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Bereits seit rund einem Monat wird die 24-Jährige Angela aus Untervaz vermisst. Nach einem Spaziergang am Rhein ist sie nicht mehr zurückgekehrt. Trotz einer gross angelegten Suchaktion bleibt sie verschwunden. Es wird befürchtet, dass die junge Dame in den Rhein gesprungen ist. Zumindest so lange, bis ich Jan und Mateo einen Brief zukommen lasse, in dem ich die Wahrheit über sie schreibe. Sie war meine erste richtige Freundin, bis sie mich verlassen hat. Es wird noch mehr Freundinnen geben. Es gibt so viele hübsche Frauen im Dorf. Für mich spielt es keine Rolle mehr. Ich bin krank, ich bin einsam und niemand hört mir zu. Meine Freunde können meine Einsamkeit längst nicht mehr unterdrücken. Ich versetze das Dorf in Angst und Schrecken.
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Gewidmet:
∼ Meinem Heimatdorf Untervaz und seinen Bewohnern.
∼ Meinen Freunden, mit denen ich hier aufwachsen durfte.
Herzlichen Dank für die Gestaltung des
Covers, Moritz Cahenzli.
Fürs Testlesen, die Kritik und die
wertvollen Tipps danke ich Simon Eckert,
Elia Cahenzli und Moritz Cahenzli.
Diese Geschichte spielt sich in meinem
Heimatdorf, Untervaz, ab. Sie ist frei erfunden.
Natürlich sind einige Gedankengänge von mir in
der Geschichte mit eingebaut. Einige so wie ich
darüber denke, einige überspitzt, einige
provokativ und einige ins Extreme gezogen. Sie
sollen der Spannung dienen und den Figuren eine
gewisse Tiefe verleihen. Bei den Charakteren und
Namen habe ich an niemand bestimmten gedacht.
Allfällige Ähnlichkeiten wären zufällig.
August 2019, Mirco Krättli
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Ich sitze in meinem Garten. Meine Hände zittern. Ich muss die Kaffeetasse absetzen. Krampfhaft lege ich meine Hände auf die Knie und starre auf das Gebüsch. Kalter Schweiss rinnt mir die Stirn herunter und in meinem Magen sticht es gewaltig. Ich versuche mich zu beruhigen, atme die kühle Frühlingsnachtluft ein. Erst schnappend, dann immer ruhiger. Es funktioniert, meine Hand hat aufgehört zu zittern und in meinem Kopf breitet sich ein beruhigendes Gefühl aus. Mein Blick wandert nach oben. Der Mond steht hoch am Himmel. Er beleuchtet das Feld mit seinen schlangenförmigen Wegen, die sich in der Mitte und bei den Strommasten kreuzen. Vor einigen Stunden hat es noch geregnet. Es verleiht den Feldwegen eine glitzernde Struktur, die mystisch wirkt. Gelegentliches Dröhnen der Motoren, der auf der weit entfernten Autobahn fahrenden Autos dringt in mein Ohr. Einige Katzen die sich streiten, einige Kuhglocken die aus der Dunkelheit heraus leise bimmeln. Die Bauern liegen bereits in ihren Betten. Von dem am kürzest entferntesten Stall dringt mir der Geruch von Mist und Stroh in die Nase. Sanft und nicht drückend. Ich mag es. Es fühlt sich nach Heimat an. Ein Bauerndorf ist es schon immer gewesen. Am Ausgang eines Tobels liegend, am Fusse des Calandas. Der dunkle Wald, der den Berg hinauf reicht, gespickt mit Maiensässen die stolz an den Hängen des Berges thronen und auf das Dorf hinunterblicken. Drei Burgen! Welches Dorf besitzt schon drei Burgen?! Die eine steht majestätisch und gut sichtbar auf einem Felskopf, die andere geheimnisvoll eingebettet in eine Felsgruft und die Burgruine Friewis, voller Geschichte. Ein circa 2500 Einwohner-Dorf. Ich liebe es. Der Stadtmensch würde wohl sagen, dass es ein verdammt langweiliges Kaff sei in dem es nach Kuhfladen riecht. Dazu wird es noch Schattenloch genannt. Zugegeben, im Winter scheint die Sonne ziemlich mager auf das Dorf hinunter, doch was macht das schon? Was für eine oberflächliche, unüberlegte Aussage! Und langweilig? Unwillkürlich schnaube ich auf, schüttle den Kopf wenn ich darüber nachdenke. Die zweitgrösste Fasnacht in Graubünden und eine uralte, tief verankerte Tradition. Junge Leute die sich für das Dorfleben einsetzen, einen Partywagen aus einem Anhänger bauen und damit Feste veranstalten. Leute die dem Beizensterben entgegenwirken wollen und eine neue Beiz eröffnen, Leute die Freitagstreffen ins Leben gerufen haben, damit die Bevölkerung zusammenrückt. Vereine die an der Fasnacht schuften, den dummen Nörglern trotzen, denen es an der Fasnacht zu laut ist…
Ich merke wie ich wütend werde. Ich schlürfe ein wenig von meinem Kaffee und zünde mir eine Zigarette an, doch die Wut verschwindet nicht. »Scheisse!«, entfährt es meinem Mund.
»Warum machschder au immer söttig Gedanka?«, höre ich eine leise Stimme in meinem Hinterkopf sagen. Schön und gut, ich versuche mich abzulenken. Fussball, die WM steht vor der Tür. Hoffentlich erreicht die Schweiz endlich einmal einen verdammten Viertelfinal. Es geht noch zwei Wochen und ein paar Jungs aus dem Fussballklub haben das Public-Viewing im Rüfeli bereits aufgestellt. Alle Jahre wieder. Schon wieder etwas, was der Langeweile im Dorf entgegenwirkt. Und im August selbstverständlich das Summernachtsfäscht beim Flügerliplatz. Oh ja, es wirkt. Ich beruhige mich wieder ein wenig. Ich ziehe noch einmal an meiner Zigarette und drücke sie danach aus. Mein Blick wandert wieder hoch zu dem Mond und zu den Sternen. Das Universum. Ein Thema, das mich schon immer interessiert hat. Die dunkle Unendlichkeit, nur durchbrochen von glitzernden Galaxien. Wenn ich daran denke, wie klein wir Menschen darin sind … klein und unbedeutend, wie ein Sandkorn in der Wüste … wie wenig wir über die Geheimnisse des Lebens wissen und was wir alles noch entdecken können. Ich kriege Gänsehaut. Faszinierend und beängstigend zugleich. Eine ganze Viertelstunde kann ich mich locker mit diesen Gedanken befassen, doch dann ist auch schon wieder Schluss. Ich schüttle wieder den Kopf. Warum kann ich nicht einfach normal sein? Ist es eine gewisse Einsamkeit? Brauche ich jemanden, der mir zuhört? Dem ich zuhören kann? Meine Freunde können dieses Bedürfnis schon lange nicht mehr befriedigen. Und schon ist es wieder da, das krampfhafte Gefühl in der Magengegend. Die Arbeit kotzt mich an. Wo liegt bloss der Sinn? Ein Leben lang fünf Tage in der Woche krüppeln. Alles für zwei Tage Wochenende und fünf Wochen Ferien im Jahr? All der häusliche Luxus, zwei Fernseher, Essen im Überfluss, mein Hobby, das Fussballspielen, Kleider, Schuhe, Wein, Bier, zwei verdammte Kühlschränke, fliessendes Wasser, eine Badewanne … für was denn genau?
Ich verkrampfe mich so fest, das ich mich wieder vorbeugen muss. Ich versuche nicht auf den Boden zu kotzen. Lange bin ich zufrieden mit diesen banalen Dingen gewesen. War froh, dass ich sie haben kann und es ist mir nach wie vor tief im Bewusstsein verankert, dass in der Schweiz eine extrem gute Lebensqualität herrscht. Doch da sind auch diese anderen Gedanken. Ich bin zu Höherem bestimmt. Ich will nicht das ganze Leben lang dem langen, gewöhnlichen Tritt folgen, nein, ich kann nicht. Doch für was bin ich denn bestimmt? Wäre ich Fussballprofi geworden? Noch nie daran gedacht. Keine genügend gute Qualität vorhanden. Noch nie. In die Politik? Interessiert mich nicht. Selbstständig arbeiten? Möglich, doch was genau? Keine Ahnung, keine dafür geeigneten Fähigkeiten.
Zitternd greife ich nach meiner Kaffeetasse. Trinke das braune Gold in drei Zügen leer. Ich lecke mir die Lippen und entzünde mir erneut eine Zigarette. Ein brutaler Stich zuckt mir durch die Magengegend, als mich einen Gedanken durchfährt, wie ein Blitz. Kein gutes Aussehen, keine Freundin. Niemand der mich anhört. Kein Gefühl gebraucht oder gar geliebt zu werden. Meine Finger drücken den Filter der Zigarette so fest, dass er bricht. Ich schmeisse sie in den Aschenbecher und unbeholfen greife ich nach dem nächsten Glimmstängel. »Und doch häsch a Fründin!«, flüstert mir die Stimme im Hinterkopf zu. Ich nicke heftig mit dem Kopf und meine Mundwinkel verziehen sich beinahe krampfhaft zu einem Lächeln. »Du häsch Rächt! I wärda d Angela schu bald wider go bsuacha goh«, flüstere ich leise in die dunkle Nacht hinaus. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche hervor. Facebook befindet sich auf der Startseite. Ich klicke auf die Suchfunktion, gebe ihren Namen ein und finde sie tatsächlich. Noch immer, ich kann es nicht glauben. Ich verliere mich an ihren schönen blonden Haaren, die ihr weit über die Schultern reichen, an ihren grünen Augen, die wie ein Smaragd funkeln, an ihrem langen rosa Kleid, dass sie auf diesem Bild getragen hat, muss an ihre freundliche, unbekümmerte Art denken, an ihren starken Charakter … »Oh Angela«, flüstere ich leise und bemerke, wie mir eine Träne über die Backen rinnt. Es ist eine Träne der Freude, ganz ehrlich. Nur Angela kann mir dieses Gefühl geben. Eine innere Ruhe, eine Zufriedenheit und ein Drang zugleich kriecht durch meinen Körper. »I muass si wider gseh!«, denke ich mir bestimmt. »Geduld! Bald isch Wuchaend! Dänn gömmersi go bsuacha!«, sagt mir meine Stimme im Hinterkopf. »Jo, nuno mora schaffa und denn …«, flüstere ich mir zu. Ich blicke auf das Handy. Zehn vor Zwölf. Höchste Zeit für das Bett. Ich stehe auf, lösche meine Zigarette und packe meine Kaffeetasse. Ich stosse die Gartentüre auf und begebe mich in mein dunkles Wohnzimmer hinein. Ich schliesse die Haustüre ab und ohne meine Zähne zu putzen stosse ich die Türe zu meinem Schlafzimmer auf. Mein Bett liegt da, einsam auf mich wartend. Bücher stapeln sich in einem Bücherregal. Verstaubt und seit Jahren ungelesen. Ausser »Märchen aus der Vergangenheit«, mit der Sage von Blaubart, liegt aufgeschlagen auf meinem Nachttisch. Ein vergilbter Spiegel, ein riesiger Flachbildfernseher, ein Fenster dessen Storen stets geschlossen sind. Ich muss würgen ab der Einsamkeit dieses Zimmers. Rasch ziehe ich mich aus und lege mich nackt in mein Bett. Ich ziehe die Decke hoch und bevor sich meine Augen schliessen, durchzuckt mich dieser letzte, befriedigende und beruhigende Gedanke.
»Oh Angela … mora werden sich üsari Händ wider berüara. Dini chalta und mini warma. A perfekts Duo. I werda diar dini Hoor strähla und neus Make-Up ufsetza, dis süassa Chlaid richta und di uf dini tota, violetta Lippa chüssa.«
Der alte Steinbruch-Hans, Schindel-Sepp und Forst-Gregor sitzen am Stammtisch in der Sterna. Jeder von ihnen hat eine Fläscha vor sich stehen. Ihre alten, verrunzelten Gesichter sind von dem Alkohol gerötet und ihre lallenden Stimmen sind gut vernehmbar in der kleinen, feinen Dorfbeiz.
»Moins zämma!«, sagt Jan laut und er bekommt drei freundliche »Hoi« zurück. »Chumm, döt hinna isch doch guat«, sagt er zu seinem Freund, Mateo. Die Sporttaschen und die Squash-Schläger haben sie am Eingang hingestellt. Die beiden Männer freuen sich nun auf ein kühles Bier nach der Anstrengung. Sie setzen sich an den leeren Tisch und warten auf die Kellnerin, die nach wenigen Sekunden bereits bei ihnen steht und freundlich fragt, was es denn sein darf.
»Zwai Stanga gära, Hernanda«, sagt Mateo und lächelt die Bedienung dabei charmant an. Jan grinst, als die Kellnerin etwas verwirrt wirkend hinter die Bar verschwindet um das Bier zu besorgen. Der alte Charmeur! Bereits seit dem Kindergarten kennt er Mateo Er ist sein bester Freund und lebt, genau wie Jan, seit je her in Untervaz. 26 Jahre sind die beiden Männer alt und haben so manche Gemeinsamkeiten. Sie arbeiten beide bei der Südostschweiz-Zeitung in Chur. Beide als Kundenberater. Beide spielen sie Fussball im FCU. Sie wohnen gemeinsam in einer WG, in den einigermassen neuen Bauten im Chriesibühel. Nur bei der Figur unterscheiden sie sich doch ziemlich beträchtlich. Jan, 1.85 Zentimeter gross, schlank, dunkelbraune Haare, blaue Augen und ziemlich muskulös und ziemlich beliebt bei den Frauen. Mateo hingegen ist 1.73 Zentimeter klein, etwas rundlich, hat ein Doppelkinn und verfilztes, blondes Haar und graue Augen. Mateo hat sich schon oft darüber beklagt, dass sich die Frauen nur für Jan interessieren würden und nicht für ihn. Dieses typische Männergespräch. »D Mädels sind so oberflächlich. Sie gsehn nu din Adoniskörper und schu schmelzens diar vor der Nase dervo!« Humoristisch sind die beiden Männer ebenfalls auf einer Wellenlänge. Jan kann locker zurückgeben: »Denn mach doch öppis! Muasch halt der Ranza wägkriaga und weniger spachtla! Usserdem hett di d Antonia letschtmol am Biarfescht zimmli fescht agmacht!«
»Hörmer uf! A gwüssi Idee und Vorstellig vum Usgseh funera Frau hani schu! An mi chunnt ma au nid aifach so dra, Alter!«, ist oftmals die prompte Antwort von Mateo. Jan muss immer wieder lachen ab dem Typen. Diese Freundschaft hält doch einiges aus. Da können solch lumpige Sprüche keinen der beiden aus der Bahn werfen. Zumal Mateo überhaupt nicht dick und unsportlich ist. Er isst einfach gerne, ist klein und dies macht sich trotz Fussball und Squash bemerkbar an seinem Körper.
Grölendes Gelächter schallt von den drei älteren Vazern am Stammtisch zu Jan und Mateo herüber. Die drei Herren haben sich nun vom Bier ab- und dem Schnaps zugewandt. Wieder grinsen sich Mateo und Jan an. Sie finden es witzig und die älteren Herren mögen es immer, wenn sich junge Vazer in der Beiz aufhalten. Die Männer haben bemerkt, dass sie von Jan und Mateo beobachtet worden sind. »Chömmen überi, i spendiar eu no Ais!«, dröhnt Schindel-Sepp und schielt Mateo und Jan dabei mit blutunterlaufenen Augen an.
»Warum au nid, i varreck ab da Gschichta fu da Alta!«, flüstert Jan grinsend an Mateo gewandt. Mateo nickt mit dem Kopf und steht auf. Sogleich sich die beiden auf ihren Stühlen niedergelassen haben, beginnt bereits die übliche Zeremonie der Alten. Jeden Freitag sind Jan und Mateo in der Sterna, jedes Mal nach dem Squashspielen in der Tennishalle. Nicht selten sitzen diese drei alten Vazer dann am Stammtisch und lustigerweise erinnern sie sich dabei kaum noch an die letzten Begegnungen.
»Du bisch fum Roger, oder?«, sagt Forst-Gregor keuchend an Jan gewandt. Ein Grinsen macht sich auf dem Gesicht von Jan breit.
»Jo, Forschti, das hander vor zwai Wucha schu gsait. Und der Hammer-Roger isch min Neni«, antwortet er dem alten Mann, der einige Sekunden verwirrt wirkt.
»Stimmt worschinli schu. Waisch, in minam Alter vergässemar das zimmli schnell wider!«, brummt Forst-Gregor zurück, etwas zu ernsthaft für Jans Geschmack, doch Steinbruch-Hans rettet die etwas drückende Situation.
»Tuan doch ahständig, Forschti! Luagna doch ah, er gsiat doch genau glich us wia der alt Hammer-Roger. Gsesch doch, das au der Jung fum Jung hammermässig usgsiat!«
Gellendes Gelächter schallt durch die Beiz. Forst-Gregor stimmt donnernd in das Gelächter mit ein und bejaht übertrieben zustimmend.
»I ha immer gmaint er wird so gnännt, willer sona grossa Hammer hät!«, sagt Mateo unverhofft, als das Gelächter bereits wieder abflachte. Jan brüllt vor Lachen und auch die Alten schüttelt es ziemlich heftig. Schindel-Sepp verschüttet sich gar seinen Schnaps auf den Schoss vor Lachen. Oh ja, das ist typisch Mateo. Ab und zu trifft er mit seinen dämlichen Sprüchen völlig ins Schwarze.
»Iar sinn doch Affa!«, brummt eine Stimme hinter Jan und eine Hand mit einer neuen Stanga bewegt sich neben seiner Schulter vorbei. Hernanda hat die von den alten spendierten Stanga gebracht und blickt die alten Herren mit einer Mischung aus Belustigung und Unverständnis an. Hernanda ist eine hübsche Frau. Blonde, schulterlange Haare, schlanke Figur und ein glühendes Gesicht mit stechenden, blauen Augen. Sie ist meist freundlich und zuvorkommend, mag es wenn in ihrer Beiz etwas läuft, doch scheut sie nicht davor zurück ihre Meinung offen zu sagen. Wenn ihr jemand komisch kommt, ist sie durchaus auch in der Lage ihn hochkannt aus der Beiz zu werfen.
»Mängmol muas ma a Aff si, Hernanda. Chumm, hock doch au hära. Isch jo niamert do!«, antwortet Steinbruch-Hans glucksend.
»Jo guat, der TV chunn erscht noch da Zehna«, antwortet die Kellnerin mit einem Blick auf eine Wanduhr und macht sich kurz davon, um sich ein Glas Wein einzuschenken.
»Chasch höra sabbera, an dia chusch eh ni zuahi« grinst Jan Mateo an, der der Kellnerin mit sehnsüchtigem Blick nachgeschaut hat.
»Schnauze, an Versuach wärs allemol wärt«, grummelt Mateo zurück und richtet seinen Blick rasch wieder auf Jan, da Hernanda gerade mit einem Glas Wein in der Hand sich zu ihnen gesellt. Jan muss sich das Lachen verkneifen, als Mateo überhastet Platz macht für die Dame.
»Kännsch dia zwei Purschta?«, fragt Steinbruch-Hans an Hernanda gerichtet. Die Kellnerin lehnt sich etwas auf dem Stuhl zurück, überschlägt ihre Beine und begutachtet Weinnippend Mateo und Jan.
»Der Jung fum Roger und der Jung fum Albrecht«, antwortet die Kellnerin schliesslich kopfnickend. Mateo wird tomatenrot im Gesicht, als Hernanda ihn mit ihren stechenden, blauen Augen ansieht. Jan muss sich das Lachen verkneifen und er versucht die kurze Stille zu unterbrechen.
»Und, lauft öppis in der Baiz, Hernanda?«, fragt Jan an die Kellnerin gerichtet, obschon es ihn nur mässig interessiert.
»Mol meh, mol weniger«, antwortet Hernanda etwas verstimmt wirkend. »Der FC chunnt abitz zwenig noch da Trainings oder da Mätsch zu miar. Do chönnder eu fum TV a Schiiba abschnida!«
Mateo verschluckt sich an seinem Bier, als er überhastet etwas entgegnen will. Jan klopft ihm auf den Rücken, bis er sich beruhigt hat.
»Schu, jo. Miar hän aber au a Klubhus dunna ufam Rüfeli. Denn blibemer halt meischtens döt«, sagt Mateo schliesslich, beinahe mitfühlend.
»Isch schu guat. Dia neu Baiz machtmer meh Sorga«, antwortet Hernanda mit einem Anflug eines Zwinkerns, was Mateo beinahe schmelzen lässt.
»Git doch nüt bessers fürs Dorf, Hernanda. Noch all dem Baizasterba!«, sagt Forst-Gregor überschwänglich und seine trüben Augen schielen die Kellnerin dabei ernsthaft an.
»Jo schu, miar reden aber fu minera Baiz und nid fum Dorf!«, entgegnet die Kellnerin knurrend.
»Früahner isch das no ganz andersch gsi! Do simmer no …«
Jan wendet sich ab und klopft Mateo auf den Oberschenkel. Diese Geschichten, wie toll es früher gewesen ist und was nun alles falsch läuft im Dorf will er sich nicht noch einmal anhören.
»Was isch?«, fragt Mateo mit einem Seitenblick auf Jan. Er kann seinen Blick fast nicht von Hernandas Lippen abwenden, die dem alten Forst-Gregor gerade ordentlich die Meinung über das Dorfleben geigt.
»Gömmer nor langsam? Mer hend Matsch mora!«, sagt Jan mit einem breiten Grinsen.
»Scheiss ufd 5. Liga! Blibemer doch no bits!«, entgegnet Mateo träumerisch.
»Vergisses doch, Alter!«, brummt Jan. Er will nach Hause. Nach dem Sport machen sich die zwei Stangana bereits arg bemerkbar und er ist müde.
»Jo guat. Darfi aber no ds Biar ustrinka?«, antwortet Mateo grummelnd. Jan nickt, wirft seinen Kopf in den Nacken, streckt sich und gähnt herzhaft.
»Schu müad fu bits Spörtla?«, fragt Steinbruch-Hans an Jan gerichtet. Jan blickt den alten Mann belustigt an und antwortet: »Jo, au schu 26i, waisch Hans.«
Dem Alten entfährt ein mächtiges Schnauben bei diesen Worten und er will gerade etwas erwidern, als Schindel-Sepp, der bis anhin den ganzen Worten nur gelauscht hat, Steinbruch-Hans ins Wort fällt.
»Sinn iar aigentli glich alt wia das Maitli wo vermisst wird? Wia heisstsi nomol?«
Jans Müdigkeit ist von der einen zur anderen Sekunde wie weggeblasen und auch Hernanda und Forst-Gregor unterbrechen bei dieser Frage ihr Gezanke. Wie auch immer Schindel-Sepp nun auf dieses Thema kommt, es beschäftigt das ganze Dorf und ist immer wieder Thema in den Beizen oder an dem Fritigstreff in Untervaz.
»Nai. Sie isch zwai Johr jünger, also 24i. Angela heisstsi, Schindli«, antwortet Jan, nun mit ernster Miene und Worten. Eine traurige Geschichte. Die junge Dame ist sehr hübsch gewesen. Vor einem Monat und nach einem Spaziergang bei der Au und am Rhein fehlte allerdings jede Spur von ihr. Sie wohnt im Gufel, gemeinsam mit ihren beiden jüngeren Brüdern und noch bei ihren Eltern, die gerade schwierige Zeiten durchmachen müssen. Die beiden Zwillingsbrüder spielen bei den A-Junioren des FCUs und nicht selten wirft Jan den beiden Jungs am Dienstags-Training, das parallel zu ihrem läuft, einen mitleidigen Blick zu.
»Sie isch duazmol mit minera Schwöschter ind Schual ganga«, sagt Mateo betrübt.
»Heschsi amol gfrogt, was do los si chönnt?«, fragt Schindel-Sepp an Mateo gerichtet.
»Miar hänn schumol drüber gredet, sie chann sich das aber au nid erchlära. Problem dahai sind glaub nid bekannt …«, antwortet Mateo an den alten Mann gerichtet.
»Säb heisst nonid viel. Wär weiss schu was in somna junga Ding vor sich goht? Dia hätt sich doch in Rhi gworfa!«, wirft Forst-Gregor unwirsch und taktlos ein, was Hernanda beinahe auf die Palme bringt.
»Jo genau! Das weisch etz du so genau, ha. Tuan doch bits normal Gregi! Isch trurig gnuag, dassi verschwunda isch!«, faucht die Kellnerin den Alten an, der daraufhin wenigstens ein klein wenig beschämt aussieht. Jan hat keine Lust über dieses Thema zu sprechen. Er wirft einen Blick auf die leere Stanga von Mateo und sagt: »Miar zahlen, Hernanda.«
Rasch bezahlen Mateo und Jan ihr erstes Bier und verabschieden sich mit einem Dankeschön fürs zweite, spendierte Bier. Sie durchlaufen den kleinen Raum und packen sich ihre Taschen auf die Schultern. Die Nacht ist angenehm kühl. Das Dorf scheint bereits um 21:45 Uhr wie ausgestorben zu sein. Schweigend machen sich Jan und Mateo auf den Weg. An der im Dunkeln liegenden Kantonalbank, der Gemeinde und dem Dorfplatz vorbei. Jan hat ein etwas mulmiges Gefühl in der Magengegend. Solche Geschichten gibt es im Dorf wahrlich selten und die Gemeinschaft ist so fest miteinander verbunden, dass ihm das Schicksal, welches es auch immer sein mag, von Angela sehr nahe geht.
»Was meinsch wo sei isch?«, fragt Mateo an Jan gerichtet, als die beiden die Kirchgasse hinunterlaufen.
»Kai Ahnig, hoffentli ds Züri aswo untertaucht«, antwortet Jan bedrückt und starrt dabei auf die Häuser zu seiner Rechten. Alle sind sie beleuchtet und er hört, aus einem offen stehenden Fenster heraus, wie ein Fernseher läuft.
»I sägs jo nid gära, aber i glaub der Forschti hätt schu Recht. Iara Fründ fu Chur hätt doch vor drei Mönet Schluss gmacht …«
Jan nickt mit dem Kopf und wirft einen Blick nach hinten. Kein Auto ist in Sicht und so überqueren sie die Strasse über den Zebrastreifen.
»D Hernanda hätt schu Rächt. Ma sött ni drüber Reda, oder Grücht ind Welt setza, wemma nid waiss was passiart isch«, wirft Jan ein, als sie die Cosenzstrasse hinter sich gelassen haben und nun am Werkhof vorbei laufen.
Mateo schnaubt laut auf und wirft Jan im Dunkeln einen Seitenblick zu. »Als ob d Vazer bekannt dafür wären, dass sie diskret sind und kai Grücht ind Welt setzen. Weisch no wo das Bai gfunda worda isch?«
Mateo und Jan diskutieren so lange, bis sie vor der Türe des Blocks ihrer WG stehen. Mateo schliesst noch den Briefkasten auf und zieht drei Briefe hervor. Die Diskussion zieht sich hin, bis die beiden Jungs schliesslich im ersten Stock an der Haustüre ankommen.
»I machmer no was ds essa«, gibt Mateo bekannt, als sie die Wohnung betreten. Jan spart sich für einmal den Kommentar, dass sie bereits in der Tennishalle nach dem Sport etwas Leichtes gegessen haben und sagt dafür: »Mach das, i gohn no unter d Duschi.«
Mateo nickt und begibt sich in die Küche. Jan macht die Türe hinter sich zu und steht an das Waschbecken heran. Er lässt eiskaltes Wasser laufen, beugt sich etwas vor und kühlt sich die Handgelenke damit. Er hat etwas Kopfschmerzen. Das Bier und diese Geschichten haben ihm zugesetzt und er atmet einige Male tief ein und aus. Dann will er sich gerade ausziehen, als Mateos laute Stimme durch die Wohnung und in das Badezimmer hallt.
»Ou Scheisse, Nai! Nai, Jan chumm do hära, Scheisse!«
Jan, der gerade halb sein T-Shirt ausgezogen hat, lässt es sofort wieder fallen. Die Panik in Mateos Stimme ist echt. Er kennt ihn zu gut, Mateo will ihn nicht verarschen. Vielleicht hat sich der Idiot an einem Küchenmesser geschnitten. Rasch stösst Mateo die Türe auf und bereits vom Gang her, sieht er, wie Mateo über dem Küchentisch gebeugt einen Brief liest.
»Was lauft mit diar? Hämmer a Rächnig nid zahlt oder was?«, fragt Jan leicht verärgert, als er sieht, dass Mateo nicht verletzt ist. Doch als sich Mateo ihm zuwendet sieht er die Angst, die ihm in sein Gesicht geschrieben ist. Kreideweiss und Schweiss rinnt ihm die Stirn herunter. Er deutet mit seinem Zeigefinger auf das Stück Papier, das auf dem Küchentisch liegt. Jans Blick wandert von Mateos Gesicht zu dem Stück Papier hinunter. Mit Zeitungsbuchstaben ist da ein Text hin geklebt worden. Bereits die Zeitungsbuchstaben sehen irgendwie bedrohlich aus, doch der Text raubt Jan beinahe die Sinne.
Angela liegt in der Au begraben. Tot, leblos, steif, makellos. Die Idioten der Suchtrupps haben sie nicht gefunden. Denkt an mich, wenn sie ihren wunderschönen Körper aus dem Sand ziehen. Ihr werdet dieses Schreiben direkt der Südostschweiz übergeben, ich weiss, dass ihr dort arbeitet. Morgen will ich die News darin lesen und wenn ich heute Nacht noch Bullen sehe, die mit Taschenlampen an der Au entlang laufen, wird es weitere Morde im Umkreis der Fünf-Dörfer geben. Keine Mätzchen, darauf würde ich mich nicht einlassen!
GDR
»Scheisse!«, entfährt es auch Jan und seine Hände zittern gewaltig. »Mer müan zur Polizei, Mateo!«, fügt er mit schwacher Stimme an Mateo gewandt hinzu, der sich inzwischen hingesetzt hat.
»Luagder doch mol der Briafumschlag ah«, bringt Mateo nur leise krächzend hervor. Jan dreht den Brief um. Da steht nur sein und Mateos Namen. Keine Briefmarke ist daran befestigt. Jan schluckt einmal schwer. Der Brief ist direkt in ihrem Briefkasten gelandet. Dies ist Drohung genug.
»Gömmer ind SO. Viellicht chönnses no drucka für Mora«, murmelt Jan bedrückt.
»Si müan, sus simmer am Arsch!«, entgegnet Mateo, kreideweiss und starr, beinahe wie die Leiche, die kaum zwei Kilometer Luftlinie entfernt von den beiden Männer im Gebüsch liegt.
Der Freitag ist nur langsam vorangegangen. Das Konzentrieren ist mir heute extrem schwergefallen. Doch nun ist endlich Feierabend! Wochenende! Ich starte den Motor und lasse meine Playlist laufen. Sido, »Endlich Wochende«, dröhnt es aus den Autoboxen heraus. Wie passend. Eine gewaltige Freude ummantelt mich. Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich steuere den Wagen aus der Tiefgarage hinaus. Kaum Stau aus der Stadt hinaus, meine Laune steigert sich noch mehr. Ich grinse in mich hinein und meine Hände am Lenkrad zittern ein wenig vor Erregung. Ich beschleunige mit voller Power auf die Autobahn und muss mich gleich selber bremsen. Einen Unfall käme jetzt ziemlich ungelegen! Ich halte mich an das Tempolimit und reisse mich zusammen. Mit meinen Gedanken bin ich allerdings nur noch bei Angela. Endlich sehe ich dich wieder, meine liebe Angela. Es braucht schon eine gewaltige Selbstbeherrschung, dass ich dich zwei Wochen lang nicht besucht habe. Ich habe genügend Filmmaterial und Serien angeschaut, dass ich weiss, dass es unklug gewesen wäre. Ich hätte jeden Abend bei dir verbringen können, doch ich tat es nicht. Meine Freiheit ist mir viel zu wichtig. Ich steuere mein Auto auf den Coop Pronto zu. Ich habe das Menü bereits im Kopf. Mein Lieblingsessen. Das gönne ich mir immer nach den Besuchen. Rasch habe ich die Kartoffeln, den Rahm und den Käse aus den Regalen genommen. An der Kasse bestelle ich dazu noch meine Zigaretten. Ich habe alles. Den Rest der Fahrt begutachte ich immer wieder den Himmel. Wolkenlos, es wird eine kalte Nacht werden. Ich weiss bereits, was ich anziehen werde. Meinen schwarzen Mantel und meine schwarzen, synthetischen Trainerhosen. Ein Haarnetz, darüber eine schwarze Kappe und natürlich schwarze Handschuhe. Das Profil der Schuhe habe ich mir bereits vor dem Date abgeraffelt. Trotz all den Vorsichtsmasnahmen ist mir bewusst, dass ich Spuren hinterlassen könnte. Das ist beinahe nicht auszuschliessen und ich kann dem nur vorbeugen. Dieses Bewusstsein habe ich schon längst erlangt. Die Kleider im Brokihaus kaufen und den Rest unauffällig mit Bargeld bezahlen. Viel mehr kann ich nicht machen.
Ich stelle mein Auto auf dem Parkplatz ab. Freundlich grüsse ich meine Nachbarin, die gerade in ihrem Garten arbeitet. Kurzer Smalltalk mit ihr. Beiläufig sagen, dass es heute einen Fernsehabend geben wird. Reine Taktik. Meine Nachbarin ist nett, doch ist sie auch die grösste Wundernase, die ich kenne. Es kommt mir durchaus gelegen. Sie wirft bis anhin noch immer einen Blick aus ihrem Fenster und in mein Wohnzimmer. Da kommt meine Puppe wieder zum Einsatz. Perfekt!
Ich werfe meine Schlüssel achtlos auf den Küchentisch. In meiner Post ist nichts von Bedeutung. Ich lege die Briefe in das Fach der offenen Rechnungen. Mit einem Blick auf die schöne Wanduhr, die ich von meiner Mutter geerbt habe, entschliesse ich mich dazu, erst zu duschen und danach etwas Leichtes zu essen. Es ist erst 17:45 Uhr und bis zur völligen Dunkelheit wird noch ein wenig Zeit vergehen.
»Miau«
»Hoi Minzi«, sage ich und streichle meine getigerte Katze. Sie scheint hungrig zu sein, denn sonst würde sie kaum so heftig um meine Beine schleimen. Ich gebe ihr das Futter und wende mich mit einem letzten Streichler über ihren Rücken wieder ab.
Duschen ist angesagt. Ich mache es gründlich. Mit Seife und Schwamm. Hautpartikel, ich will der Gefahr vorbeugen und schrubbe mich sehr ordentlich ab. Kein parfümiertes Duschmittel, das mich verraten könnte. Nach beinahe einer Stunde bin ich fertig. Ich ziehe mich frisch an. Es sind bereits die Kleider, die ich unter dem Mantel anziehen werde. Ein schlichtes, schwarzes T-Shirt, dass ich vor dem Duschen mit einem Kleberoller so gut es ging entfasert habe und die Trainerhosen. Keine Socken! Ein Müsli muss genügen, bis ich spät in der Nacht mein Hauptgericht essen kann. Es reicht mir aus, dass ich ohne knurrenden Magen über das Feld schleichen kann. Nach dem Müsli packe ich meine Einkaufstasche aus. Ich schäle die Kartoffeln, schneide sie in dünne Scheiben und lege sie in die Form. Danach giesse ich den Rahm darüber und bestreue das ganze mit Käse. Mit einer Alufolie abgedeckt stelle ich die Form in den Kühlschrank. Den Backofen stelle ich so ein, dass er sich um halb Eins in der Nacht von selbst aufheizt. Sehr gut und nun? Ein wenig Fernsehen, denke ich mir. Erst noch eine Zigarette rauchen und einen Kaffee trinken, ja. Ich drücke den Knopf an der Kaffeemaschine und das braune Gold fliesst in die Tasse. Ich öffne die Fenstertüre und begebe mich in den Garten.
Im Garten stehen zwei Stühle. Ich setze mich hin und stelle die Kaffeetasse auf dem kleinen, runden Gartentisch ab. Seufzend lehne ich mich ein wenig zurück, geniesse den Kaffee und die Zigarette. Das Nikotin lässt mich ruhig werden. Es bremst meine Vorfreude und meine Hand zittert nicht mehr. Der weisse Dampf steigt über das Gebüsch hinweg und auf das Nachbarshaus zu. Nicht in das Nachbarshaus von Jolanda, meiner gegenüber lebenden Nachbarin, sondern in das von der Familie Knecht, gleich rechts von mir. Ich höre, dass sie gerade beim Nachtessen sind. Vater Gerd, Mutter Luzia, die fünfzehnjährige Tochter Eva und die neunzehnjährige Tochter Eveline. Kurz schnappe ich nach Luft, als mir der Name Eveline durch das Hirn schiesst. Eine rothaarige Schönheit, welche eine Ausbildung zur Bankkauffrau macht. Sie lächelt mich immer an, wenn wir uns sehen und grüsst mich äusserst freundlich. Ein Kribbeln breitet sich in meiner Magengegend aus, doch rasch wird es durch Schuldgefühle erstickt. Nein, der Mensch den ich liebe werde ich heute Nacht besuchen gehen. Ich bin kein Betrüger! Beinahe kommen mir die Tränen beim Gedanken daran, Angela zu betrügen. Wütend mache ich mit meinem Arm eine abfällige Bewegung in Richtung Nachbarshaus. Ein Glück, dass die Sicht vom Gebüsch versperrt wird, sonst hätten sie diese komische Geste gesehen. Wütend über mich selber drücke ich die Zigarette in den Aschenbecher. Vielleicht ein wenig zu wütend, denn er klimpert laut auf. Ich stehe auf, gehe in meine Küche und lege die Kaffeetasse unter die Kaffeemaschine. Der nächste Kaffee wird göttlich werden. Nach dem Abendessen um Ein Uhr!
Ich lege mich auf das Sofa, versuche zu entspannen. Es gibt nur zwei Serien, für die ich mich im Moment begeistern kann. Ich schalte auf den Sender Vox und dank Replay kann ich die Folgen von vergangener Nacht nachschauen. Medical Detectivs. Eine Sendung über Mörder und wie sie entlarvt wurden. Bei der Planung der Entführung, dem Mord selber und der Vorgehensweise für die Besuche hat es mir geholfen. Doch mein Bewusstsein, dass keiner der Mörder davonkommt, rührt auch von dieser Sendung her. In der heutigen Zeit muss ich noch viel achtsamer sein. Moderne Technik erleichtert es ihnen natürlich. Die Bullen haben so einige Methoden! Mit dem Gedanken daran, geschnappt zu werden, beschäftige ich mich schon seit geraumer Zeit. Ich bin Realist, ich weis, dass es passieren kann. Nun, meine Waffe ist geladen und bereit. Was ich machen werde, lasse ich mir offen. Beide Varianten! Heute läuft eine Folge, die ich schon einmal gesehen habe. Dennoch schaue ich sie bis zum Schluss. Ein Schnauben entfährt mir, denn der Mörder hat die Leiche mit dem Auto transportiert und im Wald abgelegt. Nur wegen den Reifenspuren kamen die Ermittler dem Typen auf die Schliche. Unglaublich dumm! Dazu noch Blut und Fasern im Auto? Die Nachbarn, die sehen, dass das Auto nicht auf dem Parkplatz steht? Nein, viel zu riskant, das Auto bleibt zuhause. Ich blicke immer wieder auf die Uhr. Noch eine Folge und dann noch eine und noch eine.