Zwischen deinen Zeilen - Dein letzter Satz - Alexandra Blechschmied - E-Book

Zwischen deinen Zeilen - Dein letzter Satz E-Book

Alexandra Blechschmied

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Beschreibung

Zwischen deinen Zeilen, Dein letzter Satz Ein Psychothriller über Erinnerung, Wahn und die tödliche Macht des Schreibens Was, wenn du etwas aufgeschrieben hast, das nie hätte existieren dürfen? Emma Löwenstein ist Autorin. Worte sind ihr Zuhause, ihre Zuflucht - und vielleicht ihr Untergang. Als sie mitten in der Nacht eine tote Frau in ihrer Wohnung findet, glaubt sie an einen grausamen Zufall. Bis sie ihr Manuskript aufschlägt. Und jede Zeile der Realität entspricht. Die Polizei ermittelt. Die Medien jagen sie. Und Emma beginnt zu zweifeln. An sich selbst, an ihrer Vergangenheit, an allem, was sie je für wahr gehalten hat. Denn jemand kennt ihre Gedanken. Jemand manipuliert ihre Erinnerungen. Und jemand zwingt sie zu schreiben... bis zur letzten Seite. Ein düsterer, psychologisch tiefgehender Thriller über Kontrolle, Schuld und das perfide Spiel mit der Wahrheit. Für alle, die Sebastian Fitzek, Melanie Raabe oder The Silent Patient nicht aus der Hand legen konnten

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Seitenzahl: 221

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ein fesselnder Psychothriller über Schuld, Wahn - und die tödliche Kraft des Schreibens

Alexandra Blechschmied

Wenn Worte töten können – was steht dann zwischen deinen Zeilen?

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Die Stille, die schmerzt

Kapitel 2 – Misstrauen

Kapitel 3 – Splitter der Erinnerung

Kapitel 4 – Stimmen im Dunkeln

Kapitel 5 – Der Park in der Dämmerung

Kapitel 6 – Notizen eines Fremden

Kapitel 7 – Die Tür im Nebel

Kapitel 8 – Vertraue niemandem

Kapitel 9 – Der erste Schlag

Kapitel 10 – Nah am Abgrund

Kapitel 11 – Der Güterbahnhof

Kapitel 12 – Keine Rückkehr

Kapitel 13 – Die einzige Chance

Kapitel 14 – Die Flut

Kapitel 15 – Die Jagd beginnt

Kapitel 16 – Der Gegenschlag

Kapitel 17 – Der wahre Feind

Kapitel 18 – Der letzte Schritt

Kapitel 19 – Die Jagd

Kapitel 20 – Im Verborgenen

Kapitel 21 – Letzte Vorbereitungen

Kapitel 22 – Eindringen

Kapitel 23 – Kein Weg zurück

Kapitel 24 – Der Gegenschlag

Kapitel 25 – Stimme gegen die Schatten

Kapitel 26 – Der letzte Plan

Kapitel 27 – Alles auf eine Karte

Kapitel 28 – Das Echo der Wahrheit

Epilog

Danksagung

Nachwort

PROLOG

Die Stimme kam aus einem Lautsprecher an der Wand. Ruhig. Fast zu ruhig. „Wie heißen Sie?“

Emma zögerte. Nicht, weil sie ihren Namen vergessen hatte. Sondern weil er sich plötzlich nicht mehr richtig anfühlte.

Der Raum war leer. Die Wände wirkten dünn, fast durchsichtig. Der Tisch war aus Metall, das Licht zu grell. Sie hatte sich gesetzt, ohne gefragt zu werden. Hatte mit vielen Fragen gerechnet. Aber nicht mit dieser.

Wie heißen Sie?

„Emma“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang fremd. Als würde sie jemand anderem gehören. „Emma Löwenstein.“

Ein Kratzen. Jemand machte sich Notizen. Oder tat nur so. Emma senkte den Blick. Vor ihr lag ein schwarzes Notizbuch.

Ungeschrieben.

Daneben ein Stift.

Niemand hatte ihr gesagt, sie solle etwas aufschreiben. Aber sie wusste: Es wurde von ihr erwartet.

Vielleicht war das genau das, was sie immer getan hatte. Geschrieben, was andere in ihren Kopf gelegt hatten.

„Woran erinnern Sie sich?“ Wieder dieselbe Stimme. Diesmal mit einem anderen Unterton. Ein leiser Druck lag darin. Etwas, das drängte.

Ein Bild formte sich vor ihrem inneren Auge. Eine Tür, halb verborgen im Nebel. Blut, das über zerknittertes Papier lief. Ein Gesicht – ihrem so ähnlich, und doch fremd. Dann eine Stimme, kaum mehr als ein Flüstern:

„Schreib weiter. Du warst fast dort.“

Sie öffnete die Augen. Das Notizbuch lag immer noch vor ihr. Leer. Erwartungsvoll. Als wollte es ihr zuflüstern, dass die Antworten nicht in den Fragen verborgen waren – sondern in dem, was sie sich selbst nicht einzugestehen wagte.

Vielleicht war die Wahrheit irgendwo zwischen den Zeilen, die sie vergessen hatte. Vielleicht war sie nie ihre eigene gewesen. Vielleicht hatte sie nur das geschrieben, was andere wollten, dass sie glaubte.

Ein Schatten bewegte sich hinter der verspiegelten Scheibe. Sie spürte ihn, bevor sie ihn sah. Ein leiser Schritt. Ein leises Flüstern.

Emma legte die Hand auf das Notizbuch. Der Einband war kalt. Für einen Moment war alles still.

Dann nahm sie den Stift in die Hand. Nicht, um zu gehorchen. Nicht, um zu erinnern.

Sondern um endlich zu sehen, was zwischen ihren Zeilen stand.

Und was dort nie hätte stehen dürfen.

KAPITEL 1 – DIE STILLE, DIE SCHMERZT

03:12Uhr

Die grellroten Ziffern des Weckers brannten sich wie flammende Warnlichter in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers. 03:12 Uhr. Ein Zeitpunkt, der wie ein schwarzer Pfeil in ihre Brust stach. Emma Löwenstein riss die Augen auf, nicht weil ein Geräusch sie geweckt hätte, sondern weil die Stille zu einer erdrückenden Präsenz geworden war – schwer, unbeweglich und unheilvoll. Es war keine friedliche Stille, kein sanftes Nachklingen von nächtlichen Geräuschen, die normalerweise wie ein Wiegenlied den Raum füllten. Kein Brummen des Kühlschranks, kein Rascheln von Blättern im Wind, kein entferntes Summen der Stadt. Nur eine bedrückende, absolute Leere.

In dieser Leere klopfte ihr Herz so laut, dass es ihr wie eine Trommel erschien, die verzweifelt gegen die Wände ihres Brustkorbs schlug – wild, unkontrollierbar. Ihre Ohren tasteten sich verzweifelt durch die Dunkelheit, suchten nach irgendeinem Ton, einem vertrauten Geräusch, das sie beruhigen könnte. Doch nichts war da. Keine Ablenkung. Nur das dröhnende Schweigen, das sich wie eine unsichtbare Hand um ihren Hals legte.

Sie lag reglos da, als hätte die Dunkelheit selbst sie gefangen genommen, wie ein lebendiges Wesen, das sich um sie wickelte und sie mit seinem kalten Griff bedrohte. Ihr Atem war flach und hastig, ein unregelmäßiger Rhythmus, der ihre Panik nur verstärkte. Das Pochen pulsiert nicht nur in ihrer Brust, sondern auch in ihren Schläfen, in der Kehle, unter den Rippen – ein fiebriger Puls, der sie überrollte.

Der Traum, aus dem sie gerissen worden war, lag noch schwer auf ihrer Seele. Die Bilder darin waren bereits verblasst, so unscharf und zerronnen wie Regen auf einer Scheibe, doch das Gefühl war glasklar: pures Ausgeliefertsein.

„Schreib, was du siehst, Emma.“

Diese Stimme war kein Teil ihres bewussten Denkens gewesen. Sie war leise, eindringlich – wie ein Echo eines Befehls, der schon zu oft in ihrem Kopf widerhallt war. Ein Nachhall aus der Tiefe, der sich wie ein Schatten an ihre Nackenhaut schmiegte. Ein dumpfer, stechender Schmerz zog plötzlich in ihrem Nacken hoch, als wäre dort eine glühende Nadel eingestochen worden. War das noch ein Teil des Traums? Oder hatte sie sich unbewusst im Schlaf verrenkt?

Mit aller Kraft zwang sie sich zur Ruhe. Sie zählte innerlich ihre Atemzüge, eins… zwei… drei… ihre Fingerspitzen tasteten nach dem kühlen Laken unter ihr, als könne sie sich an seiner realen Beschaffenheit festhalten. Doch selbst diese vertraute Textur konnte nichts gegen die innere Unruhe ausrichten, die sich wie ein kalter Nebel in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Irgendetwas stimmte nicht – das spürte sie bis in die letzte Zelle.

Die Dunkelheit war kein einfacher Mangel an Licht. Sie war dicht, fast greifbar, als könne man sie anfassen. Sie erinnerte Emma an jene Nächte ihrer Kindheit, wenn sie unter der Bettdecke lag und darauf wartete, dass die Schatten an den Wänden sich in Monster verwandelten. Damals hatte ihre Mutter sie beruhigt, ihr Geschichten erzählt und die Angst vertrieben. Doch jetzt war Emma allein. Und die Geschichten von damals wirkten wie leere Worte, die keinen Schutz mehr boten.

Dann – ein Geräusch. So leise, dass sie sich unsicher war, ob es überhaupt existierte. Ein Kratzen, ein sanftes Scharren, das aus der Tiefe der Wohnung zu kommen schien. Langsam, vorsichtig, beinahe heimlich.

Emma hielt den Atem an, jeder Muskel spannte sich in alarmierter Wachsamkeit. War es der Wind, der durch einen Spalt im Fenster zog? Ein streunendes Tier, das sich hereingeschlichen hatte? Oder – war da jemand? Ihre Gedanken begannen, sich in wilde Spekulationen zu verlieren, kletterten wie wilde Rehe durch einen dichten Wald aus Angst und Misstrauen. Sie setzte sich auf, spürte den eiskalten Parkettboden unter ihren nackten Füßen, und ein Schauer jagte wie ein kalter Blitz die Wirbelsäule hinauf. Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Bademantel. Dünner Stoff gegen die drohende Dunkelheit, ein symbolischer Schutz, der nichts bewirken konnte.

Langsam richtete sie sich auf, Schritt für Schritt, eine Entscheidung nach der anderen – jede eine kleine Rebellion gegen die lähmende Furcht. Die Dunkelheit schien sich zu verdichten, als sie in den Flur trat. Die Schatten an den Wänden bewegten sich im schwachen Licht der Straßenlaterne, das durch die halb geschlossene Gardine fiel. Umrisse, die aussahen wie Figuren, die dort nicht hingehörten, Wesen, die aus einem anderen Schattenreich kamen.

Mit der Hand glitt sie über den rauen Putz der Wand, suchte Halt in dieser surreale Nacht. Das Parkett knarrte unter ihren Schritten, als würde das Haus selbst warnen: „Dreh um. Geh nicht weiter.“ Doch das Geräusch war verschwunden. Wieder war es still. Zu still. Eine lähmende Stille, die sich wie ein unsichtbarer Nebel in alle Ecken legte und jedes Geräusch zu verschlucken drohte.

Die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spalt offen. Ein Geruch drang zu ihr herüber – schwer, süßlich, metallisch. Sie kannte diesen Geruch. Instinktiv zog sich ihr Magen zusammen, noch bevor ihr Bewusstsein erkennen konnte, was es war.

Blut.

Ein harter Schluck. Ihr Körper verlangte zu fliehen, schrie nach Rückzug – doch irgendetwas hielt sie fest. Wie eine unsichtbare Hand, die sie führte, oder eine Pflicht, die sie nicht verstand. Ihre Finger zitterten, als sie die Tür langsam ganz aufstieß.

Das Wohnzimmer lag im diffusen Dämmerlicht kaum erkennbar vor ihr. Der Couchtisch war umgekippt, als hätte jemand mit voller Wucht gegen ihn gestoßen. Die zersprungene Kaffeetasse lag verstreut, ihr dunkler Inhalt hatte sich wie eine blutrote Schneise über den Teppich ergossen. Der Laptop war vom Sofa gefallen, der Bildschirm gesprungen. Überall lagen Papierseiten, verstreut wie von einem Sturm verweht – oder nach einem heftigen Kampf.

Dann sah sie sie.

Eine Frau, reglos am Boden. Blass, mit dunklen Haaren, das weiße Kleid blutgetränkt. Das Gesicht halb im Schatten verborgen, doch die Leere in ihren Augen schien ihr durch Mark und Bein zu gehen. Eine klaffende Wunde am Hinterkopf, aus der das Blut wie ein dunkler, schimmernder Strom über den Teppich floss.

Emma starrte sie an, unfähig, den Blick zu wenden. Die Szene wirkte unwirklich – als sähe sie sie durch eine dicke Glasscheibe, die alles verzerrte und fremd erscheinen ließ. Ihr Atem stockte, der Puls raste. Ihre Hände waren feucht vom Schweiß. Für einen Moment war sie nicht mehr hier.

Sie war sechzehn.

Ein kaltes Badezimmer, das Echo von Schreien, die panische Stimme ihrer Mutter. Die Fliesen unter ihren Füßen eiskalt, das Blut so real wie damals.

Sie hatte geglaubt, diese Angst hätte sie hinter sich gelassen. Gelernt, damit zu leben. Doch jetzt wusste sie: Sie hatte sich geirrt.

Trotz der Panik trat Emma einen Schritt näher. Jeder Muskel wehrte sich dagegen, doch ihre Neugier und ihr Pflichtgefühl waren stärker. Ihre Hand schwebte über dem Lichtschalter, doch sie wagte es nicht, ihn zu drücken. Licht würde alles real machen. Licht würde bestätigen, dass das, was sie sah, wahr war.

Dann fiel ihr Blick auf das Sofa. Ihr Notizbuch lag offen, als hätte sie es eben erst benutzt. Die Seiten waren vollgeschrieben, mit ihrer Handschrift. Namen, Orte, Details zu Morden, an denen sie für ihren neuen Thriller gearbeitet hatte. Oder hatte sie geglaubt, daran zu arbeiten?

Ein eisiger Gedanke durchfuhr sie wie ein Blitz.

Was, wenn es keine Fiktion war? Was, wenn es Erinnerungen waren?

Sie schnappte nach Luft, griff hektisch nach ihrem Handy. Mit zitternden Fingern tippte sie die Notrufnummer.

„Notrufzentrale, was ist Ihr Notfall?“

„Hier... hier ist jemand... eine Frau... sie ist... tot.“

„Beruhigen Sie sich bitte. Wo befinden Sie sich?“

Emma nannte ihre Adresse. Ihre Stimme klang fremd, hohl, als wäre sie nicht mehr ganz bei sich. Automatisch befolgte sie die Anweisungen: nichts anfassen, nichts bewegen, warten.

Die Minuten zogen sich quälend langsam, dehnten sich wie zäher Kaugummi. Emma kauerte sich auf das Sofa, zog die Knie an die Brust, den Blick auf die offene Tür gerichtet. Jeder kleinste Laut ließ sie zusammenzucken. Was, wenn der Täter noch hier war? Was, wenn er nur darauf wartete, dass sie die Augen schloss?

Oder – was, wenn sie selbst...?

Ein lautes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Stimmen auf dem Flur, Sirenen heulten auf, Blaulicht flackerte durch die Fenster. Schritte hallten im Treppenhaus.

Vorsichtig öffnete Emma die Tür und blickte in die ernsten Gesichter zweier Polizisten, die ruhig, professionell und mit geübter Sicherheit im Blick dastanden. Ihr Auftreten ließ keinen Zweifel daran, dass sie vorbereitet waren, jede Situation zu meistern.

„Emma Löwenstein?“ fragte der eine mit fester Stimme. Sie nickte stumm, zu überwältigt, um zu sprechen.

„Wir sind wegen eines Notrufs hier,“ erklärte der andere knapp und trat einen Schritt vor.

Gemeinsam warfen sie einen schnellen Blick ins Wohnzimmer. Für einen Moment hielten sie inne, die Atmosphäre schien ihnen ebenso schwer zu sein wie ihr Anblick. Dann meldete der vorderste Polizist sachlich: „Tatort bestätigt. Bereich sichern. Verstärkung wird angefordert.“

Emma spürte plötzlich, wie ihre Beine den Dienst versagten, der Boden sich unter ihr zu bewegen schien. Bevor sie fallen konnte, legte einer der Beamten behutsam seine Hand an ihren Arm und führte sie langsam zurück ins Wohnzimmer, zum Sofa.

„Setzen Sie sich bitte,“ sagte er ruhig. „Atmen Sie tief durch. Können Sie uns sagen, was passiert ist?“

Sie öffnete den Mund, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Wie sollte sie erklären, dass die reglose Frau auf dem Boden keine Fremde war, sondern eine Figur aus ihrem eigenen Roman? Wie sollte sie sagen, dass das Blut genau dort floss, wo sie es minutiös niedergeschrieben hatte? Dass Fiktion und Realität hier auf unheimliche Weise miteinander verschwammen?

Stattdessen kam nur ein kaum hörbares Flüstern: „Ich... ich weiß es nicht.“

Die Polizisten tauschten einen kurzen, wortlosen Blick. Kein Mitleid stand in ihren Augen, sondern konzentrierte Skepsis, eine nüchterne Professionalität, die Emma noch mehr isolierte.

Sie saß da, das Gesicht in den Händen vergraben, und spürte, wie sich ein eisiger Kloß in ihrer Brust festsetzte. Mit erschreckender Klarheit durchfuhr sie ein Gedanke:

Dies hier war nicht das Ende.

Es war erst der Anfang.

KAPITEL 2 – MISSTRAUEN

Das Ticken der Uhr war nicht länger nur ein Geräusch – es war eine Waffe. Jeder Schlag ein Hieb gegen Emmas Verstand. Der Sekundenzeiger bohrte sich wie ein Nagel in ihre Schläfen, unaufhörlich, unnachgiebig, als wolle er ihr die Kontrolle entreißen. Sie saß regungslos auf dem Sofa, eine Decke wie ein schützender Kokon um die Schultern geschlungen, als könne sie die Wirklichkeit damit aussperren. Der Stoff roch nach ihr selbst – ein schwacher, vertrauter Geruch, der sich nun wie ein ferner Widerhall anfühlte.

Doch nichts konnte sie vorbereiten auf das, was ihre Wohnung geworden war: ein entweihter Ort, ein Tatort. Fremd. Verstört. Verloren.

Absperrbänder wie grelle Narben durchzogen den Raum, schnitten das Vertraute in Stücke. Fremde Stimmen hallten durch die Zimmer – sachlich, geschäftig, durchsetzt mit Fachbegriffen und Kürzeln, die für Emma keinen Sinn ergaben. Für sie klangen sie wie Urteile. Kalte, logische Sätze, die die Wärme aus ihrem Zuhause trieben, als wäre sie selbst ein Störfaktor.

Kameras blitzten. Jeder Lichtimpuls ein Schlaglicht auf eine Wahrheit, die sie selbst noch nicht begriffen hatte. Polizisten in Schutzkleidung bewegten sich durch ihr Reich, als gehöre es längst nicht mehr ihr. Ihre Bücher wurden fotografiert, ihre Notizen eingesackt, ihre Räume vermessen. Sie behandelten alles wie Beweismaterial – auch sie. Jeder Blick auf sie: distanziert, prüfend.

Sie fror. Nicht, weil es kalt war. Sondern weil etwas in ihr zerbrochen war. Eine unsichtbare Linie, die ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilte.

Die Wohnung, einst ihr Refugium, ihre Bühne für Gedanken und Geschichten, war entweiht worden. Der Ort, an dem sie Sätze geformt, Leben erschaffen hatte – er war zur Arena des Verdachts geworden. Die vertrauten Möbel, die Bücher, selbst die Pflanzen auf der Fensterbank wirkten wie Requisiten aus einem fremden Leben.

Emma hielt sich an der Decke fest wie an einem Seil über einem Abgrund. Ihr Blick suchte Halt in dem, was einmal Bedeutung gehabt hatte: das schwere Bücherregal voller Lieblingsromane; die blaue Vase, die ihr Vater ihr zur bestandenen Abschlussprüfung geschenkt hatte; das Foto von ihm – lächelnd, lebendig. Doch selbst sein Blick schien ihr aus dem Rahmen heraus fremd entgegenzusehen. Alles wirkte verzerrt. Wie Schatten an einer Wand, die sich mit dem Licht verziehen.

Ein Räuspern zerschnitt die Stille wie ein Schnitt durch Seide. Emma fuhr zusammen, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Frau Löwenstein?“

Vor ihr stand Hauptkommissarin Henning – schlank, sachlich, die Haare streng zurückgebunden, die Augen wachsam wie eine Klinge. Nichts an dieser Frau ließ Wärme zu. Ihre Stimme klang professionell, klar, geschult. Aber darunter lag ein unüberhörbarer Zweifel, eine unterschwellige Härte.

„Wie lange wohnen Sie hier?“ „Vier Jahre.“ Emmas Stimme klang dumpf, als spräche sie durch Watte.

„Allein?“

Sie nickte.

Henning kritzelte etwas in ihr Notizbuch, ohne aufzusehen. Ihre Fragen kamen nicht wie Gespräche, sondern wie Prüfungen, wie das Abhaken einer Liste, auf der Emma schon markiert war. „Gab es in letzter Zeit Drohungen? Briefe? Stalker? Vielleicht ein eifersüchtiger Exfreund?“ Emma schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht, dass ich wüsste.“ Henning hob eine Braue, kaum merklich.

„Kennen Sie das Opfer?“

Emma schluckte. Ihre Kehle war trocken wie Sandpapier. „Nein“, antwortete sie schließlich. „Und doch liegt sie hier. In Ihrem Wohnzimmer.“ Eine Pause - lang, berechnend. „Wie erklären Sie sich das, Frau Löwenstein?“

Emma rang um Worte, um Verstand, um eine Antwort, die nicht wie eine Lüge klang. Ihre Gedanken glitten ihr durch die Finger wie Wasser. „Ich … ich weiß es nicht.“

Henning musterte sie noch einen Moment, dann klappte sie das Notizbuch zu. Das Geräusch war klein, aber endgültig. „Wir werden Ihnen weitere Fragen stellen müssen. Bitte bleiben Sie erreichbar.“

Emma nickte mechanisch. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Die Welt draußen war ihr nicht weniger fremd als die Wohnung, die einst ihr Zuhause gewesen war.

Ein junger Beamter trat zu ihr. Seine Stimme war sachlich, aber mit einem Hauch von Mitgefühl, den Emma kaum ertrug. „Bitte kommen Sie mit, Frau Löwenstein.“

Der Gang durch den Flur fühlte sich an wie ein Ritual. Wie der Übergang in eine andere Welt. Die Normalität blieb zurück – versiegelt hinter Polizeiband und flackernden Blaulichtern.

Draußen wartete das Blitzlichtgewitter. Kameras klickten, Mikrofone wurden ihr entgegengestreckt wie Waffen. Fragen prasselten auf sie ein – „Wer war die Tote?“, „Warum gerade Ihre Wohnung?“, „Haben Sie sie gekannt?“ – doch Emma hörte nur das Rauschen in ihren Ohren. Sie senkte den Blick, zog die Decke enger um sich, als könnte sie sich in Luft auflösen.

Im Auto war es still. Die Stadt glitt wie ein Schemen vorbei. Lichter flackerten, Häuser zogen gesichtslos vorüber. Emmas Blick war leer, ihr Körper müde. Jeder Gedanke war wie in Watte gepackt. Nur ein einziger blieb klar: Nichts war mehr wie zuvor.

Die Wache war nüchtern, grau, steril. Der Verhörraum wirkte wie ein Überbleibsel aus alten Filmen – karge Möbel, Neonlicht, ein Tisch, zwei Stühle. Emmas Haut fröstelte beim Kontakt mit der kalten Metallkante des Stuhls.

Sie füllte ein Formular aus. Name, Geburtsdatum, Adresse. Dann: Beruf. Ihre Hand stockte. Sie schrieb: „Autorin“. Doch das Wort wirkte fremd, wie eine Rolle, die sie nicht mehr spielen konnte – oder nie selbst gewählt hatte.

Ein Mann trat ein. Dunkle Kleidung, ruhiger Gang, unaufgeregter Blick. „Guten Abend, Frau Löwenstein. Mein Name ist Jonas Falk. Ich bin psychologischer Berater der Polizei.“

Sein Tonfall war weich, seine Stimme gedämpft – beinahe freundlich. Aber Emma konnte nicht sagen, ob es echte Empathie war oder nur professionelle Zurückhaltung.

„Ich weiß, das war traumatisch für Sie“, begann er. „Niemand hier will Ihnen etwas unterstellen. Wir versuchen nur, zu verstehen.“

Emma spürte den Sog seiner Worte – beruhigend, aber auch gefährlich. Wie ein Teppich, der sich unter ihr ausbreitete, um sie zu empfangen – oder sie zu verschlucken. Misstrauen flackerte in ihr auf. Was, wenn er nicht ihr Verbündeter war, sondern nur ein weiteres Instrument, um sie zu brechen?

Ein anderer Polizist kam herein, flüsterte Falk etwas zu. Falk nickte knapp und verließ den Raum. Zurück blieb nur das Ticken der Uhr. Wieder dieses Ticken – gleichmäßig, erbarmungslos. Emma spürte, wie die Wände näher rückten. War sie hier als Zeugin? Oder war sie längst zur Verdächtigen geworden?

Ein Bild flammte in ihrem Kopf auf: der Brief, der vor wenigen Tagen in ihrem Briefkasten gelegen hatte. Anonym. Keine Handschrift, keine Adresse. Nur ein Satz:

„Du weißt, was du getan hast.“ Sie hatte ihn verbrannt. Aus Angst. Aus Trotz. Vielleicht auch aus Scham. Jetzt wünschte sie, sie hätte ihn aufgehoben. Vielleicht war er ein Puzzleteil gewesen. Vielleicht die erste Warnung.

Falk kehrte zurück. Seine Augen forschend, die Stimme ruhig. „Gab es in letzter Zeit jemanden, der sich ungewöhnlich für Ihr Leben interessiert hat?“

Emma überlegte. Ihr Nachbar. Herr Riedel. Ein Mann, der wenig sprach, aber viel beobachtete. Er war letzte Nacht draußen gewesen. Irgendetwas an ihm war ihr seltsam vorgekommen, auch wenn sie es nicht benennen konnte.

„Herr Riedel“, sagte sie leise. „Er war heute Nacht im Flur. Ich … ich habe Schritte gehört.“

Falk notierte es, sagte nichts weiter. Aber sein Stift schien einen Moment länger zu verweilen.

Stunden vergingen. Irgendwann entließ man sie. Die Stadt draußen hatte sich nicht verändert – und doch war alles anders. Der Regen hatte eingesetzt, feiner Niesel, der die Gesichter der Passanten verwischte.

Emma lief durch die Nebenstraßen, wich Blicken aus, fühlte sich beobachtet. Verfolgt, obwohl sie allein war. Der Asphalt glänzte wie schwarzes Glas. Jeder Lichtschein warf verzerrte Schatten, als würde sich die Welt selbst verdächtig machen.

Vor ihrer Haustür blieb sie stehen. Auf der Fußmatte lag ein Zettel – weiß, unscheinbar. Kein Umschlag. Nur Worte, grob und schief geschrieben: „Wir beobachten dich.“

Emmas Herz setzte aus. Ihre Finger zitterten, als sie den Zettel aufhob. Die Buchstaben wirkten hastig geschrieben, die Tinte war an einigen Stellen verwischt – vom Regen oder von einer zittrigen Hand?

Sie trat ein. Im Flur blinkte ein rotes Licht. Die Überwachungskamera war wieder aktiv – obwohl sie seit Wochen defekt gewesen war. Sie erinnerte sich genau. Wer hatte sie repariert? Und warum – ausgerechnet jetzt?

Die Tür fiel ins Schloss. Die Dunkelheit im Flur war schwer, fast körperlich. Die Schatten an den Wänden wirkten bedrohlich, die Möbel warfen lange, verzerrte Umrisse. Alles, was vertraut war, hatte sich gegen sie verschworen.

Sicherheit war eine Erinnerung. Vertrauen ein Risiko. Und die Wahrheit – ein Schatten, der sich ihrer Kontrolle entzog.

KAPITEL 3 – SPLITTER DER ERINNERUNG

Der Verhörraum war nüchtern: graue Wände, grauer Tisch, grelles Licht. Und doch schien alles darauf ausgelegt, Emmas Verstand zu untergraben – als wäre die Architektur aus Zweifeln gebaut. Die Neonröhre an der Decke flackerte, warf kurze, zuckende Schatten über die kahlen Wände, wie elektrische Gespenster.

Der Stuhl unter ihr war unbequem, seine Lehne zu hart, die Sitzfläche zu kalt. Die Luft roch abgestanden – ein schwerer Mix aus abgestandener Heizungsluft, kaltem Kaffee und Angstschweiß.

Jonas Falk saß ihr gegenüber, Block und Stift vor sich, aber er schrieb nichts. Sein Blick war aufmerksam, geduldig – fast zu ruhig. Zu kalkuliert. Emma wich ihm aus, spielte nervös am Saum ihres Ärmels, zupfte an einer losen Faser, zwang sich, ruhig zu atmen. Doch in ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen wie Glassplitter: scharfkantig, flüchtig, gefährlich. Sie versuchte, sie zu greifen, aber jeder Gedanke zersprang, kaum dass sie ihn berührte.

„Frau Löwenstein“, begann Falk ruhig, mit dieser Stimme, die fast zu freundlich war, „was erinnern Sie sich genau an den Moment, als Sie heute Nacht aufgewacht sind?“

Sie schluckte, spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Der Speichel klebte ihr am Gaumen wie Staub. Ihr Blick wanderte zur Tür, als könnte sie einfach aufstehen und gehen. Doch ihre Beine fühlten sich an wie aus Blei, als gehörten sie nicht mehr zu ihr.

„Ich bin aufgewacht, weil …, weil es zu still war.“

„Zu still?“ Er wiederholte ihre Worte, als wolle er sie abwägen, auf der Zunge kosten.

Emma nickte langsam. „Es war irgendwie … falsch. Anders. Als hätte etwas gefehlt.“

Sie schloss die Augen. Versuchte, den Moment zurückzuholen. Die Nacht glitt wie ein Filmfetzen vor ihr ab: das Ticken der Uhr, das leise Knacken der Dielen, das eigenartige Gewicht der Stille auf ihrer Brust. Es war, als hätte die Welt für einen Moment den Atem angehalten.

Falk lehnte sich vor, seine Hände gefaltet. „Was genau hat sich anders angefühlt?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Etwas lag in der Luft. Schwer. Bedrohlich. Fast, als wäre ich … nicht allein gewesen.“

Ein Bild tauchte in ihrem Inneren auf: ein Schatten im Flur, ein Hauch von Bewegung. Das Gefühl, dass jemand hinter ihr stand, obwohl sie sicher war, allein zu sein. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, ihre Haut war plötzlich eiskalt gewesen, als hätte jemand das Fenster geöffnet – obwohl sie wusste, dass es geschlossen war.

Falks Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Sind Sie sicher, dass Sie wirklich aufgewacht sind?“

Emma stutzte. Die Frage kam zu schnell, zu gezielt. Ihr Misstrauen flackerte zurück, hell und brennend.

„Was meinen Sie?“

„Es gibt Zustände zwischen Schlaf und Wachsein, in denen das Gehirn Dinge erfindet. Schlafparalyse, hypnagoge Halluzinationen. Menschen sehen Schatten, hören Stimmen, glauben, sie hätten etwas erlebt – obwohl es nie passiert ist.“

Emma erinnerte sich an Nächte in ihrer Kindheit. An das Gefühl, nicht atmen zu können. An Monster unter dem Bett, schwarze Silhouetten an der Wand. Aber das hier … war anders gewesen. Zu real. Zu greifbar. Zu kalt.

„Ich habe sie gesehen“, sagte sie heiser. „Die Frau. Ich habe sie gesehen.“

Falk nickte langsam, als wolle er sie nicht erschrecken. „Ich zweifle nicht daran, dass Sie das glauben.“

Ihre Finger verkrampften sich im Stoff ihres Pullovers. Seine Worte waren korrekt – zu korrekt. Berechnend. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, er wisse mehr, als er zugeben wollte.

„Ich habe sie nicht halluziniert“, flüsterte sie.

Die Erinnerung war plötzlich da, scharf wie ein Messer: das Blut auf dem Teppich, der metallische Geruch, der sich ihr in die Nase gebrannt hatte, das fahle Licht des Morgens, das über den leblosen Körper glitt. Die Szene war nicht verschwommen oder unwirklich – sie war glasklar.

Falks Lächeln war kaum wahrnehmbar. „Es ist wichtig, offen für alle Möglichkeiten zu bleiben, wenn wir die Wahrheit finden wollen.“

Wahrheit. Was war das überhaupt noch wert, wenn selbst die eigenen Erinnerungen brüchig wurden?

Falks Stimme holte sie zurück. „Gab es jemanden, der in letzter Zeit Kontakt zu Ihnen gesucht hat? Jemand, der Sie beunruhigt hat?“

Emma zögerte. Ihre Gedanken tasteten sich durch Nebel. „Mein Nachbar, Herr Riedel … Er war heute Nacht draußen. Ich weiß nicht, ob das etwas bedeutet.“

Falk notierte den Namen mit ruhiger Hand. „Wir werden das überprüfen.“

Ein Polizist brachte Wasser. Emma umklammerte das Glas, als wäre es ein Rettungsanker. Der Rand fühlte sich rau an. Sie trank in kleinen Schlucken, konzentrierte sich auf das Gefühl des kühlen Wassers in ihrer Kehle – als könne es die Unruhe in ihr fortspülen.

„Haben Sie Drohungen erhalten? Briefe, Nachrichten, seltsame Begegnungen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nur …“ Sie stockte.

„Nur was?“

„Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.“ Ihre Stimme war kaum hörbar. „Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.“

Falks Blick wurde weicher. Oder spielte er nur Mitgefühl? „Das ist nicht ungewöhnlich. Aber wir nehmen alles ernst.“

Er fragte weiter: nach ihrem Tagesablauf, nach Kontakten, nach ihrem Buch. Sie beschrieb, wie sie am Vortag geschrieben hatte, wie die Stunden verschwammen, wenn sie in ihre Geschichten eintauchte.

Wie sie manchmal selbst nicht mehr wusste, wo die Fiktion endete – und die Wirklichkeit begann.