"Ich habe Nanobomben unter der Haut!" - Christian Seifert - E-Book

"Ich habe Nanobomben unter der Haut!" E-Book

Christian Seifert

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Beschreibung

Wer dringend Hilfe braucht, wählt die 112 – die Nummer für den Rettungsdienst und die Feuerwehr. Und das geschieht in den ungewöhnlichsten Situationen. So erscheint es einer 85-Jährigen schon mal als Notfall, wenn es ihr im Schlafzimmer zu warm ist und sie nicht weiß, wie man die Heizung runterdreht. Oder ein fehlerhafter Herzschrittmacher sendet plötzlich Elektroschocks aus, die den Patienten fast umbringen. Von der Katze Lissy, zu deren Rettung aus dem Baum Dutzende Feuerwehrmänner mit schwerem Gerät im Wert von Zigmillionen Euro anrücken, über einen Kellerbrand mit Reptilien-Überraschung bis zu einer verletzten Frau, die im Wald zu erfrieren droht und von den Männern der Notrufzentrale binnen Stunden gefunden werden muss – Christian Seifert hat in seinem Berufsalltag bei der 112 alles erlebt. Die dramatischsten und kuriosesten Geschichten sind in diesem Band versammelt. *Dieses Buch ist eine überarbeitete Neuausgabe des Titels Notruf 112.*

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Seitenzahl: 272

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Christian Seifert

mit Dorita Plange

»ICH HABENANOBOMBENUNTERDER HAUT«

Der ganz normaleWahnsinn aus derNotrufzentrale

112

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2019

© 2013 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bei diesem Titel handelt es sich um die aktualisierte Neuausgabe des 2013 erschienenen Buches Notruf 112.

Redaktion: Caroline Kazianka, München

Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München

Umschlagabbildung: unter Verwendung von Motiven von iStockphoto und Shutterstock

Satz: Georg Stadler, München; Andreas Linnemann, München

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0740-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0628-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0629-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«

Notruf aus der Winternacht

Einsamkeit

Herzensnöte

Absolut tierisch

Psycho

Der Stresstest

Der Teddybär

Ententage

Viola

Der ehrenwerte Herr Feldmann

Wenn einer eine Reise tut …

Feuerwehrfreundschaft

Die richtige Nummer

Notfall in Warschau

Olegs Schicksal

Die Hausbesetzer

Junge Liebe

Bauchgefühl

Der Dachstuhlbrand

Buchstabenrätsel

Ufo-Alarm

Feuerwehrhumor

Scrat lebt!

Babyalarm

Benni

Der Bienenstich

Anspruchsdenken

Atemnot

Der Todgeweihte

Die gelbe Gefahr

Superlative

Tücken der Technik

Anno dazumal

Der Stromausfall

Der Kellermann

Der Asthma-Anfall

Szenen einer Ehe

Horst aus dem Forst

Herr Rossegger

Der Neuhauser Feuersturm

Der Wiesn-Krater

Kevin – leider nicht allein zu Haus

Fleisch

Die Nottrauung

Drama vor laufender Kamera

Inferno im Hochhaus

Lillis Rettung

Lebendig begraben

Dramatisches Rendezvous

Die Bombe

Das Sekundenwunder

Der rote Punkt

Wohnungsöffnungen

Laterna magica

Der Test

Die Last mit der Lust

Blaulichtparanoia

Oktoberfest

»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst.Grüß Gott!«

Würden Sie mitten in der Nacht den Feuerwehrnotruf 112 anrufen, weil Sie plötzlich nicht mehr wissen, wie man einen Heizkörper abdreht? Nein, das würden Sie wohl nicht. Weil Sie denken, dass man die Disponenten der Münchner Berufsfeuerwehr, die den Notruf 112 bedienen, mit solchen Lappalien nicht belästigen darf. Für eine alte Dame jedoch war genau das eines Nachts ein Riesenproblem. Und darum tat sie – aus ihrer Sicht – genau das Richtige. Sie wählte den Notruf 112 und bat um Hilfe. Die bekam sie auch. Denn genau dafür sind wir da. Für die großen und die kleineren Nöte der Bürger dieser Stadt. Es muss nicht erst die Küche in Flammen stehen, der Kollege mit einem Herzinfarkt umfallen, die Stromversorgung der halben Stadt zusammenbrechen oder Säure im Keller auslaufen. Wir löschen mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch Papierkörbe, suchen verschollene Oktoberfest-Gäste, retten Betrunkene aus den unmöglichsten Situationen, fangen Enten, Eichhörnchen und Waschbären, beruhigen kleine Kinder und hysterische Mütter, sprechen notfalls alle Sprachen dieser Welt und lenken ganz nebenbei noch den gesamten Rettungsdienst einer Großstadt.

Es war mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt, eines Tages Lagedienstführer in einer der größten Integrierten Leitstellen Deutschlands zu werden. Weder mein Großvater noch mein Vater, nicht einmal ein entfernter Verwandter hatten sich jemals in der Freiwilligen Feuerwehr unserer Kleinstadt engagiert. Ich jedoch, der kleine Christian, schlug da irgendwie aus der Art. Solange ich denken kann, träumte ich davon, endlich zwölf Jahre alt zu werden und der Jugendfeuerwehr meiner Heimatstadt Erding beitreten zu dürfen.

Der große Tag kam – und ich weinte. Quasi über Nacht war nämlich das Eintrittsalter von zwölf auf 14 Jahre hochgesetzt worden. Und ich war wieder draußen. Meine Mama jedoch konnte das heulende Elend nicht lange mitansehen und ließ ihre Beziehungen spielen. Der Erdinger Löschmeister Fritz P. legte schließlich beim Kommandanten ein gutes Wort für mich ein. Und so kam der 6. November 1978, ein Montagabend. Ich werde ihn nie vergessen. Mein erster Übungsabend! Thema: tragbare Feuerlöscher. Auf dem Heimweg platzte ich fast vor Stolz.

Mein Sohn Leonhard war, seitdem er elf Jahre alt wurde – genauso wie ich seinerzeit – nicht mehr zu halten. Hartnäckig nervte er monatelang den Erdinger Feuerwehrkommandanten, bis er ihm schließlich das Versprechen abgeknöpft hatte, ihn im zwölften Lebensjahr mitmachen zu lassen. Leonhard wurde am 1. Januar 2013 stolzes Mitglied der Jugendfeuerwehr Erding und ist nach wie vor in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv – ich erkenne mich in ihm wieder.

Die Feuerwehr bestimmt mein Leben und das meiner Familie. Auch meine Ehefrau Petronilla arbeitet als Disponentin in der Integrierten Leitstelle Erding. Unsere Tochter Veronika zeigt hingegen wenig Blaulichttendenzen, allerdings bleibt sie der Familientradition treu und möchte Hebamme werden.

Im ursprünglichen Beruf bin ich Feinmechaniker. Doch ich habe nie bereut, dass ich 1989 zur Flughafenfeuerwehr München-Riem wechselte und 1991 von dort den Sprung zur Berufsfeuerwehr München machte. Sieben glückliche Jahre lang sammelte ich wertvolle Berufserfahrungen auf der schönsten Münchner Feuerwache, mittendrin im lebendigen Studenten- und Künstlerviertel Schwabing. Doch ich wollte weiter, machte meinen Hauptbrandmeister und fand mich – zunächst unfreiwillig – 1998 als Disponent in der neuen Integrierten Leitstelle wieder.

Der Anfang dort war sehr schwierig. Wir kämpften mit der neuen Technik, alle litten unter geradezu unverantwortlich langen Dienstzeiten. Es gab Momente, in denen ich mich fragte, wie lange ich das noch durchhalten würde. All das ist glücklicherweise längst Geschichte.

Tag für Tag, Nacht für Nacht, 365 Tage im Jahr und natürlich rund um die Uhr sind wir Disponenten der Integrierten Leitstelle für die Bürger zu sprechen. Etwa 3000 Münchner vom Greis bis zum Kind wählen jeden Tag den Notruf 112. Und nie weiß man, was sich hinter dem nächsten Anruf verbirgt. Vielleicht ist es nur eine kurze Anfrage, vielleicht steckt jemand im Aufzug fest oder ein Spaßvogel testet unsere Schlagfertigkeit. Doch es könnte sich genauso gut um ein ernst zu nehmendes medizinisches Problem, einen Unfall, ein Kind in Lebensgefahr oder ein Feuer im Hochhaus oder in der U-Bahn handeln. Wir wissen es nie. Und genau das macht unsere Arbeit so spannend, sehr anstrengend und zuweilen wirklich nervenzerfetzend. An dieser Stelle muss ein großes Dankeschön ausgesprochen werden. Nämlich an alle Kollegen, ohne deren Mithilfe dieses Buch so wohl nicht entstanden wäre.

Folgen Sie mir also nun in unseren Hochsicherheitstrakt auf der Münchner Feuerwache 3, in den Außenstehende keinen Zutritt haben und selbst offizielle Besuchergruppen sich meist mit einem Blick durch die Glasscheibe zufriedengeben müssen. Nehmen Sie Platz und wundern Sie sich bitte über gar nichts mehr. Denn jetzt geht es los: »Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«

Notruf aus der Winternacht

Sie kämpft mit der Panik. Ihr Atem jagt. Die Angst in der Stimme der jungen Frau ist unüberhörbar. Und dazu hat sie jeden Grund, wie sich gleich erweisen wird.

»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!.«

»Ja … Hallo … Mein Name ist Tausend, Regina Tausend. Ich habe mich verlaufen. Ich liege im Gebüsch und kann nicht mehr aufstehen. Ich glaube, ich habe mir was gebrochen …«

In einer halbwegs lauen Nacht hätte mich das noch nicht weiter aufgeregt. Doch das hier ist ein eisiger Münchner Februarnachmittag. Bitterkalt bei Dauerfrost und einsetzender Dämmerung mit leichtem Schneefall. Und Regina setzt gleich noch einen drauf:

»Sie müssen wissen, ich bin nämlich Marcumar-Patientin. Ich habe Angst, dass ich verblute.«

Marcumar – ein blutgerinnungshemmendes Mittel für Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten. Oha. Diese erst 23-jährige Frau hat in der Vergangenheit anscheinend mehrere ernsthafte gesundheitliche Probleme gehabt. Und Probleme habe ich jetzt auch. Denn Regina Tausend hat zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung mehr, wo genau sie sich befindet. Bereits gegen 15.30 Uhr war sie mit ihrem Hund zu einem Spaziergang auf einem 200 Hektar großen ehemaligen Militärgelände im Münchner Norden aufgebrochen. Unterwegs hatte sie plötzlich kurzfristig das Bewusstsein verloren. Als sie wieder erwachte, war sie völlig orientierungslos in die falsche Richtung gelaufen und in immer unwegsameres Gelände geraten, wo sie schließlich schwer stürzte.

Die Uhr in der Leitstelle zeigt 17.42 Uhr. Es sind seither also schon über zwei Stunden vergangen.

»Können Sie aufstehen?«

»Nein.«

»Können Sie etwas sehen oder hören? Vielleicht Lichter, Häuser oder Straßenlärm?«

»Nein. Hier ist nichts.« Pause. Und dann: »Es ist so kalt … Ich habe echt Angst.« Ihre Stimme zittert. Regina weint jetzt. In solchen besonderen Fällen spreche ich die Patienten bewusst mit dem Vornamen an, um ein wenig persönliche Nähe und Vertrauen herzustellen. »Regina, wir werden Sie finden. Seien Sie ganz ruhig. Wir sind bald bei Ihnen.«

»Ja. Aber bitte beeilt euch.«

Aber klar doch. Ich gebe die letzte Adresse ein, an die sich Regina erinnern kann: Am Kiefernwald. Der Kartenausschnitt im Grafikbildschirm ist in diesem Fall keine große Hilfe. Direkt hinter diesem Straßenzug beginnt das riesige Heide- und Waldgelände. Unmöglich abzuschätzen, in welche Richtung die Frau gelaufen sein könnte. Ich hebe die Hand. Das ist das Signal für die Kollegen um mich herum, dass ich jetzt Unterstützung brauche.

Einer kümmert sich sofort um die Einweisung eines Rettungswagens. Der andere organisiert schon die Handyortung durch den Lagedienst. Wegen des Datenschutzes und der Missbrauchsgefahr darf die Handyortung nur von dem diensthabenden Verantwortlichen durchgeführt werden. Nach zwei Minuten erscheint das Telefonsymbol im roten Kreis – das Zeichen dafür, dass die Handyortung abgeschlossen ist. Ich bin gespannt. Manchmal klappt es auf 80 Meter genau. Wenn es aber blöd läuft, sind es auch mal vier Kilometer. Immerhin: Reginas Handy lässt sich auf einen Radius von etwa einem Kilometer eingrenzen. Immer noch viel zu ungenau für ein derart unübersichtliches Gelände. Die Kollegen im Rettungswagen und kurz darauf noch zwei weitere Fahrzeuge der Berufsfeuerwehr kreisen bereits mit Blaulicht und Signal durchs mutmaßliche Zielgebiet.

Neuer Versuch: »Regina, hören Sie Sirenen oder sehen Sie Blaulicht?« Schweigen. Ich balle gespannt die Faust, hoffe auf das allseits vertraute Hintergrundgeräusch.

»Nein. Ich hör nichts …«

Stattdessen erschreckt sie mich mit der Eröffnung, dass ihr Handyakku schwach wird. Nur noch zwei Balken. Ihre Stimme klingt verdächtig leise und verwaschen. Auch das noch. Halt durch, Mädchen. Und schlaf mir jetzt bloß nicht ein.

»Regina, wie heißt eigentlich Ihr Hund? Haben Sie Kinder? Was machen Sie beruflich?«

Die Antworten sind mir völlig egal. Regina soll nur reden, muss beschäftigt werden.

Funkruf von den Kollegen vor Ort: »Es ist stockfinster. Wir haben keine Chance, hier draußen jemanden zu finden.«

Genau das hatte ich befürchtet.

An diesem Punkt kann nur noch ein Hubschrauber helfen. Nach Möglichkeit einer mit Wärmebildkamera. Diese Ausstattung hat in München aber nur die Polizei. Also Anruf bei der Hubschrauberstaffel, Rückfrage bei der Polizeieinsatzzentrale. Kurze Klärung der Situation. Und dann die Entscheidung, dass der Hubschrauber uns nach Abklärung der Wetterlage unterstützen wird.

Die Uhr tickt. Und Reginas Leben hängt allmählich am seidenen Faden. Doch meine Sorge darf sie jetzt nicht bemerken.

»Passen Sie auf, Regina. Wir müssen jetzt unser Gespräch beenden, damit wir Ihren Handyakku schonen und die Hubschrauberbesatzung Sie telefonisch erreichen kann. Haben Sie das verstanden?«

Dieser Gedanke scheint sie in Panik zu versetzen: »Ich will nicht auflegen. Bitte, bitte, bleiben Sie bei mir!«

Sie schluchzt jetzt laut, sodass ich sie kaum noch verstehen kann. Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild einer hilflosen, durchnässten und verletzten Frau, die sich in völliger Dunkelheit laut weinend an ihr Handy klammert – ihre letzte Verbindung zum Leben, zu Trost und Rettung.

»Ich muss jetzt auflegen, Regina. Der Hubschrauber ist schon in der Luft«, lüge ich, kappe die Verbindung und fühle mich hilflos. Da draußen erfriert gerade eine schwer verletzte Frau und ich kann momentan nichts für sie tun. Auch die Kommunikation mit dem Hubschrauber über Flug- und BOS-Funk funktioniert an diesem Abend aus unerfindlichen Gründen nur lückenhaft. Ich habe darum keine Ahnung, was da draußen gerade genau passiert. Also warten und hoffen. Ich gehe in die Küche, trinke einen Schluck Kaffee, schmecke nichts, setze mich wieder an meinen Funkplatz, starre auf die Uhr. Um 18.45 Uhr endlich die Erlösung. Eine Stunde nach ihrem Notruf wird Regina mithilfe der Wärmebildkamera geortet. Der Hubschrauber landet in nächster Nähe, ist der Leuchtturm in der Nacht für die nachfolgenden Feuerwehrkollegen und das Notarztteam, das sich ein großes Stück des Weges zu Fuß zu der verletzten Frau durchschlagen muss.

Regina hat sich auf der Suche nach ihrem Hund im dichtesten Unterholz verirrt und beim Sturz den Unterschenkel gebrochen. Hinzu kommt eine massive Unterkühlung. Der Notarzt bestätigt später, dass die stark geschwächte 23-Jährige die nächste halbe Stunde im Wald wohl nicht mehr überlebt hätte.

Einsamkeit

Die Einsamkeit in der Großstadt ist eine weitverbreitete, überaus schmerzhafte Krankheit. Und ich frage mich oft, wie leer das Leben all der Menschen sein muss, die in einsamen Nächten die 112 wählen – nur um überhaupt mal wieder eine freundliche Stimme zu hören. Da muss dann eben die Spinne unterm Bett, die tröpfelnde Klospülung oder die kaputte Lampe als Vorwand herhalten. Die wenigsten Menschen haben wie ich das Glück, mit meiner Familie in der Geborgenheit und Gemeinschaft eines Drei-Generationen-Hauses in der Kleinstadt leben zu dürfen. Vielleicht habe ich gerade deshalb ein Herz für die Einsamen und nehme mir nach Möglichkeit auch gern ein wenig Zeit für meine »Kaffeekränzchen-Connections«, wie ich sie immer nenne. Seit ein paar Jahren sind übrigens speziell die Anrufe einsamer älterer Damen deutlich seltener geworden. Wo sind die alle hin? Verschollen in den unendlichen Weiten des Internets? Vielleicht. Eine andere Erklärung fällt mir jedenfalls nicht ein. Nicht, dass ich sie ernsthaft vermissen würde. Und doch haben sie mich oft zum Schmunzeln und immer auch zum Nachdenken gebracht. Kostproben gefällig?

Frau Schmid

»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«

»Grüß Gott, hier spricht Frau Schmid aus der Hansastraße. Ich habe ein Problem.«

Ihre Stimme klingt sehr klar und energisch, sie ist aber sicherlich schon deutlich jenseits der 70 Jahre.

»Wie können wir Ihnen denn helfen, Frau Schmid?«

»Es geht um meine Heizung!«

Ah ja. Das kann ja heiter werden.

»Sie brauchen also einen Klempner?«

»Nein, das nicht. Der Heizkörper ist nur so heiß. Ich kann nicht schlafen, wenn es so heiß ist.«

Ihre Stimme zittert empört. Will sie mich ärgern?

»Dann machen Sie den Heizkörper doch einfach aus.«

»Das will ich ja. Aber wie? Der Hausmeister geht auch nicht mehr ans Telefon.«

Nachts um ein Uhr ist das wohl auch kein Wunder. Und wieder zittert Frau Schmids Stimme ein bisschen empört in Anbetracht der unverzeihlichen Nachlässigkeit des Personals heutzutage.

»Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wissen nicht, wie Sie Ihren Heizkörper abdrehen sollen?«

»Genau. Ich bin schließlich schon 82 Jahre alt.«

Hab ich’s mir doch gedacht. Sie ist wohl ein bisschen durcheinander heute Nacht. Na schön. Überredet.

Es folgt also eine längere technische Telefonberatung. Und ich habe die liebe Frau Schmid im Verdacht, dass ihr unser Gespräch allmählich Spaß macht und sie sich absichtlich ein bisschen einfältig anstellt. Minuten später und unter dem Gelächter der Kollegen haben Frau Schmid und ich es dann geschafft, das glühende Objekt wie gewünscht auf null zu drehen. Um weiteren Dienstleistungswünschen zuvorzukommen, ist jetzt allerdings eine sanfte Belehrung fällig. Die Einsatzzentrale der Feuerwehr ist schließlich kein kostenloser Handwerkernotdienst – auch wenn früher übrigens alle Berufsfeuerwehrmänner einen Handwerksberuf erlernt haben mussten. Das war sogar eine Einstellungsvoraussetzung. Früher hatte man bei Einsätzen daher von jeder Sparte einen Kollegen dabei. Heute reichen auch alle anderen Berufsausbildungen. Und manchmal merkt man, dass das handwerkliche Geschick fehlt. Aber das ist ein ganz anderes Thema. Und Frau Schmid habe ich wohlweislich nichts von alledem verraten. Nicht dass die mir auf immer neue Ideen kommt.

»Also, Frau Schmid, dann ist ja jetzt alles in bester Ordnung und Sie können beruhigt zu Bett gehen, nicht wahr?«

»Vielen Dank, junger Mann. Sie haben mir sehr geholfen. Auf Wiederhören.«

Ich verkneife mir ein »Lieber nicht!«, sage stattdessen streng: »Gute Nacht!« und überlasse sie ihren Träumen.

Hunger

Bemerkenswert auch der Anruf dieser Frau, die ohne Umschweife im Morgengrauen sofort zum Punkt kommt.

»Mir ist so schlecht vor lauter Hunger. Und ich habe nichts zu essen daheim.«

»Na dann gehen Sie doch mal zum Bäcker. Der macht doch jetzt sicher gleich auf. Dort bekommen Sie bestimmt was Feines.«

Pause. Mir schwant schon Unheil. Was wird sie als Nächstes ausbrüten? Und dann überrascht sie mich.

»Das ist eine gute Idee«, sagt sie, bedankt sich höflich und legt auf! Na so was. Das Leben kann so einfach sein …

Zeitansage

Das hier ist einer unser Klassiker.

»Zimmermann, guten Morgen! Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«

Ich könnte schon, aber ich will eigentlich nicht.

»Herr Zimmermann, Sie wissen schon, dass Sie den Notruf der Feuerwehr und des Rettungsdienstes blockieren? Wir sind hier eigentlich nicht die Zeitansage.«

»Ich weiß«, sagt er zerknirscht, »aber ich finde meine Brille einfach nicht und bin schon ganz durcheinander und ich möchte doch pünktlich …«

Schon gut, schon gut.

»Es ist 5.57 Uhr. Ist Ihnen damit gedient?«

»Oh vielen Dank. Es soll auch nicht wieder vorkommen.«

Das glaube ich ihm sogar. Und weiß doch, dass damit das Problem nicht gelöst ist. Denn jeden Tag rufen zwei bis drei Bürger in der Integrierten Leitstelle der Münchner Berufsfeuerwehr an, um sich nach der Uhrzeit zu erkundigen. Macht 30 Zeitansagen in zehn Tagen, 300 in 100 Tagen oder ungefähr 1000 Zeitansagen pro Jahr. Wir sollten Geld dafür nehmen. Das würde eine schöne Summe für einen guten Zweck ergeben.

Herzensnöte

Eine gewisse professionelle Distanz ist eine der Grundlagen unserer Arbeit. Obwohl mir das Leid der Menschen natürlich nicht egal ist und niemals egal sein wird. Darum bin ich ja schließlich Feuerwehrmann und Rettungsassistent geworden. Die notwendige Distanz ist lediglich ein Selbstschutz, der uns alle davor bewahrt, die zuweilen wirklich dramatischen Unglücks- und Schicksalsgeschichten zu dicht an uns heranzulassen. Es ist auch nicht üblich, später nachzufragen, was aus unseren Patienten geworden ist. Ohnehin finden wir die Fortsetzung unserer interessanteren Einsätze am nächsten Tag in der Zeitung wieder – in Form von kleinen Meldungen, manchmal auch als größere Berichte und leider auch mal als Todesanzeige. Mit diesen Informationsquellen begnüge ich mich in der Regel.

Aber es gibt natürlich Ausnahmen. Fälle, die einem doch zu Herzen gehen. Die einem nachschleichen und die sich in die Erinnerung einbrennen. Solch ein Fall war der Herr Röse. Ein 60-jähriger Herzpatient mit implantiertem Defibrillator.

Während meiner Ausbildung zum Rettungsassistenten im Notarztwagen hatte ich 1993 ein einziges Mal mit eigenen Augen gesehen, wie ein defekter Defibrillator einen Herzpatienten mehrfach hintereinander ohne jeden Anlass defibrillierte. Das ist natürlich ein sehr beängstigender Zustand für den Patienten, der mit großen Schmerzen, zeitweiliger Bewusstlosigkeit und auch Todesangst einhergeht.

Mit genau solch einem Patienten habe ich es nun scheinbar zu tun. Der Notruf kommt per Handy: »Jetzt kommt es wieder …«, sagt Herr Röse mit gepresster Stimme und ich muss mehrfach nachfragen, was denn da immer wieder kommt, bis ich verstehe, welch körperliche und psychische Höllenqualen der Mann gerade aussteht.

Unterbrochen von heftigem Keuchen und längeren Pausen, presst er mühsam seinen Hilferuf heraus: »Mein Defibrillator ist defekt. Er löst alle paar Minuten aus. Ich glaube, ich schaffe das nicht mehr lange.«

Ganz klar. Stellen Sie sich mal vor, Ihr Herz rast plötzlich aus unerklärlichen Gründen mit einer Wahnsinnsfrequenz von bis zu 300 Schlägen pro Minute los, pumpt kaum noch Blut. Sie schnappen nach Luft, kämpfen mit Erstickungsnöten und absoluter Todesangst. Und dann kommt er, der Stromschock: ein starker, schmerzhafter Schlag in der Brust, gefolgt von kurzer Bewusstlosigkeit. Eine knallharte Vollbremsung des Herzens mit anschließendem Neustart – hoffentlich. Mit dem im Ernstfall lebensrettenden Effekt, dass das Herz wieder zur normalen Pumpleistung zurückfindet. Die meisten Herzpatienten mit einem eingebauten Defi erleben diesen Notfall so gut wie nie. Es sei denn, der Defi muss wegen einer Rhythmusstörung auslösen oder er ist – in äußerst seltenen Fällen – defekt.

Mein Patient hier wird scheinbar grundlos, ohne das gefürchtete Kammerflimmern, alle paar Minuten von solch einem Stromstoß erfasst. »Wo sind Sie, Herr Röse? Nennen Sie mir Ihre Adresse!«

»Tengelmann-Parkplatz. Dachauer Straße«, quetscht er mühsam heraus.

»Hausnummer?«

»Weiß nicht …« Keuchen. »Jetzt kommt es wieder …!«

Die Dachauer Straße ist mit 11,2 Kilometern und über 700 Hausnummern die längste Straße Münchens. Sie durchquert fünf Stadtbezirke und beherbergt mehrere Tengelmann-Märkte. Passanten, die helfen könnten, sind anscheinend nicht in Sicht. Die Handyortung verläuft negativ. Jetzt bekomme auch ich langsam Herzrasen.

Und ich hebe mal wieder die Hand – das Alarmzeichen für die Kollegen. In solchen Fällen hilft nur noch eines: Wir alarmieren die Polizeieinsatzzentrale mit der Bitte, uns mit den verfügbaren Streifen zu unterstützen. Außerdem rücken zwei Rettungswagenbesatzungen und zwei Notärzte aus, die getrennt voneinander die Dachauer Straße aus zwei Richtungen anfahren.

»Herr Röse, hören Sie Martinshörner?«

»Ja. Ganz weit weg.«

Na bitte! Ich warte noch einen Moment.

»Jetzt näher?«

»Ja.«

»Noch näher?«

Keuchen. »Oh Gott, jetzt kommt es wieder …« Himmel noch mal, nicht jetzt.

Über sein Handy höre ich jetzt selbst die näher kommenden Signale eines Rettungswagens. Der Kollege am Funkplatz neben mir reagiert sofort, weist den Rettungswagen und den folgenden Notarzt ein. Sie sind in unmittelbarer Nähe. Gleich müssten sie bei ihm sein. Und dann höre ich auf einmal das Handy auf den Asphalt fallen. Verdammt noch mal. Der wird mir doch nicht gerade jetzt hier einfach wegsterben? Ich brülle los: »Herr Röse! HERR RÖSE! Reden Sie mit mir! Hallo …???«

Ich höre ihn keuchen, dann ganz nah das Geräusch eines scharf bremsenden Fahrzeugs. Und schließlich meldet sich zu meiner grenzenlosen Erleichterung der Kollege von der Rettungswagenbesatzung.

»In Ordnung, Kollege. Wir haben ihn gefunden. Allerdings ist er nicht mehr ansprechbar.«

Das war knapp. Erst jetzt realisiere ich, dass mir das Hemd am Rücken klebt. Ich lasse mich in meinen Stuhl zurückfallen, schnaufe tief durch und sehe, dass den Kollegen um mich herum auch gerade ein Stein vom Herzen gefallen ist. Wir melden Herrn Röse nun in einer nahe gelegenen Spezialklinik an. Wie sich herausstellt, ist er dort bereits als Herzpatient wohlbekannt.

Tage später habe ich dann entgegen meiner Gewohnheit in der Klinik angerufen. Mich erwartete eine niederschmetternde Nachricht. Herr Röse hatte die Klinik zwar noch lebend erreicht, war aber am selben Tag verstorben.

Herr Röse ist übrigens nicht an dem vermeintlichen Defekt seines Defibrillators gestorben. Das Gerät war nämlich völlig in Ordnung gewesen. Er starb an dem krankhaft veränderten Reizleitungssystems seines schwachen Herzens, dem selbst sein eingebauter Herzwächter trotz zahlreicher Schockauslösungen nicht mehr hatte helfen können. Ich war also der letzte Mensch, mit dem Herr Röse in seinem Leben gesprochen hatte. Irgendwie beklemmend, dieser Gedanke.

Absolut tierisch

Die Tiere haben es bekanntlich nicht so einfach mit den Menschen. Das schlägt sich auch in unserer täglichen Arbeit nieder. Sie können sich wahrscheinlich kaum vorstellen, wie oft wir Feuerwehrleute uns vor und für die lieben Tiere zum Affen machen – sei es, um sie vor den Menschen oder auch die Menschen vor ihnen zu retten. Wir rennen mit Netzen, Kisten und Stangen hinter Waschbären, Würgeschlangen, Füchsen, Leguanen, Hasen, Skorpionen, Dachsen, Wildsäuen, Tauben, Vogelspinnen und Schwänen her. Wir retten ertrinkende Rehe, verwaiste Baby-Eichhörnchen und abgestürzte Fledermäuse. Wir graben jagdwütige Dackel aus metertiefen Kaninchenbauten, stellen gestrauchelte Elefantenmädchen wieder auf die Beine und schneiden eingeklemmte Hunde aus Gittertoren. Und es gibt eine ganze Reihe überaus peinlicher Pressefotos von Feuerwehrleuten, die kläglich an der Aufgabe scheiterten, in annehmbarer Zeit zehn panisch herumrasende Entenküken einzufangen.

Wir tun das alles gern, weil wir wissen, dass der Dienst am Tier immer auch ein Dienst am Menschen ist. Weil viele von uns selbst Tiere haben. Weil die Bürger uns für unsere Tierliebe lieben. Und auch weil wir nicht so blöd sind, uns mit Tierfreunden anzulegen.

Obwohl es zuweilen Fälle gibt, bei denen sich selbst der größte Tierfreund unter uns ans Hirn fasst. Also jetzt mal ehrlich, Freunde: Habt ihr jemals ein Katzenskelett im Baum sitzen sehen? Nein? Ich auch nicht. Weil die meisten Katzen nämlich ohne Weiteres allein vom Baum herabsteigen könnten. Wenn sie wollten. Sie wollen es aber nicht, wenn unter der Kastanie das hysterisch schluchzende Frauchen, umringt von 20 fremden Menschen, steht und dann auch noch blau gekleidete Männer mit roten Leitern anrücken. Da würde ich ja auch lieber erst mal auf meinem sicheren Ast sitzen bleiben. Nun ja. Egal. Des Bürgers kleiner Freund ist in Not und wir kommen – zum Beispiel zu …

Katze Sissy

Man sollte meinen, dass die Eskapaden eines kleinen Kätzchens nicht gerade eine Herausforderung für eine Großstadtfeuerwehr darstellen. Das dachte ich auch – bis mir die Katze Sissy begegnete. Ein erst vier Monate altes, zartes Tierchen, das es schon damals allerdings faustdick hinter den rot getigerten Öhrchen hatte, wie sich schnell erweisen sollte.

In einer lauen Herbstnacht kaperte das Katzenkind im Stadtteil Fasangarten eine 25 Meter hohe Eiche – und kam nicht mehr herunter. Geschlagene vier Stunden harrte Frauchen unter dem Baum aus und lockte mit allem, was gut und teuer und nach Katzengeschmack ist. Doch Sissy blieb standhaft.

Wer hilft in diesem Fall? Na klar, die Feuerwehr. Weil Tierrettungen dieser Art in der Nacht zu gefährlich sind, warteten wir bis zum Morgengrauen. Im ersten Licht schickte ich dann unsere kleinste Drehleiter los. Die altbewährte DL 16-4 – im günstigsten Falle hoch genug, um 16 Meter in die Höhe zu steigen. Diese Leiter ist überaus wendig und zum Beispiel gut geeignet für enge Hinterhöfe. Aber leider nicht hoch genug für Sissys Baum. Also Kommando zurück. Damit wurde das Kätzchen ein Fall für unsere Höhenretter. Acht Mann rückten nun aus mit zwei Fahrzeugen und einer kompletten Bergausrüstung, so ziemlich ausreichend für die Besteigung eines Achttausenders. Aber nicht ausreichend für Sissy. Das kleine Biest hatte sich nämlich mittlerweile auf die dünnen äußeren Äste verzogen. Die tragen gerade noch ein Kätzchen, aber natürlich keinen Mann. Mist!

In der Zwischenzeit hatte sich unter der Eiche bereits die halbe Siedlung eingefunden. Und die Münchner Berufsfeuerwehr steuerte unaufhaltsam dem Gipfel der Lächerlichkeit entgegen …

Der Einsatzleiter der Höhenretter erwog kurzfristig den Einsatz der Hubrettungsbühne. Das ist unser derzeit längstes und teuerstes Rettungsgerät mit einer Plattform, die sich bis zu 53 Meter in die Höhe fahren lässt – konstruiert für Rettungen aus Hochhäusern, höher als die meisten großen Fahrgeschäfte auf dem Oktoberfest. Aber natürlich – man ahnt es schon: Auch die Hubrettungsbühne hätte Sissy nicht erreicht. Die nämlich hatte sich jetzt in das tiefste Innerste des Blätterdaches verkrochen. Darum entschieden sich die Kollegen für unseren 50-Tonnen-Kran, der vom anderen Ende der Stadt anrückte – nunmehr begleitet vom Blitzlichtgewitter diverser Pressefotografen und dem unüberhörbaren Gelächter der Anwohner, deren Schar unaufhörlich wuchs und die mit wachsendem Vergnügen unseren millionenschweren Fuhrpark bestaunten. Doch das rot-weiß getigerte Objekt unserer Bemühungen hatte sich mittlerweile unsichtbar gemacht. Der Kran scheiterte in dem schwierigen Gelände letztlich an seiner gewaltigen Ausladung. Und ich saß in der Leitstelle und griff mir ans Hirn. Was ging da draußen eigentlich vor und wer würde wohl als Nächstes bestellt? Der Tierarzt mit dem Betäubungsgewehr? Ein Holzfällerkommando? Der Rettungshubschrauber? James Bond?

Drei Stunden und gut 100 Liter Diesel später waren 14 gestandene Feuerwehrmänner mit ihrem Latein am Ende. Ich konnte sehr gut nachfühlen, wie blöd sich die Kollegen vorkommen mussten. Ich habe selbst einmal eine Katze vom Drehleiterkorb aus 18 Meter in die Höhe verfolgt. Zum Dank griff sie mich dann wie ein wilder Tiger an. Trotz kompletter Schutzkleidung und dicker Handschuhe gelang es mir nicht, diese kleine Furie zu bändigen. Am Ende ließ sie sich einfach fallen und ich fürchtete schon das Schlimmste. Stattdessen landete sie geschmeidig wippend im Rasen, schüttelte sich und marschierte ohne sonderliche Eile offensichtlich beleidigt und augenscheinlich unverletzt heim. Dabei würdigte sie den Blödmann da oben in seinem komischen Korb keines Blickes mehr. Sie sind halt eine Kategorie für sich, diese Katzen. Wir rückten also auch in diesem Fall erfolglos ab und überließen Sissy samt Frauchen vorerst ihrem Schicksal. Am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages meldete sich die Besitzerin ein wenig kleinlaut ein weiteres Mal in der Leitstelle. Sie wolle sich nur noch mal recht herzlich bedanken für den großen Aufwand und teilte uns ferner mit, dass Fräulein Sissy soeben allein vom Baum gestiegen und wohlauf sei.

Ich fürchte mich schon vor dem Tag, an dem sie uns erneut um Hilfe bitten wird.

Jamuna Toni

Kaum ein Tierschicksal hat die Münchner so sehr bewegt wie die traurige Geschichte des erst sieben Monate alten Elefantenkindes Jamuna Toni, das kurz vor Weihnachten 2009 im Münchner Tierpark Hellabrunn zur Welt kam. Im Frühjahr 2010 hatte ich noch Tränen gelacht, als die Kleine mit einem pinkfarbenen Riesen-Osterei über die Außenanlage tobte und sich in ihre heiß geliebten Schlammbäder stürzte. Als uns im Juni ein Hilferuf aus Hellabrunn erreichte, war ich ehrlich betroffen. Das kleine Mockelchen – so wurde Jamuna Toni in Hellabrunn genannt – war sterbenskrank. Sie litt unter einer unerklärlichen Krankheit, die ihre Knochen brechen ließ wie Glas. Möglichst aufrecht in einer Tragevorrichtung hängend und unter größtmöglicher Geheimhaltung, sollte das Elefantenkind daher so schnell wie möglich in eine Klinik für Großtiere nahe Augsburg verlegt werden. Aber wie und in was für einem Fahrzeug bringt man einen schwer kranken Elefanten heimlich aus der Stadt?

Alle Hoffnungen der Tierpfleger und Tierärzte ruhten plötzlich auf uns. Und ich fühlte augenblicklich eine elefantöse Last auf meinen Schultern. In meiner Not rief ich den Fahrzeugmeister der Feuerwache 6 an, der bekannt ist für sein bestens bestücktes Sondergerätelager. Alle Feuerwehrleute sind Meister der Improvisation und einer hat eigentlich immer eine zündende Idee. Der Kollege hatte zwar kein geeignetes Material auf Lager, aber er enttäuschte mich nicht: »Hast du schon mal Paul gefragt?« Ja klar, Paul!

Die Münchner Berufsfeuerwehr betreibt eine eigene Sattlerei, in der unter anderem unsere Stiefel repariert und unzerreißbare Planen und Taschen für allerhand Gerätschaften genäht und gerichtet werden. Kollege Paul ist von Beruf Sattler. Und fuhr an jenem Tag zu unser aller Glück Rettungsdienst.

Als ihn am Vormittag mein Notruf erreichte, war er gerade mit einem Patienten unterwegs ins Schwabinger Krankenhaus. Sein Wachabteilungsführer erkannte jedoch sofort den Ernst der Lage und ließ ihn ablösen.

Paul hat in seinem Leben schon alles Mögliche ausgemessen, aber noch nie ein 180-Kilogramm-Baby im Zoo. Angesichts der Situation entschied er sich für eine flexible Netzkonstruktion, in der das arme Tier in jenen warmen Frühsommertagen möglichst wenig schwitzen würde. Er trieb sogar kurz vor Geschäftsschluss noch einen geeigneten Lieferanten auf. Ein alter Freund noch aus Pauls Gesellenzeiten, der ihn nicht im Stich ließ.

Um 16 Uhr schloss sich Paul mit zwei Wurstsemmeln und dem Material in unsere Sattlerei ein, war für niemanden mehr zu sprechen und nähte in Rekordzeit ein erstklassiges Elefantentransportnetz, verstärkt mit alten Sicherheitsgurten aus unseren Fahrzeugen. Um 20.30 Uhr wurde es Jamuna Toni bereits angezogen, es passte wie angegossen. Der sonst stets gut gelaunte Paul kam ziemlich still aus dem Tierpark zurück. Von Freude keine Spur. Die Leiden des Tieres und die Verzweiflung seiner Pfleger hatten ihm mächtig zugesetzt.

In der Zwischenzeit hatten der Fahrzeugmeister und ich auf der Suche nach einem geeigneten Fahrzeug sämtliche große Verleihfirmen und Fahrzeugniederlassungen abtelefoniert. Selbst von seinem Urlaubsort aus schaltete sich noch einer unserer Brandräte mit guten Beziehungen zur Autobranche ein. Zwei Meter hoch mit Arbeitsfläche, Klimaanlage und getönten Scheiben (gegen unliebsame Gaffer) sollte das Transportfahrzeug sein. Die Kosten – so hatte man uns in Hellabrunn mittlerweile sogar schriftlich versichert – würden in diesem Fall keine Rolle spielen. Alle wollten helfen, unseren Münchner Minijumbo zu retten.

Weil sich der Zustand des Tieres im Laufe des Abends dramatisch verschlechterte, wurde Jamuna Toni schließlich zwar in Pauls Netz, aber in einem gewöhnlichen Tierparkfahrzeug eilends nach Augsburg gefahren.

Leider gab es keine Rettung mehr. Jamuna Toni wurde am 14. Juni 2010 von ihren Leiden erlöst. Seit damals aber weiß ich, dass wir im Notfall in der Stadt überall verlässliche Freunde haben. Am Ende jenes ereignisreichen Tages hatten wir von mehreren großen Fahrzeugfirmen Zusagen – genug für eine ganze Elefantenflotte.

Ein paar Tage später bekamen wir ein Dankesschreiben des Tierparks Hellabrunn. Ich habe es in einer sentimentalen Anwandlung bis heute aufgehoben. Weil es mich einfach gefreut hat.

Ganz München hat damals tagelang um das Elefantenkind getrauert. An meinem Spind fand ich am nächsten Tag ein großformatiges Zeitungsposter des kleinen Elefanten mit dem rührseligen Titel »München wird dich nie vergessen«. Jemand hatte in Großbuchstaben hinzugefügt : »… und der Christian dich auch nicht«. Das stimmt.

Das Grauen im Keller