Ich, Antoine - Julie Estève - E-Book

Ich, Antoine E-Book

Julie Estève

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Beschreibung

Ein Außenseiter kommt zu Wort – und entblößt ein ganzes Dorf Ein Dorf in den Bergen Korsikas, Mitte der 1980er-Jahre. Als die 16-jährige Florence tot im Pinienwald gefunden wird, ist ein Schuldiger schnell ausgemacht: Antoine Orsini, der Dorftrottel, dem die Walnussbäume näher sind als die Menschen und der ein Diktiergerät seinen besten Freund nennt. Jahre später hat er seine Haftstrafe abgesessen und kehrt zurück. Noch immer spricht im Dorf niemand mit ihm, und so streift Antoine allein umher und berichtet einem Plastikstuhl davon, was damals wirklich geschehen ist. Ruppig und mit eigenwilliger Sinnlichkeit erzählt ein einfacher Mann seine Geschichte. Und die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die so erbarmungslos ist wie die korsische Sonne.

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Julie Esteve

Ich, Antoine

Roman

Aus dem Französischen von Christian Kolb

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Antoine Orsini ist tot, und es war nicht die Hitze, die ihn umgebracht hat. Gartenkräuter, Bougainvilleen, Blätter von Zitronenbäumen, Menschen, alle krümmen sich unter der sengenden Sonne. Der Pfarrer leiert träge seine Sprüche herunter, und die Leute schlagen mit dem Weihwasserwedel das Kreuz über dem Sarg. Langsam gehen sie hinter dem Kasten her, der von vier Männern getragen wird. Von oben sieht die Trauergemeinde aus wie eine schwarze Schlange, die die steinigen Gassen hinaufkriecht. Sie biegt in den auf der Bergspitze gelegenen Friedhof ein. An dessen Ende eine Schlucht gähnt. Alte Eisenkreuze ragen schräg in den Himmel. Der Tod ist ein sich aufrichtender Jagdhund, der Ehrfurcht gebietet. Die Gesellschaft beugt sich weit nach vorn, fast wie Michael Jackson in dem Musikvideo zu Smooth Criminal.

 

Die Kiste fährt in die Grube, die Trauergäste werfen Erde auf das helle Holz. Sie schauen hinunter ins Loch und stellen sich vor, wie sie selbst einmal kreuz und quer in ihren Familiengräbern liegen werden. Es ist still. Seltsam still. Die Vögel und der Wind schweigen, während die Versammlung ihre geheuchelten Tränen vergießt. Endlich sind wir ihn los, denkt sie.

 

Die alte Biancarelli tritt ans Grab, schwarz gekleidet, langer Rock, schlichte Bluse, flache Schuhe, Kopftuch. Sie hat etwas von einer verschlissenen Puppe aus einem vergangenen Jahrhundert, die ihre kalten tiefblauen Augen aufschlägt. Sie beugt ihre knöchernen Beine, kniet nieder, die faltigen Hände ins dürre Gras gestützt. Sie räuspert sich und spukt ins Erdloch.

 

Reden wir nicht davon, wie Antoine zu Tode gekommen ist. Was ihn umgebracht hat. Tauchen wir ein in die Düfte von Macchia und Oregano und hören die Stimme eines Menschen, der für manch anderen oder sogar für alle anderen überhaupt kein Mensch war.

1

Die andern würden garantiert bloß Abfall sehen in dem kaputten Plastikstuhl, den ich neben der Mülltonne von der Wirtschaft aufgegabelt hab. Die haben halt null Fantasie! Aber wenn ich mir den Sprung in der Sitzfläche anschau, seh ich den San-Andreas-Graben drin! Genau so stell ich mir den San-Andreas-Graben vor! Auf die Idee würden die andern nie kommen, dass der sich mal auftun kann und die Welt wie n Kartenhaus zusammenfällt, dass es n Erdbeben gibt, alle Häuser einkrachen, Straßen und Brücken in Stücke fliegen, dass die Leute in nen Mordsabgrund gerissen werden! Auf die Idee, dass es mit Kalifornien, Google und weiß der Geier was, womöglich mit der gesamten Menschheit vorbei sein könnt, dass alle den Löffel abgeben, verbrennen, in den Abgrund stürzen und zerquetscht werden, und dass das Meer sich auftürmt, ne riesige Flutwelle, höher wie n Wolkenkratzer, übers Land schwappt, die Scheiben von den Wolkenkratzern platzen und n Splitterregen runterprasselt. Auf die Idee, dass es tierisch rundgehen könnt! Da würd dann aber n starker Mann auftauchen, mit nem Bizeps, so dick wie normalerweise n Oberschenkel, und nem Body wie ne Backsteinmauer, n Muskelmann, der unbedingt seine Frau und sein Kind retten will. Is nich grade zimperlich, dieser Schrank, steigt in Hubschrauber, Flugzeuge, Schiffe, Laster und steuert alles mit links, heißt Dwayne Johnson, der mutige Kerl, hab ihn gesehen, letzte Woche, in der Ellipse in Ajaccio, ich hatt zwar kein Geld fürs Kino, aber hab an der Kasse ne Show abgezogen, und die Frau hat mich reingelassen! Dafür muss ich ihr jetzt was Kleines schenken, vielleicht nen Blumenstrauß, in der Macchia gibts ja massig Blumen, braucht man sich nur mal zu bücken, darüber würd sie sich bestimmt freuen, Frauen mögen Blumen, und ich würd mich als echter Gentleman erweisen! Außerdem hat sie schöne dunkle Augen und nen großen Busen. War schon n Ereignis, der Busen von der Frau an der Kasse, aber auch der Film, San Andreas, das Erdbeben, die Spezialeffekte, Naturkatastrophen haben die Amerikaner voll drauf, da kann man nix sagen.

 

Steh verloren mit meinem Stuhl in der Sonne rum, die mir aufn Schädel knallt, aber is mir egal, wenn ich nen Sonnenbrand krieg oder wahnsinnig werd in der Hitze, genieß es, dass ich meinen Frieden hab, während die andern in ihren Kojen liegen, in ihren Schaukelstühlen wippen und Siesta machen! Hör bloß das Brummen von den Fliegen und Hornissen, sonst is es still, die Insekten habens gut, die werden in Ruhe gelassen.

 

Pflanz mich aufn Stuhl, klemm mir dabei dämlicherweise meine weite Hose in dem Sprung in der Sitzfläche ein, zwickt am Popo, ich komm gar nich mehr hoch, muss lachen, krieg nen Schluckauf davon, wein Tränen vor Lachen, psst, psst, leg mir zur Ermahnung den Finger aufn Mund, hilft aber nix, machts bloß noch schlimmer, psst, darf hier nich so viel Lärm veranstalten, damit weck ich die andern auf, und dann schimpfen sie wieder, halt die Klappe, Spasti! Das sagen sie oft zu mir, aber ach, die haben auch noch andre Ausdrücke für mich! Hab mir mal ne Liste davon gemacht, in meinem Heft, gehen ja auf keine Kuhhaut, diese ganzen Ausdrücke, und dann hab ich sie rumgebrüllt, die Ausdrücke, wie blöd, als ob ich mit ner Schrotflinte rumballern würd. Da hat die Luft gebrannt. Hab ich immer noch, die Liste!

 

Stell meinen Stuhl vor der Schule auf, die seit Ewigkeiten zu is, wo schon lang keine Kinder mehr im Hof kreischen. Erinnert mich immer an Madame Madeleine, der Anblick von der Schule. Läufts mir kalt den Buckel runter, wenn ich an sie denk. Versuch deswegen, nich so viel an sie zu denken, aber ich hab n unglaubliches Gedächtnis und erinner mich an alles. Wie ich dreizehn bin und Kopfläuse hab. Das juckt, ich kratz mich die ganze Zeit, es bilden sich auch so komische Krusten, die Viecher habens sich richtig gemütlich gemacht. In der Schule mag keiner neben mir sitzen, ich hock mit Magic, meinem besten Freund, der in echt Philips heißt, in der letzten Reihe. Hab ihm den Namen gegeben, wie ich ihn das erste Mal gesehen hab! Er is ganz klein und hat lauter Bläschen. Wir haben nen Fensterplatz, von wo aus man die Bäume angucken und hören kann, wie der Wind rauscht.

 

Die andern halten sich die Nase zu und sagen mir, dass ich stink, Läuse hab und später mal Penner werd, weil ich jetzt schon so nen Geruch verbreite und immer Dreck an den Füßen und unter den Fingernägeln hab. Ich geb zurück, dass sie früher oder später alle sterben werden und dass sie dann selber nich mehr so gut riechen, wenn sie aufm Friedhof um die Ecke vor sich hin gammeln, da heulen sie ganz schön rum, weil sie Angst vorm Tod haben und nich von Maden und Würmern gefressen werden wollen. Rücken sie mir aufn Pelz.

 

Du stinkst wie n Iltis!, rufen sie.

 

Iltis, das klingt doch an sich hübsch. Magic und ich wollen den andern auch Tiernamen geben. Noëlle hat so hängende Augen und das Gesicht voller Sommersprossen: Noëlle, die Muräne!

 

Noëlle, die Muräne!, plärr ich.

 

Alle lachen, bloß Noëlle nich, die kann Fische nämlich nich ausstehen. Sie schüttet am nächsten Tag die Parfümflasche von ihrer Mutter über mir aus, und ich duft wie n Mädchen, der Hammer! Klebt mir nen Kaugummi in die Haare, den ich nich mehr rauskrieg, ich schau mich aufm Klo im Spiegel an, die weißen Fäden sehen wie n Spinnennetz aus, ich lach mich schief, kann mich gar nich mehr einkriegen, und die andern auch nich.

 

Einmal hab ich tote Fliegen gefressen. Die andern haben sie mir in meinen Fiadone reingetan, ich dacht, es wären Schokokrümel, hab den Unterschied überhaupt nich mitbekommen. Bei uns im Pausenhof steht ne Pinie, ich schnüffel das Harz, weil ich genauso riechen mag wie der Baum. Ich zertrümmer die Zapfen mit nem Stein und futter die Kerne. Liebe die Kerne, aber wenn man sie zu lange in der Hand gehalten hat, schmecken die wie Teer. Dauert lange, bis man den Geschmack im Mund wieder loswird. Die andern spielen Fangen, und auf einmal rennen sie alle zum Baum!

 

Alle aufn Iltis!, schreit Noëlle.

 

Die trampeln auf mir rum und spucken mich an, ich bin gar nich drauf gefasst. Irgendwann läutet die Pausenglocke. N Esel trottet langsam daher und guckt mich so mitleidig an, dass mir fast die Tränen kommen. Esel gucken aber immer so. Er bleibt stehen und glotzt mich an. Möcht ihn streicheln, aber hab keine Kraft zum Aufstehen. Muss pinkeln, also pinkle ich halt in die Hose. Roll mich aufm Kies zusammen und schlaf in Nullkommanix ein. Madame Madeleine rüttelt mich wach, ihre Hände sind so glatt wie die Steine ausm Fluss. Ihr Gesicht ist total verheult, aber sie lächelt. Sie bringt mich zu sich nach Haus, wo alles tipptopp aufgeräumt is. Tipptopp aufgeräumt und picobello sauber. Sie zieht mich nackig aus, oho, mein Schniedel baumelt in der Luft! Steckt mich in die Badewanne, rubbelt mich mit nem Schwamm ab und wäscht mich mit Lavendelseife. Begutachtet die blauen, gelben und braunen Flecken auf meinen Armen und Beinen, an Bauch und Rücken. Nimmt n weiches Frotteehandtuch und reibt mich trocken. Ich male nen Baum aufn Spiegel, der beschlagen is vom weißen Badewasserdampf. Drunter schreib ich mitm Finger: Madlène. Sie küsst mich auf die Stirn, kämmt mich mit ihrer Bürste und schneidet mir mit der Schere n paar fette Büschel Haare ab, weil der Kaugummi einfach nich rausgeht! Die Büschel liegen verstreut am Boden, erinnern mich an die Bergminze, die an den Felsen wächst.

 

So, mein Junge, geschniegelt und gebügelt!, verkündet sie.

 

Mein Junge, sagt sie. Geht und kommt mit ner alten Hose von ihrem großen Sohn zurück, die ich probieren soll. Darf sie behalten, geschenkt! Danach bin ich für die andern in der Schule nich mehr der Iltis, nich mehr der mit den Läusen, sondern Antoine. Muss keine toten Fliegen mehr fressen. Beim Essen erzählt mir Madame Madeleine Geschichten von griechischen Göttern und Göttinnen, bringt mir richtig Zählen und Lesen bei und redet mir zu, dass ich meine Hefte immer ordentlich führen soll, schaff ich aber nich so gut. Erklärt mir Sachen, von denen die andern keine Ahnung haben. Irgendwann is ihr auf einmal das Herz stehen geblieben, und seitdem gibts niemanden mehr, der mit mir im Lexikon liest und mich anständig frisiert. Hab erst mal geheult. Den lieben langen Tag. Bloß geheult. In der Macchia, aufm Weg zum Lac de Tolla, im Tante-Emma-Laden von der alten Biancarelli, vorm Bürgermeisteramt, im Pausenhof, in der Kapelle, an der großen Kreuzung, am Strand, aufm Klo, beim Klettern in den Bäumen, wahrscheinlich fällt mir grade gar nich alles ein, wo ich überall geheult hab!

 

Ich besuch oft das Grab von Madame Madeleine und schmücks mit Strohblumen, Madame Madeleine hat nämlich Blumen verdient, die lange halten. Das is zwar recht sinnlos, wo sie doch tot is, aber Blumen sind immer noch besser als gar nix, find ich.

2

Stell den Stuhl nich mehr bei der Mülltonne ab, ich nehm den jetzt mit. Bloß weil er kaputt is, heißt das noch lang nich, dass er zu nix mehr zu gebrauchen is. Die andern, also die mit der fetten Kohle, werfen ja immer alles gleich weg. Is ihnen egal, wenn sie das Geld aufn Kopf hauen, macht ihnen sogar Spaß, glaub ich, die habens ja, die hängen an nix, für die hat nix nen Wert. Aber ich heb alles auf, schmeiß nix weg, und mit dem Stuhl hab ich was Bestimmtes vor. Wenn ich traurig bin, setz ich mich einfach auf die gesprungene Sitzfläche, das wird garantiert wieder lustig!

 

Ja, weiß schon, wie ich mich beschäftig!

 

Gehört jetzt mir, der Stuhl! Mir! Werd gut auf ihn aufpassen. Muss ihn schnell nach Haus schaffen. Darf bloß nich am Fenster von der alten Biancarelli vorbeikommen!

 

Ist gefährlich, wenn ich an ihrem Fenster vorbeikomm!, sag ich zu meinem Stuhl.

 

Macht mich sofort zur Schnecke, wenn sie mich irgendwo sieht! Hat mich aufm Kieker, seit der Geschichte mit ihrer Tochter.

 

Ihre Tochter war Florence. Florence Biancarelli! Sie hatte bloß n kurzes Leben, weil sie mit sechzehn gestorben ist, das heißt, sie war eigentlich schon fast siebzehn. Hat immer mit den Katzen gespielt. Hat sie auch mit Milch und Schinkenspeckschwarten oder Hühnerhäuten versorgt. Hat die Katzen aber nicht davon abgehalten, die Mäuse zu jagen! Von denen gibts hier jede Menge, schwarze, gelbe, weiße und graue Mäuse, also alle Arten von Mäusen, die meisten haben Flöhe, manchen fehlt n Auge, ihnen is der Schwanz abgerissen oder n Ohr abgebissen worden, und sie stinken.

 

Florence war n richtiger Star, aber bloß bei uns im Dorf. Außerhalb vom Dorf, im Fernsehen und in der großen weiten Welt, hat sie kein Mensch gekannt. Die anderen Mädchen haben sie immer nachgemacht. Haben sich genauso angezogen wie sie und wollten die gleiche Frisur haben. Aber bei den hässlichen Mädchen haben die gleichen Klamotten und die gleichen Frisuren ganz anders ausgesehen. Florence angucken war ungefähr so wie in die grelle Sonne schauen. Ich hätt jedes Mal heulen können.

 

Aber wie ich sie dann in dem Pinienwäldchen gefunden hab, war sie überhaupt kein Star mehr! Magic hat neben ihr gelegen, frag mich, was sie dem noch verzapft hat, der hat danach keinen Piep zu mir gesagt! Hab die Kleine jedenfalls kaum wiedererkannt, hat sich angefühlt wie ne Wachspuppe.

 

Hat ganz eingesunkene Augen gehabt!, sag ich zu meinem Stuhl.

 

Das Ganze war an nem Donnerstag vor neunundzwan- zig Jahren. 1987. Is also schon ne Weile her. Die Sache mit Florence ist das Schlimmste, was mir je passiert ist. Die andern sagen, dass ich schuld bin an ihrem Tod, dass ich n Stück Dreck bin und man mir die Eier abschneiden sollt!

3

Leise, auf Zehenspitzen, mitm Finger aufm Mund, schleich ich durchn Garten von Noëlle, psst, bloß kein Mucks, psst, bloß nich lachen. Die Terrasse von Noëlle, der Muräne, is super, die schönste im Dorf, liegt direkt dem Berg gegenüber! Der Berg is ne wellige grüne Fläche mit grauen Flecken, das sind die Felsen. Hab meinen Stuhl dabei, logisch. Leg den Arm um ihn, und wir genießen zusammen die Aussicht.

 

Is besser als Fernsehen!

 

Brauchen keinen Strom. Noëlle hockt hier oft am Abend, wenn die Sonne untergegangen is. Manchmal heult sie ganz schön rum. Heult tierisch rum. Dann läuft ihr voll der Rotz aus der Nase. Florence, Florence, wimmert sie die ganze Zeit leise vor sich hin.

 

Die Berge erinnern mich an Vanina, meine Frau. Hab einfach ne blühende Fantasie. Im Bergrücken seh ich ihren Rücken und drunter ihren Popo.

 

Da is der Rücken, und da der Popo, erklär ich meinem Stuhl.

 

Aufm Dorffest vor vier Jahren hab ich zum ersten Mal mit Vanina geredet. Seitdem verwöhn ich sie, bring ihr jede Woche Blumen, hab ich versprochen. Und ich halt Wort! Aufm Dorffest vor vier Jahren hatt ich meinen ärmellosen Anorak an, muss man sich nämlich in Schale schmeißen für solche Anlässe. Stütz mich mitm Ellbogen aufn Tresen und will saufen wie n echter Mann. Hab bloß keine Kohle. Da steht allerdings n Glas rum: also ex und hopp! Mit den andern Gläsern, die offensichtlich keinem Schwein gehören, mach ichs genauso. Is heiß, alle schwitzen. Die Alten schauen den jungen Hüpfern beim Tanzen zu. Ziehen Stofftaschentücher aus ihren Hosentaschen und tupfen sich damit die Stirn ab. Denken dran, wie sie selber noch jung waren und das Tanzbein geschwungen haben. Oder vielleicht denken sie auch an gar nix, die Alten.

 

Die alte Biancarelli denkt hundertpro an was! Sitzt unter ner Buche aufm Plastikstuhl, wie dem, den ich jetzt hab, bloß ohne Sprung. Qualmt eine blaue Gitane nach der andern, weißer Rauch und n Cowboygeruch steigen auf. Sie redet mit dem Baum. Mit dem Baum! Reibt ihre Stirn an der Rinde. Horcht am Stamm: Versucht, die Stimme von ihrer toten Tochter zu hören!

 

Der Blick von Florence is ins Leere gegangen, wie sie und Magic total versaut in dem Pinienwäldchen gelegen haben! Nich mal mehr die Zehen von der Kleinen haben sich bewegt. Hab sie angeredet, aber die hat überhaupt keinen Ton mehr von sich gegeben. Hab bei ihr an den Füßen killekille gemacht, aber die hat nich angefangen zu lachen! Irgendwann hab ich sie gepackt und geschüttelt. Die war ganz schlaff und voller Blut! Hab ihr den Finger in den Mund gesteckt, weil ich mir dacht, vielleicht beißt sie ja zu, aber nö, sie hat nicht zugebissen! Hab ihr ins Ohr geschrien, was sie offenbar null gejuckt hat. Mir is der Schweiß ausgebrochen, und der war salzig wies Meer. Florence hat nämlich dermaßen nach Schlachthof gestunken, Florence, die sonst so nen guten Lavendelduft verströmt hat, an der ich immer so gern gerochen hab. Was danach passiert ist, weiß ich nich mehr, mich hats wohl umgehauen. Wie ich wieder zu mir gekommen bin, hatt ich mir in die Hose gemacht und war überall mit Scheiße angeschmiert.

 

Bin aufm Dorffest und total blau, in meinem Kopf dreht sich alles. Ursprünglich wollt ich ja Alkoholiker werden, aber so weit hab ichs nich gebracht. Man muss sich am Anfang echt zwingen zu dem ständigen Trinken. Ist hart, Trinken, wenn man gar keinen Durst hat! Und kost auch noch Geld. Säufer trinken eben, damit das Leben und die Langeweile vergehen.

 

Aber mir is nie langweilig!

 

N paar stämmige Burschen singen im Chor. Paghjella, todtraurige korsische Musik. Die verschiedenen Stimmen vermischen sich, und ich seh wieder Madame Madeleine vor mir, ihr Lächeln, ihre sanften Hände, die weißen Haare und das schwarze Kleid mit den Vögeln drauf. Hab Gänsehaut, das ganze Dorf treibt im Fluss von der Musik und wiegt sich in Gedanken an seine Toten. Die alte Biancarelli steht abseits bei der Buche und weint sich fast die Augen aus.

 

Florence, mein Kind, jammert sie.

 

Vanina drängt sich in nem großgeblümten Kleid durch die Menge und rempelt Noëlle an, die ihr Gesicht in den Händen vergräbt. Weint um die Kinder, die sie nie gehabt hat, Noëlle. Kann keine Kinder kriegen, die Muräne! Ihre Gebärmutter is unfruchtbar, haben die Ärzte gesagt. War n Schock für sie, hat ihr wehgetan innerlich. Bricht seitdem jedes Mal in Tränen aus, wenn sie ne schwangere Frau sieht oder ne Mutter mitm Baby aufm Arm, obwohl sie mittlerweile sowieso zu alt is zum Kinderkriegen! Reicht auch schon, wenn ne dicke Frau auftaucht, die überhaupt kein Kind hat, sondern bloß nen fetten Bauch, weil sie das nämlich dran erinnert, dass sie unfruchtbar is.

Hat alles versucht. War erst beim Pfarrer und dann bei ner Teufelsaustreiberin, die Öl in Wasser geträufelt und nen Berg Heilkräuter angezündet hat. Sie hat n spezielles Ritual gehabt, bei dem sie vor nem Ei gesessen und dazu Gebete hergesagt und Weihrauch gestreut hat. Aber das Ganze hat nich hingehauen, und inzwischen is sie alt geworden. Sie hat ne komisch gerunzelte Stirn. Sieht aus wie n zerknittertes Blatt. Oder n abgestorbenes Blatt. Sie kann ihr Leid nich mehr ertragen. Beschimpft jeden, der ihr übern Weg läuft, und macht ständig Rabatz. Ich glaub, sie hat den bösen Blick, deswegen pass ich auf, dass ich ihr nich zu nahekomm. Wenn ich ihr begegne, spuck ich aufn Boden und zeig ihr die Hörner.

 

So wehr ich den Zauber ab!, sag ich zu meinem Stuhl.

 

Aufm Dorffest schubst Noëlle Vanina, weil die sie vorher ja angerempelt hat, und kippt ihr n Glas Rotwein übers großgeblümte Kleid. Drecksnutte!, zischt sie. Die stämmigen Kerle brechen ihren Gesang ab, weils auf einmal ne Keilerei gibt und Stühle und Fäuste durch die Gegend fliegen. Die Leute hören mit dem Weinen auf und stürzen sich ins Getümmel. Alle mischen mit. Is ne Frage der Ehre.

 

Pierre, mein Bruder, is auch so einer, der pausenlos seine Ehre verteidigt. Manchmal schießt er jemandem mitm Karabiner in den Hintern, bloß weil der irgendwas gesagt