Ich: Im Dunkel der Angst - Astrid Korten - E-Book
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Ich: Im Dunkel der Angst E-Book

Astrid Korten

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Beschreibung

ICH weiß, wie die Hölle aussieht. ICH bin eine Überlebende. ICH habe beschlossen, dir und anderen dieselbe Erfahrung zukommen zu lassen … Willkommen im Dunkel der Angst.. Ein Jahr nachdem die zwölfjährige Schülerin Greta bei einem Suizid ums Leben kam, wollen Hannah, Ehefrau und Mutter, und ihre Schwester Pia, ehemalige Lehrerin, in einem Villenviertel in Warnberg neu anfangen. Hannah, die nach einem Unfall eine schwere Schuld auf ihren Schultern trägt und Pia, die mit allen Mitteln versucht, endlich schwanger zu werden, finden jedoch keine Ruhe. Die Vergangenheit holt sie unerbittlich ein. Eines Tages erhalten sie eine Nachricht: Willkommen im Dunkel der Angst. Bald kehren nicht nur Winterstürme, Nebel und Misstrauen ins idyllische Warnberg ein, sondern auch das Grauen, das die Geschwister immer stärker bedroht, bis sie um ihr Leben fürchten müssen. Bildgewaltiger, raffinierter und nervenzerreißender Psychothriller, mit großer Intensität erzählt. (WAZ) - Tief berührend, einfach großartig (Sonja Wagner) - Wieder einmal ist Astrid Korten ein Meisterwerk gelungen.Ich hatte viele grandiose und einzigartige Lesemomente mit dieser Lektüre. (Vampir) - Wieder lässt die Autorin den Leser in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele blicken. Und jedes Mal zeigt sie uns andere Blickwinkel. Meine absolute Leseempfehlung für diesen besonderen Psychothriller. - Fazit: Ein sehr erschütternder Thriller, der noch lange nachhallt. Absolute Leseempfehlung. Daniela Krüger

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Inhaltsverzeichnis

Astrid Korten

Wer bist du?

Über das Buch

Aus Gretas Tagebuch

Prolog

TEIL 1

Dezember 2017

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

DREI MONATE SPÄTER

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

MÄRZ 2018

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Ein Jahr später

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Astrid Korten

ICH

Im Dunkel der Angst

Psychothriller

Wer bist du?

Ich streiche um dein Haus.

Ich beobachte dich.

Ich habe dich im Visier. Immer.

Und niemand weiß, wer ich bin.

Über das Buch

ICH weiß, wie die Hölle aussieht.

ICH bin eine Überlebende.

ICH habe beschlossen, dir und anderen dieselbe Erfahrung zukommen zu lassen …

Willkommen im Dunkel der Angst.

Nach dem Selbstmord der Schülerin Greta wollen die ehemalige Lehrerin Pia und ihre Schwester Hannah, Ehefrau und Mutter, in Warnberg neu beginnen. Die Geschwister tragen beide eine schwere Schuld auf ihren Schultern. Doch die Vergangenheit holt sie unerbittlich ein. Eines Tages erhalten sie eine Nachricht: Willkommen im Dunkel der Angst.

Bald kehren nicht nur Winterstürme, Nebel und Misstrauen, ins idyllische Warnberg ein, sondern auch das Grauen, das die Geschwister immer stärker bedroht, bis sie um ihr Leben fürchten müssen.

Bildgewaltiger, raffinierter und nervenzerreißender Psychothriller um Mobbing und großer Schuld, mit großer Intensität erzählt. (Westdeutsche Allgemeine Zeitung)

Aus Gretas Tagebuch

Du warst schon immer da,

ich kannte Dich,

aber ich war vorsichtig,

und Du hast Dich abgewendet,

nur zum Schein.

Es ist ein altes Thema,

aber neu für mich.

Ich habe Dich nie als Freund betrachtet,

mit Freunden redet und lacht man,

mit Freunden teilt man alles,

was zu teilen fällt.

Aber seit Kurzem möchte ich Dich sehen,

ich möchte mit dir reden,

sehne mich nach Dir.

Du lädst mich ein.

Und wohin das führen wird,

weißt auch Du.

Ich will mit Dir tanzen,

wenn ich meine Furcht überwinde,

meinen Zweifel zerstreuen kann,

dann komme ich,

und schließe für immer Freundschaft.

Astrid Korten

ICH

Im Dunkel der Angst

Psychothriller

Wer bist du?

Ich streiche um dein Haus.

Ich beobachte dich.

Ich habe dich im Visier. Immer.

Und niemand weiß, wer ich bin.

Über das Buch

ICH weiß, wie die Hölle aussieht.

ICH bin eine Überlebende.

ICH habe beschlossen, dir und anderen dieselbe Erfahrung zukommen zu lassen …

Willkommen im Dunkel der Angst.

Nach dem Selbstmord der Schülerin Greta wollen die ehemalige Lehrerin Pia und ihre Schwester Hannah, Ehefrau und Mutter, in Warnberg neu beginnen. Die Geschwister tragen beide eine schwere Schuld auf ihren Schultern. Doch die Vergangenheit holt sie unerbittlich ein. Eines Tages erhalten sie eine Nachricht: Willkommen im Dunkel der Angst.

Bald kehren nicht nur Winterstürme, Nebel und Misstrauen, ins idyllische Warnberg ein, sondern auch das Grauen, das die Geschwister immer stärker bedroht, bis sie um ihr Leben fürchten müssen.

Bildgewaltiger, raffinierter und nervenzerreißender Psychothriller um Mobbing und großer Schuld, mit großer Intensität erzählt. (Westdeutsche Allgemeine Zeitung)

Aus Gretas Tagebuch

Du warst schon immer da,

ich kannte Dich,

aber ich war vorsichtig,

und Du hast Dich abgewendet,

nur zum Schein.

Es ist ein altes Thema,

aber neu für mich.

Ich habe Dich nie als Freund betrachtet,

mit Freunden redet und lacht man,

mit Freunden teilt man alles,

was zu teilen fällt.

Aber seit Kurzem möchte ich Dich sehen,

ich möchte mit dir reden,

sehne mich nach Dir.

Du lädst mich ein.

Und wohin das führen wird,

weißt auch Du.

Ich will mit Dir tanzen,

wenn ich meine Furcht überwinde,

meinen Zweifel zerstreuen kann,

dann komme ich,

und schließe für immer Freundschaft.

Prolog

Hannah - März 2019

Ich hatte das schon einmal gemacht. Ich konnte das.

David strich mir über den unteren Rücken, Pia hielt meine Hand, Moritz machte mit dem iPhone Videoclips.

Sie alle waren so verdammt ruhelos in diesem Zimmer.

Und es war zu heiß.

Moritz zoomte mich heran.

Ich riss ein.

Niemand in diesem Zimmer unternahm etwas.

Ich wollte ihre Gesichter zerschlagen, sie bis zur Unkenntlichkeit zerschmettern.

Ich hasste sie alle!

Meine geröteten Augen schossen kometenhaft nach innen, mein Unterleib zog sich krampfartig zusammen.

Hecheln!

Wo blieb diese gottverdammte Betäubungsspritze?

„Du machst das sehr gut“, sagte David und tätschelte meinen Arm.

Pia sah Moritz erfreut an und drückte mir zuversichtlich die Hand.

Hätte ich noch einen Funken Kontrolle über den Arm, hätte ich Moritz das iPhone aus den Händen geschlagen.

Es war mir auch völlig klar, dass meine Schwester nicht einfach so da stand, mit diesem glückseligen Lächeln im Gesicht, dieser Geburt so viel Aufmerksamkeit schenkte und nebenbei auch noch alles andere im Auge behielt.

Meine Schwester …

Diese fade, hormongeschädigte Schullehrerin in ihrer Fitnesskluft. Sie hatte keine Ahnung, was ich in Wahrheit von ihr hielt. Warum ließ mich diese verfilzte Jungfer diesen Schmerz durchleben? Ich könnte ihr mit dem Skalpell die Kehle durchtrennen. Ein Moment der Unachtsamkeit und dann …?

Ich hätte Pia damals erledigen sollen, als wir noch Kinder waren. Niemand bezweifelte, dass meine kleine Schwester, die früher mal als eitel und nicht allzu klug galt, ihr Haar in der Wanne föhnen wollte, woraufhin ihr der Haartrockner aus der Hand glitt, direkt in den duftenden Schaum … hätte ich ihn nicht aufgefangen. Die meisten Unfälle passierten im Haus, das wusste jeder.

Ich hatte keine andere Wahl, als sie auszuhalten. Ich fand nur, dass ich es schon viel zu lang getan hatte.

Erst das Baby und dann würde ich weitersehen.

Eine Wehe brachte wieder Ordnung in mein abscheuliches Gedankenchaos.

Oh, mein Gott, ich hielt diese Schmerzen nicht mehr aus, war gefangen in einem Körper, der von innen auseinandergerissen wurde – ein Szenario, das meine Mutter stets das Schönste, was einer Frau passieren kann, nannte.

Warum bekam ich keine Epiduralanästhesie?

Verdammt, Pia! Ich habe dir als Kind das Leben gerettet!

„Noch einmal kräftig pressen! Komm schon, Hannah, du kannst das!“, sagte die Hebamme.

„Ich kann nicht mehr“, wimmerte ich mit einer Stimme, die mir fremd war. Warum erlöste David mich nicht von dieser Qual? Oder diese beschissene Hebamme, die kein Erbarmen mit mir hatte. Warum gab sie mir keine Betäubung?

„Sehr gut, mein Schatz“, sagte David.

„Pfff, pfff, pfff.“ Seltsame Laute aus dem Mund meiner Schwester. In diesem Moment hasste ich Pia.

Sterne tanzten vor meinen Augen.

„Pressen! Noch einmal pressen!“, rief die Hebamme.

Zorn loderte in mir, der Drache spuckte das Feuer des Hasses auf die Personen in diesem Raum.

David lief zu Höchstform auf. „Du machst das fantastisch, Schatz.“

Ich wollte, dass sein Mund keine Worte mehr preisgab.

Meine Hände umklammerten etwas oder jemanden, es war mir egal.

Ich wollte nur, dass es aufhörte …

TEIL 1

Denn ich fürchtete einen Schrecken, und er traf mich,

und wovor mir bangte, das kam über mich.

Ich hatte nicht Rast noch Ruh, noch Frieden – da kam eine Peinigung.

Das Buch Hiob, 3:25/26

Dezember 2017

Kapitel 1

ICH

Das eigene Kind zu Grabe zu tragen, ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann.

Halt! Das stimmt nicht, es trotzt jeder Zuversicht, jedem Vertrauen, es bringt etwas in dir zum Stillstand, tötet etwas in dir, das nie wieder zum Leben erwachen kann. Aber es bringt auch neue Gefühle hervor: Hass, Wut, Angst, Rache.

Ich bin auf dem Waldfriedhof Pullach, wo zwanzig Meter von mir entfernt Trauernde dicht beieinander um ein offenes Grab stehen. So viele sind gekommen, viel mehr als die Eltern erwartet hatten. Vorher haben sie das Mädchen in der Kapelle aufgebahrt. Ich habe es vermieden, Mias Sarg anzusehen, als die Trauergäste in die kühle Kapelle einzogen. Ebenso bin ich den Eltern ausgewichen, die von Blumen und Trauerenden umgeben im vorderen Teil des Raumes stehen. Sie wollten gewiss in aller Stille vor der Beerdigung Abschied von ihrem kleinen Engel nehmen, und Mia vor den Blicken der anderen beschützen. Aber leider verlangen Mitleid und Neugierde beim Tod eines Kindes stets ihren Tribut.

Alle haben Mia gesehen, sich von der Vierjährigen verabschiedet. „Sie hat so friedlich ausgesehen“, haben sie geflüstert.

Friedlich bedeutet tot. Friedlich, aber tot! Der Tod ist aber nicht friedlich, er ist grausam, wie auch Gott es sein kann.

Ein kleiner Trost, wird ein Freund der Familie sagen.

Ich verabscheue diese Worte. Bla, bla, bla. Es gibt keinen Trost. Ein Freund sollte das wissen.

Mias Mutter ist um Jahre gealtert. Sie steht dicht neben ihrem Mann unmittelbar vor dem Grab.

Er sollte sie in die Arme nehmen, sie stützen und ihr Trost spenden, denke ich. Aber er kann es vielleicht nicht.

Die weiße Kiste ist so klein. Es spielt keine Rolle, das Kind wird nicht mehr wachsen. Es bleibt für immer ein kleines Mädchen von vier Jahren. Ich vermute, Mias Mutter weiß nicht, wie sie zu dem frisch ausgehobenen Grab gelangt ist. Die Trauerfeier ist größtenteils an ihr vorübergegangen. Sie hat kaum etwas von ihr mitbekommen. Immer wieder spürt sie ihren Verlust mit seinem immensen Schmerz. Ich weiß nur allzugut über diese Dinge Bescheid.

Mias Vater hält eine weiße Rose in der Hand. Neben dem offenen Grab liegt ein kleiner Haufen Erde, darin steckt eine Schaufel. Jemand stellt einen Korb mit Rosen dazu.

Mias Mutter nimmt eine Blume und bemerkt, dass sie bereits eine in ihrer Hand hält. Zu viele Menschen versammeln sich um das Grab des Mädchens, um ihm adieu zu sagen. Sie bringen kein Verständnis dafür auf, dass das Zu-Grabe-Tragen eines Kindes eine sehr intime Angelegenheit ist.

Ich blicke zum Himmel. Wolken greifen ineinander, verflechten sich, streben wieder auseinander und wechseln ständig ihre Farbe – von Schwarz zu Purpur, dann gefedert, dann wieder schwarz. Allmählich überqueren sie den Friedhof, und ich sehe, dass sie ein feines Regennetz unter sich ausbreiten. Sie sind nicht mehr weit von dir und mir entfernt. Es ist seltsam, aber mit dem Tod eines Kindes gerät die Luft stets in Bewegung, zuerst nur stoßweise, sodass die Mäntel und Jacken der Trauergäste sich abwechselnd blähen und dann wieder schlaff herabhängen wie in diesem Moment. Es muss wohl daran liegen, dass dies ein Tag der Dunkelheit ist, ein Tag, an dem ein Kind begraben wird, ein Tag, an dem die Schatten länger werden, ein Tag, an dem das Licht verzweifelt gegen die aufkommende Finsternis kämpft, für mich ein Tag, an dem ich vor einem Jahr das Gute gegen das Böse ausgetauscht habe.

Ich merke, dass Mias Mutter allein sein will mit ihrem Kind. Sie wirft einen raschen, überstürzten Blick auf das Gesicht ihres Mannes, als der kleine weiße Sarg per Knopfdruck mechanisch in das Grab hinunterfährt. Sie wirft eine Rose in die Tiefe, dann einen Teddy. Kurz darauf bedeckt eine Handvoll Erde Sarg und Bär, der vielleicht einmal das Lieblingsschmusetier des Kindes gewesen war. Der Silberschleier hat den Friedhof zu drei viertel überquert. Er gleicht jetzt einer riesigen, herumwabernden, bleifarbenen Decke. Der Vater umfasst sanft den Arm der Mutter.

Einige Trauergäste lassen Kuscheltiere auf den weißen Sarg fallen, dann beugen sie sich vor und greifen die feuchte Erde, mit bloßen Händen, statt mit der Schaufel. Eine schöne Geste. Dumpfe Schläge stören die Ruhe des kleinen Mädchens dort unten wie die Geräusche des aufkommenden Sturms.

Plopp – plopp – plopp …

Niemand, der dies je gehört hat, wird es wieder vergessen.

Ein frischer Wind setzt jetzt ein, der den Schweiß auf meinem Körper trocknet und mich gleich darauf leicht frösteln lässt. Im nächsten Moment sehe ich den Silberschleier über den Friedhof wirbeln. Er verhüllt die Grabsteine in Sekundenschnelle und kommt direkt auf die Trauernden zu. Der Nebel, der urplötzlich beinahe über die Erde schwebt, ist wie ein Schleier der Trauer, eine Decke aus Tränen.

Aber die Mutter kann nicht weinen. Ihr Schmerz ist so viel größer als jede Trauer, erstickt jede Träne im Keim. Da ist nichts, nur Leere. Wenn sie jetzt stürzt, wird die Erde auch sie in ein gähnendes schwarzes Loch ziehen – wie ihr Kind. Die Menschen werden hinuntersehen und begreifen, dass da unten von der Mutter nichts mehr übrig ist. Keine Haut. Keine Organe. Kein Skelett, nicht mal ein winziger Knochen. Nichts. Das Knirschen des Kieses kündigt das Ende der Beerdigung an. Die Menschen lassen sie endlich allein.

„Ich kann sie nicht mehr sehen“, sagt die Mutter mit erstickter Stimme. „Der Nebel muss verschwinden. Bitte, vertreibe den Nebel.“ Die letzten Worte hallen über die Grabsteine und verweilen dort stumm.

Ich lasse meinen Blick über die Menschen schweifen, die sich abseits von dem offenen Grab versammelt hatten. Mitten unter ihnen erkenne ich plötzlich eine Frau mit versteinerter Miene, deren Körper bei jedem Wort des Pfarrers zusammenzuckt.

Ich fahre erschrocken zusammen, bin wie hypnotisiert, kann mich von dem Anblick nicht losreißen. Ich schließe kurz die Augen und habe eine schreckliche Vision. Ein greller Blitz zuckt auf und erlöst mich von dem Schrecken.

Hannah Franke! Wie kann sie es wagen, Mias Beerdigung mit ihrer Anwesenheit zu beschmutzen? Neben Hannah steht Pia, ihre Schwester, die jetzt auf das Grab zugeht und Stiefmütterchen hineinwirft. Auch so ein Früchtchen.

Hannah presst von Kummer überwältigt die Hände vors Gesicht. Ich verachtete sie für ihre Unbeherrschtheit und dafür, dass sie damit Aufmerksamkeit auf sich zieht, die sie nicht verdient.

Als die Geschwister sich entfernen, blicke ich in Hannahs Gesicht. Ein flüchtiges Lächeln umspielt ihre Lippen. So eine Heuchlerin.

Dann kommt der Moment, an dem alles zu Ende ist. Schwarze Krähen kreisen über dem Grab. „Genug getrauert“, kreischen sie. „Geht nach Hause!“

Ich bin nicht zufällig hier. Ich stehe hinter einer Hecke an einem anderen Grab. Hier gibt es keine frische, feuchte Erde, kein offenes gähnendes Loch. Hier liegt die Trauer tief unten begraben, aber nicht so tief, dass sie nicht mehr spürbar ist.

Die Leute behaupten gelegentlich, dass der Schmerz sich abnutzt. Aber wer das sagt, hat kein Kind geboren und es zu Grabe getragen, ein Kind, das nicht hätte sterben müssen. Wie meine Tochter Greta. Jeden Tag höre ich ihre sanfte Stimme.

Ich will nicht in den weißen Sarg.

Ich will nicht unter die Erde.

Mir ist kalt.

Hier ist es unheimlich und dunkel.

Mami, kannst du mich bitte von hier fortbringen?

Niemand hat mir gesagt, wo ihre Seele hingeflogen ist.

„Greta ist tot.“

Drei Worte hatten meine Welt vor fast zwei Jahren einstürzen lassen. Drei Worte, die der ermittelnde Beamte zu mir sagte, nachdem Jonas und ich ihn und seinen Kollegen ins Haus gebeten hatten. „Es tut uns sehr leid, wir haben ihre Tochter gefunden. Greta ist tot.“

Ich hätte besser auf sie achtgeben, sie besser beschützen müssen.

Meine Wut auf die Schuldigen ist unerträglich. Ich kann sie nicht mehr ignorieren. Sie ist zu einem Berg herangewachsen, bis zu den dunklen Wolken, die im Moment über die Grabstätten hinwegziehen und sich weigern, den Friedhof mit ihren Tränen zu überschütten.

Plötzlich dreht Hannah sich um und blickt in meine Richtung. Ihrer Schwester Pia würdigt sie keines Blicks. Hannah kann mich hinter der Hecke nicht sehen. Ich vermute, dass sie sich völlig ungeschützt fühlt, dass immer stärker die Angst in ihr hochkriecht, weil sie das Gefühl hat, dass sie beobachtet wird.

Soll sie sich doch in die Hosen machen.

Als Hannah durch das Friedhofsportal geht, dreht sich noch einmal um und sieht in meine Richtung.

In der Ferne höre ich ein gewaltiges Krachen. Dann tritt Stille ein.

Mein Liebling. Wenn mich jetzt irgendeine Form der Bewusstlosigkeit ereilen könnte, ich wäre vollendet, vollkommen.

Ich stecke das Unkraut in eine schwarze Plastiktüte und durchziehe die blauen Bodendecker ordentlich mit Erde. Meine Tochter liebte die Farbe blau.

Ich weiß, wie die Hölle aussieht.

Ich bin eine Überlebende.

Ich bin die Mutter eines Kindes, das zu Tode gequält wurde.

Ich werde anderen dieselbe Erfahrung zukommen lassen. Wenn ich mit den Schuldigen fertig, bin, werden alle wissen, was sie meinem Kind angetan haben.

Sie sollen stürzen wie Bäume im Sturm.

Sie sollen leiden im Dunkel der Angst.

Kapitel 2

ICH

Als ich in die Knie gehe und ein verlorenes braunes Blatt entferne, wirft die Sonne einen Lichtstrahl über die blauen Bodendecker. Ich schaue nach oben, sehe, dass sich der Nebel lichtet.

Mein Blick schweift über den weißen Stein, auf dem ihr Name steht: GRETA.

Während meiner Schwangerschaft habe ich den Namen in einem Zeitungsartikel entdeckt. Er bedeutet Perle, und genau das war mein Mädchen: eine Perle aus der Tiefe des Meeres, wunderschön und humorvoll, klar, ein Wunder. Meine kleine Greta war ein Wunder. Als ich von der Schwangerschaft erfuhr, wusste ich, dass mein Kind diesen Namen bekommen würde, sollte es ein Mädchen werden. Über den Namen für einen Jungen habe ich mir nie Gedanken gemacht.

Auf dem Grabstein sind Gretas Namen, ihr Geburtsdatum und ihr Todesdatum eingraviert. Keine Floskeln, dass sie geliebt oder wie sehr sie vermisst wird. Diejenigen, die ihr Alter von erst zwölf Jahren errechnen, werden solche Details nicht brauchen, und diejenigen, die sie brauchen, sollten sich dem Grab besser nicht nähern.

Die Sonne wird stärker. In der Ferne nähert sich eine Trauerprozession. Ich erkenne einen großen Sarg, der auf sechs Schultern ruht. Heute wird kein Kind beerdigt. Die Prozession biegt in einen Seitenweg und verschwindet aus meinem Blickfeld. Irgendwo bellt ein Hund.

Ob es gut wäre, wieder einen Hund zu haben?

Der Nebel ist verschwunden, und ich kann jetzt das Grab des Kindes sehen, das seit gestern hier liegt. War es eine Totgeburt oder schon ein paar Tage alt gewesen? Zwischen den Blumen ist eine blaue Schleife. Ein Junge also.

Ich habe Greta zwölf Jahre lang gekannt. Ich kannte ihr Lachen, jede ihrer Bewegungen, wusste, wie ihre Stimme klang. Ich habe Videoclips von ihr, sodass ich mein Kind stets hören und sehen kann. Das ist mehr, als die Mutter des toten Jungen vermutlich je haben wird. Aber es ist nicht genug. Der Verlust schmerzt nicht nur, er berührt auch ständig meine Seele. Dennoch wird erwartet, dass ich die scharfen Kanten der Trauer verloren, und ebenfalls dem Verlust einen Ruheplatz gegeben habe.

Vor nicht allzu langer Zeit erzählte mir eine ehemalige Freundin, die ich zufällig im Shoppingcenter traf, dass ein normal denkender Mensch eine begrenzte Zeitspanne für Trauer hat. Ich habe mich schnell von ihr verabschiedet, weil ich ihr ansonsten einen gewaltigen Tritt gegen ihr Schienbein verpasst hätte.

In drei Wochen ist es zwei Jahre her, dass Greta nicht von der Schule nach Hause kam. Später stellte sich heraus, dass sie zum wiederholten Mal, wie auch an diesem Tag, erst gar nicht dort erschienen war. Niemand hat mich angerufen, um zu fragen, wo Greta blieb. Niemand hat den Alarm ausgelöst.

In der Schule war jeder der Ansicht gewesen, dass ich vergessen hatte, Greta krank zu melden. Wenn auch das wenig überzeugt. Das ist für mich nur schwer zu verstehen, aber es ist auch schwer zu vereiteln.

Der erste Satz in Gretas Tagebuch lautet: Wenn ich nie wieder auftauchen würde, würde es niemand bemerken.

Ich schon, mein Mädchen, ich schon.

Nach fast zwei Jahren des Verzichts und des Aufstehens ist die Zeit gekommen, den Tod meines Kindes zu rächen. Natürlich möchte ich mich lieber an jene Leute wenden, die durch ihre Gleichgültigkeit, ihre Unachtsamkeit und vor allem durch ihr Desinteresse den Weg für Gretas verzweifelte Tat geebnet hatten. Aber das ist nicht möglich, ohne selbst zur Hauptverdächtigen zu werden. Als ich der Lehrerin begegnete, die Greta in ihrem Tagebuch so oft erwähnt hat, konnte ich meinen Hass fast schmecken. Ich kann meine Abneigung gegen diesen trägen, schmallippigen Tölpel immer noch nicht verbergen. Die Frau weicht meinem Blick aus, wenn wir uns im Ort begegnen.

Aber es gibt andere Leute in dieser Schule. Es ist mir egal, wer sie sind oder ob und welche Position sie dort bekleiden. Es geht um ihre Beziehung zu dieser Schule. Wenn unter diesen Leuten eine ist, oder zumindest eine da war, als mein Kind sich das Leben nahm, werde ich sie zu meiner Zielscheibe machen.

Ich befasse mich nicht mit Ursache und Folgen, frage mich nicht, ob mein Plan gut durchdacht ist. Meine Entscheidung steht fest, ich regle die Dinge auf meine Art und Weise. Das heißt insbesondere: allein. Ich muss mein Spiel intelligent spielen, im Verborgenen handeln, darf keinen Verdacht erregen. Ich will nicht das Risiko eingehen, nie wieder das Grab meines Kindes besuchen zu können, sobald der Nebel kommt und es nach mir ruft.

Kapitel 3

ICH

Die Bilder vom Friedhof haben mich die ganze Nacht über gequält. Aber es sind nicht nur die Bilder, sondern auch die Geräusche. Ich habe fortdauernd die Stimme der untröstlichen Mutter gehört, ihre Verzweiflung gespürt und ihren Zorn bis in die Fingerspitzen. Vielleicht bin ich deshalb in der Nacht mehrmals aufgestanden und habe den Vorhang ein wenig beiseitegeschoben und in den Nebel gestarrt, der einfach nicht weichen wollte.

Das Rauschen der Bäume ist verebbt. Das Dunkel ist dem Tageslicht gewichen, aber der Nebel ist immer noch da. Es hat den Anschein, als wäre mir diese aufdringliche, finstere graue Masse gefolgt. Sie umhüllt den Tag, nimmt mir die Sicht. Der Gedanke weckt meinen Unmut. Ich kann die Häuser der Nachbarn auf der anderen Straßenseite kaum sehen.

Es war auch neblig an jenem Tag, an dem Greta aufgefunden wurde. Ihr Leben war irgendwo in den dicken, nassen Schleiern und dem Schnee verschwunden. Sie wäre erst viel später entdeckt worden, hätte der Labrador der Nachbarn sie nicht gewittert. Und sie wäre früher entdeckt worden, wenn dieser Hund nicht ein paar Tage in einer Tierklinik verbracht hätte.

Sie wäre, sie wäre …

Ich muss damit aufhören.

Neun Uhr. In den Nachrichten ist von einer Gruppe radikalisierter junger Männer die Rede, die in München verhaftet wurden. Vermutlich konnte so ein terroristischer Anschlag verhindert werden; eine Protestaktion wird vorbereitet, weil die Menschen die Regierungspolitik der Bundesregierung ablehnen; im Norden des Landes hat sich ein Familiendrama abgespielt: Ein Mann tötete seine Ehefrau und deren Eltern und wurde zur Fahndung ausgeschrieben.

Der Nebel muss verschwinden!

Die Sichtweite beträgt höchstens fünf Meter, dennoch trete ich fest in die Pedale. Vielleicht kollidiere ich jeden Augenblick mit einem Fahrzeug, vielleicht fahre ich einen Fußgänger an, der einen Zebrastreifen überqueren will, vielleicht werde ich bei einer Kreuzung ausgebremst. Das alles spielt keine Rolle. Ich beschäftige mich schon lange nicht mehr mit Risiken oder den Gefahren. Nur mein Ziel ist wichtig, das will ich erreichen und das wird auch geschehen.

Ich habe Gretas Grab seit ein paar Monaten nicht mehr täglich besucht. Heute muss ich zu ihr. Mein Mädchen ruft nach mir. Der Grund dafür ist dieser Nebel. Greta will beruhigt werden, und ich bin die Einzige, die das kann und die das darf.

Der Tod hat uns nur physisch getrennt, in Gedanken bleibe ich mit Greta stets verbunden. Wir hatten bereits eine enge Bindung, als Greta in meinem Körper heranwuchs, und von dem Moment an, als die Hebamme das kleine Wesen auf meinem Bauch legte und Greta mich ansah, wusste ich, dass meine Tochter mich erkannte. Die Nabelschnur wurde durchtrennt.

„Sie haben ein wunderschönes Mädchen zur Welt gebracht“, sagte die Hebamme. Ich wollte ihr danken, aber kein Wort kam über meine Lippen, angesichts dessen, was ich in den Augen meines Kindes las. Da war mehr als das gegenseitige Staunen, mehr als unser beidseitiges Kennenlernen. Es war diese Gewissheit, dass nichts auf der Welt uns jemals auseinanderbringen würde. Ich war nie wieder von etwas anderem so überzeugt. Dennoch verpasste ich Gretas Kampf.

Das werde ich mir niemals verzeihen.

Ich habe die Geschwister seit geraumer Zeit im Visier, um meiner Wut ein Ventil zu geben. Sie ahnen nichts von meinen Plänen. Es gibt einen besonderen Grund, warum ich sie als Opfer gewählt habe, diese beiden, Hannah Franke und Pia Bachmann.

DREI MONATE SPÄTER

FEBRUAR 2018

Kapitel 4

ICH

Heute bin ich Hannah Bachmann zum ersten Mal im Fitnessclub begegnet.

Wenn ich sie so auf dem Laufband betrachte, sehe ich ihr nicht an, dass sie bereits eine zweifache Mutter ist. Sie wirkt noch so jung, so unschuldig. Es liegt vor allem daran, wie sie einen mit ihren schönen Augen so unschuldig ansieht. Arglos, wie ein Kind mit einem grundsoliden Vertrauen in das Gute.

Ich stelle mir gerne vor, dass sie diese Überzeugung aus den Märchen erhalten hat, die ihre Eltern ihr vorgelesen haben. Jahr für Jahr, jeden Abend vor dem Schlafengehen. Eine hohe Stimme für Rotkäppchen, eine tiefe Stimme für den Wolf. Nicht herumirren, sondern brav auf dem Pfad der Tugend bleiben! Und am Ende wird alles gut. Immer.

Die Einflüsterung, woran du in deiner Jugend fast erstickst, bleibt. Ewig.

Hannah wuchs in einem sicheren, klaren Umfeld auf und hat bis vor einigen Monaten keine Grenzen überschritten. Das Bedürfnis hatte sie nicht – sie ist so eine Frau, man sieht es an allem.

Sie hat einen schönen Körper, unter diesem Hemd. Die Sporthose strafft sich eng um ihr Gesäß. Etwas zu eng, vielleicht, über dem Bund ein kleiner Rand aus Bauchfett. Die meisten Männer würden sie ein wenig mollig nennen, aber für mich ist nichts falsch an dem Fleisch auf ihren Oberschenkeln, dass sie versucht, krampfhaft abzutrainieren.

Sie schenkt jedem, mit dem sie Augenkontakt hat, ein breites Lächeln. Dabei wischt sie sich ihr blondes Haar aus dem Gesicht und hebt ihre Schultern ein wenig an. Doch manchmal fällt sie in sich zusammen. Macht sich klein - unterwürfig.

Sie lächelt mich an. Sie ist neu in der Stadt, in unserem Viertel, und braucht Freunde.

Ich halte das Laufband an, stehe still, bin fasziniert von den Schweißtropfen, die auf ihrer Oberlippe glitzern. Ihre vollen Lippen sind ständig in Bewegung. Während sie mit mir spricht, sehe ich ihre Zunge hin und her blitzen. Sie hält eine Wasserflasche an ihren Mund und wirft den Kopf nach hinten. Ihr Hals ist freigelegt, ihre Speiseröhre zieht sich rhythmisch zusammen. Sie trinkt gierig. Glitzernde Wassertropfen gleiten entlang des Mundwinkels zu ihrem Hals und erlöschen auf der erhitzten Haut zwischen ihren Brüsten. Es kommt mir vor, als ob sie mir ihren Hals anbietet, wie eine Beute, die sich ergibt – dann wischt sie sich den Mund mit dem Handrücken ab.

Meine Wut drängt sich bis in die Zehenspitzen. Sie lässt sich kaum noch unterdrücken.

Ich schaue mich um. Niemand bemerkt uns.

„Puh“, keucht Hannah. Mit dem Daumen verschließt sie die Flasche. „Training abgeschlossen?“

Ich nicke.

Ihre Naivität grenzt an Rücksichtslosigkeit. Für Hannah bin ich nur eine Person, die freundlich zu ihr ist. Auch jetzt, da ich meine Augen offen über ihren Körper schweifen lasse, bleibt sie freundlich.

Sie reicht mir die Hand. „Ich bin Hannah. Hannah Bachmann“, sagt sie.

Ich weiß, Hannah. Ich hasse ihren Namen. „Ein schöner Name.“

„Danke.“ Wieder dieses Lächeln.

Sie hat eine schöne Stimme. Ein wenig heiser.

Ich frage mich, wie sie klingt, wenn Hannah sich die Seele aus dem Leib geschrien hat und apathisch vor mir auf dem Boden liegt. Wenn ich ihr Fleisch vor mir aufklaffen sehe und das Bewusstsein für die Schrecken, die auf sie warten, auf ihrem tränenreichen Gesicht zu erkennen sind.

Ich werde bald wissen, wie das ist.

Schon bald.

Kapitel 5

Hannah

Mein Kopf fühlte sich an, wie mit Watte gefüllt. Hinter den Lidern wirbelten seltsame Traumbilder.

Ein weißer, unscheinbarer Nebel zog sich wie aus dem nichts über den Friedhof. Vor dem Grab glaubte ich fast, den Atem des Mädchens zu hören. Mein Herz pochte wild. Tote Augen starrten mich aus der Dunkelheit an. Das Kind lächelte und winkte mir zu. Seine Lippen bewegten sich, sagten „Komm, Hannah, leg dich zu mir.“

Die Worte flogen davon, während der Wind mit seinem blonden Haar spielte, mit dem leichten Stoff seines Kleidchens.

Plötzlich verschwand das Grab im Nebel und ein Schrei durchbrach die Stille der Nacht. Ein klapperndes Geräusch übertönte ein dumpfes Wimmern.

Wieder ein Schrei. Im Halbdunkel sah ich Mias aufgerissene Augen, meine Hände lagen auf ihrer Brust.

„Nein!“ Eine fremde Stimme. Immer und immer wieder rief sie Mias Namen.

„Lass das Kind endlich los“, schrie eine Frau, das bleiche Gesicht zum Himmel erhoben. Sie stieß mich weg und zeigte auf das Kind. „Mia ist tot!“

Wieder auf dem Friedhof blickte ich in dunkle Augen, dann blendete mich ein Licht. Der Himmel stürzte ein.

Ich wimmerte im Traum, im Dunkel der Angst.

Und wachte auf, saß kerzengerade in meinem Bett.

Angstschweiß.

Der Raum, er war mir fremd, ich erkannte seine Umrisse nicht. Die stahlblauen Vorhänge. Die Tür an der falschen Seite des Zimmers. Der Wecker stand nicht an seinem festen Platz. Die Uhrzeit: 3:33 Uhr.

Wieder 3:33 Uhr.

Immerfort 3:33 Uhr.

Eine Dreizinkenuhrzeit, die ihre Krallen in die Nacht pfählte. Ein fahler Mond zeigte sich am Himmel und schickte sein eisiges Licht durch die Wolkenschleier in mein Schlafzimmer. In der Luft schwebten unzählige Wassertröpfchen und reflektierten das Licht.

Ich schloss meine Augen und hörte ihre Stimme. Sie hob und senkte sich in einer Satanslitanei, manchmal erklang lachen, manchmal schluchzen. Alles strebte dem Höhepunkt zu, den ich noch nicht kannte. Ich wagte nicht, zu schlafen, aus Angst vor den Träumen, die wiederkommen würden. Die Nacht war wieder voll gräulicher Geräusche. Es schien, als ob Mia mich rief.

Meine Lippen waren zu einem stillen Schrei geöffnet. Mein Herz pochte wild unter dem Brustkorb. Ein Schaudern schoss durch meine Adern wie ein Düsenjäger, der die Schallmauer durchbrach. Peng!

Rosafarbene Ringelsöckchen.

Nicht daran denken. Nicht an Hello-Kitty-Söckchen denken!

Die Erinnerung kehrte zurück. Dies war mein neues Schlafzimmer.

Ich bin zu Hause, einfach nur zu Hause.

Neben mir kam David schlaftrunken hoch.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht aufwecken“, sagte ich leise.

Mein Nachthemd klebte am Rücken, mein Mund war trocken und schmeckte nach Eisen. Ich hatte mir in die Wange gebissen. Rasch nahm ich einen Schluck Wasser aus dem Glas, das stets auf dem Nachttisch stand, ein Blisterstreifen Schlaftabletten lag unberührt daneben, wie einst zu Hause – einst bedeutete in meinem ehemaligen, vertrauten Haus.

„Oh, okay, okay.“ David strich mir mit einer Mischung aus Ärger und Mitleid über den Rücken. Ich kannte den Grund: die nicht eingenommenen Schlaftabletten.

„Versuch bitte, wieder einzuschlafen, Hannah. Es war nur ein Albtraum“, sagte er.

Ich nickte, sank wieder in die Kissen. Sicher … Es war ein Albtraum, der die Erinnerungen an den verheerenden Vormittag wachrief …

30. November 2017

Ich trat auf die Bremse, die mir nicht gehorchen wollte. Meine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Wagen drehte sich in einem Meer aus Eis und Schnee, drehte sich schneller und schneller. Meine Atmung versagte. Überall wirbelte der Schnee.

Ich wusste sofort, dass ich mit meinem Auto etwas erfasst hatte.

Nein … Das kann nicht sein … Es darf nicht sein.

Ich wollte nicht glauben, was mein Verstand längst begriffen hatte und erstarrte. Das Blut in meinen Adern wurde zu Eis. Der Verstand eilte meinem davonsausenden Körper in Zeitlupe hinterher. Ich sah meine Hände am Lenkrad, hörte das Geräusch der Bremsen und einen Schrei. Mein Schrei. Ich spürte die Hitze der Klimaanlage, das Gleiten des Wagens auf spiegelglatter Fahrbahn. Die Welt drehte sich in dem weißen wirbelnden Schnee, dort, wo er sich rot färbte.

Eine unsichtbare Hülle aus Eis umschloss meine Seele und machte mich unantastbar, ich war nur eine Zuschauerin, die nach Belieben eingreifen konnte, die auf den Fahrersitz fassungslos zusah – unter der eisigen Hülle des Bewusstseins, an die Zeit gekettet.

Plötzlich blieb der Wagen stehen.

Ich tauchte auf, sah Menschen auf mich zukommen. Ich musste – ja, was musste ich nur tun?

Aussteigen, das Kind retten, die Zeit zurückdrehen, alles rückgängig machen, was du angerichtet hast … – nur nicht nachdenken, dachte ich.

Mit Füßen, die nicht mir gehörten, lief ich über die Straße. Schritt für Schritt kam ich einer Frau näher, die hysterisch „Nein“ schrie. Neben ihr lag ein kleines Mädchen auf dem Rücken im Schnee, die Arme in einem seltsamen Winkel von sich gestreckt. Zöpfe, Haarspangen, flauschige Ohrenschützer.

Ich kniete nieder, legte meine Hände auf den kleinen Brustkorb des Kindes.

Herzmassage. Hundertmal pro Minute. Eins, zwei, drei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.

„Sechzehn, siebzehn, achtzehn …“

Neunundneunzig, einhundert.

Mund-zu-Mund-Beatmung. Eins, zwei, drei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.

Warum half mir niemand?

Ich blickte auf den Boden, dann hoch auf die Tausenden Schneeflocken, die vom Himmel rieselten. Aus dieser Perspektive waren sie graubraun. Dunkel und bedrohlich, schmutzig, unfreundlich. Unten angekommen, bildeten sie indes eine weiße Decke, die sich über den kleinen Körper des Mädchens legte.

Ein Schuh lag am Straßenrand. Ich blickte auf die kleinen Füße. Das Mädchen trug rosafarbene Ringelsöckchen. Hello-Kitty-Söckchen. Sie saugten die Feuchtigkeit auf und färbten sich langsam rosa-violett.

„Hören Sie endlich auf!“, schrie jemand. „Mia ist tot!“

Ich blickte in das Gesicht des Mädchens. Seine Hautfarbe wurde zu Schnee. Und mein Herz zu Eis.

Muster bildeten sich und verschwanden wieder, so monoton, dass ich irgendwann das Denken einstellte. Ich befand mich in eine Art Dämmerzustand, als könnte ich darin alles vergessen. Der Krankenwagen kam. Schmerz hämmerte hinter meinen Schläfen. Ich riss mich von meinen Gedanken los. Sanitäter legten das Kind auf eine Trage, hoben es hoch. Schlossen die Türen.

Jemand legte mir eine Decke um die Schultern. „Wie geht es Ihnen? Verstehen Sie mich? Wissen Sie, wo Sie sind? Können Sie mir Ihren Namen nennen?“

Ich saß auf dem Bürgersteig. Meine Seele lag unter dem Eis. Die Schneeflocken, die früher rein und klar waren, vom schönsten, jungfräulichsten Weiß, wirbelten in diesem Moment als dunkle Punkte bedrohlich vom Himmel.

Tränen liefen mir über die Wangen. Ich weinte mit dem Himmel, mit dem Schnee, während in meinem Kopf die Beobachterin nur zusah und sich benahm, als wäre sie das Opfer. Sie, anstelle des kleinen Mädchens, dessen Schuh noch am Straßenrand lag. Die Rettungssanitäter hatten ihn vergessen. Ich musste sie darauf hinweisen. Das Mädchen konnte doch nicht mit nur einem Schuh …

„Hallo? Hören Sie mich?“, rief ich und blickte einen der Sanitäter an. „Das Mädchen … Sie wird doch wieder …?“ Meine Stimme klang fremd. Im beiden Ohren war ein ständiges Pfeifen. „Im Krankenhaus wird ihr doch geholfen? Dort haben Sie Geräte und Ärzte und können sie operieren …?“

Seine Mitternachtsaugen funkelten.

Dann nur noch Schwärze.

Ich hatte vor drei Monaten, außer einem schweren Schock, keine Verletzungen davongetragen. Dennoch hatte ich eine Woche später dem Leben den Rücken gekehrt und aufgehört in der Realität zu leben. Hatte nichts mehr gegessen. Unter dem Eis war man nicht hungrig.

Ich hatte Mia getötet und sie tötete mich. In dieser Nacht vernahm ich bereits ihre seltsame Stimme, süß, samtweich, sahnig, als bat sie mich um ein Bonbon.

Ich bin jetzt dein einziges kleines Mädchen. Ihr Flüstern ließ mich erschaudern.

Schau, wie du aussiehst.

„Es ist doch erst vier Monate her“, antwortete ich immer wieder.

Weißt du denn, was genau passiert ist?

Ich schämte mich, war kleiner als je zuvor.

Es wird alles gut.

Die Stimme hatte gelogen.

Als die Kleidung um meinem Körper schlackerte und ich David von der Stimme erzählte, schickte er mich zu einem Psychiater. Dr. Lange – ein massiger Körper, Glatze, kugelrundes Gesicht, freundliche braune Augen – half mir. Eines Tages legte er seine Hand auf meine und die Eisblase bekam einen Riss. Da konnte ich endlich die Worte aussprechen: „Ich habe ein kleines Mädchen getötet.“

„Wie war der Name des Kindes, Hannah?“

„Mia. Ihr Name war Mia.“

Er lächelte. „Sehr gut, Hannah. Sie haben heute zum ersten Mal den Namen des Unfallopfers genannt.“

Unfallopfer?

„Aber woher nehme ich den Mut, weiterzuleben, Dr. Lange?“, fragte ich.

„Kleine Schritte“, hatte der Psychiater geantwortet. „Schon der kleinste Schritt ist ein Schritt nach vorn.“

Ich nickte.

Danach begann mein Körper wieder feinste Anpassungen vorzunehmen, glich jede Veränderung meines Geistes in Geschwindigkeit und Richtung aus, wenn Erinnerungen an den Tod des Mädchens wie Blitze aufzuckten. Und wenn sich mein Gehirn aus der frostiger Umklammerung von Schnee und Eis befreite, gab es jedes Mal das Gefühl einer süßen, verschwommenen Erlösung.

Einmal hatte ich David gefragt, ob er dieses Gefühl kannte,

ob er wusste, was ich meinte, aber er warf mir nur einen eigenartigen, besorgten Blick zu.

Nicht so Dr. Lange. Mein Psychiater hatte mich vollkommen verstanden und betonte auch immer, dass ich künftig behutsamer mit mir umgehen sollte.

---ENDE DER LESEPROBE---