Ich hörte den Vogel rufen - Sally Morgan - E-Book

Ich hörte den Vogel rufen E-Book

Sally Morgan

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Beschreibung

Sally wächst in Australien auf, in einer Familie, die lauter, schräger und herrlicher nicht sein könnte. Die fünf Geschwister hängen aufeinander wie die Kletten, die Mutter nutzt Religion – egal welche – als Geheimwaffe, der Onkel bringt trotz ausgiebigem Alkoholgenuss immer mal wieder ein Huhn vorbei und die Oma gräbt mit Sally frühmorgens den quakenden alten Ochsenfrosch aus. Erst mit fünfzehn aber merkt Sally, das in ihrer Familie noch etwas anders ist als bei den anderen: Ihre Oma ist schwarz. Hartnäckig beginnt Sally, die Geschichte ihrer eigenen Familie zu hinterfragen und erfährt schließlich Geheimnisse, die ihre ganze Welt auf den Kopf stellen.

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Seitenzahl: 787

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Über dieses Buch

Sally wächst in Australien in einer herrlich schrägen Familie auf. Religion wird zur Geheimwaffe, Hühner sind Luxus und Ochsenfrösche muss man ausgraben. Mit fünfzehn merkt Sally, das in ihrer Familie noch etwas anders ist: Ihre Oma ist schwarz. Als Sally die Geschichte ihrer Familie hinterfragt, wird ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Sally Morgan (*1951), ausgebildete Psychologin und Bibliothekarin, Malerin und Lithografin, gilt als die wichtigste Vertreterin der Aborigines-Literatur. Sie wuchs in der weißen Gesellschaft Australiens auf und machte sich erst spät auf die Suche nach ihrer wahren Identität.

Zur Webseite von Sally Morgan.

Gabriele Yin übersetzt australische Literatur ins Deutsche. Sie ist Herausgeberin einer Anthologie von Erzählungen und Gedichten von Aborigines und arbeitet bei einer Galerie für Kunst der Aborigines.

Zur Webseite von Gabriele Yin.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Sally Morgan

Ich hörte den Vogel rufen

Roman

Aus dem Englischen von Gabriele Yin

E-Book-Ausgabe

Orlanda @ Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book des Orlanda-Verlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.

Die Originalausgabe erschien 1987 bei Fremantle Arts Centre Press, Fremantle, Western Australia. Die deutsche Erstausgabe erschien 1991 im Orlanda Frauenverlag, Berlin.

Originaltitel: My Place (1987)

© by Sally Morgan 1987 Diese Ausgabe erscheint mit freundlicher Genehmigung des Orlanda Frauenverlags, Berlin

© by Orlanda Verlag, Berlin 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Dorling Kindersley Ltd. (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-30701-8

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 17.05.2024, 16:52h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

ICH HÖRTE DEN VOGEL RUFEN

Im KrankenhausDie FabrikIch bin beim MilitärTrinkende MännerSo tun als obNur ein TraumEine VeränderungFamilie und FreundeDie TierweltAlleshelferVorwärtskommenTriumph und FehlschlagHeranwachsenRecht merkwürdige HaustiereEine schwarze GroßmutterWer sind wir?Mach was aus dirDas ArbeitslebenHäusliche VerbesserungenEine neue KarriereSie gibt es zuEin AnfangEin BesucherWo ein Wille istTeil unserer GeschichteVerbindungen mit der VergangenheitArthur Corunnas Geschichte — Ca. 1893 bis 1950Wohin als Nächstes?Rückkehr nach CorunnaJemand wie ichGladys Corunnas Geschichte — 1931 bis 1983Etwas ErnstesGute NeuigkeitenDaisy Corunnas Geschichte — 1900 bis 1983Der Vogelruf

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Für meine Familie

Wie arm wären wir gewesen,wenn wir die Dinge so belassen hätten, wie sie waren.Wir hätten überlebt, aber nicht als ganze Menschen.Wir hätten nie unseren Ort gekannt.

Ich danke dem Aboriginal Arts Board of the Australian Council und dem Australian Institute of Aboriginal Studies für die finanzielle Unterstützung beim Schreiben dieses Buches.

Einige Personennamen in diesem Buch wurden geändert. Teilweise wurden nur Vornamen genannt, um die Persönlichkeitsrechte der Betreffenden zu wahren.

Im Krankenhaus

Wieder im Krankenhaus. Das Echo meiner widerstrebenden Schritte in langen, leeren Fluren. Ich hasste Krankenhäuser und Krankenhausgerüche. Ich hasste die nackten Bohlen, die frisch poliert schimmerten, die staubfreien Fenstersimse und das Aufblitzen des glänzenden Chroms, das nach meiner verzerrten Gestalt schnappte, wenn wir vorübereilten. Ich war eine schmuddelige Fünfjährige in einer fremdartigen Umgebung.

Manchmal hasste ich Dad für sein Kranksein und Mum, weil sie mich zu diesen Besuchen mitnahm. Nur ab und zu nahm Mum Jill und Bill, meine jüngeren Geschwister, mit. Immer war ich diejenige, welche. Meine Anwesenheit gewährleistete, dass es keinen Streit gab. Mum hatte die Nase voll vom Streiten, gestrichen voll.

Ich seufzte schon im Voraus, als wir das Ende des letzten Flurs erreichten. Wieder warteten diese Türen auf mich. Große, klotzige Türen mit dicken Glasscheiben in der oberen Hälfte. Sie schwangen in schweren Messingscharnieren, und wenn ich sie nach innen drückte, kam es mir vor, als drückten sie nach außen. Wenn nicht zusätzlich Mums beachtliches Gewicht geholfen hätte, wäre ich jedes Mal der Länge nach hingefallen. Die Türen waren mit grünem Linoleum bezogen. Auf dem Linoleum waren weiße Kringel, und das Muster erinnerte mich an einen von Mums speziellen Kuchen, den Regenbogenkuchen. Sie gab ihm einen cremefarbenen Überzug mit rosa und schokoladenbraunen Kringeln. Ich fand sie wundervoll. Hinter den Türen gab es keine Wunder. Ich wusste, was dahinter war. Ab und zu hüpfte ich unbeholfen hoch und versuchte, durch das Glas in die Station zu gucken. Doch obwohl ich groß war für mein Alter, wollte es mir nie ganz gelingen. Alles, was mir gelang, waren blaue Flecken an meinen Knubbelknien und verschmierte Fingerabdrücke am unteren Rand des Glases.

Manchmal tat ich so, als wäre Dad gar nicht richtig krank. Ich stellte mir vor, dass ich durch die Türen ginge und er mich anlächelte. »Natürlich bin ich nicht krank«, würde er sagen. »Komm und setz dich auf meinen Schoß und unterhalte dich mit mir.« Und Mum wäre da, lachend, und wir wären alle glücklich. Deshalb sprang ich hoch und versuchte, durch das Glas zu schauen. Ich hoffte immer, dass die Szenerie sich wie durch ein Wunder veränderte.

Unsere Ankunft in der Station war immer ein größeres Ereignis. Die Männer dort bekamen wenig Besuch. Wir waren genauso wichtig wie die Frau vom Roten Kreuz, die Süßigkeiten und Zeitschriften verkaufte. »Na, seht mal, wer da kommt!«, riefen sie. »Ich glaube, sie ist größer geworden. Was meinst du, Tom?« »Na so was, dass wir dich wiedersehen, kleines Mädel.« Ich wusste, dass sie nicht wirklich überrascht waren, mich zu sehen; es war nur ein Spiel, das sie spielten.

Nach solch einem begeisterten Empfang versuchte Mum immer, mich zum Reden zu bewegen. »Sag guten Tag, Liebes«, ermutigte sie mich und gab mir rasch einen Stoß in den Rücken. Mein Schweigen war Mum peinlich. Meistens versuchte sie, mich zu entschuldigen, indem sie jedem erzählte, dass ich schüchtern sei. Dabei war ich eigentlich eher ängstlich als schüchtern. Ich hatte das Gefühl, als würde ich auseinanderbrechen, wenn ich überhaupt irgendetwas sagte. Da läge ich dann in Stücken auf dem Fußboden. Ich war voller geheimer Ängste.

Die Männer auf der Station gaben nicht so leicht auf. Sie setzten ihr Geplänkel fort in der Hoffnung, mich herumzukriegen. »Komm, Süße, komm her und sprich mit mir«, versuchte mich ein alter Mann zu überreden, indem er mir ein Sahnebonbon entgegenhielt. Meine Füße waren wie festgewachsen. Ich hätte mich nicht rühren können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Dieser Mann sah aus wie ein Geist. Sein gestutztes Haar stand hoch wie die kurzen weißen Borsten einer Zahnbürste. Sein rechtes Bein unterhalb des Knies fehlte, und seine schlaffe Haut erinnerte mich an ein gerupftes Hühnchen. Er versuchte mich heranzulocken, indem er sich vorbeugte und mir zwei Bonbons hinhielt. Ich rechnete damit, dass er aus dem Bett fiele; ich war sicher, das würde er, wenn er sich noch weiter herauslehnte.

Ich sagte mir immer wieder, dass er nicht wirklich ein Geist sei, sondern nur ein alter Soldat. Mum hatte mir anvertraut, dass alle diese Männer alte Soldaten waren. Als sie es mir erzählte, hatte sie ihre Stimme gesenkt, als sei es wichtig. Sie hegte eine Vorliebe für sie, die ich nicht verstand. Ich fragte mich oft, warum alte Soldaten etwas Besonderes waren. Allen diesen Männern fehlte ein Arm oder ein Bein. Dad war als Einziger hier noch ganz.

Ich versuchte, keinen von ihnen direkt anzuschauen; ich wusste, es gehörte sich nicht, Leute anzustarren. Einmal saß ich ewig lange rätselnd vor einem Paar Holzkrücken, und Mum wurde ärgerlich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, so schief zu sein. Könnte ich mit nur einem meiner Affenarme oder -beine zurechtkommen? So nannte ich sie; sie waren nicht haarig, aber sie waren lang und dünn, und ich mochte sie nicht. Ich fand es schwierig, mir vorzustellen, dass einem so viele Teile fehlten und man dennoch leben konnte.

Der alte Soldat lehnte sich in sein Kissen zurück, und ich warf einen schnellen Blick auf Dad. Er stand auf seinem üblichen Platz neben seinem Bett. Er kam nie nach vorn, um uns zu begrüßen, oder rief uns zu wie die anderen Männer, und doch gehörten wir zu ihm. Sein Bademantel hing so locker um seinen schlaksigen Körper, dass er mich an die Drahtkleiderbügel erinnerte, die Mum im Garderobenschrank hängen hatte. Dad war nur ein Gerippe. Das Herz hatte ihn vor Jahren schon verlassen.

Sobald Mum ihr kleines Gespräch und ihre Scherze mit den Männern beendet hatte, gingen wir zu Dads Bett und dann hinaus auf die Veranda. Das war der schönste Platz, sich hinzusetzen. Es gab Tische und Stühle, und wir konnten in den Garten schauen. Leider wurden die Stühle schon nach wenigen Minuten unbequem. Sie bestanden aus einem Eisenrahmen, auf den als Sitz und Lehne einzelne Holzlatten in allen Regenbogenfarben genagelt waren. Wenn mir richtig langweilig wurde, beschäftigte ich mich damit, in Gedanken die Farben so zusammenzustellen, dass sie zueinander passten.

Während Mum und Dad sich unterhielten, schnupperte ich die Luft. Es war ein klarer Frühlingstag mit blauem Himmel. Ich konnte das feuchte Gras riechen und die Kühle einer Brise fühlen. Es war so ein schöner Tag voller Zuversicht, dass mir zum Weinen zumute war. Der Frühling war immer ein bewegendes Erlebnis für mich. Oma ging es genauso. Gestern erst hatte sie mich früh geweckt, damit ich ihre neueste Entdeckung anschaute. Ich hatte tief geschlafen, aber irgendwie war ihre Stimme in meine Träume eingedrungen.

»Sally, wach auf!«

Sogar in meinem Traum fragte ich mich, woher diese Stimme kam. Sie war schwach, aber hartnäckig, wie der Schein einer Taschenlampe an einem nebligen Abend. Ich wollte nicht aufwachen. Ich vergrub mich tiefer unter die Schichten aus Mänteln und Decken, die auf mir aufgetürmt waren. In meinen Träumen waren sie schwer, aber nicht warm. Ich umfasste meine Füße mit den Händen, um sie zu wärmen. Manchmal glaubte ich, dass Kaltsein und Dünnsein zusammengehörten, denn ich war beides.

Jeden Abend rief ich: »Mum, mir ist kalt!« Und dann, um sie anzutreiben: »Mum, ich erfriere!«

»Sally, dir kann unmöglich kalt sein!« Oft kam sie dreimal an mein Bett. Sie hob den Mantel hoch, den ich über den Kopf gezogen hatte, und sagte: »Wenn ich noch mehr auf dich packe, erstickst du. Und die anderen wollen nicht die ganzen Mäntel auf sich liegen haben.« Ich teilte das Bett mit Billy und meiner Schwester Jill. Ihnen war nie kalt.

Ich wand meinen Hals aus dem haarigen Fuchskragen heraus, mit dem ein Mantel besetzt war, und erwiderte scharf: »Ich ersticke lieber, als dass ich erfriere!« Oma brauchte nur hinzuzufügen: »Es ist furchtbar, wenn einem kalt ist, Glad«, und Mum fügte sich und holte die alten, schwereren Mäntel, die im Garderobenschrank hingen.

Während ich so auf der Krankenhausveranda saß, lächelte ich, als ich mich daran erinnerte, wie Oma meinen verschlafenen Körper hin und her geschaukelt hatte, um mich aufzuwecken. Es dauerte einige Minuten, aber schließlich kam ich hervor, um Luft zu schnappen, und murmelte schläfrig: »Was ist los? Es ist so früh, Oma, musst du mich denn so früh wecken?«

»Pst, sei still, du weckst die anderen auf. Weißt du denn nicht mehr, dass ich dich früh wecken wollte, damit du wieder den Ochsenfrosch und den Vogel hören kannst?«

Der Ochsenfrosch und der Vogel, wie konnte ich die vergessen! In der ganzen Woche, seit Dad im Krankenhaus war, sprach sie von nichts anderem. Oma ermunterte mich, indem sie die obersten Mantelschichten von mir schälte. Zeitweise lag ich da wie eine feste, eingerollte Kugel. Unter mir war es warm, aber oben wurde mir nun, da die Mäntel und Decken weggenommen waren, schnell kälter. In einem plötzlichen Entschluss sprang ich aus dem Bett und zog fröstelnd einen alten, roten Pullover an. Dann folgte ich Oma barfuß hinaus auf die hintere Veranda.

»Setz dich leise auf die Stufen«, sagte sie zu mir. »Und sei ganz still!« Ich war solche Warnungen gewohnt. Ich wusste, dass wir nie etwas Besonderes zu hören bekamen, wenn wir nicht ganz still waren. Ich rieb meine Füße aneinander, um sie zu wärmen, und versuchte den Rest meines Körpers in dem unförmigen roten Pullover unterzubringen. Ich zog die Ärmel über meine Hände, schlang meine Arme um die Beine und wartete.

Der frühe Morgen war Omas Lieblingszeit, in der sie immer neue Entdeckungen im Garten machte. Eine dicke Stummelschwanzechse, Schlangenspuren, Grashüpfer mit ungewöhnlichen Fühlern, unzählige Kreaturen, die sich aus ihren eigenen, einzigartigen Gründen ausgerechnet unseren Garten zum Wohnraum auserkoren hatten. Ich wünschte, dass der Frühling für immer andauerte, aber das geschah nie. Bald würde der Sommer da sein, und das Gras würde gelb und hart; sogar der sorgsam gepflegte Rasen am Krankenhaus würde nicht mehr so grün aussehen. Und die riesigen Kapuzinerkressen, die an unserem seitlichen Zaun und unter dem Zitronenbaum wucherten, würden verschwinden. Ich wäre nicht mehr auf der Jagd nach Wundern, und Oma weckte mich nicht mehr so früh und so oft auf.

Ich hatte den Ochsenfrosch gestern gehört, er war eines von Omas Lieblingstieren. Sie grub auch noch einen kleineren, braun gescheckten Frosch aus, der unter der Erde lebte. Nachdem ich ihn mir angeschaut hatte, vergrub sie ihn wieder sicher an seinem Platz. Ich fröstelte, als eine frühe Morgenbrise plötzlich um meine nackten Beine wehte. Ich erwartete, dass der Ochsenfrosch an diesem Morgen wiederkam. Ich starrte auf den Flecken dunkler Erde, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er wird jede Minute herauskommen, dachte ich. Ich war aufgeregt, aber nicht bei dem Gedanken an den Ochsenfrosch. An diesem Morgen wartete ich auf den Vogel. Oma nannte ihn ihren speziellen Vogel, niemand außer ihr hatte ihn gehört. An diesem Morgen würde auch ich ihn hören.

»Quaak, quaak!« Das Geräusch schreckte mich auf. Ich lächelte. Das war der alte Ochsenfrosch, der uns wieder seinen Quark erzählte. Ich schaute in den Himmel. Es war ein kühler, diesiger Morgen mit der Aussicht auf einen warmen Tag.

Immer noch kein Vogel. Ich rutschte ungeduldig hin und her. Oma stocherte mit ihrem Stock in der Erde und sagte: »Er wird bald hier sein.« Sie sprach mit Gewissheit.

Plötzlich war der Garten von einem hohen, trillernden Ton erfüllt. Meine Augen suchten die Bäume ab. Ich konnte den Vogel nicht sehen, aber sein Rufen war da. Das Lied endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Oma lächelte mich an. »Hast du ihn gehört? Hast du den Vogel rufen hören?«

»Ich hab ihn gehört, Oma«, flüsterte ich ehrfürchtig.

Was für ein wundervoller Moment war das gewesen. Ich seufzte. Jetzt war ich bei Dad; es war kein Platz für Wunder in Krankenhäusern. Ich biss die Zähne zusammen, drückte mein Kinn auf die Brust und schielte zu Mum und Dad. Sie schienen beide nervös zu sein. Ich fragte mich, wie lange ich meinen Tagträumen nachgehangen hatte. Mum reichte hinüber und tätschelte Dads Arm. »Wie geht es dir, Lieber?« Sie war immer daran interessiert, wie es ihm ging. »Wie solls mir schon gehen!« Die Frage war dumm, es ging ihm nie besser.

Pelikanschultern, dachte ich, als ich beobachtete, wie er sich in seinem Stuhl vorbeugte. Die Spitzen seiner Schultern stachen hervor wie die eines Pelikans. Ich fragte mich, ob ich wohl auch solche Schultern hatte. Ich drehte meinen Kopf hin und her, um nachzusehen. Ja. Ziemlich dieselben, und meine Ellbogen waren auch spitz. Dad und ich hatten eine Menge gemeinsam.

Dads Finger umklammerten in regelmäßigen Abständen die Armlehnen seines Stuhls. Er hatte schlanke Hände für einen Mann. Ich erinnerte mich, wie jemand einmal gesagt hatte: »Dein Vater ist ein geschickter Bursche.« Hatte ich mein Zeichentalent von ihm? Ich hatte Dad nie zeichnen oder malen sehen, aber einmal sah ich einen Brief, den er geschrieben hatte, und der war wunderschön. Ich wusste, er hätte jetzt Schwierigkeiten, überhaupt irgendetwas zu schreiben. Seine Hände hörten nie auf zu zittern. Manchmal musste ich sogar die Zigarette für ihn anzünden.

Mein Blick wanderte von seinen Händen die Arme hinauf zu seinem Gesicht. Mir dämmerte, dass er noch mehr abgenommen hatte, und diese Erkenntnis machte mir Herzklopfen. Dad fing meinen Blick auf; er war blasser, und seine Wangen waren deutlicher eingefallen. Nur die vertrauten haselnussbraunen Augen waren noch dieselben, verwirrt und feucht, und sie beobachteten mich. »Ich bastle etwas für dich«, sagte er nervös. »Ich gehe es holen.« Er verschwand in der Station und kehrte wenig später mit einer kleinen, blauen, ledernen Schultertasche zurück. Sie hatte kastanienbraune Lederbändchen rundherum, bis auf den letzten Teil des Riemens, der noch nicht ganz fertig war. Als er sie wortlos in meinen Schoß legte, sagte Mum fröhlich: »Ist das nicht geschickt von Dad, dir so etwas zu basteln?« Ich starrte auf die Tasche. Mum unterbrach meine Gedanken: »Gefällt sie dir nicht?« Ich saß in der Falle. Ich murmelte ein widerstrebendes Doch und ließ meinen Blick von der Tasche auf die große Rasenfläche gleiten. Ich wollte wegrennen und mich ins Gras werfen. Ich wollte mein Gesicht vergraben, sodass Dad es nicht sehen könnte. Ich wollte rufen: »Nein, ich finde nicht, dass Daddy geschickt ist. Jeder hätte diese Tasche machen können. Und er findet es auch nicht geschickt!« Als ich mich wieder umwandte, schauten Mum und Dad beide in die Ferne.

»Können wir jetzt gehen, Mum?«, begann ich schuldbewusst. Hatte ich das wirklich gesagt? Meine Augen weiteten sich, als ich auf ihre Reaktion wartete. Dann bemerkte ich, dass sie gar nicht mich anschauten, sie starrten beide aufs Gras. Ich atmete mit einem tiefen und unauffälligen Seufzer befreit auf. Als ich das letzte Mal diese Frage laut gestellt hatte, war Mum böse und verlegen gewesen, und Dad hatte geschwiegen. Er schwieg auch jetzt. Diese traurigen Augen.

Die Besucherglocke klingelte unerwartet. Ich wollte hochspringen. Stattdessen zwang ich mich, stillzusitzen. Ich wusste, dass Mum es nicht mochte, wenn ich zu eifrig erschien. Endlich stand Mum auf, und während sie Dad fröhlich auf Wiedersehen sagte, wand ich mich langsam aus meinem Stuhl. Meine Beine müssen von hinten wie ein Zebrastreifen ausgesehen haben. Ich konnte die Abdrücke, die die harten Latten auf meiner Haut hinterlassen hatten, fühlen.

Als wir in die Station zurückkehrten, riefen die Männer: »Was? Geht ihr schon?« »Du warst nicht lange hier, kleines Mädel!« Der alte Soldat mit den Sahnebonbons lächelte. Er hielt die Süßigkeiten immer noch in der Hand. Sie machten alle eine große Schau und winkten zum Abschied, und gerade als wir durch die Türen in den leeren Flur gingen, rief eine Stimme: »Wir warten auf dich, kleines Mädel, bis zum nächsten Mal!«

Kräftiger, kühler Wind blies auf unserem Heimweg durch die Busfenster. Ich fragte mich immer wieder, ob ein Mensch denn innerlich verknittert sein könnte. Ich hatte Erwachsene nie über so etwas reden hören, aber ich fühlte mich, als ob ich von innen gebügelt werden müsste. Ich streckte mein Gesicht in den Wind und fühlte ihn durch meine Nasenlöcher und den Hals herabwüten. Mit kalter Schonungslosigkeit suchte er und fand meine widerspenstigen inneren Falten und warf sie hinaus auf die vorbeiziehende Straße. Ich schloss die Augen, entspannte mich und atmete aus. Und dann sah ich, wie eine kurze Erscheinung, Dads Gesicht vor mir. Diese traurigen, stillen Augen. Ich hatte ihn nicht getäuscht. Er hatte gewusst, was ich dachte.

Nach einigen Wochen kam Dad für eine Weile nach Hause, und bald darauf, im Januar 1957, erschien Mum mit einem neuen Baby in der Haustür. Ihr viertes. Ich war wirklich böse auf sie. Sie zeigte mir das weiße Bündel und sagte: »Ist das nicht ein wundervolles Geburtstagsgeschenk, Sally, dass du nun einen kleinen Bruder hast, der am gleichen Tag wie du geboren ist?« Ich war empört. So etwas zum Geburtstag! Und Dads Haltung konnte ich überhaupt nicht verstehen. Er schien sich tatsächlich zu freuen, dass David nun da war!

Die Fabrik

Mum plapperte fröhlich, als sie mich den Asphaltweg hinunter durch den Haupteingang zu den grauen Holz- und Asbestbauten führte. Ein Blick genügte, und ich war überzeugt, dass all dies hier – genau wie das Krankenhaus – dazu da war, die Lebensgeister auszutreiben.

Nach einem Rundgang zu den Toiletten setzten wir uns auf die unterste Stufe der Veranda. Ich war mir sicher, dass Mum mich nie an einem so furchtbaren Ort zurücklassen würde. Also saß ich geduldig da und wartete darauf, dass sie mich mit nach Hause nehmen würde.

»Hast du dein Butterbrot?«, fragte sie nervös, als ihr auffiel, dass ich sie anstarrte.

»Ja.«

»Und ein sauberes Taschentuch?«

Ich nickte.

»Was ist mit deinem Kulturbeutel?«

»Hab ich.«

»Hm«, Mum zögerte. Dann schaute sie in die Ferne und sagte munter: »Ich bin sicher, dass es dir hier gefallen wird.«

Alarmglocken. Ich kannte diesen Ton, den bekam ihre Stimme immer, wenn sie darüber sprach, dass es Dad bald bessergehen würde. Ich wusste dann, dass es keine Hoffnung gab.

»Du willst mich hierlassen, stimmts?«

Mum lächelte schuldbewusst. »Dir wird es hier bestimmt gefallen. Sieh mal, all die anderen Kinder in deinem Alter. Du wirst Freunde finden. Alle Kinder müssen eines Tages in die Schule gehen. Du wirst doch älter.«

»Na und?«

»Na, du musst zur Schule gehen, wenn du sechs bist; das ist Gesetz. Ich könnte dich nicht zu Hause behalten, selbst wenn ich wollte. Jetzt sei nicht albern, Sally, ich bleibe bei dir, bis es klingelt.«

»Wieso klingelt?«

»Nun, sie klingeln, wenn es Zeit ist, sich aufzustellen und in den Unterricht zu gehen. Und später klingeln sie, wenn ihr nach Hause gehen dürft.«

»Dann soll ich also den ganzen Tag lang auf irgendwelches Geklingel hören?«

»Sally«, erwiderte Mum wütend, »sei nicht so blöd. Du wirst hier etwas lernen. Sie bringen dir Rechnen bei. Und du magst doch Geschichten, oder? Sie werden dir Geschichten erzählen.«

In diesem Augenblick kam eine große Frau mittleren Alters mit Haaren in Farbe und Form von Makkaroni aus dem ersten Klassenzimmer des Blocks. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, sagte sie laut. Alle hörten sofort auf zu reden. »Mein Name ist Miss Glazberg.«

Aus meiner günstigen Perspektive auf der unteren Stufe schaute ich langsam an ihren langen, dicken Beinen hinauf und unter ihren weiten Rock. Mum tippte mir auf die Schulter, und ich musste mich umdrehen. Sie fand mich bei Weitem zu neugierig.

»Es wird gleich klingeln«, informierte die große Frau die Mütter, »und wenn das geschieht, möchte ich, dass Sie die Kinder anweisen, sich in einer geraden Reihe auf dem Schulhof aufzustellen. Ich hoffe, ihr habt das auch gehört, Kinder, ich werde überprüfen, wer am geradesten steht. Und ich sähe es gern, wenn die Mütter zügig und leise fortgingen, sobald die Kinder aufgestellt sind. Auf diese Art habe ich genug Zeit, sie zur Ruhe zu bringen und kennenzulernen.«

Ich starrte Mum an.

»Ich komme mit dir zur Aufstellung«, flüsterte sie.

Es klingelte plötzlich, laut und erschreckend. Ich umklammerte Mums Arm. Langsam führte sie mich zu der Stelle, wo die anderen Kinder sich zu sammeln begannen. Sie nahm meine Hände von ihrem Arm, aber ich griff ihren Rock. Schon gingen einige andere Mütter fort und winkten. Ein kleiner Junge vor mir fing an zu weinen. Plötzlich war mir auch nach Weinen zumute.

»Komm jetzt, das geht hier nicht«, sagte Miss Glazberg, als sie Mums Kleid aus meiner Umklammerung befreite. Ich hielt die Augen gesenkt und schnappte nach einem anderen Teil von Mum.

»Ich muss jetzt gehen, Liebes«, sagte Mum verzweifelt.

Miss Glazberg wand meine Finger von Mums Oberschenkel und sagte: »Sag deiner Mutter auf Wiedersehen!« Es war zu spät, Mum hatte sich umgedreht und war in die Sicherheit der Veranda geflohen.

»Mum«, rief ich, als sie die letzte Stufe erklomm. »Mum!«

Sie drehte sich rasch um und winkte und fiel dabei hart auf die oberste Stufe. Ich hatte kein Mitleid mit ihrem verwundeten Knöchel oder den Tränen in ihren Augen.

»Mum!«, schrie ich, als sie davonhumpelte. »Komm zurück!«

Entgegen Miss Glazbergs eindringlichen Aufforderungen, den anderen Kindern hineinzufolgen, stand ich wie angewurzelt auf dem Schulhof, schrie und umklammerte sicherheitshalber meinen getüpfelten Plastikkulturbeutel und mein Pausenbrot.

Als das zweite Trimester begann, hatte ich lesen gelernt und war die beste Vorleserin in meiner Klasse. Lesen eröffnete mir neue Horizonte, aber es schaffte auch ein Verlangen, das die Schule nicht stillen konnte. Miss Glazberg sah keinen Grund, mir ein neues Buch zu geben, solange die anderen Kinder meiner Klasse noch mit dem alten kämpften. Jeden Tag musste ich dieselben Abenteuer von Nip und Fluff durchstehen, und jeden Tag wurden meine Augen vom hinteren Teil des Klassenraums angezogen, wo eine kleine Bücherei untergebracht war.

Ich nervte Mum so lange mit meinem Lesen, bis sie schließlich ihren Mut zusammennahm und die Lehrerin nach einem neuen Buch für mich fragte. Es war sehr mutig von ihr. Ich war ganz stolz, denn ich wusste, dass sie es hasste, die Lehrerin wegen irgendetwas anzusprechen. 

»Es tut mir leid, Liebes«, sagte Mum an jenem Abend, »deine Lehrerin sagte, dass ihr erst in der zweiten Klasse ein neues Buch bekommt.«

Bei uns zu Hause gab es zwar nicht viele Bücher, aber reichlich alte Zeitungen, und so versuchte ich diese zu lesen. Eines Tages fand ich Dads Klempnerhandbücher in einer Kiste in der Waschküche. Ich konnte mir einiges von den Bildern zusammenreimen, aber die Wörter waren zu schwierig.

Gegen Ende des zweiten Trimesters gab Miss Glazberg bekannt, dass alle Eltern an einem Abend in die Schule kommen und sich unsere Arbeiten anschauen würden. Dann teilte sie anstelle des üblichen Packpapiers saubere, weiße Rechtecke aus, die stumpf auf der einen und glänzend auf der anderen Seite waren. Ich starrte ehrfurchtsvoll auf mein Papier; es war wunderschön und rief geradezu nach einem schönen Bild.

»So, Kinder, ich möchte, dass ihr alle euer Bestes gebt. Ihr sollt ein Bild von eurer Mutter und eurem Vater malen, und nur die besten werden am Elternabend ausgestellt.«

Ich hatte keinen Zweifel daran, dass meines zu den wenigen auserwählten gehören würde. Mit großer Konzentration und Entschlossenheit saß ich über meinem Blatt und zeichnete meine Eltern. Ich hielt den Arm über mein Werk, sodass es niemand abmalen konnte. Plötzlich tippte eine Hand auf meine Schulter, und Miss Glazberg sagte: »Lass mich deines mal sehen, Sally.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.

»Du meine Güte!«, murmelte sie und griff sich ans Herz. »Ach du meine Güte! O nein, meine Liebe, so nicht! Bestimmt nicht!«

Bevor ich sie davon abhalten konnte, nahm sie mein Blatt und eilte zu ihrem Pult. Ich beobachtete bestürzt, wie meine großbusige, brustwarzige Mutter und mein gut ausgestatteter Vater raschelnd in ihrem Papierkorb verschwanden. Ich war verletzt und beschämt, und die Kinder um mich herum kicherten. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass wir unsere Eltern angezogen zeichnen sollten.

Bei Beginn des dritten Trimesters hatte ich ein aktives Missfallen an der Schule entwickelt. Ich war gelangweilt und einsam. Wenn die anderen Kinder mit mir sprachen, fand ich es schwierig zu antworten.

Dad schien sich auch nicht sehr für meine Schule zu interessieren. Er fragte mich nie, wie es mir erginge oder ob ich irgendwelche Probleme hätte. Der direkteste Kontakt, den Dad mit meiner Bildung hatte, war ein brutales Zusammentreffen mit meinem schwarzen Schreibstift.

Ich saß auf unserem alten Samtsofa und spitzte den Stift für die Schule. Gerade als ich beschloss, mit der rasierklingenscharfen Spitze zufrieden zu sein, kam Dad herein und machte Anstalten, sich auf meine Lehne zu setzen. Ohne nachzudenken, stellte ich meinen Stift mit der Spitze nach oben auf und beobachtete, wie sich der blaue Hintern senkte. Bei der Berührung sprang Dad schmerzerfüllt hoch und fluchte lauthals. Als er herumfuhr, erwartete ich, dass er mich schlagen würde. Zu meiner völligen Überraschung konnte er nur hervorstoßen: »Geh in dein Zimmer!«

»Warum, um alles in der Welt, hast du das getan, Sally?«, fragte Mum, als sie mich den Flur hinuntergeleitete, der vom Wohnzimmer in das Zimmer führte, das ich mit Jill und Billy teilte. Ich wusste es wirklich nicht. Neugierde über Ursache und Wirkung, nehme ich an.

Mir wurden gewisse Privilegien zugestanden, da ich nun in der Schule war. Das beste war, dass ich länger als die anderen aufbleiben und mit Dad zu Abend essen durfte. Er liebte Meeresfrüchte aller Art. Er hatte einen Kumpel mit einem Boot, und wenn es einen guten Fang gab, bekamen wir Langusten. Fleischige, weiße Langusten und Tomaten in Essig waren Dads Lieblingsessen. Zuerst konnte ich den Geschmack von Essig nicht ausstehen, aber nach und nach gewöhnte ich mich daran. Ich passte aber auf, dass ich nicht zu viel aß, denn ich wusste, wie sehr Dad Langusten mochte. Es war eine glückliche Zeit, Langusten und Tomaten, Dad und ich.

Ich wusste, dass einige von Dads Vorlieben eine Hinterlassenschaft des Krieges waren. Diese hier stammte aus der Zeit, als italienische Partisanen ihn vor den Deutschen beschützten. Ich wusste alles über den Krieg. Dad hatte mir von seinen Freunden Giuseppe und Maria und ihrer Tochter Edmea erzählt. Er hatte mir die Internationale auf Italienisch beigebracht. Ich fand mich sehr klug, dass ich in einer anderen Sprache singen konnte.

Wir hatten eine schöne Zeit. An manchen Abenden versteckte Dad Schokolade in den tiefen Taschen seines Overalls, und wir durften sie herausangeln. Manchmal lachte und scherzte er, und wenn er fluchte, wussten wir, dass er es gar nicht so meinte.

Dad schlitterte herein und heraus aus unserem Leben. Er war oft für einige Tage bis zu einem Monat im Krankenhaus. Die längste Zeit, die er ohne Unterbrechung zu Hause verbrachte, waren drei Monate; meist blieb er viel kürzer. Wenn er aus dem Krankenhaus zurückkam, war er zunächst so mit Medikamenten vollgepumpt, dass er uns kaum um sich haben mochte. Dann schien es ihm für eine Weile ganz gut zu gehen, aber bald verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er blieb in seinem Zimmer, trank viel und konnte kaum mit uns reden. Und bald kam er wieder ins Krankenhaus.

Dad war Klempner von Beruf, aber oft hatte er keine Arbeit. Jedes Mal wenn er aus dem Krankenhaus kam, musste er versuchen, einen neuen Job zu finden. Mum hatte das einzige regelmäßige Einkommen mit ihren Halbtagsjobs, meist als Putzfrau.

Wenn Dad glücklich war, wünschte ich mir, dass er sich nie veränderte. Er sollte für immer so bleiben, aber davor stand immer der Krieg. Gerade wenn alles einmal ganz gut aussah, kam der Krieg dazwischen und überwältigte uns. Der Krieg hatte nie geendet für Dad. Er lebte Tag und Nacht mit ihm. Merkwürdig, denn er hatte mir erklärt, wie wichtig es war, frei zu sein, und ich wusste, dass Australien ein freies Land war, aber Dad war nicht frei. Es gab etwas in seinem Kopf, das einfach nicht wegging. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er, wenn er hätte aufstehen und vor sich selbst davonlaufen können, genau das getan hätte.

Einer der Gründe, warum ich so unglücklich in der Schule war, lag wahrscheinlich darin, dass ich mir Sorgen machte, was zu Hause passierte. Manchmal war ich so müde, dass ich nur noch den Kopf auf das Pult legen und schlafen wollte. Nachts schlief ich nur gut, wenn Dad im Krankenhaus war. Dann gab es keinen Streit.

Ich hielt Wache, wenn Mum und Dad sich stritten, ebenso wie Oma. Ich schloss ein geheimes Abkommen mit mir. Blieb ich wach, war ich meiner Eltern Schutzengel; schlief ich aber ein, so verlor ich meine Macht. Ich machte mir Sorgen, dass eines Nachts etwas Furchtbares geschehen könnte und ich nicht wach wäre, um es zu verhindern. Ich war davon überzeugt, dass nur ich zwischen ihnen stand, ich und ein schrecklicher Abgrund.

Während einiger Nächte versuchte ich herauszufinden, worüber sie stritten, aber nach einer Weile wurden ihre Stimmen ununterscheidbar und verschmolzen in ungezügelter Wut. Dann nahm ich Zuflucht zu meinem Kopfkissen. Ich zog es mir fest über den Kopf und versuchte, den Lärm zum Verstummen zu bringen.

Ich war dankbar, dass Dad Mum nicht verprügelte. An einem Abend jedoch stieß er sie so, dass sie hinfiel. Ich hatte lange aufbleiben dürfen und hockte auf dem Küchenboden und guckte um den Türpfosten, um zu sehen, was passiert war. Mum lag da wie ein Häufchen Elend. Ich fragte mich, warum sie nicht aufstand. Ich schaute zu Dad hoch; er war so groß, er schien gar kein Ende zu haben. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, blickte auf mich hinab und stöhnte. Unterdrückt fluchend drängte er sich grob an Oma vorbei und torkelte in sein Zimmer an der hinteren Veranda. Er tat mir leid. Er hasste sich selbst.

Oma eilte in die Diele und beugte sich zu Mum hinunter. Als sie ihr aufhalf, gab sie teilnahmsvolle Laute von sich. Keine Worte, nur Laute. Ich glaube, so erinnere ich mich an Oma in diesen frühen Jahren – lauernd, in der Erwartung, dass etwas passiert.

Ich saß noch eine Zeit lang auf dem Küchenboden, dann schlich ich leise in Mums Zimmer. Ich presste meinen Rücken gegen den kalten Putz der Wand und sah zu, wie Oma Mum mit großem Aufwand in ihre Decken einpackte. Omas Augen blickten ängstlich, und ihre volle Unterlippe war vorgeschoben. Das sah ich oft. Ansonsten zeigte sie nie viel Gefühl.

Ich versuchte mir Worte auszudenken, die alles wiedergutmachen würden, aber meine Lippen waren wie zusammengeklebt. Schließlich sagte Oma: »Wenn du nichts zu sagen hast, geh ins Bett!«, und ich flüchtete.

Ich bin beim Militär

Die Aufgabe, ein weiteres Mitglied unserer Familie zum ersten Schultag zu begleiten, fiel auch im folgenden Jahr wieder Mum zu. Ich war froh, dass Jill mit der Schule anfing; ich war mir sicher, dass ich mit ihr zusammen nicht mehr so einsam wäre.

Als wir an jenem Morgen auf die Grüppchen von Kindern und Eltern trafen, die in Richtung Schule gingen, beobachtete ich Jill neugierig. Sie schien weder aufgeregt noch verzagt bei der Aussicht, von zu Hause fort zu sein. Ich schrieb ihre Ruhe ihrer Unwissenheit zu und war mir sicher, dass sie, wenn die Schule erst mal in Sicht käme, in Tränen ausbrechen würde.

»Hat die Schule nicht einen wunderschönen Garten, Jill?«, bemerkte Mum, als wir um die letzte Ecke bogen und uns dem Eingang näherten.

»Ja, solche Rosen haben wir auch.«

Ich kniff die Augen zusammen und schaute sie an, keine Träne in Sicht.

Na denn, dachte ich, abwarten, bis Mum uns verlässt, dann wirds schon losgehen.

Mum brachte mich an die Tür zu meiner neuen Klasse, nahm dann Jills Hand und sagte: »Komm, ich zeige dir die Toiletten.«

»Kommst du auch, Sally?«, fragte Jill.

»Nee, die hab ich letztes Jahr schon gesehen. Frag Mum, ob sie dir die Jungentoiletten zeigt, da war ich noch nie drin.«

»Sei nicht dumm, Sally. Jilly will die Jungentoiletten gar nicht sehen.«

»Doch, will ich!«

Ich beobachtete, wie Jill einige Minuten später von ihrer Toilettentour zurückkehrte. »Und was mache ich jetzt?«, fragte sie, als sie mir über die Veranda entgegentrottete.

»Tja, jetzt musst du aufs Klingeln warten. Da vorn ist deine Klasse. Geh und setz dich mit Mum auf die Stufen. Sie wird bei dir bleiben, bis es klingelt, aber sie wird nicht den ganzen Tag hier sein.«

»Okay.« Ich schaute ihr prüfend ins Gesicht. Armes Kind, dachte ich, sie hat es immer noch nicht begriffen. Jill ging zurück und ließ sich auf die Verandastufe plumpsen. Ich beobachtete, wie Mum sie genauso anlächelte, wie sie mich ein Jahr zuvor angelächelt hatte. Jill grinste zurück. Mum hatte sie tatsächlich davon überzeugt, dass sie gern in die Schule gehen würde. Sie war manchmal so leichtgläubig.

Ein paar Minuten später klingelte es laut. Mum winkte und schickte sich an, fortzugehen. Ich erschrak zutiefst, als Jill ruhig ihren Platz in der Reihe einnahm, die sich vor ihrer Klasse formierte. Kurz bevor Mum völlig außer Sichtweite geriet, sah ich sie einen ängstlichen Blick auf die Erstklässlerreihe werfen. Jetzt, Jill, jetzt!, dachte ich. Jetzt war der perfekte Augenblick gekommen! Aus irgendeinem Grund spürte Jill mein Interesse, drehte sich um und winkte mir fröhlich zu. Ich stöhnte verzweifelt auf. Sie war augenscheinlich dümmer, als ich befürchtet hatte. »Mum geht jetzt!«, rief ich aus, aber sie war zu beschäftigt, mit dem Jungen vor ihr zu schwatzen, um antworten zu können.

Ich beobachtete mit einer Mischung aus Neid und Überraschung, wie sie mit den anderen Kindern redete. Sie waren ihr alle fremd, und doch schien sie irgendwie zu ihnen zu passen. Nun wusste ich, dass Jill und ich, was die Schule anging, nie übereinstimmen würden.

Meine Tagträume wurden plötzlich von einer tiefen, brummigen Stimme unterbrochen, die rief: »Du dort, mit den langen Zöpfen, komm her und pass auf!« Ich schämte mich sehr. Ich war so damit beschäftigt gewesen, Jill zu beobachten, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie meine Klassenkameraden sich aufgestellt hatten.

Meine neue Lehrerin begann langsam die Reihe abzugehen und sorgfältig jeden ihrer vierzig Schützlinge zu inspizieren. »Steht gerade! Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch!« Sie tippte leicht mit ihrem Holzlineal gegen mein Kinn. Ich versuchte, ihren Anweisungen Folge zu leisten, lehnte mich aber dabei so weit nach hinten, dass ich beinahe umfiel.

Wir gingen leise in die Klasse, und die Anwesenheit eines jeden wurde pflichtgemäß in das Klassenbuch eingetragen. Als das beendet war, richtete sich unsere Lehrerin zu ihrer vollen, flachbrüstigen Höhe von einsachtzig auf und sagte: »Ich … bin Miss Roberts.« Abgesehen von ihrer Pause nach dem »Ich« sprach sie schnell und sehr, sehr deutlich.

»Jetzt, Kinder, gebe ich … einige Lesebücher aus. Ihr seid mucksmäuschenstill, während ich … dies tue. Dann wollen wir sehen, ob ihr alle Sachen mitgebracht habt, die ihr dabeihaben sollt.«

Ich lächelte, es würde letztlich doch nicht so schlimm werden, mein neues Buch war auf dem Weg. Ich wartete gespannt, während Miss Roberts eine Reihe nach der anderen entlangging. Als sie schließlich an mein Pult gelangte, platzte ich fast vor Aufregung. Sie legte das Buch auf mein Pult, und ich konnte nicht anders als laut aufstöhnen. Irgendwie hatten es Dick, Dora, Nip und Fluff geschafft, in die zweite Klasse versetzt zu werden. Sie taten mir leid. Keiner von ihnen lebte in der Nähe eines Sumpfes; auch wilde Vögel, Schlangen oder Echsen fanden keine Erwähnung. Sie gingen bloß immer in Spielzeugläden oder spielten Ball mit Nip. Ich stellte mich resigniert auf ein weiteres Jahr der Langeweile ein.

Es gab keinen Vergleich zwischen Miss Roberts und meiner Lehrerin in der ersten Klasse. Wenn es Mum unangenehm gewesen war, Miss Glazberg anzusprechen, so versetzte es sie regelrecht in Angst und Schrecken, wenn es um Miss Roberts ging.

»War Miss Roberts mal beim Militär, Mum?«, fragte ich sie eines Nachmittags.

»Was für eine seltsame Frage, wie kommst du denn darauf?«

»Na, sie benimmt sich manchmal wie ein Mann.«

»Wann denn?«

»Wenn wir uns vor der Schule aufstellen. Sie lässt uns nicht reingehen, wenn wir nicht stocksteif dastehen. Sie pikst einen in den Magen und sagt: ›Bauch rein, Brust raus, Augen geradeaus!‹ Dad hat mir erzählt, dass sie das beim Militär auch so machen.«

Mum lachte; sie glaubte offensichtlich, ich würde wieder übertreiben. In der folgenden Woche jedoch vertraute sie mir bei einer Tasse Tee an, dass Miss Roberts wohl tatsächlich beim Militär gewesen war. Eine der Putzfrauen an der Schule hatte ihr das erzählt. Ich fand diese Information sehr interessant. Dad hatte oft vom Militär erzählt. Er war zu sehr Nonkonformist, um sich problemlos in das Armeeleben einzufügen. Jetzt verstand ich, wie er sich fühlte. Ich hatte es auch nicht gern, wenn mir gesagt wurde, was ich tun sollte. Seitdem sang ich immer, wenn wir in die Klasse einmarschierten, leise eine alte Soldatenweise, die Dad mir beigebracht hatte:

Ich bin beim Militär

Ich ging, um eine Kuh zu melken

Die Kuh ging durch, ich haute ab

Ich war beim Militär

Jill, Billy und ich liebten derbe Lieder. Wir marschierten oft um den Hof herum und sangen. Bill schlug auf seine alte Blechtrommel, und Jill und ich taten so, als ob wir Trompete spielten. Ich konnte das Wecksignal spielen. Ich zog ein Stück Papier fest über einen Kamm und blies darauf. So produzierte ich einen hohen, furzenden Ton, den ich dann in eine erkennbare Melodie manipulieren konnte. Ich lernte viele Melodien auf meinem Kamm zu spielen, aber das Wecksignal mochte ich am liebsten.

Am Ende des ersten Trimesters hatte ich ein Zusammentreffen mit Miss Roberts, das jede Zuversicht, die ich für den Rest des Schuljahrs hätte haben können, zunichtemachte.

Unsere Schulbänke bestanden aus einem schweren Metallrahmen mit Holzlatten als Sitz und Lehne. Das stellte sich als unvorteilhaft für mich heraus, denn eines Tages, nachdem ich, wie mir schien, stundenlang versucht hatte, mit ausgestrecktem Arm Miss Roberts’ Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, konnte ich nicht verhindern, dass ich mir in die Hose machte. Miss Roberts war in die Korrektur unserer letzten Arbeiten vertieft und hatte meinen verzweifelt herumfuchtelnden Arm nicht bemerkt. Aber eines von den Mädchen neben mir – sauber, ohne Zahnlücke und mit glänzendem Haar – begann leise zu leiern: »Du hast dir in die Hose gemacht, du hast dir in die Hose gemacht!«

»Hab ich nicht«, bestritt ich heftig. »Das ist bloß Wasser unter meinem Stuhl.«

»Ach ja, und warum hast du dann die ganzen Taschentücher draufgepackt?« Sie hatte mich erwischt.

Mittlerweile hatten die meisten Kinder um uns herum zu kichern begonnen. Miss Roberts hob ihre hornumrahmten Augen und sagte streng: »Ruhe bitte!« Sie starrte uns einige Sekunden an, offensichtlich in der Erwartung, dass ihr adlerhafter Blick seine übliche Wirkung zeige. Als das letzte Kichern erstarb, schob sie ihren soliden Holzstuhl zurück, atmete tief und sagte:

»Ich … habe etwas bekanntzugeben.«

Wir waren sehr beeindruckt von Miss Roberts’ Gebrauch des Wörtchens »Ich«. Während des ganzen Trimesters war ich davon überzeugt, dass Miss Roberts sogar wichtiger war als die Schulleiterin.

»Ich … habe eure Arbeiten zu Ende korrigiert.« Nach dieser Aussage herrschte völliges Schweigen. Unter Miss Roberts’ Herrschaft hatten unsere wöchentlichen Tests große Bedeutung erlangt. Wir warteten alle bange darauf, wer diesmal durchgefallen war.

»Ich … muss alle eure Bemühungen loben. Alle, außer Rrrodneys.« Sie rollte stets das R, wenn sie Rodney sagte. Man hätte denken können, er sei ihr Lieblingsschüler, bei dem Maß an Aufmerksamkeit, das sie ihm schenkte. Tatsächlich traf das Gegenteil zu, er konnte ihr nichts recht machen.

»Rrrodney«, fuhr sie fort, »wie oft habe ich dir erklärt, dass wir Gesäß sagen und nicht Hintern!«

Rodney grinste, und wir giggelten, wurden aber sofort von Miss Roberts’ empörtem Blick gestoppt. Sie hatte eine Abneigung gegen alles, was nur im Geringsten derb war. Ich empfand eine widerwillige Bewunderung für Rodney. Er schrieb nun seit drei Wochen Hintern; er war ganz mein Fall.

»Nun«, sagte sie auf eine Art, die uns alle kerzengerade sitzen und ganz aufmerksam werden ließ, »wo ist Sally, hm?« Mit leicht gesenktem Kopf schaute sie in der Klasse herum, um mein unscheinbares braunes Gesicht in einem Meer von vierzig wissenden Lächeln auszumachen. »Ach, da bist du, meine Liebe.« Ich hatte mich hinter das Mädchen vor mir gekauert und meine Hand zwischen die Beine gestopft, um weiteres Tröpfeln zu verhindern.

»Sally hat es zum ersten Mal in diesem Jahr geschafft, eine Eins zu schreiben. Darüber hinaus ist sie in dieser Woche die Einzige, der das gelungen ist.« Sie machte eine Pause und schaffte somit Gelegenheit, die Größe meiner Leistung wirken zu lassen. Alle wussten, was als Nächstes passieren würde, und Miss Roberts sagte, indem sie das Prusten und Kichern als Eifer missdeutete: »Nun, komm her, Sally. Komm nach vorn und halt dein Heft hoch. Ich … kann dir versichern, dass die Klasse gespannt darauf ist, deine Arbeit zu sehen.«

Miss Roberts wartete geduldig, als ich mich vorsichtig erhob. Ich zog schnellstens den nassen Teil meines Kleides so weit nach hinten, wie ich konnte, und hielt ihn fest zusammengeknüllt in meiner linken Hand. Mit zusammengepressten Knien und meinem linken Ellbogen in einem ungewöhnlichen Winkel hinter meinem Rücken bewegte ich mich ruckhaft voran. Glücklicherweise schaute Miss Roberts gerade voller Erstaunen in mein Heft und war daher nicht mit dem Anblick meines verrenkten Körpers konfrontiert.

»Ich … möchte, dass du es hochhältst, sodass die ganze Klasse es sehen kann. Sieh mal, wie gespannt sie darauf sind, eine Arbeit zu sehen, die hundert Prozent richtig ist!«

Ich umklammerte mein Heft mit der rechten Hand und beugte mich so weit wie möglich von Miss Roberts weg, damit sie meinen Zustand nicht riechen könne. Meine verunglückte Erscheinung musste sie alarmiert haben, dass etwas nicht stimmte, denn sie fuhr mich ungeduldig an: »Halt das Heft mit beiden Händen! Und lass dein Kleid herunter, wir interessieren uns nicht für deine Unterhosen!«

Eine Welle des Kicherns schwappte durch die Klasse. Als ich den weiten Rock meines blauen Baumwollkleids herunterstrich, blähten sich Miss Roberts große und empfindliche Nasenlöcher heftig, und sie schnaubte angewidert.

Sie griff meinen Ellbogen, beförderte mich zurück zu meinem Pult, deutete auf die anstößige Pfütze und verlangte zu wissen: »Und woher kommen all diese Taschentücher?« Sie riss den Deckel meines Pults auf und kreischte: »O nein! Da sind ja noch mehr!« Ich schämte mich so sehr. Es war offensichtlich, dass sie nicht wusste, wo zu beginnen mit ihrer Anklage – mit dem Haufen dreckiger Taschentücher, dem überquellenden Behälter des Bleistiftanspitzers, der Sammlung vertrockneter Orangenschalen oder dem alten Apfelrest, der bräunlich und kurz vorm Verschimmeln war.

Sie schüttelte fassungslos den Kopf und murmelte: »Du schmutziges, schmutziges Mädchen.« Dann zerrte sie mich wieder nach vorn und schob mich aus der Tür.

»Hinaus mit dir, und komm nicht wieder herein! Du setzt dich dort hin und trocknest!«

Ich saß allein und nass auf der harten Holzbank.

Mit meiner Einstellung zur Schule ging es nach diesem Zwischenfall noch schneller bergab. Ich fühlte mich so anders als die anderen Kinder in meiner Klasse. Sie waren die blitzblanke Brigade und ich die schmuddelige Übeltäterin.

Trinkende Männer

Zu Hause wurde es auch nicht gerade besser. Dad trank mehr, als er aß, und blieb sehr dünn. Er hatte aufgehört, sich überhaupt noch um Arbeit zu bemühen, und er war mehr im Krankenhaus als zu Hause. Vorbei waren die Tage, als er uns kuschelige Küken zum Spielen mit nach Hause brachte. Es gab eine Zeit, in der er nicht am Schaufenster einer Tierhandlung vorbeigehen konnte, ohne ein halbes Dutzend Küken zu kaufen. Er trug immer noch seinen blauen Lieblingsoverall, aber er versteckte nicht mehr diese winzigen Schokoladentäfelchen in seinen tiefen Taschen. Jetzt versteckte er nur sich selbst. Wenn er zu Hause war, kam er nie aus seinem Zimmer. Sein einziges Interesse schien die Kneipe zu sein.

Seine Stammkneipe war das Raffles. Es lag am Ufer des Swan und bot einen südländischen Anblick. Dad war beliebt im Raffles, wo sich eine große Gruppe ehemaliger Soldaten traf. Es war wie ein Klub. Nach ein paar Bieren im Raffles mit seinen Kumpeln war Dad bald in einer anderen Welt. Er vergaß uns und Mum und wurde einer von den Jungs. 

Wir Kinder fuhren oft mit Dad zur Kneipe. Während er sich in der Bar unterhielt, saßen wir gelangweilt und vergessen im Auto. Im Sommer war es am schlimmsten. Dad kurbelte stets die Fenster hoch und schloss sämtliche Türen ab für den Fall, dass uns jemand stehlen wollte. Er verbot uns strikt, auszusteigen. Diese Vorsichtsmaßnahme bedeutete, dass wir an heißen Sommerabenden beinahe erstickten.

Eines Abends konnte ich es im Auto nicht mehr aushalten. Dad war seit Ewigkeiten fort, und ich hatte alle Hoffnung aufgegeben, dass er mit den üblichen Tüten Pommes frites zurückkehren würde. Irgendwie gelang es der süßen, reinen Luft vom Fluss her, die gläserne und metallene Abschottung zu durchdringen. Wie ein Fetzen aus wogendem Nebel in der Nacht umwehte sie Schultern und Kopf und lockte mich hinaus.

»Lasst uns unten am Fluss spielen«, sagte ich plötzlich. »Dad bringt uns doch keine Pommes. Er wird nicht merken, dass wir weggegangen sind.«

»Wir sollen aber im Auto bleiben«, sagte Jill und schaute mich zweifelnd an. Zwei Trimester in der Schule, und sie war eine richtige Kleinkrämerin geworden.

»Hör mal, Jill, es hat doch keinen Sinn, hier rumzuhängen und zu hoffen, dass er mit irgendwas zurückkommt. Er hat uns doch wieder vergessen. Ich gehe jedenfalls, ob du mitkommst oder nicht.«

Die Vorstellung, im Wasser planschen zu können, überwältigte Billy; er sprang mit mir hinaus. Jill folgte widerwillig. Wir schlängelten uns rasch durch den überfüllten Parkplatz und hinunter zum sandigen Ufer. Wir spritzten und lachten und bauten Sandburgen, dekoriert mit Tang und Stöcken.

Als wir gerade einen ausgetüftelten Burggraben konstruierten, überragte uns eine große Figur von oberhalb des Strandes.

»Verdammt noch mal, was macht ihr Blagen da unten? Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt im Wagen bleiben!« Dad kam drohend näher, und wir erstarrten.

Plötzlich schrie ich: »Was glaubst du denn, was wir da machen sollen? Die ganze Nacht im Auto sitzen? Du warst schon ewig weg, und du hast uns keine Pommes gebracht!« Ich hielt abrupt inne, mit weit geöffnetem Mund. Woher kam mein plötzlicher Mut? Ich hatte oft entrüstete Gedanken, aber in der Regel behielt ich sie für mich. Jetzt wars passiert.

Glücklicherweise war Dad genauso überrascht wie ich. Er blieb stehen und schaute auf uns herunter. Sein Blick fiel auf die drei planlosen Sandburgen und den Anfang eines komplizierten Bewässerungssystems. Ohne ein weiteres Wort geleitete er uns zum Auto und fuhr uns nach Hause.

Am nächsten Abend blieb ich zu Hause bei Mum. Ich fand, dass die Chancen, sich eine Tüte Pommes frites zu verschaffen, zu gering waren. Billy und Jill bestanden darauf, Dad zu begleiten. »Die können sich wieder auf die totale Langeweile gefasst machen«, sagte ich zu Mum, als wir ihnen zum Abschied winkten.

An diesem Abend kam Dad früh nach Hause. Er war wütend. Augenscheinlich war Jill so gelangweilt gewesen, dass sie in der Bar nach Dad gesucht hatte. Jemand hatte sie auf die Theke gestellt und gefragt: »Na, zu wem gehört die hier?« Das war sonst überhaupt nicht Jills Art, und es war in Dads Augen eine unverzeihliche Sünde. Die Kneipe war sein Bereich. Er fühlte sich von Jill vor seinen Kumpeln bloßgestellt. 

Die Brüder meines Vaters waren genauso große Trinker, und sie waren stolz darauf. Der Einzige, der anders zu sein schien, war Onkel John. Er war bedeutend jünger als Dad, und wir Kinder mochten ihn ganz gern. Er hatte immer einen Witz für uns parat und trank nie so viel wie die anderen. Aber selbst abgesehen von unseren Verwandten, schienen wir nur von trinkenden Männern umgeben zu sein. Nicht einer von Dads Kumpeln war ein Mäßigkeitsapostel. Ich war immer erstaunt, wie viel ein richtiger Mann trinken konnte. In der Tat schien Trinken die Lieblingsbeschäftigung von allen zu sein, mit denen wir zusammenkamen. Dads Kumpel, vor allem ehemalige Soldaten, brachten ihre Frauen meistens nicht mit zu uns. Aber die wenigen Frauen, die einbezogen wurden, konnten gut mithalten.

Ich erinnere mich nur an eine Gelegenheit, als unser Opa zu uns kam, um bei einer Arbeit auszuhelfen. Nahe beim Haus wuchsen einige hohe Eukalyptusbäume, die Dad fällen wollte. Er sagte, sie wären eine Feuergefahr. Opa bot an, ihm zu helfen. Ich saß auf den hinteren Stufen zur Veranda und beobachtete, wie die beiden die Bäume hinaufkletterten. Ich war traurig, dass die Bäume fallen sollten. Sie waren groß und schön, und ich hatte Elstern in ihnen nisten sehen.

»Gut, Paps«, rief Dad, als er seine Säge anlegte. »Du nimmst dir den Ast an deiner Seite vor, und ich gehe diesen hier an.«

»Okay, Bill.« Opa schwitzte wie ein Affe, und er hatte seit mindestens einer halben Stunde nichts mehr zu trinken gehabt.

»Jesses! Ich könnte ein Kaltes vertragen, Bill«, murmelte er, während er sägte.

Plötzlich krachte es, dann ein berstendes Geräusch, gefolgt von einem Schrei. Opa und der Ast, auf dem er gesessen hatte, lagen auf dem Boden.

Dad ließ seine Säge fallen, kletterte herunter und brüllte: »Doch nicht den Ast, auf dem du sitzt, du blöder Idiot!«

Für den Rest des Nachmittags arbeitete Dad allein. Opa saß drinnen, erholte sich und trank Bier. Als Dad ihn schließlich nach Hause fuhr, war er zu betrunken, um noch irgendeinen Schmerz zu fühlen.

Dads Familie kam oft zum Weihnachtsessen zu uns. Ich fand eigentlich die zwei Tage vor Weihnachten viel aufregender. Mum und Oma backten Kuchen und kochten Pudding, putzten das Haus richtig gründlich und bereiteten die Füllung für die Hühner vor. Ich war wirklich aufgeregt, denn wir aßen nur einmal im Jahr Huhn, und ich mochte es furchtbar gern.

Am vierundzwanzigsten Dezember schritt Dad mit einer Axt bewaffnet zum Hühnerstall. Er sah immer sehr entschlossen aus, und ich saß jedes Mal da und glaubte, dass er es in diesem Jahr bestimmt fertigbrächte. Ungefähr zehn Minuten vergingen, dann kam er zurückstolziert, mit sauberer Axt und ohne Hühner. Der Krieg hatte ihm das Töten verleidet. Er ging an mir vorbei und übergab die Axt Oma, die geduldig an der hinteren Veranda wartete. »Jesses, Daisy, ich kann es nicht. Du musst ran.«

Oma war alles andere als begeistert von dieser Aufgabe. Sie hatte eine besondere Beziehung zu Vögeln und zu den Hühnern, die wir hielten, aber sie wusste auch, dass wir zu arm waren, um ihren feineren Gefühlen Beachtung schenken zu können. Innerhalb weniger Minuten kam sie mit zwei schlaffen Hühnern und blutiger Axt zurück. »Komm, Sally, Zeit, sie auszunehmen.«

Sie breitete Zeitungspapier auf dem alten Tisch aus, der auf unserer hinteren Veranda stand, und wir begannen mit der Arbeit. Ich rupfte gern Hühner, weil ich Federn sammelte. Jill kam vorbei und schaute uns angewidert an. Manchmal stieß ich meinen blutigen Arm in ihre Richtung, um ihr Angst einzujagen, und sie lief schreiend hinein zu Mum. 

»Pah, die hat keinen Mumm in den Knochen.«

»Aber diese Hühner haben was drauf auf den Knochen, drum mach weiter mit deiner Arbeit, und lass die arme Jill in Ruhe!«

Einmal zu Weihnachten erzählte uns Opa die Geschichte seiner Familie. »Jaja«, seufzte er, während er noch ein Bier herunterkippte, »die Männer der Milroys waren immer schon große Spieler und Trinker.«

Ich beobachtete neugierig, wie er sich eine Träne aus dem Auge wischte. Wenn man Opa ein paar Bier gab, heulte er über alles und jedes.

»Früher ging es uns recht gut. Wir hatten ein Geschäft in Albany, eine Imbissstube. Jesses, man konnte schnelles Geld machen damals mit all den Kerlen, die ins Land kamen. Sobald die Segelschiffe festgemacht hatten, rannten die Pensionsbesitzer, Kneipiers und wer noch immer runter zum Hafen und versuchten, den Fisch an Land zu ziehen. ›Her zu mir!‹, rief einer, ›ein Freigetränk zu jedem Essen und Bonbons für die Kleinen!‹ ein anderer. ›Doppelte Portionen Pudding für alle Männer. Was immer ihr wollt, wir haben es!‹ Tja, die Leute waren rau und schlagfertig damals, aber das Geschäft ging gut. Alle machten ein Vermögen, bis auf den letzten Mann. Alle, außer deinem Urgroßvater, der kam nie an der nächsten Kneipe vorbei!«

Ich nehme an, es überrascht nicht weiter, dass ich schon früh ein starkes Interesse am Trinken und Rauchen entwickelte. Ich war eine Meisterin im Zigarettendrehen; ich gab sie dann Dad, um sie anzuzünden. Ich konnte in nur wenigen Sekunden ein Glas Bier ohne Schaum eingießen. Dad ermutigte mich, einen Schluck aus seinem Glas zu nehmen, Mum protestierte vergebens. Wenn sie sich zu oft über die gleiche Sache beschwerte, strengte Dad sich besonders an, sie zu ärgern. Er war ein rebellischer Mann.

Glücklicherweise dauerte es nicht lange, und mir wurde schlecht vom Biergeschmack. Ich fand, es schmeckte genau so, wie ich mir den Geschmack von Urin vorstellte. Und die Tatsache, dass ich einige von Dads Kumpeln Pisse dazu sagen hörte, verstärkte meinen Eindruck nur noch. Ich beschloss, dass ich diese Tradition nicht weiterführen würde.

An dem Tag, als Onkel Frank in unser Leben trat, hatte ich das Gefühl, eine verwandte Seele gefunden zu haben. Er schneite eines Tages einfach aus heiterem Himmel herein, und Dad freute sich sehr, ihn zu sehen.

»O Gott«, stöhnte Mum auf, als sie die braune Papiertüte sah, die lässig unter Franks muskulösen Arm geklemmt war. »Das ist ja genau, was Bill brauchen kann – noch mehr Schnaps.«

Bei Dads aufleuchtenden Augen wurde mir klar, dass er im Gegensatz zu Mum der Meinung war, es sei in der Tat genau das, was er brauchte. Mum behandelte die beiden wie Luft. Sie hatte die trinkenden Männer um sich herum einfach satt.

»Ihr Kinder geht nach hinten und spielt!«, kommandierte sie, als Dad und Frank sich auf der vorderen Veranda niederließen. »Er hat ein furchtbares Vokabular«, flüsterte Mum Oma zu, »ich möchte nicht, dass die Kinder so etwas zu hören bekommen.«

Ich spitzte sofort die Ohren. Was für ein furchtbares Vokabular?

»Raus mit dir, Sally«, wiederholte Mum.

»Okay, okay, ich geh ja schon«, seufzte ich, während ich die Stufen der hinteren Veranda hinuntersauste. Ich brauchte nur wenige Sekunden, um ums Haus herumzulaufen, wo ich mich glücklich wieder zu den trinkenden Männern gesellte.