten Moment Cléo in den Armen.
»Ich hab dich so vermisst, Cléo Martin! Ähm, Dulac.« Tara grinste. »Whatever, schön, dass du zurück bist, Cléo Hoffentlich-meine-neue-Mitbewohnerin!« Tara drückte Cléo fest, und ihre Worte und ihr Lachen fühlten sich so zart und warm in Cléos Ohren an, dass sie Tara am liebsten gar nicht mehr losgelassen hätte. Es war, als würde die Welt um sie herum stillstehen.
»Deine neue Frisur sieht mega aus!«, sagte Tara, und Cléo erschrak: Ihr war die Kapuze vom Kopf gerutscht! Cléo löste sich sofort aus der Umarmung und zog sich schnell ihre Kapuze wieder hoch.
»Du bist also die Cléo!«
Unsicher schaute Cléo sich um: Wer kannte sie hier?
»Schön, dich kennenzulernen«, sagte ein Mann, in dessen Augen ein Blitzen lag, das Cléo bekannt vorkam. »Ich glaube, in den Ferien ist kein Tag vergangen, an dem Tara nicht von dir erzählt hat. Ich bin übrigens Phurba, Taras supernerviger, superpeinlicher Vater, vor dem sie an der Gletscherakademie endlich ihre Ruhe hat!«
Tara stöhnte auf. »Mann, Papa, kannst du nicht ein Mal normal sein?!«
Cléo musste lachen – auch wenn sie sich noch einmal ängstlich umblickte. Doch niemand schien sie groß zu beachten, auch Jacques Frosts Security-Männer nicht. War sie in der Menge der Menschen tatsächlich in Sicherheit?
»Wir lieben dich auch, Tara-Schätzli!«, rief gut gelaunt die Frau, die Phurba gerade von hinten umarmte und einen Luftkuss in Taras Richtung abschickte. »Ich bin Lily. Glückwunsch zur Großen Prüfung, Cléo! Phurba hat sie vor zwanzig Jahren nicht geschafft.«
»Das ist jetzt peinlich«, sagte Taras Vater, doch seine Frau grinste nur.
»War ja wohl unser Glück«. Sie lachte. »Sonst hätte ich dich nicht kennengelernt!«
Im nächsten Moment küssten sich die zwei, und Tara stieß ein Würggeräusch aus. »Nee, oder? Eltern!«, stöhnte sie und zwinkerte Cléo zu. Taras grüne Augen leuchteten. So wunderschön und tief strahlend wie immer.
Und doch war Cléo im Kopf woanders. Eltern!, hatte Tara genervt gesagt, und Cléo wünschte, sie wüsste, wovon ihre Freundin sprach. Dana, Cléos Mutter, war neun Monate nach ihrer Geburt aus dem Val de Chavoix verschwunden, und was Tara peinlich fand, kam Cléo, wenn sie ehrlich war, irgendwie ganz schön vor.
Wobei, angesichts des Plakats, das Phurba und Lily bei sich trugen, konnte Cléo Tara eigentlich doch recht gut verstehen. Darauf stand: Ich will ein heißes Date, keinen heißen Planeten! Was zweifellos so richtig peinlich war. Vor allem, wenn es Eltern trugen.
Jacques Frost hatte mittlerweile sein Mikrofon lauter gestellt, um die demonstrierenden Kinder und Erwachsenen zu übertönen. »Wir sind hier, wir sind laut!«, skandierte Tara gemeinsam mit den anderen. Und plötzlich stimmte Cléo mit ein.
»Weil ihr uns die Zukunft klaut!«, rief sie. Tara hakte sich bei ihr unter, und ein Kribbeln lief über Cléos ganzen Körper. Sie fühlte sich geschützt und geborgen. Als Teil von etwas Großem, das wichtig und bedeutsam war: der Schutz der Gletscher. An Taras Seite, was sich einfach nur gut anfühlte.
Ausgerechnet jetzt erklärte Héctor jedoch, dass sie weitermussten. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns, Cléo. Den müssen wir vor der Dämmerung schaffen.«
Cléo wusste, dass er recht hatte. Und doch wollte sie nichts anderes als hierzubleiben.
»Oh Mann, ich würde auch so gern gleich mit euch hoch!«, sagte Tara. »Aber ich hab versprochen, heute noch im Restaurant auszuhelfen …«
Taras Vater arbeitete als Koch in dem nepalesischen Restaurant neben der Talstation – Cléo erinnerte sich, dass er vor Kurzem einen Unfall gehabt hatte.
Wie ihr eigener Vater, in Fort-de-France auf Martinique. Damit hatte alles angefangen. Die Grand-mère war aufgetaucht und hatte Cléo nach Europa geholt. An den Ort, den sie – wenn es nach Rick gegangen wäre – niemals wieder hätte betreten dürfen. Während ihrer langen Vater-Tochter-Gespräche in den Ferien hatte Rick begriffen, dass die Grand-mère zwar streng, aber keine Gefahr für Cléo war, sodass er es seiner Tochter überlassen hatte, sich frei zu entscheiden – für Martinique oder den Mont Blanc. Und so gern Cléo in der Nähe ihres Vaters war, sie hatte sich entschieden: Sie wollte auf die Gletscherakademie! Rick hatte Cléo fest in den Arm genommen und nur ganz leise geseufzt. Hauptsache, seine Tochter war glücklich.
»Geht es Ihnen denn wieder besser?«, fragte Cléo Taras Vater.
Phurba lächelte. »Wie lieb, dass du fragst. Danke. Ich bin eigentlich wieder ganz der Alte!«
»So peinlich wie immer, würde unser Schätzli sagen«, ergänzte Taras Mutter und grinste.
»Unsere Tochter …« Phurba lächelte stolz. »Jetzt wird sie Ice Guardian!« Er legte Tara seinen Arm um die Schultern und blickte ehrfürchtig zum Gipfel hoch. »Da oben wirst du noch oft an mich denken: Die Berge sind –«
»Hei-lig«, ergänzte Tara und verdrehte ihre Augen.
»Wenn dein Opa das noch erleben könnte, Tara! Als Sherpa kannte er den Himalaya in- und auswendig …«
»Entschuldigen Sie, monsieur, madame, wir müssen aufbrechen«, erklärte Héctor nun. »Bis bald, Tara! Au revoir!«
Cléo blieb nichts anderes übrig, als Héctor zu folgen – nicht ohne Taras Hand zum Abschied fest zu drücken. Nur noch zwei Tage bis zum Schulbeginn, dann würden sie einander wiedersehen. Vielleicht würden sie wirklich ein Zimmer miteinander teilen. Oder zumindest Tür an Tür wohnen. Gab es an der Gletscherakademie womöglich sogar Dreierzimmer? Dann könnte Malaika noch zu ihnen … Falls sie die Große Prüfung bestanden hatte.
Lachend winkten Tara und ihre Eltern Cléo und Héctor hinterher. Cléo merkte, wie die Fröhlichkeit aus ihr wich. Was war wohl mit Malaika?
»Hiermit erkläre ich die Gletscher-Gondel für eröffnet!«, schrie Jacques Frost in die jubelnde Menge.
Seltsam, dachte Cléo. Neben Tara hatte sie keine Angst gehabt, vor nichts und niemandem. Für ein paar Minuten hatte sie Jacques Frost vollkommen vergessen.
Alles war leicht gewesen. Leicht und schön.
Der weitere Aufstieg war das Gegenteil davon: schwer und anstrengend. Wofür Cléo und Héctor nicht einmal mit dem sonst üblichen, überwältigenden Ausblick belohnt wurden, denn ein Wetterumschwung brachte dicke graue Wolken und Nebel mit sich. Mehrmals hatte Cléo das Gefühl, trotz ihrer Steigeisen und der Sicherung durch das Seil gleich vom schmalen Grat zu rutschen. Doch auf eine seltsame Art, die sie kaum beschreiben konnte, hatte sie jedes Mal das Gefühl, aufgefangen zu werden. Von wem?
Plötzlich bekam Cléo eine Gänsehaut. Was passiert hier? In diesem Moment erkannte sie das Hochtal wieder, das sie gerade gemeinsam mit Héctor durchschritt: Es war der Ort, an dem während der Großen Prüfung die Marmotte, die Chefin aller Murmeltiere, gegen sie gekämpft hatte. Bis es Cléo gelungen war, ihr den Beweis zu übergeben, dass in Wahrheit Jacques Frost ihr gemeinsamer Feind war. Die Marmotte hatte versprochen, Cléos Beweisstücke prüfen. Was war dabei herausgekommen? War sie ihr nun freundlich oder noch immer feindlich gesinnt?
Hatte die Marmotte die ganze Wahrheit erkannt – und beschützte Cléo nun sogar? War sie in ihrer Nähe, genau jetzt? Doch wenn es so war, warum zeigte sie sich nicht?
Als Cléo und Héctor die Gletscherakademie erreichten, dämmerte es bereits. Die zarte Dunkelheit tauchte die hohe, eisblitzende Fassade der Akademie in ein geheimnisvolles Strahlen. Eiskristalle funkelten im allerletzten Licht des Tages auf den Zacken und Spitzen, die aus den unterschiedlichsten Gebäudeteilen emporwuchsen, und das silbern-schwarze Glitzern ließ alles verheißungsvoll glänzen. Endlich.
Endlich, dachte Cléo. Ich bin da.
An dem Ort, an dem sie – so hoffte sie – die Antwort auf all ihre Fragen finden würde. Zumindest auf viele davon. Oder ein paar. Vielleicht reichte auch eine einzige Antwort – nämlich auf die Frage: Wo ist meine Mutter?
»Jördis zeigt dir gleich dein Gästezimmer«, kündigte Héctor an.
Cléo staunte, als sie durch das Portal der Gletscherakademie schritt. Wohin sie auch blickte, es glänzte und strahlte!
»Wie kommt das alles eigentlich hier hoch?«, wollte Cléo wissen. »Ich meine, wie kann jemand eine Akademie auf dem Gipfel des Mont Blanc bauen?«
»Na ja, nicht irgendjemand, Cléo. Ice Guardians!« Héctor schmunzelte. »Zugegeben … früher waren wir mächtiger. Aber uns sind immer noch Dinge möglich, die du dir bis jetzt nicht vorstellen kannst.«
Cléo lächelte.
»Manchmal nutzen wir auch ganz banale Transportmittel«, gab Héctor zu. »Um das Essen hochzutransportieren, setzen wir Drohnen ein – und die alte Seilbahn.«
Cléo erschrak. »Echt? Wir sollen doch immer zu Fuß gehen!«
»Wenn es möglich ist, ja. Aber die alte Seilbahnstrecke ist über hundert Jahre alt und wurde im Einklang mit der Natur gebaut. Wir können sie guten Gewissens nutzen. Heeey, Jördis!«
Jördis, eine ältere Schülerin, die Cléo schon vor den Ferien am Mont-Blanc-Internat kennengelernt hatte, kam winkend näher und nahm Cléo in Empfang.
»Bis morgen, Cléo!«, verabschiedete sich Héctor.
Jördis zeigte Cléo den Weg in eines der Gästezimmer. Hier würde Cléo für eine Nacht unterkommen, da die Zimmer der Neuankömmlinge erst am nächsten Tag offiziell verteilt werden sollten.
»Haben wir eigentlich Zweier- oder Dreierzimmer?«, fragte Cléo. »Und weißt du schon, mit wem ich –?«
»Ja. Ich schon.« Jördis grinste. »Du erfährst morgen alles, was du wissen musst.«
»Morgen erst?« Cléo seufzte. »Muss das sein?«
Jördis zog kritisch die Augenbrauen hoch.
Cléo konnte nicht anders, sie gähnte. Auf dem Weg durch die vielen Windungen der Gletscherakademie, über gläserne Aufzüge und Treppen aus Eisklötzen, vorbei an filigranen Geländern und imposanten Wänden, in denen die Schneeflocken wirbelten, fielen Cléo – sie glaubte es selbst kaum – beinahe die Augen zu. Dabei war alles so neu und aufregend!
»Ist Malaika aufgenommen?«, probierte Cléo es mit einer weiteren Frage, doch Jördis lachte nur auf.
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