Ich habe den Todesengel überlebt - Eva Mozes Kor - E-Book

Ich habe den Todesengel überlebt E-Book

Eva Mozes Kor

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Beschreibung

Berührend und authentisch – eine Zeitzeugin erzählt. In »Ich habe den Todesengel überlebt« berichtet Eva Mozes Kor davon, wie sie mit ihrer Zwillingsschwester die menschenverachtenden Experimente des KZ-Arztes Mengele überlebte.

Eva Mozes Kor ist zehn Jahre alt, als sie mit ihrer Familie nach Auschwitz verschleppt wird. Während die Eltern und zwei ältere Geschwister in den Gaskammern umkommen, geraten Eva und ihre Zwillingsschwester Miriam in die Hände des KZ-Arztes Mengele, der grausame »Experimente« an den Mädchen durchführt. Für Eva und ihre Schwester beginnt ein täglicher Überlebenskampf ...
Die wahre Geschichte einer Frau mit einem unbezwingbaren Überlebenswillen und dem Mut, die schlimmsten Taten zu vergeben.

Ein einmaliger Blick auf den Holocaust aus der Sicht einer Überlebenden des »Todesengels« Josef Mengele. Diese überarbeitete Neuausgabe ist ausgestattet mit zahlreichen Fotos, einem bewegenden Nachwort Eva Mozes Kors zu ihrem Engagement für Frieden und Freiheit in der Welt und einem Nachruf auf die Autorin, mit einem Einblick in die bewegten letzten zehn Jahre ihres Lebens.

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Seitenzahl: 214

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Eva Mozes Kor und Lisa Rojany Buccieri

Ich habe den Todesengel überlebt

Eine Auschwitz-Zeitzeugin erzählt

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Küper

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Erstmals als cbt Taschenbuch September 2022 © Eva Mozes Kor und Lisa Rojany Buccieri, 2009 © Eva Mozes Kor und Lisa Rojany Buccieri, 2020 Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Surviving the Angel of Death. The True Story of a Mengele Twin in Auschwitz« bei Tanglewood Publishing, Inc. © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Küper Lektorat: Christina Neiske Umschlaggestaltung: © Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung eines Motivs von Istockphoto/Stefan_Alfonso he · Herstellung:

Dieses Buch ist dem Gedenken an meine Mutter Jaffa Mozes gewidmet, an meinen Vater Alexander Mozes, meine Schwestern Edit und Aliz und meine Zwillingsschwester Miriam Mozes Zeiger. Ich widme dieses Buch auch den Kindern, die das Lager überlebt haben, und allen Kindern weltweit, die Vernachlässigung und Misshandlung überlebt haben: Ich möchte würdigen, wie sie alle um die Überwindung ihres Traumas kämpfen, nachdem sie ihre Kindheit, ihre Familien und das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, verloren haben. Schließlich ist dieses Buch auch meinem Sohn Alex Kor und meiner Tochter Rina Kor gewidmet, die meine Freude und mein Stolz sind.

EMK

Für Olivia, Chloe und Genevieve: der Grund für alles. Und für meine Schwester Amanda, die mir das Leben gerettet hat.

LRB

Prolog

Die Waggontüren wurden vollständig aufgerissen, zum ersten Mal seit vielen Tagen, das Tageslicht fiel wie ein Geschenk des Himmels auf uns. Dutzende von jüdischen Menschen waren in diesen winzigen Viehwaggon gepfercht worden, der durch die Landschaft ratterte und uns immer weiter von unserer rumänischen Heimat fortbrachte. Verzweifelt drängten die Menschen nach draußen.

Ich umklammerte die Hand meiner Zwillingsschwester, während wir auf die Rampe gestoßen wurden, und wusste nicht, ob ich mich über unser Freikommen freuen oder vor dem Bevorstehenden fürchten sollte. Die frühe Morgenluft war eisig, ein kalter Wind biss durch den dünnen Stoff unserer genau gleich geschnittenen weinroten Kleider in unsere bloßen Beine.

Ich wusste sofort, dass es sehr früh am Morgen war, die Sonne war noch kaum über den Horizont gestiegen. Wohin ich auch blickte, standen hohe, spitze Stacheldrahtzäune. SS-Männer lehnten aus hohen Wachtürmen und zielten mit ihren Gewehren auf uns. Wachhunde, von anderen SS-Soldaten geführt, zerrten an ihren Leinen, bellten und knurrten wie jener tollwütige Hund, den ich einmal auf unserem Hof gesehen hatte, mit Schaum vor dem Maul und blitzend weißen, scharfen Zähnen. Ich fühlte mein Herz hämmern. Die Hand meiner Schwester presste sich verschwitzt und warm an meine. Meine Eltern und unsere beiden großen Schwestern Edit und Aliz standen direkt neben uns, und ich hörte, wie meine Mutter meinem Vater laut zuflüsterte:

»Auschwitz? Ist das Auschwitz? Was ist das für ein Ort? Das ist doch nicht in Ungarn?«

»Wir sind im Deutschen Reich«, bekam sie zur Antwort.

Wir hatten die Grenze zu deutschem Territorium überquert. Tatsächlich waren wir in Polen, aber die Deutschen hatten Polen besetzt. Im deutschen Polen befanden sich die Konzentrationslager. Man hatte uns nicht zum Arbeiten in ein ungarisches Arbeitslager gebracht, sondern zum Sterben in ein Vernichtungslager der Nationalsozialisten.

Bevor wir Zeit hatten, mit dieser Nachricht fertigzuwerden, spürte ich auch schon, wie ich grob an der Schulter zur einen Seite der Rampe geschoben wurde.

»Schnell! Schnell!« Die SS-Wachen trieben die verbleibenden Gefangenen aus dem Viehwaggon auf die große Rampe.

Miriam drängte sich noch dichter an mich, während wir herumgestoßen wurden. Das schwache Tageslicht wurde verdeckt und wieder sichtbar, weil größere Leute zuerst neben uns gezwängt und dann von den Wachen zur einen oder anderen Seite verfrachtet wurden. Es schien, als wählten sie einige von uns Gefangenen für eine Sache und einige für eine andere aus. Aber für was?

Unterdessen wurde es ringsum immer lauter. Die NS-Wachen packten weitere Leute und zerrten sie nach rechts oder links auf die Selektionsrampe. Hunde knurrten und bellten. Die Menschen aus dem Viehwaggon fingen jetzt alle an zu weinen, zu rufen und zu schreien; jeder suchte nach Familienmitgliedern, da alle auseinandergerissen wurden. Männer wurden von Frauen getrennt, Kinder von Eltern. Der Morgen explodierte in blankes Chaos. Um uns herum bewegte sich alles immer schneller. Es war ein irrwitziger Tumult.

»Zwillinge! Zwillinge!« Ein Wachmann, der gerade eilig vorbeigelaufen war, kam im Handumdrehen zurück und blieb vor uns stehen. Er musterte Miriam und mich in unseren gleichen Kleidern.

»Sind das Zwillinge?«, fragte er Mama.

Sie zögerte. »Ist das gut?«

»Ja«, sagte der Wachmann.

»Sie sind Zwillinge«, antwortete Mama.

Ohne ein Wort packte er Miriam und mich und riss uns von Mama fort.

»Nein!«

»Mama! Mama! Nein!«

Miriam und ich schrien und weinten, reckten die Hände nach unserer Mutter, die ihrerseits mit ausgestreckten Armen darum kämpfte, uns zu folgen, aber von einem Wachmann festgehalten wurde. Er schleuderte sie roh zur anderen Seite der Rampe.

Wir brüllten, wir weinten, wir flehten, doch unsere Stimmen verloren sich inmitten von Chaos, Lärm und Verzweiflung. Wie sehr wir auch weinten, wie laut wir schrien, es änderte nichts. Wegen jener gleich geschnittenen weinroten Kleider, weil wir als eineiige Zwillinge so leicht in der Menge schmutziger, erschöpfter jüdischer Gefangener auszumachen waren, hatte man Miriam und mich herausgepickt. Bald sollten wir Josef Mengele Auge in Auge gegenüberstehen, dem NS-Arzt, der als »Todesengel« bekannt war. Er war es, der selektierte, wer auf der Rampe leben oder sterben sollte. Aber das wussten wir noch nicht. Wir wussten nur, dass wir schlagartig allein waren.

Wir waren gerade einmal zehn Jahre alt.

Und wir sahen Papa, Mama, Edit und Aliz nie wieder.

Erstes Kapitel

Miriam und ich kamen am 31. Januar 1934 zur Welt, in der kleinen Ortschaft Portz im rumänischen Siebenbürgen, nahe der Grenze zu Ungarn und dem prächtigen Gebirge der Karpaten. Die malerische Landschaft ist bis heute mit kleinen Dörfern gesprenkelt, und das Leben dort hat sich seit meiner Kindheit, anders als in weiten Teilen der Welt, nicht grundlegend verändert. Es gab kein fließendes Wasser und keinen Strom, und die Leute reisten mit dem Pferdefuhrwerk, einem Fortbewegungsmittel, das auch im heutigen Rumänien noch manche nutzen. Das Dorf wurde von einem Notar geleitet, der als eine Art Bürgermeister fungierte.

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter entstammten jüdischen Familien. Man heiratete selten außerhalb seiner Glaubensgemeinschaft. Zu jener Zeit wurden Ehen arrangiert, und als mein Vater heiraten wollte, schickte er ein paar Freunde in andere Dörfer, auf der Suche nach einer möglichen künftigen Ehefrau. Gemäß dem Brauch, dem damals die meisten Ungarn und Rumänen folgten, zogen die Freunde ihre beste Kleidung an und trugen einen Stock mit einer Blüte herum. Wenn eine heiratswillige Frau bereit war, den Mann zu nehmen, wurde die Blüte vom Stock genommen. Meine Mutter akzeptierte die Blüte, also trafen Freunde und Familie Hochzeitsvorbereitungen, woraufhin meine Mutter und mein Vater sich endlich kennenlernten. Mein Vater war ein durchaus gut aussehender Mann und wohlhabend für unsere Region und die damalige Zeit. Meine Mutter war erst dreiundzwanzig, doch für eine Unverheiratete galt das schon als alt, sie war sozusagen eine alte Jungfer. Nach ihrer Heirat beschlossen die beiden, sich auf dem weitläufigen Bauerngut meines Vaters niederzulassen, das er zum großen Teil seinen Geschwistern abgekauft hatte.

Miriam und ich waren eineiige Zwillinge, die jüngsten von vier Geschwistern. Meine Schwester Aliz hatte hübsche grüne Augen und pechschwarzes Haar. Sie war sehr musikalisch und sang wunderschön. Meine andere große Schwester, Edit, war die netteste Schwester, die man sich hätte wünschen können. Sie hob uns oft von hinten hoch und wirbelte uns im Kreis herum, so lange wir wollten.

Hörte man meine älteren Schwestern neidvoll die Geschichte unserer Geburt erzählen, so wusste man gleich, dass wir beiden die Lieblinge der Familie waren. Was ist süßer, was niedlicher als eineiige Zwillingsmädchen? Doch wir waren am falschen Ort geboren, zur falschen Zeit, mit dem falschen Geschlecht und der falschen Religion.

Seit unserer frühesten Kindheit liebte es unsere Mutter, uns gleich zu kleiden und riesige Schleifen in unsere Haare zu binden, damit die Leute sofort erkennen konnten, dass wir Zwillinge waren. Sie setzte uns sogar zu Hause auf den Fenstersims; Passanten hielten uns dann für kostbare Puppen, nicht für lebendige Menschen.

Wir glichen einander so sehr, dass Mama uns mit Kennzeichnungen versehen musste, um uns auseinanderzuhalten. Tanten, Onkel, Cousins oder Cousinen, die unseren Bauernhof besuchten, spielten gerne Ratespiele mit uns, sie versuchten herauszufinden, wer wer war. »Welche von euch ist Miriam? Welche ist Eva?«, rätselte etwa ein verwirrter Onkel augenzwinkernd. Dann lächelte meine Mutter voller Stolz über ihre perfekten Püppchen, während unsere beiden älteren Schwestern vermutlich stöhnten. Übrigens rieten die meisten falsch. Als wir älter wurden und zur Schule gingen, nutzten wir unsere Eigenschaft als Zwillinge, um andere hinters Licht zu führen, was für uns ein Riesenspaß war. Und wann immer wir konnten, zogen wir Vorteil daraus, dass wir etwas so Kostbares und Einzigartiges waren.

Obwohl Papa streng war und uns wie auch unsere Mutter mahnend an die Gefahren übertriebener Eitelkeit erinnerte – er hob hervor, dass sogar die Bibel davor warnte –, legte Mama besonderen Wert auf unser Äußeres. Sie ließ eigens für uns Kleider schneidern und bestellte wunderbare Stoffe in der Stadt. Wenn sie eintrafen, nahm sie Miriam und mich und unsere beiden älteren Schwestern Edit und Aliz mit ins benachbarte Dorf Szeplak zum Haus einer Schneiderin. Dort durften wir Mädchen sehnsüchtig Magazine durchblättern, in denen nach der neuesten Mode gekleidete Fotomodelle abgebildet waren. Doch unsere Mutter hatte das letzte Wort bezüglich Schnitt und Farbe unserer Kleider; zu jener Zeit trugen Mädchen ja nur Kleider, niemals Hosen oder Latzhosen wie die Jungen. Und immer wählte unsere Mutter Weinrot, Hellblau oder Rosa für Miriam und mich. Nachdem die Schneiderin Maß genommen hatte, vereinbarten wir einen Termin für die genaue Anpassung, und wenn wir dann wiederkamen, hatte sie die beiden Kleider zum Anprobieren für uns fertig. Der Schnitt und die Farbe waren stets genau gleich, zwei Teile, die ein perfekt übereinstimmendes Paar ergaben. Die letzten Kleider, die uns die Schneiderin nähte, sollten uns das Leben retten.

Mochten andere Leute sich auch von unserer Ähnlichkeit als eineiige Zwillinge verwirren lassen und unfähig sein, uns zu unterscheiden, unser Vater konnte Miriam und mich aufgrund unserer Persönlichkeit auseinanderhalten. An der Art, wie ich mich bewegte, einer Geste, die ich machte, oder sobald ich den Mund zum Reden öffnete, war ihm klar, wen er vor sich hatte. Obwohl meine Schwester als Erste zur Welt gekommen war, war ich die Anführerin. Ich war auch nicht auf den Mund gefallen. Jedes Mal, wenn wir Papa um etwas bitten mussten, versuchte meine älteste Schwester Edit mich vorzuschicken.

Mein Vater, ein strenggläubiger Jude, hatte immer einen Jungen gewollt. Damals konnte nur ein Sohn am öffentlichen Gottesdienst teilnehmen und das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprechen, wenn ein Mensch gestorben war. Papa aber hatte keinen Sohn, allein meine Schwestern und mich. Da ich die Jüngere der beiden Zwillinge und sein letztes Kind war, schaute er mich oft an und sagte: »Du hättest ein Junge werden sollen.« Wahrscheinlich wollte er damit sagen, ich sei seine letzte Chance gewesen, einen Jungen zu bekommen. Mein Charakter machte die Sache nicht besser: Ich war stark und mutig und sagte deutlicher als andere meine Meinung – genau wie er sich vermutlich einen Sohn vorgestellt hatte.

Diese stärkere Persönlichkeit hob mich von den anderen ab, hatte aber auch ihre Schattenseiten. Ich hatte das Gefühl, dass mein Vater alles an mir verkehrt fand; nichts, was ich tat, schien ihm zu gefallen. So manches Mal stritten und debattierten wir, wobei auch ich nicht zum Nachgeben bereit war. Es reichte mir nicht als Antwort, dass mein Vater recht hatte, nur weil er ein Mann und mein Vater und der Vorstand des Haushalts war. Wir schienen also ständig unterschiedlicher Meinung zu sein, Papa und ich.

Ich erhielt eindeutig mehr Aufmerksamkeit von ihm als Miriam oder meine anderen Schwestern, allerdings war es nicht immer die Art von Aufmerksamkeit, die ich mir gewünscht hätte. Ich hatte nie gelernt, die Wahrheit mit harmlosen kleinen Lügen zu umgehen, deshalb steckte ich laufend in Schwierigkeiten. Ich erinnere mich, wie ich manchmal auf Zehenspitzen durchs Haus schlich, um meinem Vater aus dem Weg zu gehen, weil er mich und mein vorlautes Mundwerk zweifellos oft satthatte.

Rückblickend jedoch wird mir bewusst, dass meine Streitigkeiten mit Papa mich abhärteten, mich noch stärker machten. Ich lernte, Autoritäten ein Schnippchen zu schlagen. Diese Kämpfe mit meinem Vater bereiteten mich, ohne dass ich es wusste, auf das Kommende vor.

Meine Mutter war völlig anders als mein Vater. Sie fuhr in unserem besten Pferdegespann mit uns zum Einkaufen und sie las uns aus Büchern vor. Sie sang ausgesprochen gern und tat das grundsätzlich beim Bügeln; eine Angewohnheit, die ich in mein Erwachsenenleben übernahm – es machte eine langweilige Tätigkeit um vieles angenehmer. Sie teilte uns kleine Parzellen im Garten zu und veranstaltete einen Wettbewerb, welche Parzelle das beste Gemüse hervorbrachte. Das war für uns ein starker Anreiz, uns immer weiter ins Zeug zu legen, um noch bessere Resultate zu erzielen.

Mama war recht gebildet für eine Frau der damaligen Zeit, denn nicht alle Mädchen durften ja zur Schule gehen. Insbesondere unter gläubigen Juden erwartete man damals von Mädchen und Frauen meist, dass sie sich um Heim und Familie kümmerten, während Bildung und Studium den Jungen vorbehalten waren. Und während meine Mutter dafür sorgte, dass wir lesen, schreiben und rechnen lernten und uns Geschichtswissen und Sprachen aneigneten, lehrte sie uns doch gleichzeitig auch, uns um andere in unserer Gemeinde zu kümmern.

Wir waren die einzige jüdische Familie in Portz, unserem Dorf, und pflegten mit allen freundlichen Umgang. Meine Mutter war die liebenswürdigste Person, die ich je kennengelernt habe. Sie erfuhr alle lokalen Neuigkeiten, und häufig half sie unseren Nachbarn, vor allem schwangeren jungen Frauen, wenn sie Unterstützung brauchten. Sie brachte ihnen Nudeln oder Kuchen, ging ihnen im Haushalt zur Hand, wenn sie krank waren, gab ihnen Ratschläge zur Kindererziehung und las ihnen Unterweisungen oder Briefe von anderen Familienmitgliedern vor. Mich und meine Schwestern lehrte sie, ihrem Beispiel zu folgen und Bedürftigen Hilfe anzubieten, umso mehr, als es uns besser ging als vielen anderen Leuten in unserem kleinen Bauerndorf.

Es gab fortwährend gemeinschaftliche Veranstaltungen im Dorf. Viele hatten mit der Arbeit zu tun, und wir waren immer daran beteiligt: Im Herbst gab es Feste zum gemeinsamen Korn-Entspelzen, zu anderer Zeit versammelten sich die Dorfbewohner in der Scheune und klopften Samen aus Sonnenblumen. Wir erzählten uns dabei Geschichten und teilten den neuesten Dorfklatsch. Häufig fanden auch Tanzveranstaltungen statt, bei denen lokale Musiker in Scheunen spielten, gerne in unserer. Kamen Fremde auf der Durchreise in unseren Ort und hatten keine Unterkunft, boten wir ihnen immer ein Zimmer in unserem Haus an.

Dennoch verbreitete sich schon fast seit der Zeit unserer Geburt Antisemitismus in Rumänien, unserem Land. Das hieß, dass viele Menschen um uns herum keine Juden mochten, ganz einfach weil sie Juden waren. Wir Kinder waren uns des Antisemitismus nie bewusst, bis 1940 die ungarische Armee kam.

Einmal erzählte uns mein Vater von einem antisemitischen Vorfall, den er 1935 selbst erlebt hatte, als Miriam und ich gerade ein Jahr alt waren. In jenem Jahr schürte die Eiserne Garde – eine gewaltbereite, antisemitische Partei, die die dörflichen Amtsstuben, die Polizei und die Zeitungen kontrollierte – Hass gegen Juden, indem sie unwahre Geschichten über deren Verderbtheit erfand und behauptete, dass Juden alle anderen zu betrügen trachteten und nach der Weltherrschaft strebten. Mein Vater und sein Bruder Aaron wurden von der rumänischen Eisernen Garde hinter Gitter gebracht unter der Anklage, Steuern hinterzogen zu haben. Das war eine klare Lüge; sie hatten ihre Steuern stets bezahlt. Sie wurden nur deshalb eingesperrt, weil sie Juden waren.

Papa erzählte uns, dass er und Aaron, als sie aus dem Gefängnis kamen, nach Palästina zu reisen beschlossen – sie wollten schauen, ob sie sich dort eine Existenz aufbauen konnten. Palästina war einst eine Landfläche im Mittleren Osten, auf der die Juden vor ihrer Vertreibung zur Zeit des Römischen Reichs gelebt hatten; vor allem in Perioden der Verfolgung wurde Palästina stets von vielen Juden als Heimat betrachtet. Ein Teil des Landes war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von jüdischen Einwanderern besiedelt worden und 1948 entstand dort schließlich der unabhängige Staat Israel.

Mein Vater und Onkel Aaron blieben ein paar Monate in Palästina und kehrten dann nach Rumänien zurück. Nach ihrer Heimkehr verkauften Onkel Aaron und seine Frau ihre Ländereien und ihren gesamten sonstigen Besitz und planten ihre Auswanderung.

Papa drängte Mama, sie sollten ebenfalls das Land verlassen und sich in Palästina ansiedeln. »Es ist gut dort«, sagte er. »Das Land ist warm. Es gibt jede Menge Arbeitsstellen.«

»Nein«, protestierte sie. »Mit vier kleinen Kindern kann ich nicht umziehen.«

»Wir müssen jetzt weg, bevor es hier für uns schlimmer wird«, drängte mein Vater, der in Sorge war wegen der Nachrichten über zunehmende Judenverfolgung in ganz Ungarn und anderen europäischen Ländern.

»Was soll ich dort? Wie würden wir uns zurechtfinden? Es lockt mich nicht, in der Wüste zu leben«, sagte meine Mutter. Und wie Mütter manchmal sind, sprach sie ein Machtwort und weigerte sich zu gehen. Ich habe mich oft gefragt, wie unser Leben verlaufen wäre, hätte sie eingelenkt.

In unserem kleinen rumänischen Dorf lebten wir in einem freundlichen Haus auf einem weitläufigen Hofgut. Wir hatten mehrere Hundert Hektar Felder mit Weizen, Mais, Bohnen und Kartoffeln. Wir hatten Kühe und Schafe, mit denen wir Käse und Milch produzierten. Wir hatten einen großen Weinberg und produzierten Wein. Wir hatten hektarweise Obstgärten, die uns Äpfel, Pflaumen und Pfirsiche schenkten und saftige Kirschen in dreierlei Farben: Rot, Schwarz und Weiß. Im Sommer verwandelten sich diese Kirschen für uns in wunderhübsche Ohrringe, mit denen wir schick herausgeputzte Damen spielten. Mama liebte auch ihren Blumengarten vor dem Haus und ihren Gemüsegarten dahinter, dazu ihre Kühe, Hühner und Gänse.

Was ihr aber am meisten zu schaffen machte, war der Gedanke, ihre Mutter zurückzulassen. Wir Kinder liebten die Besuche bei Oma und Opa Hersh. Und meine Mutter fühlte sich als einzige Tochter dafür verantwortlich, sich um Oma Hersh zu kümmern, die nicht bei bester Gesundheit war und oft Mamas Unterstützung brauchte.

»Abgesehen davon sind wir hier sicher«, sagte meine Mutter. Sie glaubte wirklich, dass die Gerüchte, Juden würden von den Deutschen und ihrem neuen Staatsoberhaupt Adolf Hitler verfolgt, eben nur dies seien: Gerüchte. Sie sah keine Notwendigkeit, nach Palästina oder Amerika zu fliehen, Orte der Sicherheit für jüdische Menschen wie uns. Also blieben wir in Portz.

Portz, ein überwiegend christliches Dorf mit einhundert Familien, hatte einen Pfarrer. Die Tochter des Pfarrers, Luci, war unsere beste Freundin; sowohl Miriam als auch ich spielten sehr gern mit ihr. Im Sommer kletterten wir in die Bäume des Obstgartens, lasen Geschichten und führten Stücke in einem kleinen Theater auf, das wir bauten, indem wir ein Betttuch zwischen zwei Bäume spannten. Im Winter halfen wir Luci sogar beim Schmücken ihres Weihnachtsbaums – das verschwiegen wir allerdings unserem Vater, denn er wäre nicht damit einverstanden gewesen. Diese Freundschaft trug ebenfalls dazu bei, dass wir uns sicher fühlten. Wenn wir so eng befreundet waren mit der Tochter des christlichen Pfarrers, wie sollten wir da in unserem eigenen Heimatort verfolgt werden?

Obwohl hier und dort Gerüchte über die Deportation von Juden in Arbeitslager zu kursieren begannen, glaubte Mama weiterhin nicht, dass wir in Gefahr waren. Selbst als wir von den neuen Gettos erfuhren, eingegrenzten Bezirken in europäischen Städten, in denen jüdische Menschen in Elend und Armut zu leben gezwungen wurden, um sie unter Kontrolle zu halten, glaubten wir nicht, ernstlich gefährdet zu sein. Und selbst als die Juden aller Besitztümer und aller Freiheiten beraubt, in Arbeitslager verschickt und wie Sklaven zu unbezahlter Arbeit getrieben wurden, hielten wir es nicht für möglich, dass uns das passieren könnte. Wir hätten niemals geglaubt, dass man in unser winziges Dorf kommen würde, mitten auf dem Land und weit von jeder Stadt entfernt.

Eine meiner frühen Erinnerungen ist die an die Männer eines jüdischen Arbeitslagers aus Budapest, die unser Dorf durchquerten. Die ungarische Regierung holte diese Sklavenarbeiter, um sie an der Eisenbahnstrecke schuften zu lassen, und wenn die Arbeit beendet war, wurden die Männer ins Lager zurückgebracht. Solange sie an der Strecke eingesetzt wurden, hatten sie nachts keine Bleibe, darum ließ mein Vater sie in unserer Scheune schlafen. Manchmal kamen ihre Frauen zu Besuch und wurden bei uns im Haus untergebracht. Als Dank brachten sie uns massenhaft Spielsachen aus der Stadt mit und, wichtiger noch, jede Menge Bücher. Wir Kinder verloren uns stundenlang in den Bücherwelten. Ich schaffte ein Buch pro Tag. Diesen Frauen ist es zu verdanken, dass ich schon in jungen Jahren meine Liebe zum Lesen entwickelte.

Wie ich erst später aus Büchern erfuhr, die ich über den Zweiten Weltkrieg las, war Adolf Hitler als Parteivorsitzender der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, 1933 im Deutschen Reich an die Macht gekommen. Der Judenhass Hitlers war ebenso groß wie jener der rumänischen Eisernen Garde, und die Anführer der antisemitischen und rassistischen Parteien wurden Verbündete, einig in ihrem Hass und ihren Plänen, ganz Europa zu beherrschen. Dann begann im September 1939 der Zweite Weltkrieg mit dem Einmarsch nationalsozialistischer deutscher Truppen in Polen. Die Ungarn unter der Führung von Miklós Horthy setzten ihre Hoffnungen ebenfalls auf Hitler und verbündeten sich mit ihm. All das geschah um uns herum, aber immer noch weit genug entfernt, dass nur Papa sich Sorgen um unsere Sicherheit machte.

Im Sommer 1940 jedoch, als Miriam und ich sechs Jahre alt waren, änderte sich die Lage. Hitler gestand den nördlichen Teil des rumänischen Siebenbürgens Ungarn zu. Zu jener Zeit war die Bevölkerung Siebenbürgens – der weitläufigen Region um unser Dorf herum – halb ungarisch, halb rumänisch, in unserem Dorf aber waren alle Rumänen. Es gingen Gerüchte um, die ungarische Armee würde Juden und Rumänen töten und unser Dorf in Brand stecken. Selbst als sechsjähriges Kind wusste ich nun, dass wir in Gefahr waren.

Miriam, die Stillere von uns beiden, spürte meine Angst; sie muss sie mir am Gesicht und an der Körpersprache abgelesen haben. Doch sie klagte nie, das entsprach nicht ihrem Wesen.

Eines Tages gegen sechs Uhr morgens sahen wir, dass sich die rumänische Armee aus unserem Gebiet zurückzog. Kurz darauf schlug unser Dorfausrufer die Trommel und verkündete: »Alle herhören! Alle herhören! Der Notar fordert sämtliche Bewohner von Portz auf, nach oben auf den Berg zu gehen und die ungarische Armee willkommen zu heißen!« Das war seltsam. Eine Armee zog sich zurück, eine andere nahm ihre Stelle ein. Nicht ein Schuss fiel.

In einer Staubwolke marschierten ungarische Soldaten in unser Dorf ein, der befehlshabende Offizier fuhr in einem langen, glänzend schwarzen Wagen vor der Truppe her. Die kleine Parade war eindrucksvoll und so war es auch beabsichtigt. Wir Dorfbewohner sollten merken: Jetzt war das ungarische Militär an der Macht, entsprechend hatten wir sie willkommen zu heißen! Wir hörten die Soldaten singen: »Wir sind Horthys Soldaten, die schönsten Soldaten der Welt.«

Der Kommandeur verlangte mit jemandem zu sprechen. Keiner sprach Ungarisch außer unserer Familie.

»Ich rede mit Ihnen«, sagte mein Vater.

»Wir werden im Dorf bleiben«, verkündete der Kommandeur. »Wir brauchen ein Quartier.«

Niemand wollte den Soldaten freiwillig Unterkunft bieten. Schließlich sagte mein Vater: »Unser Haus und Hof sind groß. Sie können bei uns unterkommen.«

In jener Nacht schlugen die Soldaten auf unserem Hofplatz ihr Lager auf; der befehlshabende Offizier schlief in unserem Gästezimmer – im einzigen jüdischen Haus des Dorfs. Meinem Gefühl nach wussten sie, dass wir Juden waren, aber es fiel kein Wort darüber. Es schien keinerlei Probleme deswegen zu geben, zumindest nicht in jener Nacht.

Mama behandelte die Offiziere wie Gäste: Sie buk ihre beste Schokoladentorte und lud die Offiziere ein, mit unserer Familie zu Abend zu essen. Ich erinnere mich, dass viel über gutes Essen gesprochen wurde, und Miriam und ich fanden es aufregend, zusammen mit diesen wichtigen Männern in Uniform am Tisch zu sitzen. Es war ein angenehmer Abend und die Offiziere lobten Mamas Koch- und Backkünste. Bevor sie schlafen gingen, küssten sie ihr zum Dank die Hand, eine zu jener Zeit übliche männliche Höflichkeitsgeste. Am nächsten Morgen brachen sie frühzeitig auf und unsere Eltern schienen beruhigt.

»Seht ihr?«, sagte Mama. »Es ist nichts dran an dem Gerede, dass sie die Juden umbringen. Sie sind Ehrenmänner.«

»Warum erzählen die Leute dann solche Geschichten?«, fragte Papa, ohne eine Antwort zu erwarten, geschweige denn Einwände durch meine Mutter oder sonst jemanden in der Familie. »Du hast vermutlich recht. Die Nazis werden nie in ein kleines Dorf wie unseres kommen«, schloss er. Das betrachteten wir hiermit als Tatsache. Papa hatte es gesagt.

Spät in der Nacht allerdings hörten meine Eltern hinter verschlossenen Türen Radio mit einem batteriebetriebenen Gerät. Sie diskutierten in jiddischer Sprache über die Nachrichten, einer Sprache, die sie uns bewusst nicht beigebracht hatten, damit sie über Dinge reden konnten, die wir nicht wissen sollten. Was hörten sie da, dass sie so ein Geheimnis daraus machten? War es etwas so Schlimmes, dass sie es vor uns Mädchen zu verbergen suchten?

Ich presste mein Ohr an die Tür und horchte, versuchte zu verstehen, was vor sich ging. »Wer ist Hitler?«, fragte ich, als meine Eltern herauskamen.

Mama wehrte unsere Fragen mit heiteren Beschwichtigungen ab: »Ihr braucht euch überhaupt keine Sorgen zu machen. Alles wird gut.« Doch wir hatten ein paar Radiosendungen mit angehört, in denen Hitler brüllte, er werde alle Juden ausrotten. Als wären wir Ungeziefer!