Ich bleib am Ball - Jenny Ertl - E-Book

Ich bleib am Ball E-Book

Jenny Ertl

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Beschreibung

Jenny Ertl ist eine Vorzeigeathletin, dreifache Staatsmeisterin im Badminton, eine ehrgeizige Sportlerin und Kämpferin. Durch einen Autounfall Ende September 2018 in Tschechien veränderte sich ihr Leben schlagartig. Sie musste nicht nur den Tod zweier junger Teamkollegen beklagen, die vorn im Wagen gesessen waren, sondern sich selbst mit schweren körperlichen und seelischen Wunden auf einen langen Genesungsweg begeben. Nach vielen Operationen und Therapien schrieb sie dieses Buch, um ihr Trauma zu verarbeiten, aber auch um Schicksalsgenossen Mut zu machen. Bei allen Höhen und noch mehr Tiefen – Verzweiflung, Angst, Schmerzen – ist ihr eines sonnenklar: Sie will wieder nach oben – und sie ist auf dem besten Weg dazu: den Badminton-Vizestaatsmeistertitel hat sie bereits in der Tasche.

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Seitenzahl: 340

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Jenny Ertl

Ich bleib am Ball

Nach Autocrash zurück in den Spitzensport

ENNSTHALER VERLAG STEYR

Erklärung

Die in diesem Buch angeführten Vorstellungen sind nicht als Ersatz für eine professionelle medizinische oder therapeutische Behandlung gedacht. Autor, Verlag, Berater, Vertreiber, Händler und alle anderen Personen, die mit diesem Buch in Zusammenhang stehen, können weder Haftung noch Verantwortung für eventuelle Folgen übernehmen, die direkt oder indirekt aus den in diesem Buch gegebenen Informationen resultieren oder resultieren sollten.

www.ennsthaler.at

ISBN 978-3-7095-0145-0

Jenny Ertl · Ich bleib am Ball

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 by Ennsthaler Verlag, Steyr

Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Austria

Umschlaggestaltung: Thomas Traxl

Fotos/Collagen: Privat

Umschlagfoto: © Anna-Lena Neuwirth Photography,

© Seemanta Dutta/iStockphoto.com

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Warum dieses Buch?

Mein Brief an mich – Das Leben ist lebenswert

Czech Open 2018 – Der Unfall

Stillstand

Meine Schwester und meine Mutter blicken zurück

Unauffindbar – 28.9.2018

Im Spital in Brünn – 29.9.2018

Sieben Sekunden

Wo bin ich?

Klinikum Klagenfurt

Meine Erlebnisse auf der IMC-Station

Dritte OP, Normalstation – Langsam wieder Mensch

Kleine Riesenschritte

Besuche, Briefe, Nachrichten – Große Anteilnahme

Everyday routine – Der Krankenhausalltag

Wieder zu Hause

Reha in Tobelbad

Work hard

Seiersberg – Erstes Wochenende auf Reha

Komplikationen – Erneute OP

Konkrete Ziele vor Augen

Wieder Rückschläge

Talk to heaven – Inner demons

Gefühlschaos Weihnachtsfeier

Tempo, Tempo!

Weihnachten und Neujahr

Keep on going, keep on working and never give up!

Run, jump, play

Berechtigte Fragen?

Konfrontation mit dem alten Leben

»Stellas Geschenk« – Maltherapie

Tschüs, Scheinwelt!

Hallo, harte Realität!

Mein neuer Alltag

Der nächste kleine Schritt

Fünfte OP und eine neue Erkenntnis

A-Turnier, Grabbesuch, Halbjahrestag

Mein Comeback

Mein Weg im Badminton – ein Rückblick

Alles ist möglich

Grenzen und Ängste

Sorgen von der Seele schreiben

Reha 2.0

Ich brauche Hilfe

Ein aufwühlendes Dokument

Suche nach Antworten

Filme und Lieder als Wegweiser

Auf Wiedersehen Stella, auf Wiedersehen Chee Tean

Trostbild

Comeback im Einzel

Der Jahrestag rückt näher

Schwere Reise in die Vergangenheit

Polizeistation

Unfallstelle

Feuerwache und Krankenhaus

Einkaufszentrum

Sporthalle

28.9.2019 – 365 Tage danach

A-Turnier an Stellas Todestag

Angst vor Entscheidungen – Der Münztrick

Achterbahn – Mal auf, mal ab

Badminton – Next steps

Schmerzen … und Resignation?

Staatsmeisterschaften 2020

Planänderung, die 100., alles auf Reset

Corona und die Parallelen zu meiner Krise

Ich, einfach verbesserlich?

Leben, wie Stella es tat

Danksagungen

Über die Autorin

Warum dieses Buch?

Ein schwerer Autounfall am 28. September 2018 riss mich unvorbereitet und brutal aus meinem alten Leben. Das Geschehene beeinflusste nicht nur einen meiner Lebensbereiche, sondern meine ganze Existenz und alles, was ich glaubte zu sein – obwohl ich doch auch viel Glück gehabt hatte. So viele Schutzengel hatten mir zur Seite gestanden. Dennoch zweifelte ich danach oft am Sinn des Lebens und an der Gerechtigkeit, ich kämpfte und kämpfe manchmal immer noch mit Schuldgefühlen, einer zuvor nicht gekannten Anspannung und unendlicher Trauer. Zudem war ich schwer verletzt, so viele Strukturen meines Körpers waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Alles hatte sich für mich mit diesem Tag verändert. Meine neue Welt bestand aus Krankenhäusern, Rehaanstalten, Arzt- und Therapeutenterminen, aus unbeantwortbaren Fragen und intensiven, plötzlich auftretenden Erinnerungen.

Dieses Buch soll einen Einblick geben, wie es sein kann, Schicksalsschläge zu erleben oder am Boden zu liegen. Es ist mein Versuch, die neuen Herausforderungen so darzustellen, wie sie sich hinter der Fassade der starken Sportlerin abgespielt hatten, und mein Versuch zu zeigen, dass niemand sich schämen muss, wenn er schwere Phasen durchlebt.

Es gibt viele Dinge, die das Leben vollkommen verändern können, seien es die Geburt eines Kindes, der Abschluss eines Studiums, der Antritt einer neuen Arbeitsstelle oder eben Schicksalsschläge. Ich weiß, ich bin damit nicht allein, und ich hoffe, dieses Buch kann für irgendeinen Menschen da draußen sein Lied, sein Film, sein Zeichen, sein Moment oder Anker sein – eine Erfahrung, die vieles verändern kann, die die eigenen Ziele und Entscheidungen und auch die Hoffnung sichtbar machen kann, die schließlich dazu führt, dass dieser Mensch wieder an sich glaubt.

Es wird nicht wie durch ein Wunder oder Zeichen plötzlich alles wieder gut, diese Illusion musste auch ich verwerfen. Und auch ich habe noch lange nicht alles hinter mir gelassen. Ich hadere immer noch — mal mehr und mal weniger — mit dem, was passiert ist, die Vergangenheit holt mich auch heute noch unkontrolliert und oft unvorbereitet ein. Ängste beeinflussen mein Verhalten und distanzieren mich von meinen Mitmenschen, denn bedingungsloses Vertrauen ist schwierig.

Manchmal da wünsche ich mir, die Zeit zurückdrehen zu können, und kann nur schwer alles akzeptieren, manchmal stecke ich wieder komplett fest. Manchmal glaube ich, nicht mehr weitermachen zu können, manchmal habe ich keine Hoffnung mehr und keine Energie für das, was täglich auf mich zukommt, da will ich einfach aufgeben.

Manchmal da habe ich Hoffnung – und schaffe es dennoch nicht, da will ich, kann aber nicht. Ich habe nach wie vor körperliche Schmerzen. Verglichen mit jenen vor eineinhalb Jahren sind sie kaum nennenswert, und doch sind sie da und begleiten mich. Die Hüfte, der Arm, all die Narben machen sich häufig bemerkbar. Die Narben sind nun ein Teil von mir, genauso wie dieser Autounfall ein Teil meines Lebens ist und immer sein wird. Gleichermaßen sind das auch meine verstorbenen Freunde Stella (Name vom Verlag geändert) und Chee Tean und all die mit diesem Unglückstag verbundenen Erinnerungen, die Menschen, die ich kennenlernen, und Orte, die ich ergründen durfte, die Erfahrungen, an denen ich gewachsen bin, und der Prozess, in dem ich mich selbst besser kennenlerne. Denn durch das Geschehene bin ich auch ein Stück weit erwachsen geworden, selbstbewusster und kann nun besser zu mir und all meinen Gedanken und Empfindungen, meinen Schwächen und Stärken stehen.

Ich habe gelernt, meinem Körper zuzuhören, geduldig zu sein und die kleinen Dinge zu schätzen, und ich habe verstanden, dass ich keine Angst haben muss zu verlieren oder zu vergessen, denn loslassen ist dem nicht gleichbedeutend. Mutig habe ich mittlerweile neue Schritte gewagt, nehme nun Medikamente, um meine Psyche zu unterstützen, verkaufe selbst designte Badminton-T-Shirts, spiele für einen neuen Klub in der Bundesliga, verschenkte selbst gemalte Bilder, um Hoffnung während des coronabedingten Lockdowns im Jahr 2020 zu schenken, und vertrat als Teil des Nationalteams Österreich bei der Qualifikation der Team-EM im Badminton. Ich bin zu dem Menschen geworden, der ich heute bin, und darauf bin ich stolz.

Nein, es wird nicht plötzlich alles wieder gut. Trauer braucht Zeit und, nein, Zeit heilt nicht alle Wunden. Doch Wunden werden zu Narben. Narben bleiben, sie sind da und spürbar, aber nicht ständig als Schmerz präsent. Sie ermöglichen doch ein glückliches Leben.

Ich weiß, dass auch die Badmintongemeinschaft durch unseren Unfall ein Schmerz durchfuhr, der bei vielen eine Narbe hinterlassen hat. Es war für viele ein Einschnitt, auch wenn sie nicht persönlich betroffen waren. Unser Unfall prägte die ersten Bundesligabegegnungen der damals beginnenden neuen Saison und war auch ein ständiges Thema auf Turnieren. Mein Buch ist ein Dankeschön für die Unterstützung und hoffentlich die Antwort auf die ein oder andere Frage, die sich kaum jemand zu stellen traute. Und es ist eine Erinnerung an zwei Mitglieder unserer Sportgemeinschaft, deren Tod wir nicht zensieren und deren Leben wir feiern sollten.

Mein Buch ist andererseits auch der eigennützige Versuch, mit dem, was passiert ist, klarzukommen. Als schließlich feststand, dass ich meine Aufzeichnungen auch veröffentlichen wollte, merkte ich, dass ich noch nicht da war, wo ich sein wollte, und das machte es tatsächlich auch schwierig für mich, einen Schlussstrich zu ziehen. Für mich stellte sich die Frage, wann das sein würde ... Ich wollte nicht länger warten.

Alles hat seine Zeit, und jetzt musste ich auch dieses »Projekt« loslassen und ihm erlauben, Vergangenheit zu werden, damit es mir gelang, nach vorn zu schauen und meinen Fokus neu zu legen. Die Schreibarbeit half zu verarbeiten, aber auch festzuklammern – und vielleicht war das notwendig, denn ich musste mich damit auseinandersetzen. Schließlich wollte ich und konnte ich loslassen und meiner Zukunft entgegensehen.

Das Buch meines Lebens soll noch mehr Kapitel haben als diesen Unfall. Also schlage ich die nächste Seite auf.

Mein Brief an mich – Das Leben ist lebenswert

Es passiert so vielen Menschen. Schicksalsschläge. Unerwartet und plötzlich treten sie ins Leben und verändern in einem kleinen Augenblick alles, was man über Jahre aufgebaut hat. Eine Mutter scheidet plötzlich aus dem Leben und lässt ihre Kinder zurück, ein erfolgreicher Sänger singt nach langem Kampf gegen seine Krankheit die letzten Töne, eine Katastrophe bringt auf einen Schlag die Träume und Pläne von unzähligen Menschen zum Erlöschen.

Schlägt man die Zeitungen auf, sind diese voll mit solchen tragischen Geschichten, mit solchen Schicksalen. Wir sind erschüttert darüber, aber meist nur kurz, dann vergessen wir es wieder. Und das ist ein Stück weit gut so, denn wir können nicht mit jedem, der etwas Schreckliches erlebt hat, mitleiden und mitfühlen. Aber während man selbst das Gelesene längst vergessen hat, beginnt irgendwo auf der Welt für den oder die Betroffenen, sofern sie die Chance dazu erhalten, ein unglaublich langer, harter und steiniger Weg zurück. Zurück ins Leben. Unfälle, Katastrophen, Schicksalsschläge passieren binnen Bruchteilen von Sekunden, doch ihre Nachbeben und Auswirkungen sind auch viele Jahre danach oft noch deutlich zu spüren. Diese Erfahrung habe auch ich gemacht, als sich am 28. September 2018 mein Leben schlagartig für immer veränderte.

Vielleicht gibt es für dich ein Morgen. Vielleicht gibt es für dich auch 1000 oder 3000 oder 10.000. Das ist so viel Zeit, dass man darin baden kann, so viel Zeit zum Verschwenden. Für einige von uns gibt es nur heute. Doch von all dem wusste ich nichts, bis ich kurz davor war zu fallen.

(Zitat aus dem Film: »Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie«)

Ich fiel kilometerweit und stunden-, nein, tage- und wochenlang, ehe ich wie in einem anderen Universum auf einem gänzlich unbekannten Weg mehr als unsanft landete. Für mich gab es ein Morgen. Bald schon begann ich mich umzusehen, versuchte mich zu orientieren und meinen Weg, den altbekannten, zu erspähen, aber weit und breit gab es keine Spur davon. Alles war neu, anders, verwirrend und doch auch irgendwie vertraut. Ich war orientierungslos.

Nach einiger Zeit hatte ich mich etwas aufgerappelt und war entschlossen, dem unbekannten Weg zu folgen, in der Hoffnung, meinen eigenen wiederzufinden. Dieser Weg und meine Reise sollten unendlich lang sein. Mal kämpfte ich mich monatelang wenige Meter vorwärts über Geröll und Schutt, nur um dann von plötzlich entgegenstürmenden Lawinen gefühlt viele Kilometer weit zurückgeworfen zu werden. Aber ich stand immer wieder auf. Manchmal rastete ich, manchmal verzweifelte ich und brauchte Zeichen und Menschen, die mich ein Stück auf meinem Weg begleiteten, mich trugen und stützten.

Niemals jedoch verlor ich den Gipfel des nun vor mir liegenden Bergs, des großen Ziels, ganz aus den Augen. Ich stieg immer höher, immer wieder gefühlt an meiner Seite auch meine Freunde Stella und Chee Tean, und irgendwann schaffte ich es, den ersten großen Gipfel zu erklimmen. Das Gefühl war einzigartig, aber der Blick nach vorn offenbarte mir, dass es noch so viele weitere, viel höhere und bedeutendere Gipfel zu besteigen galt, dass der Weg hier noch lang nicht endete. Obwohl die Aussicht bereits erahnen ließ, dass es wieder schwierig werden würde, setzte ich mich abermals in Bewegung. Seitdem wanderte ich durch die finstersten Täler, begegnete meinen größten Ängsten und schrecklichen Erinnerungen, Monstern, die mich verfolgten. Ich war oft drauf und dran umzukehren oder einfach endgültig stehen zu bleiben – aber das tat ich bis heute nicht.

Wurde es besonders schwierig, kramte ich einen selbst verfassten Brief aus meinem Rucksack und las:

1. Jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen und seine Geschichte zu erzählen, jeder durchlebt schwere Lebensphasen, doch niemand zeigt gern Schwäche. Urteile nie voreilig, sondern hilf anderen, wie du es dir auch von ihnen wünschen würdest. Hilf anderen mit kleinen Gesten der Menschlichkeit, wieder Hoffnung zu schöpfen. Und vergiss nicht: Alles, was du tust, hat Konsequenzen, du trägst die Verantwortung zu entscheiden, ob es positive oder negative sind.

2. Menschen im Rollstuhl, mit Prothese, mit psychischen Problemen, Trauernde – sie sind alle nur Menschen, wir sind alle nur Menschen. Sieh den Menschen hinter der Einschränkung und hab keine Angst zu sagen, was du sagen willst, und zu fragen, was du fragen willst. Sei rücksichtsvoll und sensibel, aber verstell dich nicht, es führt zu nichts und bewirkt nur Gegenteiliges. Sei einfach du selbst!

3. Du selbst sein und den Menschen sehen, nicht nur die Einschränkung – das gilt besonders auch für den Umgang mit dir selbst. Keine Einschränkung und kein psychisches Problem machen dich wertlos oder sollten den Blick auf dich selbst verändern. Du bist wertvoll, zeig dich, wie du bist!

4. Und noch wichtiger: Akzeptiere dich so, wie du bist. Akzeptiere deine Andersartigkeit, akzeptiere deine Fehler, deine Stärken, akzeptiere, dass du leidest, trauerst, zweifelst oder zögerst. Akzeptiere, wie du bist und was geschehen ist.

5. Akzeptiere, lass den Schmerz zu, denn er gehört zum Leben. Gäbe es keinen Schmerz, so gäbe es auch keine Liebe. Lass ihn zu und dann lass ihn los. Doch vergiss nicht, Narben brauchen Zeit zum Heilen, auch die psychischen. Gib dir diese Zeit!

6. Wenn du feststeckst, akzeptiere insbesondere auch, dass du Hilfe brauchst. Gesteh dir selbst ein, wenn etwas nicht mehr geht – das ist keine Schwäche, kein Versagen, sondern das Gegenteil. Sprich über deine Probleme und gib den Menschen in deinem Umfeld die Chance, dich zu verstehen und zu unterstützen, und deinen Therapeuten die Möglichkeit, dir zu helfen.

7. Und dann nutze deine wiedergewonnene Handlungsfähigkeit, um zu ändern, was du ändern möchtest und was auch veränderbar ist. Denn die Macht zur Veränderung obliegt dir ganz allein und bedarf im ersten Schritt nur einer Entscheidung. Du kannst entscheiden, wie du im Jetzt mit dem umgehst, was in der Vergangenheit geschehen ist – willst du den Schmerz loslassen oder festhalten, willst du nach vorn oder zurück schauen. »Wenn der Wind der Veränderung weht, baue Windräder und nicht Mauern«, heißt es. Wenn du der Veränderung die Möglichkeit gibst, kann sie eine große Chance sein! Lass es zu und alles wird sich fügen und im richtigen Augenblick in dein Leben treten.

8. Veränderung braucht Ziele! Du musst wissen, wo es hingehen soll, um überhaupt starten zu können. Strebe aber nicht danach, den Ansprüchen anderer zu entsprechen oder deren Träume zu leben, denn dann wirst du scheitern. Finde deinen eigenen Weg und lass ihn zu. Vertraue in dich selbst und deine eigenen Entscheidungen und Ziele.

9. Dein Glaube ist dabei deine größte Ressource. Der Glaube an dich selbst, an die Erreichbarkeit deiner Ziele, an eine bessere Welt, an ein Schicksal, an einen Gott. Lass dir deinen Glauben, deine Träume und Visionen, deinen Willen und deine Zuversicht nicht von der gelebten Aussichtslosigkeit anderer Menschen nehmen, sondern halte daran fest. Wenn du etwas wirklich willst und bereit bist, hart dafür zu arbeiten, kannst du buchstäblich Berge versetzen. Glaube an dich, du kannst fast alles möglich werden lassen!

10. Verzage nicht, wenn du das Gefühl hast, auf der Stelle zu treten oder gar Rückschritte zu machen, nicht einmal dann, wenn alles hoffnungslos und für alle Zeiten unveränderbar scheint. Diese Rückschläge sind Teil des Wegs und Teil der Veränderung. Sie gehören zum Leben, versuche sie anzunehmen, zu akzeptieren und deine Ziele zu adaptieren. Sei stolz auf dich und jeden Schritt in die richtige Richtung!

11. Und glaub daran, das Leben ist lebenswert. Es ist zwar stets unvorhersehbar, aber wunderbar zugleich, wenn du es zulässt und deine Augen und dein Herz öffnest. Es ist nie nur das, was es ist, sondern immer auch das, was du daraus machst, es ist deine Entscheidung. Licht scheint auch in der dunkelsten Finsternis. Nur manchmal da erkennst du es nicht, weil du zu sehr auf die Dunkelheit fokussiert bist. Wenn die Dunkelheit zu groß wird, wirst du vergeblich versuchen, das Licht zu sehen, doch kleine Schritte in die richtige Richtung sind selbst dann möglich. Vergiss einfach nie, dass kein Augenblick selbstverständlich ist – dass du morgens deine Augen öffnest, dass du laufen und springen oder in die lachenden Gesichter deiner Liebsten schauen kannst. Du weißt niemals mit Gewissheit, wie es weitergeht. Alles, was dir bleibt, ist der Moment. Also versuch hinzuschauen und erkenne, egal wie verloren du dich fühlst, du bist niemals allein.

Neuen Mutes packte ich dann jedes Mal diese Liste wieder ein und setzte meinen Weg fort. Und so wandere ich immer noch. Doch nach all der Zeit hat sich etwas verändert. Meine Augen versuchen sich an etwas zu gewöhnen, was langsam wiederkehrt – das Licht. Vielleicht war es nie weg gewesen, aber ich hatte oft hindurchgeschaut, als ob es nicht da wäre. Vielleicht hatte ich meine Augen nach diesen wenigen, alles verändernden Sekunden des Unfalls panisch verschlossen und seitdem nicht mehr geöffnet. Vielleicht hatte ich aber auch einfach eine Brille getragen, die ähnlich wie eine Sonnenbrille das ganze Licht gefiltert hatte und die nur in ganz seltenen Momenten doch auch mal auf der Nase verrutscht war.

Nun kann und darf ich meine Augen wieder öffnen, die Brille abnehmen, ich weiß, dass es diese Möglichkeit gibt. Aber es bleibt schwierig, denn das gleißende Licht schmerzt in den an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Und manchmal wird es auch wieder dunkel, da versteckt sich das Licht hinter all den Gipfeln, die noch vor mir liegen, da holen mich auch die Monster, denen ich auf meinem Weg begegnete, wieder ein. Ich akzeptiere, dass sie da sind und manchmal wiederkommen, ich lasse meine Wegbegleiter ins Gespräch mit ihnen treten. Ich befinde mich nun am Fuß des nächsten Bergs, bereit loszuklettern und voller Zuversicht das Ziel zu erreichen. Der unbekannte Weg ist zu meinem eigenen geworden und ich bin nicht mehr allein.

Die Geschichte hinter der Metapher füllt dieses Buch.

Czech Open 2018 – Der Unfall

Es war der 27. September 2018, kurz vor Mittag. Die Landschaft raste am Fenster vorbei und die durch das Glas reflektierte Sonne ließ mich die Augen zusammenkneifen und meinen Blick abwenden. Ich hob den Kopf und schaute auf die Anzeige vor mir. »Next Stop: 11:36 Breclav«. Bald bin ich da, dachte ich und nippte an meinem Gratistee, den mir ein Zugmitarbeiter ausgehändigt hatte. Die heiße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg durch meine Speiseröhre nach unten und ich musste das Pappgefäß abstellen, weil meine Finger ebenso langsam zu verbrennen schienen. Immerhin breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus und das Kratzen im Hals, das mich einige Tage gequält hatte, ließ etwas nach.

Noch in der Früh war ich hektisch in meiner Wohnung hin und her gerannt und hatte einen Schal meiner Schwester und eine warme Jacke hervorgekramt. Zwar hatte mein Hals noch geschmerzt und auch die Nase noch nicht aufgehört zu rinnen – aber bei dem Gedanken, zu Hause zu bleiben und folglich auch eine Strafe zahlen zu müssen, hatte sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend gemeldet, sodass schließlich recht schnell entschieden war: Ich fahre nach Tschechien zu den Czech Open 2018!

Ich war Badmintonspielerin und mein Ziel waren internationale Einsätze. Mein Herz sprang auf und nieder, wenn ich an die anstehenden Turniere und die damit verbundenen Reisen dachte, und ein Lächeln huschte mir übers Gesicht. Beim Badminton flitzt der Ball übrigens schneller als in jeder anderen Ballsportart übers Netz.

Wenn ich von meinem Hobby erzählte, passierte es nicht selten, dass jemand fragte: »Badminton, was ist denn das?«, und der Einfachheit halber brachte ich daraufhin meist das Wort »Federball« ins Spiel. Sofort wussten dann alle Bescheid, und viele dachten wohl spontan an Urlauber, die am Strand Plastikbälle hin und her schlugen oder es zumindest versuchten – was dieser Sportart natürlich keinesfalls gerecht wird.

Für mich nahm Badminton schon immer einen großen Platz in meinem Leben ein, und nun sollte meiner Leidenschaft noch etwas mehr Platz geschaffen werden. Für meinen Traum war ich bereits seit 5.45 Uhr unterwegs. Gähnend kuschelte ich mich in den dicken Schal und nippte noch einmal am Tee. Ich atmete tief ein und suchte mir eine angenehme Sitzposition. So lässt es sich doch reisen, dachte ich mir, und das im Vordersitz integrierte Terminal fiel mir wieder ins Auge. Ich begann darauf herumzutippen. Die gebotene Auswahl umfasste Filme, Lieder, Spiele und sogar einen freien Internetzugang, und ich suchte fieberhaft nach einem spannenden Film, der mir die verbleibende Fahrt versüßen sollte. Bekanntlich rast die Zeit, wenn man sich mit technischen Geräten beschäftigt, und so dröhnte nur kurz nachdem ich mich endlich entschieden hatte, die helle Stimme des Lokführers durch die Lautsprecher: »Next Stop: Brno.«

Ich griff schnell mein ganzes Gepäck und stolperte durch die bereits offen stehende Zugtür hinaus ins Freie. Ich wollte mir einen Moment zum Durchatmen gönnen, aber die hektische Menschenmenge schob mich mit in Richtung Ausgang. Da wurde gewinkt und geflucht und auch ein Sprint zum nächsten Bahnsteig hingelegt. Ich aber hatte keine Eile – mein erstes Spiel war erst für den späten Nachmittag angesetzt – und so blieb ich an einem ruhigen Plätzchen am Bahnhof stehen und schaute den vorbeieilenden Menschen hinterher. Ein Mann sah wichtig aus, im feinen Anzug und mit Aktenkoffer in der Hand hastete er an mir vorbei. Ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, das müde und eingefallen wirkte, und der Gedanke über meinen eigenen Bezug zur Arbeitswelt blitzte in mir auf. Ich war 22, aber den Ernst des Lebens hatte ich noch nicht kennenlernen müssen. Getragen und finanziert von meinen Eltern hatte ich es noch gar nicht so eilig, die Pflichten des Erwachsenwerdens auf mich zu laden.

Kinder trainieren, auf Veranstaltungen Fotos schießen und bei der Organisation helfen, Nachhilfe geben – viel mehr Erfahrung hatte ich in der Berufswelt noch nicht gesammelt. Aber irgendwann würde auch ich mein Studium abschließen und von Termin zu Termin und von Verpflichtung zu Verpflichtung eilen. Immerhin studierte ich seit 2014 Deutsch und Mathematik auf Lehramt. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, bis ich mein Diplom in den Händen halte.

Aber zu sehr eilen müsse man ja nicht, untermauerte ich meine Meinung gern in wiederkehrenden Diskussionen mit Mama über dieses Thema. Ich war jung, hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Ich würde mein Studium bald abschließen, ich schaffte alles, was ich mir vornahm – aber alles zu seiner Zeit, jetzt wollte ich erst einmal Badminton spielen. Ich wollte meinen Traum leben.

Ich hatte mittlerweile etwas Geld gewechselt und mich aus dem Bahnhofsgebäude entfernt. Mit der rechten Hand kramte ich in meinen Taschen und holte mein Handy und etwas Geld hervor. Ich kaufte mir ein Pizzastück in einem kleinen Laden und posierte für ein Selfie, das ich per WhatsApp verschickte mit der Info: »Gut angekommen«. Während ich den fettigen Käse in meinem Mund verschwinden ließ, überlegte ich, wie ich denn nun in die Sporthalle kommen sollte, und mein Blick blieb an den wartenden Taxis hängen.

»Hello, I need to get to Vodova, the sports hall, please«, erklärte ich einem Taxifahrer. Er nickte und stellte den Taxameter ein. Es ärgerte mich in letzter Zeit manchmal, dass ich meine Schulzeit nicht intensiver genutzt hatte, um meine Englisch- und Italienischkenntnisse zu erweitern. Mein Englisch war zwar ganz passabel, aber wie selbstverständlich und präzise könnte ich mich wohl ausdrücken, wenn ich den Sinn des zu Lernenden schon als Jugendliche verstanden hätte. Zumal ich durchaus sprachliches Feingefühl besaß.

Das Italienische war mittlerweile ganz durch das Slowenische aus meinem Gedächtnis verdrängt worden, aber zumindest die Kenntnisse in dieser Sprache stagnierten noch nicht, der letzte Kurs an der Uni lag erst wenige Monate zurück. Auf Reisen ist es immer von Vorteil, mehrere Sprachregister ziehen zu können.

Die Fahrt zur Halle dauerte nicht lang. Ich beobachtete die Zahlen am Taxameter, die unheimlich schnell in die Höhe schossen. 50, 60, aber sicher, das sind tschechische Kronen, also keine Sorge, beruhigte ich mich selbst. Tatsächlich war diese Taxifahrt die wohl günstigste, die ich je unternommen hatte. Vor der Halle sah ich schon andere Badmintonspieler Taschen aus ihren Autos heben und in Richtung Halle gehen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, denn ich war erleichtert, endlich da zu sein. Hier fiel ich, gekleidet in Trainingsanzug und Sportschuhe, nicht auf. Anderswo tat ich das des Öfteren durchaus. Denn so lief ich fast immer herum, ich mochte es eben bequem und fühlte mich so am wohlsten. Und mich einzufügen war noch nie meine Stärke gewesen. Anders als andere hatte es mich auch nie gestört, anders zu sein und aufzufallen. Mir war es nicht wichtig, überall dazuzugehören, doch hier tat ich es, ohne dass ich mich dafür anstrengen musste.

Einen Tag später, nachmittags gegen 16.45 Uhr, es war der 28. September, trat ich an der Seite von Stella und Chee Tean aus eben dieser Sporthalle. Die beiden waren Badmintonkollegen und ein Paar. Auf den ersten Blick ein ungleiches. Er war 23, asiatischer Abstammung, groß, stylisch, und außerhalb des Badmintonfelds kannte ich ihn nur mit Cappy am Kopf. Sie war 21, zierlich, blond, hübsch und trug immer ein Lächeln auf den Lippen.

Das Offensichtlichste, was die beiden teilten, war ihre Liebe zum Badminton. Sie hatten sich im Rahmen eines Trainingslagers kennengelernt und konnten beide schon auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Chee Tean war erst vor wenigen Wochen nach Österreich gekommen. Er war Malaie, hatte in Malaysia für das Nationalteam gespielt, lebte nun allerdings in Österreich, um zu studieren und mit Stella Badminton zu spielen. Ihn hatte ich erst eine Woche zuvor in Polen erstmals getroffen und mich lange nett mit ihm unterhalten.

Stella kannte ich schon viele Jahre, wobei »kennen« auch hier wohl der falsche Ausdruck ist – immer wieder waren wir uns bei Turnieren über den Weg gelaufen. Mehr Kontakt hatte ich erst seit wenigen Wochen, seit ich ihr schrieb, weil ich in Bezug auf die internationalen Turniere Hilfe brauchte. Sie hatte in diesem Metier schon mehr Erfahrung gesammelt als ich und stand mir gern mit Rat zur Seite. Im Rahmen unseres Nachrichtenaustausches hatte ich sie als sehr herzliche und offene Persönlichkeit kennengelernt. Sie vertrat die Meinung, die österreichischen Badmintonspieler müssten mehr zusammenhalten, und sie lebte diese Einstellung.

Nun folgte ich den beiden aus der Halle. Das Turnier war für uns vorbei. Das letzte Spiel, das gemeinsame Doppel mit Stella, hatten wir kurz zuvor beendet. Es war unsere Premiere gewesen. Das erste Mal hatten wir gemeinsam auf dem Feld gestanden und gegen eine gute dänische Paarung sogleich einen Satz für uns entscheiden können. Aber selbst das Coaching des erfahrenen Doppel- und Mixed-Spezialisten Chee Tean hatte nicht gereicht, dass wir die absolute Sensation feiern hätten können. Auch in den anderen Bewerben waren wir bereits ausgeschieden und wollten nun direkt zum nächsten Turnier weiterreisen.

An dieser Stelle möchte ich gern einige Lieblingsworte von Chee Tean zitieren:

»No matter if you win or lose, experiences make people smarter. And I strongly believe that discipline will bring you to success.« (In memory of Chee Tean, Abdruck mit freundlicher Genehmigung seiner Schwester.)

Stella hatte angeboten, mich im Auto in ihren Heimatort mitzunehmen, wo das nationale Turnier, an dem wir alle drei teilnehmen wollten, bereits am nächsten Tag stattfinden sollte. Ich war etwas unsicher. Würde ich denn spielen können oder musste ich doch absagen? Ich fühlte mich immer noch nicht wirklich fit. Doch das könnte ich auch morgen entscheiden, dachte ich, und beschloss, Stellas Angebot anzunehmen.

»Danke nochmals, dass ihr mich mitnehmt. Das ist total nett«, richtete ich mich an Stella. »Machen wir sehr gerne.« Stella ging neben Chee Tean, ihre Sporttasche lässig über die Schulter geworfen. Sie hatte ein sehr sonniges Gemüt und strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Ich folgte den beiden durch die zugeparkte Gasse. Meinen riesigen Koffer schob ich hinter mir her. Stella und Chee Tean unterhielten sich auf Englisch, aber wegen des lauten Brummens der Räder meiner Tasche auf dem Asphalt verstand ich nicht, was sie sagten. Nach einigen Metern blieben sie vor einem älteren Kleinwagen stehen, Stellas Auto, und sie sagte in eben jenem Moment, in dem ich mir dasselbe dachte: »Hoffentlich schaffen wir es, das ganze Gepäck im Wagen zu verstauen.« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich auf das Gepäckstück an meiner Seite. Warum musste ich auch immer so viel mitnehmen? Hoffentlich geht das, dachte ich bei mir. Was mach ich denn sonst? Doch noch den Zug nehmen? Zumindest könnte ich dann wieder Filme schauen. Ich packte mit an, wir füllten den Kofferraum und legten einige Kleinigkeiten auf die Rückbank. Geschafft, alles drin. Stella deutete mir an einzusteigen. Über die Fahrertür kletterte ich nach hinten auf die Rückbank des Dreitürers. Ich war schon voller Vorfreude auf ein warmes Abendessen und eine angenehme Nacht. Stella startete den Motor, parkte aus und wir fuhren los.

Stillstand

17.30 Uhr, Pohorelice, Tschechien, nahe Brünn. Ein roter, völlig zerstörter Seat liegt mehrere Meter abseits der Straße im Graben. Ein schwarzer VW steht schwer beschädigt auf der Fahrbahn. Überall sind Autoteile, kleine Splitter und größere Fragmente verstreut. Auf der Straße liegt auch der Motor des roten Kleinwagens. Bremsspuren sind erkennbar. Niemand hat gesehen, was passiert ist. Es gibt keine Zeugen. Laute Schreie ertönen aus dem Wrack des roten Wagens. Ansonsten komplette Stille. Die Einsatzkräfte treffen ein. Mehrere Teams von Feuerwehr, Rettung und Polizei. Die Feuerwehr muss die Insassen des Seat herausschneiden, doch für den Beifahrer kommt jede Hilfe zu spät. Die beiden anderen Insassen werden schwer verletzt per Hubschrauber und Notarztfahrzeug in die Uniklinik nach Brünn gebracht, wo sofort die Versorgung im Schockraum beginnt.

Meine Schwester und meine Mutter blicken zurück

Unauffindbar – 28.9.2018

Conny: Ich, die Schwester von Jenny, 19 Jahre und ebenfalls Badmintonspielerin, befand mich gemeinsam mit Trainer Klausi in Pressbaum und wartete auf Jenny. Vor einigen Stunden hatte ich ihr geschrieben und sie hatte mich über ihre Mitfahrgelegenheit und Ankunftszeit informiert. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Langsam beunruhigte mich das, da sie eigentlich längst eingetroffen sein sollte.

Nach unzähligen unbeantwortet gebliebenen Nachrichten an Jenny schrieb ich schließlich auch an Stella – wiederum folgte keinerlei Reaktion. Klausi war mittlerweile genauso besorgt wie ich. Gemeinsam saßen wir in meinem Hotelzimmer und rätselten, wo die beiden Mädels stecken konnten. Jenny hätte sich bestimmt gemeldet, wenn sie sich verspäten würden. Irgendetwas konnte nicht stimmen, dieses schlechte Gefühl ließ sich nicht mehr aus meinen Gedanken vertreiben. Die Zeit verging und mittlerweile war es bereits kurz vor Mitternacht – immer noch keine Antwort von Jenny und Stella.

Mama: Auch ich machte mir große Sorgen. Ich hielt mich zu Hause in Kärnten auf, war von Conny informiert worden und hatte auch noch kein Lebenszeichen der beiden bekommen. Abwechselnd telefonierte ich mit Conny und probierte es bei Jenny. Meine Unruhe wurde immer größer, weshalb ich schließlich auch Stellas Vater anrief und von ihm die Daten des Autos erhielt, mit denen die Mädels unterwegs waren. Conny und Klausi fuhren in der Zwischenzeit zur Polizeistation in Pressbaum.

Conny: Bei der Polizei hatte ich anfangs das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Die Bitte, nachzuforschen, was geschehen sein könnte, wurde freundlich, aber abweisend mit dem Argument kommentiert, die beiden Mädchen seien volljährig und daher eine Suche nach ihnen noch nicht möglich. Ich war total verzweifelt, irgendjemand musste doch etwas tun und mehr herausfinden können! Nach einigen Minuten hatten wir die Polizisten dann doch überreden können, erste Hebel in Bewegung zu setzen, doch die entsandte Streife traf in Stellas Wohnung, wie befürchtet, niemanden an. Schockiert und beunruhigt über die Hilflosigkeit, in der wir steckten, kehrten wir wieder ins Hotel zurück. Die Polizisten würden uns informieren, wenn es etwas Neues geben sollte, und wir telefonierten gefühlt jede Minute mit Mama.

Mama: Die ausbleibenden Infos ließen mich sämtliche Polizeistationen entlang der Fahrtstrecke in Österreich ab der tschechischen Grenze abtelefonieren, doch ich blieb erfolglos. Für mich war klar, da musste etwas passiert sein, aber wie sollte ich zu Informationen kommen? Da Jennys Handy scheinbar noch eingeschaltet war, dachte ich, eine Handyortung wäre die beste Idee, aber wer macht so etwas? In meiner Aufregung kontaktierte ich Gerhard, den Schwager von Jenny, der aufgrund seines Berufs eventuell eine Antwort auf meine Frage wüsste. Es war schon nach Mitternacht, doch ich hatte Glück und er hob ab. Er merkte sofort, dass ich sehr aufregt war, und gemeinsam mit seiner Frau Barbara versuchte er mich zu beruhigen. Er erklärte mir, dass eine Handyortung wohl erst am nächsten Morgen möglich wäre, ich es aber beim Außenministerium versuchen könnte. Das tat ich schließlich und erhielt die Telefonnummer der Österreichischen Botschaft in Prag. Ich funktionierte und wickelte ein Telefonat nach dem anderen ab. Die Zeit verstrich und noch immer gab es keine erlösende Nachricht. Auf dem Boden sitzend wählte ich die nächste Nummer, es war jene der Botschaft in Prag. Eine nette Stimme meldete sich, die Frau sprach sehr gut deutsch und bemerkte gleich, dass ich mir große Sorgen machte. Ich fühlte mich bei ihr gut aufgehoben und sie versprach, nach den beiden Mädels auf den Polizeistationen und in den Krankenhäusern zu suchen.

Nachdem ich aufgelegt hatte, setzte eine lange, quälende Wartezeit ein, sie war unerträglich! Ich lief auf und ab und meine Gedanken drifteten immer wieder ab. Anrufe von Gerhard und Conny rissen mich aus den Szenarien, die sich in meinem Kopf geformt hatten.

Dann, um etwa halb zwei Uhr nachts, klingelte es erneut und die Nummer der Botschaft leuchtete am Display auf. Was kommt jetzt? Ich war auf eine schlimme Nachricht vorbereitet, aber egal was man erwartet, es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Martina, so hieß die Dame von der Botschaft, redete auf mich ein. Sie hatte in Erfahrung bringen können, wo die Mädels waren, doch die Nachrichten waren keine guten. Es habe einen schrecklichen Verkehrsunfall gegeben und beide seien ins Krankenhaus Brünn eingeliefert worden. Für mich war klar, ich musste los, hörte nur noch die Info, dass Jenny gerade notoperiert wurde und Stella schwere Kopfverletzungen erlitten hatte, und die Bitte, Stellas Eltern zu informieren. Das tat ich und verständigte auch Klausi und Conny.

Conny: Ich nahm das Telefon ab und hörte Mama weinend und schluchzend sagen, dass ich ihr bitte Klausi geben solle. Ich konnte jedes Wort verstehen, das sie zu ihm sagte. »Jenny und Stella hatten einen schweren Autounfall. Sie sind beide in Lebensgefahr. Ich werde jetzt gleich losfahren, denn die Ärzte wissen nicht, ob Jenny morgen noch am Leben sein wird«, schrie sie hysterisch ins Telefon. Ich fing ich an zu weinen, zu zittern und klammerte mich fest an meine Decke, während Klausi beinahe regungslos am Bett saß und ins Leere starrte. Irgendwann war ich allein im Zimmer und betete einfach nur, dass Jenny und Stella überlebten. Ich schrieb Jenny eine Nachricht in der Hoffnung, dass sie diese irgendwann lesen würde können, ich schickte ihr in Gedanken all meine Kraft und schrieb, dass sie kämpfen solle und dass ich sie über alles liebe. Die ganze restliche Nacht lag ich wach und hoffte.

Mama: In der Zwischenzeit hatte mir Martina die Telefonnummern von den Intensivstationen geschickt, wo Jenny und Stella untergebracht waren. Mir zitterten die Finger, als ich die Nummer wählte und sich am anderen Ende eine weibliche Stimme meldete. Ich verstand nichts. Im Hintergrund hörte ich aber ein schmerzerfülltes Jammern, fast schon Schreien. Auf Englisch versuchte ich mit der Krankenschwester zu kommunizieren und nannte den Namen von Jenny, woraufhin sie mir in gebrochenem Englisch zu erklären versuchte, dass sie mir keine Auskunft geben könne. Das Schreien im Hintergrund wurde währenddessen immer lauter und ich fragte schließlich: »Is it Jenny who is screaming?« »Yes«, erwiderte sie sofort. Auch wenn mich dieses Schreien noch heute manchmal aufschrecken lässt, war dieses »Yes« in diesem Moment so wichtig für mich, denn ich erinnerte mich an die Worte des Notarztes, der vor vielen Jahren Conny bei ihrem Unfall behandelt hatte. »Zum Glück schreit sie, ganz schlimm ist es, wenn ein Verunfallter keinen Ton von sich gibt«, hatte er gesagt. Mir blieb zumindest dieser kleine Hoffnungsschimmer.

Nach dem Telefonat mit der Uniklinik rief ich wieder bei Martina an und schilderte ihr, dass ich in der Klinik keine Auskunft bekommen habe. Sie versprach, für mich noch einmal dort anzurufen, und das beruhigte mich etwas. Ich bewegte mich nun wie ferngesteuert, suchte meinen Pass und holte meinen Rucksack. Ich war fest entschlossen, umgehend allein aufzubrechen, als erneut Barbara und Gerhard anriefen. Ich solle auf Gerhard warten, er würde sofort losfahren und mich begleiten, kam prompt die Reaktion auf mein Vorhaben.

In dieser Viertelstunde, in der ich wartete, informierte ich einige Angehörige, telefonierte wieder mit Conny, und auch Martina rief wieder an. Sie hatte von der Krankenschwester erfahren, dass Jenny nach der Notoperation ansprechbar war, aber wahnsinnige Schmerzen hatte. Kopf und Wirbelsäule waren scheinbar nicht verletzt, sie hatte jedoch etliche Verletzungen davongetragen.

Kurze Zeit später saß ich mit Gerhard im Auto, das Navi zeigte fünf Stunden Fahrzeit an und ich hätte alles dafür gegeben, mich augenblicklich zu Jenny beamen zu können. Die Zeit verging quälend langsam und meine Gedanken spielten verrückt: Wie schlimm war es? Würde ich mit Jenny kommunizieren können? Und, und, und …

Die Fahrt dauerte ewig und ich hing ständig am Telefon. Es klingelte immer wieder, Familienangehörige hofften auf Neuigkeiten oder boten ihre Hilfe an und auch organisatorische Telefonate, etwa mit dem ÖAMTC, mussten geführt werden. Im Hintergrund geisterten unaufhörlich die Fragen in meinem Kopf umher, was nun passieren und wie es weitergehen würde. Ich versuchte die Angst beiseitezuschieben.

Im Spital in Brünn – 29.9.2018

Mama: Schließlich lag die Grenze hinter uns und wir hatten nicht mehr weit zu fahren. Die Sonne war längst aufgegangen, der 29. September angebrochen, und wir hatten nur ein Ziel: endlich die Klinik zu erreichen.

Auf dem Parkplatz der Uniklinik Brno angekommen wurde die Anspannung noch unerträglicher. Innerlich hoffte ich so sehr, dass es Jenny halbwegs gut gehen würde. Wir standen schließlich vor der Eingangstür der Intensivstation. Dahinter lag Jenny. Die Krankenschwester kam, und als sie die Tür öffnete, hörten wir das Schreien von Jenny. Sie wollte mich erst nicht zu ihr lassen, es war keine Besuchszeit, aber ich hätte niemals lockergelassen und so durfte ich schließlich doch eintreten. Beim Anziehen des grünen Mantels und der Plastikschuhe zitterte ich am ganzen Körper – und dann sah ich sie, wie sie dort lag, zugedeckt nur mit einer grünen Decke und umgeben von anderen Patienten.

Sofort fielen mir Jennys Wunde am Kopf, das blaue Auge und die vielen Verbände auf, später erschreckte mich auch der Fixateur an ihrem Bein, den im Moment die Decke verdeckt hatte. Jenny erkannte mich, doch ich merkte, dass sie unter dem Einfluss starker Medikamente stand. Trotzdem schien sie enorme Schmerzen zu haben, doch langsam hatte ich das Gefühl, meine Anwesenheit beruhigte sie etwas. Auch die Schwester merkte es und zeigte den Daumen hoch.

Jenny war verwirrt, wollte wissen, wo sie war und was passiert war. Wir sprachen kurz, dann zeigte mir die Schwester an, ich müsse raus, und sie versuchte mir zu erklären, um 14 Uhr dürfe ich wiederkommen.

Conny: Ich fuhr inzwischen nach Pressbaum zu jenem Turnier, an dem auch Stella, Jenny und Chee Tean teilnehmen hätten sollen. Dort angekommen wollte ich der Turnierleitung Bescheid geben, doch alle wussten schon, was geschehen war. Und so blieb mir nur noch meine eigene Situation klarzustellen: Ich würde bei diesem Turnier nicht antreten. Immer mehr Spieler trudelten munter in der Halle ein, während ich ständig wieder in Tränen ausbrach. Klausi hatte sich bereits in der Früh auf den Weg zu Jenny gemacht, doch ich hätte den Anblick, meine Schwester schwer verletzt dort liegen zu sehen, nicht ertragen. Mama hatte Jenny einmal kurz das Handy ans Ohr gehalten, als sie zu ihr durfte, und ich hatte versucht, mich mit ihr zu unterhalten, was nicht einfach war. Jede halbe Minute wiederholte sie die Frage, wo ich denn sei und was ich machen würde. Sie schien die Antwort von der einen auf die andere Minute wieder zu vergessen, und irgendwie musste ich trotz der schlimmen Situation darüber lachen. Die anderen Spieler wussten noch nicht, was passiert war, und als sie mich fragend ansahen, als »meine« Spiele kampflos an die Gegner gingen, wandte ich nur den Blick ab.

Mama: Gerhard und ich trafen uns in Tschechien kurz mit Stellas Mama und mir war sofort klar, die Situation war sehr ernst. Sie fragte nach Stellas Freund, und erst jetzt wurde mir klar, dass außer den beiden Mädels noch jemand im Auto gesessen hatte. Bei der Autobahnpolizei hatte die Mutter telefonisch keine Auskunft bekommen, weshalb sie uns bat, dort einen Sprung vorbeizufahren. Das kam uns gelegen, denn wir, Gerhard und ich, mussten beide raus. Wir hatten die gleiche schreckliche Vorahnung, doch keiner wollte sie aussprechen.

Wiederum half mir Martina von der Botschaft weiter. Sie verständigte den zuständigen Polizisten, der sich bereit erklärte, zur Polizeistation zu kommen, obwohl er mittlerweile nach einer durch den Unfall bedingten langen und arbeitsreichen Nacht außer Dienst war. Wir mussten etwas warten und wurden schließlich vom Polizisten freundlich empfangen. Niemand der Anwesenden sprach deutsch, und erst über einen weiteren eintreffenden Kollegen wurde die Verständigung auf Englisch möglich.