Ich, die Andere - Alexandra Blechschmied - E-Book

Ich, die Andere E-Book

Alexandra Blechschmied

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Beschreibung

Nach einem zweiwöchigen Urlaub kehrt Jana Winter nach Hause zurück. Doch nichts ist mehr, wie es war: Eine andere Frau lebt in ihrer Wohnung. Sie trägt Janas Namen, kennt ihr Leben - und scheint sogar ihre Gedanken zu spiegeln. Die Polizei glaubt ihr. Ihre Mutter glaubt ihr. Niemand glaubt Jana. Während Jana alles verliert, was ihre Existenz ausmacht, beginnt sie zu kämpfen. Auf der Suche nach der Wahrheit stößt sie auf ein dunkles Geheimnis, das weit in ihre Kindheit zurückreicht: ein streng vertrauliches Projekt, in dem Identitäten manipuliert und Leben willentlich auseinandergerissen wurden. Und sie ist nicht allein. Ich, die Andere ist ein psychologisch dichter Thriller über Identitätsraub, weibliche Selbstermächtigung und den erschütternden Moment, in dem du begreifst, dass deine Wirklichkeit eine Lüge ist. Intensiv, verstörend und emotional - ein Debüt, das unter die Haut geht.

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Rückkehr in ein fremdes Leben

Die andere Jana

Freunde, die keiner mehr sind

Jobverlust

Die Polizei zweifelt

Klinikgespräch

Hoffnung Ben

Das Foto

Die verlorene Schwester

Linas Kindheit

Im Untergrund

Öffentliche Demontage

Erinnerungslücken

DNA Lügt nicht?

Der Einbruch

Im Rampenlicht

Die Begegnung

Schatten der Vergangenheit

Das dritte Gesicht

Die Wahrheit unter Glas

Der Name unter der Tür

Drei Spiegel

Die Entscheidung

Die Veröffentlichung

Das letzte Protokoll

Einheit 3

Die Verborgene Wahrheit

Das Archiv der Stille

Rückkopplung

Verstärkung

KAPITEL EINS

– Rückkehr in ein fremdes Leben

Jana Winter blieb stehen. Der silbergraue Schlüssel ruhte schwer in ihrer Hand, als sie zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder vor ihrer Haustür stand. Der Abend war mild, fast träge. Der Wind strich ihr sanft durchs Haar und brachte den salzigen Duft des kretischen Meeres mit sich – ein Duft, der sich hartnäckig in ihre Kleidung eingebrannt hatte. Wie eine Erinnerung, die sich nicht abschütteln ließ.

Zwei Wochen hatte sie sich zurückgezogen. Zwei Wochen ohne Termine, ohne Gespräche, ohne Verpflichtungen. Endlich hatte sie geschlafen. Gelesen. Ihre Gedanken sortiert. Die Tage am Strand verbracht, barfuß, schweigend, ganz bei sich. Sie hatte wieder zu sich selbst gefunden.

Und jetzt … war sie bereit für ihr altes Leben. Oder zumindest glaubte sie das.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie an ihre abgewetzte Couch dachte. An ihren Kaffeevollautomaten, der morgens ein vertrautes Brummen von sich gab. An die dicke Wolldecke, unter der sie sich im Winter gerne vergrub.

Zuhause.

Sie griff nach dem Schlüssel, schob ihn ins Schloss – und spürte sofort den Widerstand. Er klemmte. Verwundert versuchte sie es noch einmal. Ein leichtes Ruckeln, dann Stillstand.

Was zum …?

Sie zog ihn wieder heraus, betrachtete ihn stirnrunzelnd. Es war eindeutig der richtige. Der, den sie seit Jahren benutzte. Der sich fast schon blind ins Schloss führen ließ. Jana versuchte es ein drittes Mal. Nichts. Kein Einrasten, kein Klicken.

Ein flüchtiges Ziehen durchzuckte ihren Magen. Nicht schmerzhaft, aber seltsam unangenehm. Eine Stimme in ihrem Kopf, leise, flackernd wie ein vergessenes Licht: „Du bist zu lange weg gewesen.“

Unsinn. Sie lachte leise auf, versuchte, sich selbst zu beruhigen. Wahrscheinlich war das Schloss schwergängig. Oder der Nachbar hatte wieder irgendetwas reparieren lassen, ohne sie zu informieren. In alten Häusern passierten solche Dinge ständig.

Trotzdem trat sie einen Schritt zurück, sah nach oben. Die Haustür war unverändert: hellgrau gestrichen, mit den kleinen Absplitterungen am unteren Rand. Darüber die dunkelblaue Markise, schon leicht ausgebleicht. Das Efeu, das sich wie jedes Jahr ein Stück weiter vorgewagt hatte. Und das Namensschild.

„J. Winter.“

Sie blinzelte. Immer noch da. Immer noch ihres.

Sie zögerte. Dann klingelte sie.

Ein paar Sekunden vergingen. Dann hörte sie Schritte – leise, gezielt. Die Tür öffnete sich langsam.

Und vor ihr stand … eine Frau. Etwa in ihrem Alter. Glattes, dunkles Haar, akkurat ins Gesicht gelegt. Ein cremefarbener Kaschmirpullover, dezent parfümiert. Der Ausdruck in ihren Augen war ruhig. Wach. Und merkwürdig distanziert.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau freundlich. Ihre Stimme war weich. Fast zu weich.

Jana öffnete den Mund. Keine Worte.

Dann, leise: „Ich … wohne hier.“

Ein kaum merkliches Zucken ging durch das fremde Gesicht. Die Frau hob eine perfekt gezupfte Augenbraue.

„Wohl kaum. Ich bin Jana Winter.“

Stille.

Die Worte wirkten wie ein Faustschlag. Nicht wuchtig, sondern langsam. Wie in Zeitlupe. Jana spürte, wie sich alles in ihr veränderte. Der Griff ihres Koffers glitt aus ihrer Hand. Ihre Finger begannen zu zittern. Ein kurzer Moment der Orientierungslosigkeit.

„Das … das bin ich“, flüsterte sie.

Die Fremde lächelte. Aber nicht auf die Art, wie man einen Irrtum aufklärt. Es war ein kühles, überhebliches Lächeln. Berechnend.

„Dann haben Sie sich wohl geirrt. Schönen Abend noch.“

Mit einem kaum hörbaren Klicken fiel die Tür ins Schloss.

Jana blieb stehen.

Eine Minute. Zwei. Vielleicht auch zehn.

Der Wind fuhr durch die Bäume, irgendwo summte ein Fahrrad vorbei. Alles war wie immer – und doch war nichts mehr, wie es gewesen war.

Sie starrte die Tür an. Ihre Tür. Ihr Zuhause. Und trotzdem: verschlossen. Fremdbesetzt.

Der Koffer lag auf der Seite. Irgendwann bückte sie sich, hob ihn auf. Ihre Hände waren klamm. Fast hätte sie den Griff erneut verloren.

Was war das gewesen?

Ein Scherz? Ein Irrtum? Hatte sie geträumt?

Sie kannte niemanden mit ihrem Namen. Schon gar nicht jemanden, der in ihrer Wohnung lebte. Oder mit ihrem Ausweis.

Sie griff nach ihrem Handy. Die Polizei. Natürlich.

Die Stimme am anderen Ende war sachlich, freundlich. Jana schilderte alles. Dass jemand in ihrer Wohnung lebte. In ihrer Wohnung. Mit ihrem Namen. Dass sie nicht verrückt sei.

Zehn Minuten später bog ein Streifenwagen um die Ecke. Zwei Beamte stiegen aus. Beide um die vierzig. Der eine gedrungen, mit wettergegerbtem Gesicht, der andere etwas größer, stiller.

„Frau Winter?“, fragte der kleinere der beiden.

„Ja“, sagte sie sofort. „Ich bin Jana Winter.

Also … ich glaube …“

Ein kurzer Blickwechsel zwischen den Männern.

„Dann zeigen Sie uns bitte, wo Sie wohnen.“

Sie nickte, führte sie zur Tür, klingelte. Wieder hörte sie Schritte. Wieder öffnete sich die Tür.

Diesmal trug die Frau Jeans und Pullover. Aber sie war erneut makellos. Wie jemand, der sich selbst als perfekte Version einer Person sah.

„Schon wieder Sie?“, fragte sie, diesmal mit einem leichten Anflug von Ungeduld. Dann an die Beamten: „Diese Frau behauptet, ich sei nicht ich.“

Der größere der Polizisten trat vor. „Könnten wir bitte Ihre Ausweisdokumente sehen, Frau … Winter?“

Die Fremde nickte, verschwand kurz und kehrte mit einem Personalausweis zurück.

Jana erstarrte.

Es war ihr Ausweis. Ihr Foto. Ihr Name. Ihr Geburtsdatum. Und doch … war es nicht sie, die ihn hielt.

„Woher haben Sie den?!“, rief sie. „Das ist meiner!“

Die Frau sah sie lange an. Nicht feindselig. Nicht ängstlich. Sondern … überlegen. Berechnend. Vielleicht sogar mitleidig.

„Ich denke, diese Dame braucht Hilfe“, sagte sie sanft. „Vielleicht einen Arzt?“

Der kleinere Beamte musterte Jana. Lange. Dann, vorsichtig: „Haben Sie jemanden, den wir kontaktieren können? Angehörige? Einen Arzt, der …“

„Ich bin nicht verrückt!“, schrie sie. „Sie lebt mein Leben! Das ist meine Wohnung, mein Name, mein Ausweis!“

Aber ihre Stimme war zu laut. Zu schrill. Sie hörte es selbst.

Der Beamte zog sie behutsam zur Seite. Sprach ruhig auf sie ein. Sagte etwas, das sie nicht mehr verstand. Jana schüttelte den Kopf. Wieder und wieder.

Was war geschehen?

Wie hatte sie alles verloren – in einem einzigen Moment?

Eine Stunde später saß sie in einem Hotelzimmer. Das Bett war zu weiß. Der Tee in ihren Händen zu bitter.

Ihr Laptop – offline.

Ihre E-Mail-Adresse – gesperrt.

Die Kreditkarte – abgelehnt.

Bankkonto – Zugriff verweigert.

Sie war noch dieselbe. Und doch: alles, was sie ausgemacht hatte, war verschwunden.

Kein Name. Keine Wohnung. Keine Identität.

Und niemand glaubte ihr.

Kapitel 2 – Die andere Jana

Jana saß auf dem Bordstein gegenüber ihres Hauses. Neben ihr stand der Rollkoffer – ein stummer Zeuge ihrer Rückkehr –, während die Dämmerung langsam die Straße verschluckte. Sie fror. Nicht, weil es kalt war. Sondern weil etwas in ihr gefroren war. Etwas, das sie für unerschütterlich gehalten hatte: die Realität.

Ihr Zuhause existierte. Sie sah es. Doch eine Fremde lebte darin. Eine Frau, die ihren Namen trug. Ihren Ausweis besaß. Ihre Stimme imitierte – und ihr Leben beanspruchte. Und alle glaubten ihr.

Jana zog ihr Handy hervor. Schlechter Empfang. Das WLAN, das sich sonst automatisch verband, war verschwunden – oder gesperrt. Sie versuchte, sich in ihr E-Mail-Konto einzuloggen. Falsches Passwort. Passwort zurücksetzen? Sicherheitsfrage: Wie hieß Ihr erster Hund? Die Antwort stimmte nicht mehr. Drei Versuche später wurde das Konto gesperrt.

„Du bist paranoid“, flüsterte sie. „Nur übermüdet. Jetlag. Ein Missverständnis. Morgen sieht alles anders aus.“

Aber sie glaubte es nicht. Nicht mehr. Sie war zu klar. Zu wach. Und zu erschüttert.

Eine Push-Nachricht erschien auf dem Display: Warnung vor Identitätsbetrug: Immer mehr Fälle in deutschen Großstädten.

Das konnte kein Zufall sein. Oder war sie schon dabei, Muster zu erkennen, wo keine waren?

Ein Taxi bog um die Ecke. Sie hob den Arm. Es hielt. Der Fahrer sah sie durch den Rückspiegel an.

„Wohin?“

Jana zögerte. Sie hatte keine Adresse mehr. Kein Ziel.

Kein Zuhause.

„Irgendein Hotel. Möglichst nah. Und nicht zu teuer.“

Das Hotel war ein grauer Klotz aus den 90ern, die Teppichböden rochen nach kaltem Rauch. An der Rezeption fragte die junge Frau nach einem Ausweis. Jana reichte ihren Führerschein – wenigstens den hatte sie noch. Noch.

Der Check-in funktionierte. Zimmer 304. Einzelzimmer. Ohne Frühstück.

Sie schloss die Tür ab, ließ sich aufs Bett sinken und starrte an die Decke. Ihre Gedanken kreisten.

Wer war diese Frau? Wie kam sie an ihre Daten? Wie hatte sie die Nachbarn, die Polizei – sogar Annika – überzeugt?

Jana griff zum Handy, suchte Annika in der Kontaktliste und wählte.

„Hallo?“

„Annika. Ich bin’s. Jana.“

Stille.

Dann: „Wer?“

„Jana. Jana Winter.“

„Das ist nicht witzig. Ich weiß nicht, wer du bist,

aber ich werde dich melden, wenn du das noch einmal versuchst.“

„Annika, bitte. Hör doch einfach meine Stimme. Du warst meine Trauzeugin!“

„Frau Winter ist seit gestern zurück aus dem Urlaub.

Und ich weiß sehr genau, wer sie ist – und wer nicht.“

Das Gespräch endete. Jana starrte auf das Display. Ihre Kehle war trocken. Die Finger zitterten.

Sie versuchte es bei ihrem Chef. Keine Reaktion. E-Mail-Adresse nicht mehr bekannt. Mailbox gesperrt.

Dann vibrierte das Handy.

Anonyme Nachricht: Such nicht weiter. Du bist raus.

Am nächsten Morgen klingelte das Handy erneut. Unbekannte Nummer. Jana zögerte, dann nahm sie ab.

„Frau Winter?“ Eine männliche Stimme, ruhig, fast freundlich.

„Ja?“, flüsterte sie.

„Hauptkommissar Finke. Wir würden Sie gern heute um 15 Uhr im Präsidium sprechen – zur Klärung Ihrer Angaben gestern Abend.“

Jana nickte, obwohl niemand es sah.

„Ich komme.“

Das Polizeipräsidium war ein grauer Bau aus Beton und Glas. Die Flure rochen nach Aktenstaub und Desinfektionsmittel. Jana wartete in einem Raum mit einem Wasserspender, der in unregelmäßigen Abständen gurgelte. Eine Uhr tickte – langsam, tückisch.

Finke kam herein. Groß. Graue Schläfen. Müde Augen. Neben ihm ein jüngerer Kollege – Krüger. Wacher Blick. Misstrauisch.

„Frau Winter, wir haben Ihre Aussage aufgenommen. Doch es gibt Unstimmigkeiten.“

„Die Frau in meiner Wohnung lebt unter meinem Namen!“

Finke schob ihr eine Akte hin.

„Diese Frau besitzt alle erforderlichen Dokumente.

Sie wurde mehrfach amtlich überprüft. Ihre Daten stimmen. Die Unterschrift ist identisch. Ihre Krankenkassennummer existiert seit Jahren. Es gibt keinen Hinweis auf Fälschung.“

„Weil sie mich ersetzt hat! Sie hat mich systematisch gelöscht!“

Krüger verschränkte die Arme.

„Gab es in der Vergangenheit psychische Auffälligkeiten?“

„Ich hatte vor drei Jahren einen Burnout. Ich war zur Kur. Aber das hier hat damit nichts zu tun.“

Finke sah sie aufmerksam an.

„Gibt es Familienangehörige, die Ihre Identität bestätigen könnten?“

„Meine Mutter. Aber sie … sie hat beginnende Demenz.“

Die beiden Männer tauschten einen Blick.

„Wir behalten Ihre Meldung im Auge. Aber ohne Beweise …“

„Ich werde sie finden“, sagte Jana leise. „Ich werde euch zeigen, wer ich bin.“

Später saß sie im Hotelzimmer. In einer Ecke. Die Knie angezogen, den Laptop auf dem Schoß. Sie begann zu schreiben.

Alles.

Ihre Kindheit. Ihre Adresse. Den Namen ihres ersten Haustiers. Den Duft des Parfüms, das ihr Vater ihrer Mutter jedes Weihnachten schenkte. Jedes Detail. Jedes Fragment.

Sie speicherte die Datei unter dem Titel:

Ich bin Jana Winter.

Und sie wusste:

Der Kampf hatte gerade erst begonnen.

Kapitel 3 – Freunde die keine mehr sind

Jana war früh wach. Der Lärm der Müllabfuhr draußen – das metallische Klirren der Glascontainer, das schrille Piepen eines rückwärtsfahrenden Wagens – hallte unangenehm in ihrem Kopf.

Sie hatte kaum geschlafen. Immer wieder drängten sich Bilder in ihr Gedächtnis: die Frau an ihrer Tür, die skeptischen Polizisten, Annikas Stimme – kalt und fremd.

Sie hatte gehofft, der Schlaf würde Klarheit bringen. Stattdessen war da nur ein Gedanke, der wie ein glühender Dorn in ihrer Brust saß:

Ich bin allein.

Nach einer kalten Dusche und zwei Tassen Instantkaffee – das Hotel bot weder Automaten noch Atmosphäre – packte sie ihren Laptop ein und machte sich auf den Weg.

Warten war keine Option. Heute würde sie handeln. Menschen konfrontieren, die sie kannten. Die sie erinnern mussten.

Der erste auf ihrer Liste: Micha.

Langjähriger Kollege. Beinahe-Freund. Manchmal Vertrauter, manchmal Nervensäge. Wenn jemand sie nicht vergessen konnte, dann er.

Der Bürokomplex wirkte wie eine Karikatur seiner selbst: Glasfront, Sicherheitssystem, Drehtür im stoischen Rhythmus, als hätte sich nichts verändert.

Der Pförtner saß hinter einer Glaswand, vertieft in sein Tablet, warf ihr einen routinierten Blick zu.

Jana trat ein. Die Lobby war kühl, steril. Marmorfliesen, künstliche Pflanzen, das konstante Summen der Klimaanlage. Alles sah aus wie immer. Und war doch vollkommen anders.

„Guten Morgen. Ich möchte zu Micha Lohner. Zweiter Stock, Vertrieb“, sagte sie.

„Name?“ Der Pförtner hob den Blick.

„Jana Winter.“

Er musterte sie. Dann tippte er auf seinem Bildschirm herum. Sein Ausdruck veränderte sich kaum. „Tut mir leid. Sie stehen nicht auf der Besucherliste.“

„Ich arbeite hier. Also – ich habe hier gearbeitet. Ich bin gerade aus dem Urlaub zurück. Zwei Wochen.“

Der Mann runzelte leicht die Stirn.

„Frau Winter ist bereits im Büro“, sagte er dann.

Ohne jede Ironie.

Jana blinzelte. „Wie bitte?“

„Sie ist heute Morgen um 8:06 Uhr durch die Drehtür gegangen.“

„Nein. Ich bin Frau Winter. Da muss ein Fehler vorliegen.“

Er schien sie genauer zu betrachten, als würde er abschätzen, ob sie scherzte, psychisch labil war oder einfach nur fehl am Platz. Dann griff er zum Telefon, sprach leise, legte wieder auf.

„Herr Lohner kommt gleich herunter.“

Sie trat zurück. Lehnte sich an eine Säule. Ihre Hände waren eiskalt.

In ihrem Kopf rauschte es.

Was, wenn sie ihn auch manipuliert hat?

Was, wenn sogar Micha …?

Aber nein. Micha war kein Mitläufer. Eigensinnig, oft unbequem, aber nicht beeinflussbar.

Oder?

Wenig später öffneten sich die Fahrstuhltüren. Micha trat heraus – zerzaustes Haar, zu enger Anzug, ein Coffee-to-go in der Hand. So wie sie ihn kannte.

Als er sie sah, blieb er stehen.

„Jana?“

„Micha.“ Erleichterung flutete sie. „Gott sei Dank. Endlich jemand, der mich erkennt.“

Er kam näher. Langsam. Sein Blick vorsichtig, tastend.

„Du ... ich dachte, du wärst ...“

„Was?“

„Weggezogen. Oder ... krank. Man hat gesagt, du seist in einer Klinik. Dass du keine Kontakte mehr willst.“

„Wer hat das gesagt?“

„Na ... du.“

Jana schüttelte den Kopf. „Das war nicht ich. Jemand gibt sich als mich aus. Sie lebt in meiner Wohnung. Hat meinen Ausweis. Arbeitet hier!“

Micha rieb sich die Stirn. „Jana, das klingt ... das ist verrückt.“

„Bitte. Denk nach. Was macht sie anders?“

„Sie ist wie du. Vielleicht etwas ruhiger. Professioneller.“

Professioneller? Jana spürte, wie ihre Stimme an Schärfe gewann.

„Ich war nie unprofessionell.“

„Ich meinte das nicht böse. Es ist nur ... sie wirkt überzeugend.“

„Micha, bitte. Ich habe nichts mehr. Keine Wohnung, kein Konto. Ich brauche deine Hilfe.“

Er wich einen Schritt zurück.

„Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann.“

„Du kennst mich!“

„Ich kannte dich. Aber das hier ... das ist nicht mehr die Jana, die ich kannte.“

Sie ging. Ohne sich umzudrehen.

Draußen sog sie die kalte Luft ein, so tief sie konnte. Ihre Beine zitterten. Die Straße vor ihr verschwamm. Nicht vom Regen. Von der Erkenntnis. Micha zweifelt an mir.

Vielleicht nicht an ihrer Existenz, aber an ihrer Wahrheit.

Ein Uber brachte sie in ein kleines Café am Stadtrand. Sie kannte es von früher – ein Ort, an dem man sich zum Schreiben, Lesen oder für heimliche Dates traf.

Jetzt war sie allein.

Sie bestellte einen Tee, ließ ihn unangerührt und klappte den Laptop auf. Er war ihr letzter Besitz. Ihr letzter Beweis, dass sie wirklich war.

Sie schrieb eine Liste.

Namen. Kontakte. Menschen aus ihrem alten Leben.

Jeder Name ein Strohhalm.

Sie begann zu telefonieren.

Lea, ihre frühere Mitbewohnerin: besetzt, dann ausgeschaltet.

Jule, aus dem Yogakurs: „Diese Nummer ist nicht vergeben.“

Frau Dr. Reichen, ihre Hausärztin: „Frau Winter hat die Praxis gewechselt“, sagte die Assistentin.

Sie. Nicht Jana.

Sie starrte auf den Bildschirm. Ihr Google-Kalender war leer. Kein Eintrag, kein Hinweis. Die Cloud – leer. Ihr Online-Banking – Konto nicht gefunden. Selbst ihr Instagram-Account zeigte nur: Profil existiert nicht.

Ein ganzes digitales Leben – ausradiert.

Als die Sonne unterging, saß Jana auf einer Parkbank. Die Kälte kroch durch ihre Jeans. Auf dem Spielplatz rief ein kleiner Junge nach seiner Mutter. Ein Moment aus einer anderen Welt.

In ihrer Jackentasche spürte sie das Handy. Noch ein Kontakt.

Ein Name, den sie sich selbst verboten hatte. Ben. Er brannte wie ein alter Schmerz.

Aber auch wie ein Funke Hoffnung.

Sie wählte.

Freizeichen.

Dann: „Ja?“

Sie zögerte.

„Ben ... ich bin’s.“

Stille.

Dann:

„Jana?“

„Ja. Ich weiß, ich sollte mich nicht melden. Aber ich brauche Hilfe.“

„Was ist passiert?“

Und sie begann zu erzählen.

Er ließ sie reden. Keine Unterbrechung. Keine Vorwürfe. Nur ein gelegentliches, leises „Ich bin hier.“

Als sie fertig war, war es dunkel.

„Du glaubst mir nicht, oder?“, fragte sie leise.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, sagte er.

„Aber ich weiß, wie du klingst, wenn du verzweifelt bist. Und das hier ... das bist du.“

„Ich habe niemanden mehr, Ben.“

„Dann hast du jetzt mich.“

Kapitel 4 – Jobverlust

Die Nacht im Hotel war kurz. Jana wälzte sich stundenlang hin und her, während draußen der Regen gegen das Fenster schlug. Immer wieder spielten sich Szenen vor ihrem inneren Auge ab: wie der Pförtner sie nicht erkannte, wie Micha sie ansah, als wäre sie eine Fremde, wie Annika sie abwies, wie diese Frau ihre Identität in Besitz genommen hatte – mit erschreckender Leichtigkeit.

Gegen vier Uhr morgens hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf, duschte sich kalt, zog sich an und trat auf die verregneten Straßen hinaus. Der Nebel hing schwer zwischen den Häuserschluchten. Die Stadt schlief noch. Doch Jana war hellwach – und bereit, zurückzuholen, was ihr gehörte.

Sie nahm sich ein Taxi. Ziel: ihre alte Arbeitsstelle. Diesmal wollte sie nicht höflich bitten. Sie würde ihre Wahrheit einfordern.

Um Punkt sechs Uhr betrat sie das Foyer. Der Pförtner war derselbe wie am Vortag, doch heute begegnete er ihr mit einer Mischung aus Misstrauen und nervöser Höflichkeit. Vielleicht hatte Micha gesprochen. Vielleicht war ihr Name bereits durch das Haus gegangen – als Warnung.

„Ich muss zu Frau Kaltenbach. Jetzt sofort.“

„Die Geschäftsführerin kommt normalerweise erst gegen halb neun …“

„Dann warte ich.“

Der Mann zögerte, dann nickte er.

Jana setzte sich in eine der schwarzen Ledercouches in der Lobby. Ihr Herz raste. Wie würde Kaltenbach reagieren? Würde sie sie erkennen? Würde sie etwas wissen?

Stunde um Stunde verging. Angestellte kamen, nickten einander zu, warfen ihr neugierige, verwirrte Blicke zu. Niemand sprach sie an.

Kurz nach halb neun öffnete sich der Fahrstuhl. Jana erkannte die hochgewachsene Frau mit dem kastigen Blazer und der Kurzhaarfrisur sofort. Kristina Kaltenbach. Ihre frühere Chefin. Streng, aber fair. Immer korrekt.

„Frau Kaltenbach!“, rief Jana und sprang auf.

Die Frau blieb stehen. Ihre Miene verriet keine Regung.

„Frau …?“

„Winter! Jana Winter. Ich habe drei Jahre für Sie gearbeitet!“

Ein Zögern. Dann: „Frau Winter arbeitet in meinem Team. Und ich erkenne Sie nicht.“

„Kristina, bitte … ich war Ihre persönliche Assistentin. Ich habe Ihre Präsentationen geschrieben, Ihre Termine organisiert. Ich war bei Ihrem letzten Geburtstag dabei, als Sie zu viel Weißwein hatten und … und von Ihrem Mann geschwärmt haben!“

Ein Zucken in Kaltenbachs Mundwinkel.

„Ich weiß nicht, was Sie hier wollen. Aber ich werde das juristisch prüfen lassen.“

„Bitte. Nur fünf Minuten. Ich kann es beweisen.“

„Nein. Was Sie da versuchen, ist Rufschädigung. Und Hausfriedensbruch.“

Kaltenbach wandte sich an den Pförtner. „Sicherheitsdienst.“

Zwei Männer in schwarzen Uniformen traten heran.

„Bitte begleiten Sie diese Frau hinaus. Dauerhaftes Zutrittsverbot.“

Jana spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte. „Ich werde Sie anzeigen! Ich werde—“

Die Männer packten sie sanft, aber bestimmt. Sie ließ sich nicht fallen, hielt den Kopf oben, aber ihre Wangen brannten.

Draußen stand sie wieder im Regen. Nasser als zuvor. Nichts hatte sie gewonnen. Nur noch mehr verloren. Ihr Job – weg. Ihre Position – ausgelöscht.

Und niemand glaubte ihr.

Doch ein Gedanke blieb. Ein Name.

Elias.

Der Systemadministrator. Ein Nerd mit weichem Herz und schrägem Humor. Sie hatte ihm mal bei einer Kündigungswelle den Rücken gestärkt. Vielleicht … war er ihr letzter Joker.

Jana wartete bis zum Mittag. Dann beobachtete sie das Büro aus einem Café gegenüber. Punkt zwölf Uhr kam Elias heraus – wie immer mit Kopfhörern, schwarzer Softshelljacke, einem Jutebeutel mit

„There is no cloud“ als Aufdruck.

Sie ging ihm nach. Rief nicht. Sondern holte erst auf, als sie sicher war, dass niemand aus dem Büro sie beobachtete.

„Elias!“

Er zuckte zusammen, drehte sich um.

„Jana? Was … zur Hölle?“

„Du erkennst mich. Gott sei Dank.“