Ich bin Merkur - Ava Sergeeva - E-Book

Ich bin Merkur E-Book

Ava Sergeeva

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Beschreibung

„Sie ist mein Leben. Sie weiß, dass ich da bin, deswegen kann sie so friedlich schlafen. Ich weiß, dass sie da ist, deswegen funktioniere ich. Nein, wir sind keine Freunde. Wir gehen weit über diesen weltlichen Begriff hinaus und kein Mensch kann sagen, was zur Hölle wir sind.“ Dex und Joana gehören seit ihrer Kindheit zusammen. Doch während Dex ausschließlich Joana braucht, sehnt sich Joana auch nach anderen Menschen. Dex lässt ihr diese Freiheit, soweit das möglich ist, bis plötzlich Marco in Joanas Leben tritt ... Wann wird aus Freundschaft Liebe? Wann wird aus Liebe Besessenheit? Wann ist eine Beziehung identitätsstiftend? Und wann löst man sich in ihr auf? Mit großer poetischer Sprache widmet sich „Ich bin Merkur“ den einzigen Dingen, die im Universum von Bedeutung sind. Jedenfalls für Dex und Joana.

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Seitenzahl: 187

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periplaneta

Für Jane, Jas und Nicole

– sie wissen, warum.

Ava Sergeeva: „Ich bin Merkur“ 1. Auflage, April 2018, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2018 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle (www.lektorat-strehle.de) Coverphoto by Olenka Kotyk on unsplash.com Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-093-9 epub ISBN: 978-3-95996-092-2

Ava Sergeeva

Ich bin Merkur

Roman

periplaneta

Prolog: Der Hermaphrodit

Ich bin frei und unterdrückt

Ich bin Kind und ich bin Greis

Ich bin fliegend und gefesselt

Ich bin Bild und ich bin Tat

Ich bin Eins und ich bin Zwei

Ich bin Epos und Minimalismus

Ich bin tags und ich bin nachts

Ich bin Engel und ich bin Krieger

Ich bin schön und ich bin Ekel

Ich bin vorwärts und ich bin auf der Stelle

Ich bin Beschützer und Bezwinger

Ich bin beneidet und ich bin Neider

Ich bin Freund und ich bin Spalter

Ich bin Konstante und ich bin brüchig

Ich bin Lust und ich bin unberührbar

Ich bin offen und ich bin Geheimnis

Ich bin Heim und ich bin Reise

Ich bin Frühling und ich bin Eis

Ich bin Streben und ich bin Hindernis

Ich bin Silber und ich bin Gift

Ich bin Idee und ich bin Zweifel

Ich bin Ruhe und ich bin Wut

Ich bin Plan und ich bin Amnesie

Ich bin gläubig und ich bin unwissend

Ich bin Blume und ich bin Holz

Ich bin Sonne und ich bin Wüste

Ich bin Hunger und ich bin genug

Ich bin viel und ich bin zu viel.

Ich bin Mann und ich bin Frau.

1: Memoiren

Ich wurde um 04:00 Uhr morgens geboren und seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht um 04:08 auf die Uhr schaue. Ob das der genaue Zeitpunkt meiner Geburt war, oder ob es sich um ein Zeichen aus der Zukunft handelt, dass ich um 04:08 Uhr sterben werde, ist offen. Aber auch wenn ich durch meinen Lebensstil nicht gerade dazu beitrage – ich liebe Wein, rauche wie ein Schlot, schlafe unregelmäßig und werfe mich mit Hingabe in herzzerreißende Situationen – plane ich, nicht weniger als 100 Jahre alt zu werden. Und ob 04:08 Uhr dabei nun eine Rolle spielen wird oder nicht, wird sich irgendwann zeigen. Fakt ist nur, dass die Zahl 4 mich begleitet, seit ich diese Welt zum ersten Mal betreten habe. Es wundert mich also entsprechend wenig, wenn ich sie ebenfalls mit der Zahl 4 im Hinterkopf wieder verlasse.

Meine erste Erinnerung an die Zahl 4 liegt sehr, sehr lange zurück. Ich war ein Kind, hatte zu der Zeit einen Stiefvater, der mir aus Papier bunte Häuschen gebastelt hat, und stand im dunklen, winzigen Bad der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung, in der ich unter der liebevollen und fürsorglichen Obhut meiner Großeltern aufwuchs. Ich hatte mir nach dem Besuch der Ein-Quadratmeter-Toilette die Hände gewaschen und da kam mir in den Sinn, was für eine wunderschöne Zahl die 4 ist. Regelmäßig, gerecht, musikalisch.

Stücke im 4/4-Takt spielte ich auf dem Klavier am liebsten. Das Jahr hatte 4 Jahreszeiten. Ein Kartoffelauflauf ließ sich am besten in 4 Stücke schneiden. 4 Wochen hatte der Monat, und so konnte ich jede Woche neue Kleidung aus dem Schrank holen, ohne dass sich der Kleiderhaufen zu einem riesigen Berg stapelte.

Ich wusch mir also die Hände – 4 Mal innen, 4 Mal außen, 4 Mal zwischen den Fingern – und dann rieb ich sie 4 Mal an dem kleinen Frotteehandtuch ab, das schon immer über dem kranken­hausgrünen Heizkörper im Bad hing, und ich beschloss, dass die 4 fortan meine Lieblingszahl sein sollte. Als ich zu meinem Stiefvater ins Wohnzimmer zurückkam, der bereits brütend über dem nächsten Papierhäuschen saß, war dieser Gedanke verflogen.

Meine Mutter hatte einige Verehrer in ihren jungen Jahren; von den meisten habe ich erst spät erfahren. Zweimal hat sie geheiratet und mit ihrem zweiten Ehemann ist sie immer noch zusammen. Nicht mit dem mit den Papierhäuschen – dieser war schön, jung und meiner Mutter auf Dauer zu leichtsinnig – sondern mit einem wirrköpfigen Einsteinverschnitt eines Biologieprofessors, der mit Vorliebe gut erhaltenes Fallwild sammelt und es liebt, jede Gesellschaft durch erstklassigen Knigge und intellektuelle Standards aus den letzten Jahrhunderten zu bereichern. Man muss ihm aber zugutehalten, dass er geboren wurde, als der Zweite Weltkrieg gerade in den Startlöchern stand. Damit ist er kein Jahr jünger als mein Großvater.

Meinen echten Vater habe ich als einen guten Bekannten der Familie kennengelernt. Immer, wenn er uns besuchen kam, war es ein Tag voller Freude, und dass er mein Vater war, habe ich ebenso erst mit fortschreitendem Alter erfahren – und auch den Grund, warum meine Großeltern zufälligerweise jedes Mal, wenn er kam, außer Haus waren. Er war Mutters Vorgesetzter und sie hatte sich in seine akademische Schläue und seine auktoriale, konzentrierte Intelligenz verliebt. Und obwohl er selbst verheiratet war und bereits eine Familie mit drei Kindern hatte, trafen er und Mutter das Abkommen, mich zu bekommen. Weil sie ihn liebte und seine Gene weitertragen wollte, sprach sie ihn von jeglicher Verantwortung frei und räumte ihm ein Besuchsrecht ein. Und obwohl er versprach, sich von seiner Frau zu trennen und sich um Mutter und mich zu kümmern, kam es nie so weit. Als ich bereits einige Jahre alt war, ließ er sich letztendlich scheiden und nahm eine sonderbare Gestalt zur Frau, eine theoretische Jüdin mit Eulenaugen und schiefen Zähnen, die ihm in Bildung und intellektuellem Engagement in wenig nachstand – aber nicht meine Mutter, die bereits ihren Professor kennengelernt hatte.

Vor einigen Jahren ist er an dem Herzinfarkt gestorben, der ihm seit der Jugend vorausgesagt worden war, und auch wenn ich ihn als Mensch mochte und seine Gastfreundschaft, sein Interesse an mir und sein gerechtes Herz sehr schätzte, kann ich an zwei Händen abzählen, wie viele Tränen ich um ihn geweint habe. In seltenen Fällen richte ich nachts die Augen zum Himmel und unterhalte mich in Gedanken mit ihm; und ich hoffe inständig, er hat mir verziehen, dass ich das Geld, das er mir vor seiner letzten Herzoperation schenkte, um ihn im Krankenhaus mal auf dem Handy anzurufen, versoffen habe.

Später, nachdem ich mit Mutter in das Haus des Professors gezogen war, hörte ich oft die Frage, wie ich nur glücklich sein könnte. Denn ich hätte nie einen richtigen Vater, nie eine intakte Familie gehabt. Darauf hatte ich immer die Antwort: DOCH. Ich hatte eine intakte Familie, wenn auch ohne Vater, und meine Kindheit war sehr glücklich, weil Mutter, Großeltern und alle möglichen Tanten und Freunde mich so lieb hatten, wie mein Vater es wohl niemals gekonnt hätte, und sie alle sich die erdenklichste Mühe gaben, mir eine sorgenfreie Kindheit zu bescheren.

Es gelang.

Ich war ein fröhliches Kind und ich erfüllte mit jedem Entwicklungsschritt die Erwartungen der älteren Generation. Im Kindergarten war ich aber nie – mit 4 Jahren hatte ich meine Mutter, die den Kindergarten selbst bis aufs Blut gehasst hatte, überzeugt, dass es für einen Freigeist wie mich nur hinderlich wäre, dorthin zu gehen, und dass ich doch genauso gut mit den anderen Kindern im Hof spielen konnte, um soziale Kompetenzen zu erlernen. Meine Großmutter, die als Einzige teilzeitlich als Dozentin berufstätig war, spielte mir damit in die Hände, dass sie in der Zeit auf mich aufpassen konnte, in der meine Mutter noch in der Forschung arbeitete. Und wenn es mal nicht passte, nahm mich meine Patin, mit deren Kindern ich schon in den Windeln gestenlose Blutsbruderschaft geschlossen hatte.

In Wirklichkeit war ich aber schlicht und ergreifend zu feige, um in den Kindergarten zu gehen. Ich wollte nicht raus aus dem mir vertrauten Nest, ich hing zu sehr an der Familie. Seitdem bin ich sehr gut darin, so zu tun, als wüsste ich über etwas Bescheid und wäre über irgendetwas erhaben, während ich nicht über die geringste Ahnung verfüge.

Die erste Klasse kam mir ewig vor. Das lag vermutlich an der damaligen kindlichen Zeitwahrnehmung, in der alles verzweifelt lang erscheint und man sich nur danach sehnt, dass bald der nächste Lebensabschnitt kommt. Ich habe mich – zu meinem Triumph über den verpassten Kindergarten – sehr gut sozialisiert, hatte Jungs und Mädchen als Freunde und Feinde, lernte unter Tränen und Gürtelschlägen die x-Gleichungen und das saubere Zeichnen von Geraden, profilierte mich in Englisch, das mein Großvater mir mit eigens erfundenem Kissen-Mini-Tonbandgerät schon in die Wiege gelegt hatte, spielte Klavier, zeitweise vierhändig mit meiner Mutter, und fuhr in den dreimonatigen Sommerferien hinaus auf das wunderschöne Sommerhaus, das die Elterngeneration meiner Mutter mit eigenen Händen gebaut hatte.

Zahlreiche Blumenbeete, eine Obst- und eine Gemüseplantage, ein niedriges, voll ausgestattetes Küchenhäuschen und ebenso eins fürs Bad – das man mit Holzscheiten heizen musste, sodass die ganze Familie meistens am selben Abend baden ging –, ein ergiebiger Geräteschuppen, eine Garage für das einzige Auto, das meinem Großonkel gehörte, und – am majestätischsten und unvergesslichsten – ein magischer, dichter Nadelwald direkt vor dem Tor. In den verschiedensten Konstellationen gingen wir dort auf Pilzsuche, entdeckten vom Sturm entwurzelte Bäume und dachten uns Geschichten über Monster aus, die darunter hausten. Diese Monster waren wahrscheinlich auch für die Berge aus Bauschutt, Kompost und Plastikverpackung verantwortlich, die im Laufe der Jahre aus dem Boden wuchsen. Manchmal – da waren die Müllberge noch kleiner – schlugen wir uns zur Dorfstraße durch und liefen zwischen bunten Holzhäusern und verlassenen Gärten zum Bahnhof, wo ich kulleräugig die Spielwarenabteilung im Gemischtwarenladen bestaunen durfte und zum Trost, weil die Tatsache, dass wir etwas knapp bei Kasse waren, stets mit der Aussage „Du hast schon so viel Spielzeug“ kaschiert wurde, ein Eis bekam.

Auf der anderen Seite des Waldes, hinter der Hauptstraße, die eintönig, aber sicher wieder Richtung Stadt führte, lag mein Lieblingsort: der Sandsturz. An einer Stelle, hinter einer Lichtung voller Disteln, brachen Wald und Grund plötzlich ab und führten viele Meter in die Tiefe. Ein steiler Abhang, wohl zugunsten irgendeiner niemals ihren Zweck erfüllt habenden Baustelle erschaffen, fiel tief hinab und führte über Kilometer weiter Sicht von Tannen und kleinen Seen am Boden des Tals in die von oben allen Blicken verborgene, nächste Siedlung, deren Namen ich nie erfuhr. Auf eben jener Klippe über dem Sandsturz kamen einmal meine Eltern – die leiblichen –, meine Patin und ihre Kinder zusammen, um ein Lagerfeuer zu machen. Es war Sommer, es war mein 6. Geburtstag und es ist eine der unschuldigsten, abenteuerlichsten und deswegen schönsten Feiern, an die ich mich erinnere.

Die Sommerferien in dieser Siedlung schienen mir als Kind immer unvorstellbar lang. Traurig verabschiedete ich mich davor immer von Elena, meiner besten Freundin, die in der Stadt im Querhaus neben unserem wohnte – und vermutlich immer noch wohnt, da sie dick und hässlich geworden ist und es, außer einem 1er-Bachelor in Biologie, zu nichts Konstruktivem gebracht hat. Wir saßen immer im Hof beisammen und vergruben bunte Bonbonpapiere und Glasmurmeln unter Scherben von alten Bierflaschen im Sand vor dem Haus, in der kindischen Hoffnung, ein wichtiger Wissenschaftler – und kein Bulldozer vom nächsten Straßenbau – würde unsere Schätze in 400 Jahren finden und sich den Kopf darüber zerbrechen.

„Kommst du morgen spielen?“, fragte Elena.

„Nein. Wir fahren ans Sommerhaus.“

„Für wie lang?“

„Drei Monate.“

„DREI Monate …!“

Eine Ewigkeit in Kinderzeit, die natürlich beängstigend war und alles zu verändern drohte. Und doch war das Leben noch dasselbe, als wir in den ersten Septembertagen, rechtzeitig zum Schulbeginn, wieder zurückkehrten.

Zu ungefähr dieser Zeit fuhren Mutter und ich das erste Mal den Professor besuchen. Es war ein fremdes, warmes Land, dessen Sprache ich nicht verstand. Die Menschen lächelten dort und es regnete selten. Der Professor besaß ein dreistöckiges Haus für sich allein und bot mir ein eigenes Zimmer, mit Blick in einen lichten Laubwald, der der Garten des Nachbarn von gegenüber war. Es hatte einst seiner älteren Tochter gehört, doch diese war längst in die Staaten ausgewandert. Ich teilte es mir nun mit seinen zwei Kanarienvögeln.

Ich war nicht gewöhnt an Bananen und Schokomilch, an wolkenlose Himmel und Läden, deren Sortiment nur aus Spielzeug bestand, an ordentlich gewartete Spielplätze und Fußgängerzonen. Und so hatte der Professor mich im Nu für sich erobert. Vermutlich war genau das die Absicht meiner Mutter, die mir wenige Wochen nach unserer Rückkehr mitteilte, dass wir zu ihm ziehen würden.

„Es hat dir doch gefallen?“

„Ja.“

„Dann fahren wir bald wieder hin. Und diesmal nehmen wir ganz viele unserer Sachen mit. Und bleiben länger.“

„Und wann kommen wir wieder zurück?“

Sie schwieg ein paar Sekunden länger, als es für eine einfache Antwort üblich gewesen wäre.

Wider Erwarten aller fiel es mir nicht schwer, mich von allem, was ich gewohnt war, zu trennen. Immerhin hatten wir den Großeltern versprochen, uns jeden Sonntag zu melden und mindestens einmal im Jahr für ein paar Wochen zu Besuch zu kommen. Wir halten uns auch bis heute daran, auch wenn die Fax-Briefe sich durch Skype-Calls ersetzt haben und nicht mehr wöchentlich, sondern monatlich stattfinden und das Reisen in die Heimat sich auf alle ein bis zwei Jahre reduziert hat. Wie auch immer, der damalige Umzug – der erste in meinem Leben – erwies sich als schicksalhaft und brachte mich dahin, wo ich jetzt bin.

Der Professor zögerte nicht lange, mich in eine gute Schule zu stecken. Ich beendete nochmal die zweite Klasse, die mir vorkam, wie der verpasste Kindergarten, und fragt man meine Mutter, so sprach ich danach die Sprache fließend. In der Tat lerne ich Worte so schnell, wie ich Zahlen nicht einmal formulieren kann.

Meistens mochten mich die Leute – umso interessanter ist es nun festzustellen, dass ich, seit ich zurückdenken kann, niemals nur ich selbst gewesen bin. Ich mochte mich eigentlich auch ganz gern, aber noch lieber war ich immer jemand anderes, zu dem ich aufsah, für den ich schwärmte oder den ich sonstwie bewunderte. Mal war ich Dagobert Duck, dann wieder Kirk Cranston aus California Clan, mal war ich Timon ohne Pumbaa, Asterix ohne Obelix, Keith Kogane ohne Allura – und das verstanden die wenigsten Kinder, die lieber „Buben fangen Mädchen“ und „Mutter, Mutter, wie weit darf ich reisen?“ spielten und sich mit Weltlicherem beschäftigten, als Intrigen zu spinnen, Abenteuer zu erleben oder die Welt zu retten.

Ich – für mich! – wähle mir seit Kleinkindesbeinen an immer eine Persönlichkeit, die mir auf irgendeine Weise schillernd und bemerkenswert erscheint, und ich war immer enttäuscht, wenn andere diese Persönlichkeit nicht in mir erkannten und sich weigerten, mich bei dem entsprechenden Namen zu nennen. So blieb mein kleiner Persönlichkeitskatalog ein buntes, geheimnisvolles Feld für mich, bis ich ihn irgendwann mit Joana teilen konnte.

Vielleicht durch meine nach und nach zunehmende, fantasievolle Verschlossenheit, vielleicht durch die restlichen Spuren der Sprachbarriere, durch den Mentalitätsunterschied beider Länder, vielleicht wegen meines damals fetten Arschs oder meine nicht gerade zeitgenössische Mode mutierte ich binnen weniger Jahre zum unbestrittenen Außenseiter und blieb einer, bis ich erwachsen genug war und nicht irgendeine Gruppe, dafür aber besondere Menschen um mich scharte, mit denen sich der Umgang wirklich lohnte. In den höheren Klassen machte ich alle Phasen gesellschaftlicher Rebellionen durch, gab mich mehr mit Lehrern ab als mit Schülern, kassierte aber dennoch Verweise und Strafarbeiten für destruktives Verhalten wie Rauchen auf dem Pausenhof und das demonstrative Lesen der Autobiographie Marilyn Mansons im Sozialkundeunterricht.

Ich war nicht besonders anstrengend in der Pubertät – ich war nur anders. Doch für die Mehrheit gab es dazwischen keinen Unterschied. Durch optische und verhaltensändernde Rollendarstellung half ich mir selbst bei jedem gesellschaftlichen Schlag und stand wieder auf, um meine wie Masken angelegten Persönlichkeiten mit neuem Mut an die Öffentlichkeit zu tragen. Mein Verhalten war harmlos und genau deshalb fürchteten die anderen nicht den möglichen Wahnsinn meines Spiralenverstandes, sondern belächelten mich als Freak.

Aber in den richtigen Kreisen fand auch ich irgendwann die richtigen Leute. Ich hatte die elfte Klasse wiederholt, weil ich ansonsten mit Fünfen in Mathematik, Erdkunde, Altgriechisch, Chemie, Physik und Wirtschaft mehr als unredlich abgeschlossen hätte. Das war meiner leidenschaftlichen Konzentration auf alles andere außer den verhassten Fächern geschuldet: dem Schulchor, der Schulband, der Schreibwerkstatt und den Rhetorik- und Französischkursen. Und es war das Beste, was mir hätte passieren können, auch wenn meine Familie, allen voran meine Großeltern, mich lange und hart dafür kritisierten.

Die zweite elfte Klasse war die entspannteste und freudenreichste Zeit, an die ich mich erinnern kann. Nur ein Jahrgang hatte mich nämlich davon getrennt gehabt, endlich eine Nische von Leuten zu finden, in der ich in Ruhe so sein konnte, wie ich mich gerade fühlte. Ich wurde nicht mehr belächelt, sondern respektiert. Auch meine Persönlichkeiten, die natürlich keine Cartoonfiguren mehr, sondern erwachsener geworden waren, wurden angenommen. Hier fand ich eine Handvoll Gleichgesinnter, die viele meiner Leidenschaften teilten, weil sie selbst irgendwie anders waren, und ich freute mich auf jeden Tag Schule, um mich endlich auszuleben und Zeit mit jenen liebenswerten Personen zu verbringen. Auch wenn wir nach einem betrunkenen Abschlussball auseinandergingen, habe ich doch zu vielen meiner damaligen Dungeons-and-Dragons-spielenden, tolkienfanatischen und musikmachenden Freunde bis heute Kontakt.

Ich erinnere mich gut an meinen ersten Unitag. Ich trug eine neue Bluejeans, ein graues Shirt und die helle Lederjacke, die meine Mutter mir geschenkt hatte. Mein Haar – ich trage es nie kürzer als bis zum Kinn, weil ich Kurzhaarfrisuren unästhetisch finde, aber für meinen ersten Tag als akademischer Frischling hatte ich es immerhin ein bisschen gestutzt – war sauber gewaschen und puschelig. Ich fühlte mich gut, neugierig, breitschultrig und positiv, wie ich mich immer fühle, wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt, in dem ich mich neu definieren, mir selbst eine neue Rolle geben kann. Wenig verwunderlich, dass ich dank dieser Ausstrahlung schnell einen ersten Unikumpel fand. Er hieß Darko, hatte exakt die gleiche abgefahrene Fächerkombination wie ich (Theaterwissenschaft und Japanologie) und war trotz seines irgendwie adrett wirkenden Bübchen-Äußeren eine unerträgliche Klette mit einem sehr langsam rechnenden Hirn. Manche Leute, und sei es rein aus platonischen Gründen, fixieren sich einfach zu schnell.

Ich wurde ihn erst los, als er nach zwei Semestern Japanologie das Studium schmiss – wie 70 Prozent unseres Jahrgangs – und ohne Erklärung die Stadt verließ. Ich hörte nie wieder von ihm. Genau genommen erfuhr ich davon nicht einmal von ihm selbst, sondern von anderen Kommilitonen, mit denen ich hin und wieder, auf Grund von meist oberflächlichen gemeinsamen Interessen, herumhing. Eine Weile hoffte ich, dass er sich nicht umgebracht hatte, aber sogar dafür wäre er vermutlich zu langsam gewesen.

Wie Seminare, deren Teilnehmerzahl mit dem Fortschreiten des Studiums schrumpft, schrumpfte auch die Zahl meiner Universitätsfreunde von einer Handvoll auf einen: Das erste Mal im Leben hatte ich auch mal einen besten Freund. Sein Name war Kay und wir überschnitten uns in geisteswissenschaftlichem Gedankengut, den Musikstilen, die wir vorzogen, und unserer Vorliebe für Fantasyrollenspiel, worüber wir quasi Hand in Hand Bachelor- und später Masterarbeit schrieben. Vielleicht ist es anmaßend anzunehmen, dass Kay eine Zeitlang mehr als nur platonisches Interesse an mir hegte, aber ich hatte nicht wenige Male dieses Gefühl. Und wenn das stimmt, rechne ich es ihm sehr hoch an, dass er stets die nötige Diskretion besaß, mich nicht damit zu belästigen. Er ist ein angenehmer und kluger Mensch, der erwachsen mit seinen offenherzigen, homoerotischen Tendenzen umgeht. Vielleicht ist er ja auch ein Hybrid aus einem genetischen und einem ausgedachten Selbst, dessen Beschaffenheit keiner sieht.

Ich machte also meinen Masterabschluss als einziger Abkömmling meines Jahrgangs in Regelstudienzeit, was meine Familie sehr stolz machte, sodass Großeltern, Mutter und der Professor mir einen erheblichen Teil einer neuen Wohnung in der Hauptstadt finanzierten, die ich am Ende meines Studiums bezog. Sie liegt zwar in einer lärmenden, hässlichen Gegend, die mich sehr an meine Geburtsstadt erinnert, die mich aber endlich einen Schritt von der vorherigen Studentenbude abhebt: hell, geräumig, sauber (meistens) und gut ausgestattet, ein richtiger Haushalt.

Ich schrieb meine Masterarbeit zwischen Umzugskartons und fuhr 500 Kilometer, um sie persönlich in meiner Universität einzureichen. Während der ein Jahr dauernden Zeugnisausstellung (so ist das häufig mit den Geisteswissenschaftlern) arbeitete ich (natürlich völlig studienfremd) in einer IT-Agentur, wo ich noch mehr Freunde fand, die meine Kindheitsfeinde mit Sicherheit in die Nerd- und Loser-Schublade gesteckt hätten. Mich kümmerte das schon lange nicht mehr. Ich bin erwachsen geworden. Die, die mir wichtig sind, auch, und das Leben ist schön, gerade im Moment.

Jetzt bin ich hier, entspannt im gelben, großen Sessel in meinem Arbeitszimmer, das zur Hälfte auch mein Schlafzimmer ist, und starre aus dem Fenster auf den dunkelroten Backstein einer Fa­brik­ruine und den Sonnenuntergang dahinter. Wenn auf der gegenüberliegenden Straßenseite jemand vorbeigeht und mein Glotzen sieht, wird er sich nichts dabei denken, sondern sein Paket von der Post abholen und in Ruhe einkaufen, bevor er zu seiner Familie oder in einsame vier Wände zurückkehrt.

Gestatten – Dex.

2: Joana

Ich lebe mit einer wunderbaren Frau zusammen. Wir teilen seit Beginn meines Studiums vier Wände, genau genommen also seit sechs Jahren – wobei man auch vorher schon von einer Wohn- oder Lebensgemeinschaft sprechen konnte, denn seit wir uns kennen, verbringe ich 90 Prozent meiner Zeit mit ihr.

Joana stammt aus der kleinen Stadt, in der das Haus des Professors steht. Sie hasst es, mit „Joh-aana“ angesprochen zu werden – nein, mittlerweile belächelt sie es nur noch und fühlt sich nicht mehr angesprochen –, weil ihr Name nunmal englisch ausgesprochen wird: „Dscho-ä-na“. Viele wollen wissen, ob sie englischsprachige Eltern oder Wurzeln hat – und tatsächlich lebt ein Teil ihrer entfernten Verwandtschaft in Übersee. Aber Joana selbst ist hier so heimisch, wie der Professor und alle unsere Freunde. Ihre Eltern mögen lediglich die englische Sprache und ihren Klang. Damals, als Joana geboren wurde, gab es noch nicht diesen ins Lästige verkommenen und besonders von der Unterschicht mit Hingabe verfolgten Trend, jedem Kind einen englischen Namen zu geben, ganz gleich, ob der Nachname dazu passt oder den ganzen Persönlichkeitseindruck ins Lächerliche verzerrt.