Lola - Julie Estève - E-Book

Lola E-Book

Julie Estève

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Beschreibung

Der erste Roman der französischen Autorin Julie Estève steht in der feministischen literarischen Tradition von Virginie Despentes und Elfriede Jelinek. Es ist ein aufmüpfiges Buch über Erotik, Sex und eine Frau, die in kein Schema passt. Lola zieht auf High Heels, in Minirock und Netzstrümpfen durch Paris. Sie sucht Sex – und findet ihn. Sex als Mittel zum Vergessen. Als Lola acht Jahre alt war, starb ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall, Lola wurde aus einer idyllischen Kindheit gerissen und hat diesen Verlust nie überwunden. Sex als Mittel gegen den Schmerz. Sex aber auch als Kampfansage an die Doppelmoral der feinen Franzosen. Für Frauen wie Lola gibt es keinen Platz in der feinen französischen Gesellschaft, und dafür rächt sie sich. Ob Schuster, Geschäftsführer oder Kritiker, sie bekommt sie alle. Und sie erniedrigt sie alle, denn ihre Wut ist groß. Auch ihr Nachbar – Dove mit den bernsteinfarbenen Augen – will es mit ihr aufnehmen und bringt ihr ein Stück feiner selbstgemachter Schokolade. Der Duft steigt ihr in die Nase: Es ist der Beginn einer kriegerischen Freundschaft. Dove ist das Gegenteil von ihr, herzlich, häuslich, und er hat einen festen Lebensplan, in dem Lola eine Rolle spielen soll, die ihr fremder nicht sein könnte ... Julie Estève schreibt über weibliches Begehren, über Lust und ihre Nähe zum Hass. Über Eleganz, Charme und Verführung. Voller Ironie und tiefschwarzem Humor spielt sie gekonnt mit allen erdenklichen französischen Klischees. Ein fesselnder Debütroman, dessen Sog man sich nicht entziehen kann. Provokant, gewagt, zeitgenössisch.

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Seitenzahl: 168

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Julie Estève

Lola

Roman

Aus dem Französischen von Christian Kolb

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Der erste Roman der französischen Autorin Julie Estève steht in der feministischen literarischen Tradition von Virginie Despentes und Elfriede Jelinek. Es ist ein aufmüpfiges Buch über Erotik, Sex und eine Frau, die in kein Schema passt.

 

Lola zieht auf High Heels, in Minirock und Netzstrümpfen durch Paris. Sie sucht Sex – und findet ihn. Sex als Mittel zum Vergessen. Als Lola acht Jahre alt war, starb ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall, Lola wurde aus einer idyllischen Kindheit gerissen und hat diesen Verlust nie überwunden. Sex als Mittel gegen den Schmerz.

 

Sex aber auch als Kampfansage an die Doppelmoral der feinen Franzosen. Für Frauen wie Lola gibt es keinen Platz in der feinen französischen Gesellschaft, und dafür rächt sie sich. Ob Schuster, Geschäftsführer oder Kritiker, sie bekommt sie alle. Und sie erniedrigt sie alle, denn ihre Wut ist groß.

 

Auch ihr Nachbar – Dove mit den bernsteinfarbenen Augen – will es mit ihr aufnehmen und bringt ihr ein Stück feiner selbstgemachter Schokolade. Der Duft steigt ihr in die Nase: Es ist der Beginn einer kriegerischen Freundschaft. Dove ist das Gegenteil von ihr, herzlich, häuslich, und er hat einen festen Lebensplan, in dem Lola eine Rolle spielen soll, die ihr fremder nicht sein könnte ...

 

Julie Estève schreibt über weibliches Begehren, über Lust und ihre Nähe zum Hass. Über Eleganz, Charme und Verführung. Voller Ironie und tiefschwarzem Humor spielt sie gekonnt mit allen erdenklichen französischen Klischees. Ein fesselnder Debütroman, dessen Sog man sich nicht entziehen kann. Provokant, gewagt, zeitgenössisch.

Über Julie Estève

Julie Estève wurde 1979 in Paris geboren, wo sie auch lebt. Sie studierte Jura und Kunstgeschichte, spezialisierte sich auf moderne Kunst und arbeitet für verschiedene Museen und Magazine. «Lola» ist ihr erster Roman.

Sonntagmorgen

Das glatte nachtblaue Laken ist aus ägyptischer Baumwolle. Es fühlt sich weich an. Er schläft nackt darunter. Seine Augen sind geschwollen, die Lippen schlaff und schräg. Sie sieht ihn an, macht nichts anderes, als ihn anzusehen, seine Bewegungen zu beobachten. Sie hat sich alles gemerkt, was er gesagt hat, vom ersten bis zum letzten Satz gestern Abend nach dem Sex, der im Übrigen ein bisschen lieblos ausgefallen ist. «Schlaf gut, Schnucki», hat er gesagt. Schnucki, so ein Quatsch. Es widert sie an, wie er sie nennt, «Mäuschen», «Häschen», «Bienchen»: Das ist ihr zu wenig. Sie findet, dass diese Koseworte nicht zu ihr passen, sie sind unter ihrem Niveau. Jetzt schnarcht er. Sie hält ihm die Nasenlöcher zu, befühlt seinen glibberigen Knubbel, riecht an ihrer Hand und rollt das fettige Zeug amüsiert zwischen den Fingerspitzen. Er grunzt, dreht sich um und grunzt erneut. Das Laken ist ihm mittlerweile vom Hals bis zum Hintern heruntergerutscht. Sein von Leberflecken und Warzen übersäter Rücken liegt frei. Aus den Erhebungen sprießen kleine Härchen, die sie ausreißen könnte wie Unkraut aus einem Blumenkasten.

Sie hält dieses Schnarchen nicht mehr aus. Der Krach macht einen auf die Dauer rasend. Ihr Vater hat auch geschnarcht, als hätte er einen Hornissenschwarm in der Kehle. Sie könnte freundlich an ihm rütteln, ein paar Melodien pfeifen, aber damit wäre das Problem nicht gelöst. Von den anderen Beanstandungen ganz zu schweigen, ein Fass ohne Boden. Neulich ist er auf seiner Seite einfach eingeschlafen, ohne sie auch nur einmal zu streicheln, das muss man sich vorstellen. Mit solchen Kinkerlitzchen fängt es an, und es endet in einem schweren Dunst der Bitterkeit. Sie hat Angst, denn bald wird es ihm normal vorkommen, mit ihr zu schlafen, oder er wird es aus Gewohnheit tun, was noch schlimmer ist. Unerträglich. Einen Schrei erstickend, schlägt sie die Hand vor den Mund und geht in die Küche. In einem schwarzen Block in einem Regal zwischen Salz, Pfeffer, Kräutern der Provence und anderen Gewürzen stecken vier Keramikmesser, dämlich der Größe nach aufgereiht, vom kleinsten bis zum größten, wie die Daltons. Sie zieht das längste heraus. Am Griff ist in schrägen Buchstaben das Wort Santoku eingraviert. Sie hält das Ding fest in der rechten Hand. Betrachtet ihn durch den Türspalt, hört die ungleichmäßigen, kratzenden Geräusche, die er durch die Nase von sich gibt. Sie geht auf ihn zu, kniet sich ans Fußende des Bettes. Recht zerknautscht sieht er aus, wie er sich da in die Decke eingewickelt hat. Sie schenkt ihm ein sanftes Lächeln und rammt ihm das Santoku mitten ins Herz.

Freitag

Ihr Rock liegt eng an den Schenkeln an. Er ist wie immer zu kurz. Der Stoff kräuselt sich. In der Regel kauft sie ihre Röcke eine Nummer zu klein. Sie hat eine Schwäche für knallige Farben. In ihrem Alter setzt man Neongelb noch mit der Sonne und Ferrarirot mit Granatapfelsaft gleich.

Sie verlässt das Haus, siegesgewiss lächelnd. Die langärmlige, kragenlose weiße Bluse ist bis zu dem Spalt zwischen den Brüsten aufgeknöpft. Die Bluse klebt an ihrer Haut. Die Absätze klackern, hämmern über den Asphalt. In Sachen Blickfang fährt sie das volle Programm. Sie hat eine ganze Farbpalette Lidschatten aufgetragen. Das Schwarz an den Augenrändern zieht Furchen ins Gesicht. Die Wangen haben eine weiche Butterfarbe. Auch ihre Lippen sind stark geschminkt, aber sie weiß gar nicht, was sie eigentlich vorhat, was sie mit dem Abend anfangen soll. Ihr Schritt passt sich ihrer bleiernen Unruhe an. In einer angestaubten Schaufensterscheibe nimmt sie ihr Spiegelbild wahr: Diese Tussi ist nicht mehr die Jüngste.

Lola geht die gepflasterte Rue des Artistes hinunter. Sie wohnt in einem mit vielen Teppichen ausgelegten Appartement im 14. Arrondissement, auf einem kleinen Hügel am Parc Montsouris. Eine bezaubernde Gegend, von außen betrachtet sehr ruhig. Schöne Fassaden, Bäume, mit Blumen bepflanzte Rondelle. Das Viertel ist als «Grünzone» ausgewiesen. Sie kommt an den Gärten von Issoire vorbei. Les Jardins d’Issoire, das ist der Name einer Kneipe. Er klingt wie das Paradies, doch drinnen sitzen nur runzelige, ziemlich rotgesichtige Gestalten, die wie Trockenobst vor sich hin schrumpeln. Sie winken, die Zunge im Mundwinkel. Durch die Scheibe wirken sie unscharf und fern. Sie nehmen die verdorbenen Weine und Weiber, wie sie kommen. Und wenn Lola auftaucht, werden ihre Blicke unruhig, das hat für sie fast etwas von Hollywood. Lola hält den Kopf gerade, grüßt.

Sie geht langsam weiter, ohne großes Ziel. Die Avenue René-Coty ist menschenleer. Hunde pissen an die Stämme der ineinander verschlungenen Kastanien. Ein Stück weiter ist die Gare Denfert-Rochereau, Lola spürt das schrille Geräusch der quietschenden Züge an den Zähnen. An einer Anschlagsäule entdeckt sie ein Plakat, das sie aufheitert. Ein mit Hut und Umhang ausstaffiertes Mäuschen hält den Daumen hoch und gerät beim Anblick einer sattgrünen Wiese, auf der im Hintergrund ein Riesenrad steht, tierisch aus dem Häuschen. In geschwungenem Rosa ist der Schriftzug La Fête des Loges zu lesen. Ein Rummel. Lola beschleunigt ihren Schritt. Sie hat ein Ziel gefunden. Sie liebt die fliegenden Bauten, die Berge von Plüschtieren, die nach Spucke und Frittieröl riechen, die durch die Luft wirbelnden Schaukeln und die Schreie und Grimassen der Fahrgäste. Sie liebt die Schönheit des Elends, den Zauber des Dreckigen. Auf dem Rummel kann sie den Leuten stehlen, was ihnen noch geblieben ist: das Vergessen.

 

Im Zug nach Saint-Germain-en-Laye setzt sie ein starres Lächeln auf. Bei Einbruch der Nacht steht sie vor dem Eingang zum Jahrmarkt und wirft ihr dunkles Haar zurück. Sie lässt sich durch eine bedrückende Menge von Wahnsinnigen treiben. Das Gewühl spornt sie an, sie stakst in ihren hochhackigen Pumps mittendrin dahin.

Ein rothaariger Junge mit großen Ohren und offenem Hemd rempelt sie an. Er ist vielleicht fünfzehn oder noch nicht mal. Seine Freiheitsgefühle spiegeln sich in einem beschränkten Lächeln wider, wahrscheinlich ist er zum ersten Mal besoffen. Wie ein Hampelmann aus Holz fuchtelt er mit den Armen in der Luft, hartnäckig bemüht, den Takt der Musik zu halten. Als er wegen einer ungeschickten Bewegung ins Straucheln kommt, klammert er sich an Lolas herabhängendem Arm fest, nähert sich bis auf wenige Zentimeter ihrem Gesicht und presst ein feuchtes, beiseitegesprochenes «’tschuldigung, Madame» hervor. «Dale a tu cuerpo alegría, Macarena», brabbelt er weiter den Schlagertext. Einige Speicheltröpfchen sind in der Mundgegend der übermäßig geschminkten Passantin gelandet, die rasch die Zunge ausfährt und den unschuldigen Auswurf ableckt, bevor er trocknet. Sich mit der einen Hand die Stirn haltend, mit der anderen den Bauch, verzieht sich der Knabe in eine dunkle Ecke, wo er ein Gemisch aus sauren Bonbons, süßen Churros, Bier und billigem Whisky auskotzt.

Lola schaut dem torkelnden Trunkenbold hinterher, wendet sich dann ab und kommt zu einem Schießstand, an dem ein Muskelprotz zwei Eiskugeln, Erdbeere und Schokolade, aus einer Tüte aus Pappe schleckt. Er wartet auf einen freien Karabiner, möchte wohl gern die Luftballone aufs Korn nehmen. Sie flattern in ihren Käfigen wie Insekten im Licht einer Laterne. Lola tritt näher, vorsichtig, denn ihre Absätze versinken in der aufgeweichten Erde. Ihr Gang hat etwas Anrüchiges. Sie schnüffelt an seinem Nacken, ohne dass er es merkt. Er schwitzt hemmungslos unter seinen Acrylfasern, das Hemd pappt am Oberkörper. Sie wiegt sich in den Hüften und lockt ihn mit einem «Na? Alles klar?».

Der Typ dreht sich zur Hälfte um und scannt die Fremde von oben bis unten ab. Männer können in erschreckend wenigen Sekunden einen persönlichen Kriterienkatalog durchchecken und abschätzen, ob eine Frau für sie was taugt oder nicht. Mit den Jahren achten manche nicht mehr so sehr darauf, wie drall die Brüste sind, wie zart die Haut oder wie rund der Arsch ist. Dieser kommt zu dem Schluss, Lola ist der Hammer.

«Siehst du den da?» Er zeigt mit dem Finger auf einen Plüschdelphin im Regal, den fettesten Plüschdelphin weit und breit. «So einen hab ich letztes Jahr geschossen, und dieses Jahr gibt’s einen Flachbildfernseher zu gewinnen, voll das Home Cinema. Den Fernseher muss ich haben, den muss ich echt haben!»

«Yeah! Ich heiß Lola, und wie heißt du?»

«Thierry!»

Er schlingt den Rest seines Eises mit einem Happs hinunter. Hochstimmung perlt von seinen Schläfen.

«Super. Fährst du nach deinem Triumph Geisterbahn mit mir, Tommy?»

«Ich heiße Thierry!», meint der Typ.

Lola lässt es gern krachen auf solchen Volksfesten. Oft schnappt sie sich dort ihre Beute. Und Thierry sieht wirklich köstlich aus, wie ein Rebhuhn royal mit Goldarmbändchen. Während er in die Hocke geht und sich wie ein hüpfender Frosch aufwärmt, zündet sich Lola eine Marlboro an. Sie betrachtet ihn mit dem nötigen Ernst und der nötigen Verzückung, die Absätze im Boden versunken. Die Zigarette im Mundwinkel, streicht sie dem Monsieur über die Schulter und knetet ihn ein wenig durch, als würde sie einen Boxweltmeister bearbeiten, der gleich in den Ring steigt.

«Na dann, leg mal los, Baby!», ermuntert sie ihn.

Thierry macht sich bereit, und mit einem Mal verwandelt er sich in Steve McQueen in Die glorreichen Sieben.

Der erste Luftballon: platzt. Der zweite: wird zerfetzt. Der dritte: fliegt in Stücke. Dem vierten, dem fünften und dem letzten ergeht es nicht anders. Thierry setzt das Gewehr ab, ballt die rechte Faust und reckt sie in den Himmel. «Yes! Wer ist hier der Beste? Na, wer wohl? Titi!»

Die erste Salve ist ruck, zuck verfeuert. Der Cowboy hat die Wahl, den Gewinn erneut einsetzen oder mit einem Donald-Schlüsselanhänger nach Hause gehen. Er macht natürlich weiter, nimmt die Luftballone unter Beschuss, knallt sie weg. Keine Kugel verfehlt ihr Ziel. Eine Menschentraube bildet sich um ihn. Alle bewundern Thierrys Heldentaten. Lola hat das große Los gezogen. Er ist der Star der Party, und er gehört ihr. Wer cool Gitarre spielen oder eben Luftballone über den Haufen schießen kann, erregt immer Aufmerksamkeit. Für ein paar Minuten ist Thierry ein begehrter Mann. Die große Attraktion. Die Augen der Familienmütter leuchten. Ihre Pupillen weiten sich. Sie glotzen gebannt. Auf den Leim gegangen. Die von Eifersucht gepackten Ehemänner versuchen, sie wegzuzerren.

«Ich hab Hunger, holen wir uns eine Crêpe?»

«Warte doch, ich schau hier gerade zu!»

In solch einem festlichen Rahmen kann Thierry gar nicht verlieren. Vielleicht spüren die weiblichen Fans in ihren Slips einen Kitzel der Wollust. Der Schausteller hat das Mikro in die Hand genommen und schreit hinein: «Achtung, jetzt gilt’s! Feuert den großen Meister an!»

In filmreifer Zeitlupe legt Thierry die Knarre an und zielt. Seine Haltung bringt das vordere Schulterblatt vorteilhaft zur Geltung. Peng, peng, peng, getroffen, er schließt für einen Moment die Augen, genießt seinen Sieg und das Geschrei der Frauen. Er hat – einen Flachbildfernseher gewonnen. GRUNDIG/19 Zoll steht in blutroten Lettern auf dem Pappkarton, den er an sich drückt. Achtundvierzig Zentimeter Glück. Die Menge hat sich schon aufgelöst, als er sich mit seinem Paket, mit dem er sich nun abschleppen darf, und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen umdreht. Die Frauen haben wieder ihr sprödes Wesen angenommen, die Männer wenden sich ihren Nutella-Crêpes zu. Nur Lola ist noch da und klatscht aufopferungsvoll Beifall. Sie wittert ihre Beute und ruft «Bravo, Titi!».

«Jetzt musst du mit mir Geisterbahn fahren!», fügt sie hinzu.

 

In der Schlange klammert sie sich an den stählernen Bizeps ihres Champions. Gekreische und Gelächter dröhnen aus dem Spukschloss, wo Monster aus dem Fenster baumeln und allerlei Lichter blinken.

«Du gefällst mir, du bist ein richtiger Winner», sagt sie.

Thierrys Brust wölbt sich, er zeigt seine Muskeln, sagt kein Wort, zwinkert nur, ein Zwinkern, das einem fernen Jahrhundert zu entspringen scheint und so viel heißt wie: Dir werd ich’s besorgen.

«Zwei Karten, bitte.» Zehn Euro, er zahlt, ganz der Gentleman.

Die beiden nehmen in einem Wagen mit Pitbullschädel Platz. Das Vieh hat grüne Zähne, aufgemalten Sabber und streckt die Zunge raus. Und Thierry legt endlich seine Hand auf Lolas Schenkel. Sie spürt einen Luftzug zwischen ihren Beinen. Das Schienengefährt setzt sich in Bewegung und taucht in die burleske Welt voller Spinnennetze und Plastikskelette ein. Lola ergreift Thierrys Hand, die sich nicht von der Stelle gerührt hat. Sie schiebt sie höher. Funkelnde gelbe Augen beobachten sie im Dunkeln. Er steckt ihr einen Finger rein. Tief, und zieht ihn wieder raus. Sie knöpft ihm die Hose auf und packt mit flinken Bewegungen seinen Schwanz aus.

«Pass auf die Glotze auf!», bemerkt er.

Unvermittelt kommt ein Zombie zum Vorschein, und Lolas Blicke versprechen die ganz große Schlampennummer. Thierry führt sein Geschlechtsorgan zu ihrem Mund, um die Wärme zu spüren. Das Teil nistet sich in ihrer Mundhöhle ein und verschwindet langsam hinten im Rachen. Ein Sensenmann erscheint. Er schwingt die Hippe mechanisch hin und her. Lola äfft ihn nach. In einem Zerrspiegel betrachtet Thierry, wie die Puppe sich eifrig an ihm zu schaffen macht. Sie nimmt immer mehr Spucke. Das flutscht, easy-going. Er spielt mit ihrem Kopf, biegt ihn zurück und drückt ihn ran. Bis zum Happy End. Erledigt, in exakt drei Minuten. Die Manneskraft eines Champions hat den Monstern standgehalten. Als der Pitbull aus dem Tunnel fährt, wischt sich Lola mit dem Ärmel den Mund ab.

 

«Das war geil!», ruft Thierry und will sich mit seinem Flachbildfernseher schleunigst aus dem Staub machen.

«Warte!»

«Was ist?»

Rasch zieht Lola einen Nagelknipser aus ihrer Kunstledertasche. Sie packt die rechte Hand ihres Gefährten und schneidet ihm ein Stück Daumennagel ab.

«Du hast sie wohl nicht mehr alle!»

«Ach ja …», meint Lola mit plötzlicher Gleichgültigkeit, steckt den Nagel in ein Plastiktütchen und winkt Thierry – schon aus einiger Entfernung – hinterher.

Sonntag

Halb eins. Lola hat lange geschlafen. Sonntage sind so, als gäbe es kein Morgen. Sie streckt sich träge, steigt aus dem Bett und drückt ihre Stirn gegen die Fensterscheibe. Paris ist gelb. Die Sonne draußen strahlt stolz und kräftig. Ihr Schein durchdringt die dicken Vorhänge und zeichnet traurige Streifen auf den grau-blauen Teppich.

Ihre Kehle brennt, ihr Rachen ist scharlachrot, das kommt von der Schachtel rote Marlboro, die sie sich am Abend reingezogen hat. Lola greift sich an den Hals, fasst mit der anderen Hand an die Scheibe und denkt an die zwanzigjährigen Mädchen mit den vielversprechenden langen Beinen, die den Sommer oder ein ganzes Leben noch vor sich haben. Sie stellt sich die jungen Leute vor, die schüchtern zum ersten Mal «Ich liebe dich» sagen, mit schamgerötetem Gesicht. Die jugendliche Liebe ist die reinste, die gewaltigste. Lola ballt die Fäuste, bis die Fingernägel sich in ihre Handflächen bohren. Von draußen dringt der gewohnte Lärm herein, und drinnen, in der Wohnung mit den vielen Teppichen, ist ihr gleichmäßiger Atem das einzige Geräusch.

 

Lola macht sich einen starken Kaffee, ihr Blick ist leer. Sie versucht, mit den Fingern die Knoten in ihrem Haar zu entwirren. Früher hat das ihre Mutter getan, beim Frühstück, während Lola ihre Schale heiße Schokolade trank. Sie hat die schwarze Bürste gepackt und die Knäuel entflochten, die sich über Nacht gebildet hatten. «Jetzt bist du schön, meine Liebe», hat sie anschließend gesagt. Doch eines Tages war die Hand, die die schwarze Bürste umfasste, verschwunden. Zurück blieben nur der Nesquik-Dampf und die Tränen eines Kindes, das nie so recht verstanden hat, was mit trauern eigentlich gemeint war.

Dabei hat sie den Ausdruck damals in dem dicken blauen Lexikon nachgeschlagen, das wie eine freundliche Einladung, sich mit dem Ernst des Lebens zu befassen, auf einem Tischchen im Flur neben dem Telefon stand. Zwischen zwei alten Telefonbüchern zog sie das schwere Teil heraus und setzte sich damit auf den kalten Boden, den dicken Schinken auf den kurzen Beinen. Sie blätterte darin und stieß zufällig auf das Wort verdammen. Sie las: jemanden zu Höllenqualen verdammen. Ein Schauder überlief ihren Mädchenkörper. Ihr Blick fiel auf Wörter wie Thorax oder Tal, wie tief greifend oder Tod, da standen tradieren, Transformation, Trauma und Trockenheit, und dann kam endlich der ihr unklare, geheimnisvolle Begriff, den die Erwachsenen seit einigen Tagen auf den dürren Lippen trugen: Trauer.

Da hatte sie ihn, jetzt würde sie herausfinden, welche Schweinerei sich dahinter verbarg. Denn es musste irgendeine Schweinerei sein, das spürte sie. Sie zeigte mit den Fingern darauf und formte sie zu einer kleinen Pistole. Über die Seite erstreckten sich gleich sechs Erklärungen, nicht etwa nur eine. Punkt, neue Zeile. Sie musste erst mal alle sechs kapieren und sich dann eine davon einprägen. Irgendwo in dem Eintrag tauchte die Formulierung «Trauer tragen» auf, die nahm sie. Trauer tragen, das leuchtete doch ein. Sie stellte sich vor, wie sie in ein Kleid, ihr Lieblingskleid, schlüpfte, das ihr die Mutter gekauft hatte und das ihr eigentlich schon zu klein war, ein Rüschenkleid. Sie hatte das kindliche Verlangen, sich in diesem Kleid vorzustellen.

 

Sie bekommt Hunger. Hunger wie ein streunender Hund. Zwei Uhr, ihr Magen krampft sich zusammen von dem Liter Kaffee, den sie getrunken hat. Sie zündet sich eine Zigarette an, um den Schwanzgeruch an den Fingern loszuwerden. Der erste Zug schneidet ihr fast die Kehle durch, ihr Herz zuckt. Sie sollte in die Dusche steigen, den Wasserhahn aufdrehen, sich gründlich einseifen und abrubbeln, jede Ritze schrubben, mit Duschgel und Shampoo, und hinterher die Haare föhnen, so wie der Rest der Welt das auch macht, immer schön sauber sein und nach Rose oder Kokosnuss duften. Aber Lola raucht. Sie pumpt sich mit Nikotin voll. Waschen kann sie sich auch später, morgen vielleicht. Schließlich drückt sie die Kippe in ihrem schwarzen Aschenbecher aus und beobachtet die Staubflocken, die in die Ecken und unter die Möbel kriechen und sich in lockeren, kleinen grauen Haufen grazil auf dem Wollteppich niederlassen. Lola würde gerne wissen, ob sie einen Geruch haben, nach irgendetwas schmecken.

Sie greift nach ihrer Tasche, holt das Plastiktütchen heraus, in dem sich der Daumennagel des Typen von gestern Abend befindet – seinen Namen hat sie schon vergessen –, und wirft ihn ins Glas. Sie schüttelt das Gefäß und betrachtet die Nägel, die wie in einer Schneekugel durcheinanderwirbeln. Es sind Hunderte. Beim Anblick ihrer Beute regt sich in ihrem Herzen eine Mischung aus Ekel und Trost. Wie viele Kerle, wie viele Mistkerle waren es genau? Wie viele werden noch kommen?

Sie schaut sich in dem Spiegel an, der über ihrem Bett hängt, und denkt, dass sie zu nichts sonst gut ist. Sie hat noch die Schminke von gestern im Gesicht. Die Farbe bröckelt ab, wenn sie ihr grimassenhaftes Lächeln aufsetzt, wie ein ewiger Zirkusclown, der auf seinen großen Auftritt wartet, darauf, die Leute mit seinen traurigen Gebärden zum Lachen bringen zu dürfen. «Bist du aber schön», sagt sie zu ihrem Spiegelbild.