Ich kann das Meer sehen - Koos Meinderts - E-Book

Ich kann das Meer sehen E-Book

Koos Meinderts

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Beschreibung

Jan ist laut und spontan, Kees ruhig und bedächtig. Und auch sonst könnten die beiden Freunde kaum unterschiedlicher sein. Zwischen ihnen steht Marijke, Jans Schwester, in die Kees verliebt ist. Jan ist wie besessen von einem hohen Schlot in der Gegend. Er fragt sich, ob man von dort oben das Meer sehen könne und ringt Kees einen Schwur ab, mit ihm hinaufzusteigen. Als es soweit ist, kneift Kees aus Angst. Er schämt sich, fühlt sich als Feigling, und beobachtet Jan, der lauthals singend den Schornstein hinaufklettert. Oben angekommen, beugt Jan sich zu Kees hinunter, ruft ihm etwas Unverständliches zu – und stürzt in die Tiefe. Kees rennt unter Schock nach Hause und verschweigt, dass er dabei war. Hätte er Jan retten können, wenn er mitgeklettert wäre? Hätte er Jan davon abhalten müssen zu klettern? Fragen, die ihn fortan sein Leben lang begleiten. Und selbst als ein Gespräch mit Marijke eine neue Perspektive aufwirft, bleibt die kurze Freundschaft mit Jan bestimmend für Kees' ganzes Leben.

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Seitenzahl: 155

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Koos Meinderts

geboren 1953 in Den Haag, schreibt Romane, Gedichte und Liedtexte – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene – und ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Er lebt in Utrecht.

Wir danken dem Nederlands letterenfonds dutch foundation for literature für die Förderung der Übersetzung.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „De zee zien“ bei Uitgeverij De Fontein, Utrecht 2016

ISBN 978-3-7026-5917-2eISBN 978-3-7026-5918-9

1. Auflage 2017

Einbandgestaltung: Leentje van Wirdum

© 2017 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Koos Meinderts

Ich kann das Meer sehen

Aus dem Niederländischen übersetztvon Monika Götze

In memoriamJan Batist

Inhalt

Prolog

1959

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

1997

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Epilog

Glossar

Prolog

Von unten sah ich zu, wie Jan singend den Schornstein hinaufkletterte. Oben angekommen, winkte er triumphierend. Er rief noch etwas, aber ich konnte nicht verstehen was – „Ich kann das Meer sehen“, hatte er das gerufen? –, dann stürzte er herunter und ich lief nach Hause: Es ist nichts passiert, es ist nichts passiert.

Mein Vater erzählte mir, was ich schon wusste, als Erster gewusst hatte – sogar noch vor Jans Eltern.

„Jan ist tot.“

„Was?!“, rief ich. „Was?!“

Ich spielte mein Überrascht-Sein so überzeugend, dass es nie mehr einen Weg zurück geben würde. Für den Rest meines Lebens würde ich nun so tun müssen, als hätte ich von nichts gewusst.

Und das ist mir eigentlich gar nicht so schwer gefallen. Zwar hatte ich Jans Sturz gesehen und wie er danach auf dem Boden gelegen hatte, aber etwas so Unwirkliches wird erst Wirklichkeit, wenn man es von einem anderen erzählt bekommt.

„Jan ist tot.“

„Was?! Was?!“

Er wurde sechzehn Jahre alt. Über seinen Tod wurde sogar in der Zeitung berichtet, eine kurze Meldung in den Lokalnachrichten: Junge bei Sturz vom Schornstein tödlich verunglückt. Ich habe den Artikel ausgeschnitten. Der Rettungsdienst hat den Leichnam des Verunglückten ins Haus der Eltern gebracht.

Das ist, was ich vor mir sehe: Jans Mutter auf dem Küchenstuhl, auf dem sie immer saß, wenn sie Kartoffeln schälte oder Bohnen fädelte.

„Hallo Frau Noordermeer.“

„Hallo Kees. Alles in Ordnung zu Hause?“

„Ja, alles prima.“

„Jan ist oben in seinem Zimmer. Geh ruhig hinauf zu ihm, Kees.“

So waren die Kartoffelschälgespräche immer verlaufen. Aber inzwischen haben sie sich verändert, jetzt wird nicht mehr gesprochen, jetzt sitzt Jans Mutter da, mit ihrem toten Kind auf dem Schoß, das den Kopf merkwürdig nach hinten verdreht hat. Sie weint nicht, oder vielleicht doch, aber dann lautlos. Sie schaut, wie nur eine Mutter schauen kann, die das Kind, das sie auf die Welt gebracht hat („Es ist ein Junge!“), in den Armen hält.

Nur sie und Jan sind da, sonst ist niemand in der Küche. Mutter und Kind. Und sie sitzen dort immer noch. Sie gehen nicht weg.

Nächste Woche werde ich siebzig und das muss gefeiert werden, finden die Kinder. Ich möchte sie nicht enttäuschen, sie bekommen ihr Fest, aber meine Geschichte, die behalte ich für mich.

1959

1

Jan kam mit einem Schlag in mein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war unten an der Wit-Brücke und angelte, da, wo der Kohlenpfad anfängt, der zur Gärtnerei von Piet van Vliet führt, wo ich mir mit Tomatenpflücken und Holzkisten einschlagen etwas Geld verdiente.

Kisten einschlagen ist nicht schwer. Sie werden aus dem Großmarkt, wo die Gemüseauktionen stattfinden, angeliefert und sind paarweise ineinandergesteckt. Ich ziehe sie auseinander und türme sie zu einem Stapel auf, ungefähr bis in Brusthöhe. Dann fängt die eigentliche Arbeit an. Schnell ergreife ich eine Kiste nach der anderen und lege ein Stück gewellte Pappe auf den Boden. Pro Holzkiste bekomme ich einen Cent.

„Hau ab! Das ist mein Platz.“

Auf der Brücke stand ein Junge, der mir irgendwie bekannt vorkam. Ich tat, als ob ich ihn nicht gehört hätte und starrte auf meinen Schwimmer. Ich angelte mit lebendem Köderfisch – die Barsche waren auf Futterjagd.

Mit weit aufgesperrten Mäulern sah ich sie auf der Jagd nach Beute durchs Wasser schießen, manchmal vier, fünf gleichzeitig, die bläulich grünen Fischleiber aggressiv gestreift wie Indianer auf Kriegspfad. Mit den knallroten Schwänzen schlugen sie aufs Wasser.

„Bist du taub?“, rief der Junge, als ich nicht reagierte.

Taub war ich nicht, aber es schien mir das Vernünftigste, mich taub zu stellen. Der Junge würde von selbst abhauen.

„Das ist mein Platz!“, rief der Junge erneut.

Mein Platz … Was sollte das denn heißen? Er hatte noch nicht einmal eine Angel bei sich.

Ich holte die Leine ein, kontrollierte, ob die kleine Plötze, die ich gerade erst am Angelhaken befestigt hatte, noch lebte, und warf die Leine wieder aus. Am liebsten hätte ich mit Grundeln auf Barsch geangelt, einem kleinen gefleckten Fisch, der auf dem Boden von Wassergräben lebt. Obwohl sie so klein sind, sind sie unschlagbar. Ich hatte mal mit einem einzigen Grundel drei Barsche gefangen.

Der Junge stieg vom Fahrrad und kam auf mich zu. Jetzt wurde es ungemütlich, er war einen Kopf größer als ich. Woher kannte ich ihn nur? Da fiel es mir wieder ein: War das nicht der Junge aus dem Laetitia-Saal, dem Nebenraum der Kirche, der als Gemeindesaal genutzt wurde?

Alle vierzehn Tage organisierte dort das Kinder-Komitee am Wochenende einen Filmabend. Welcher Film gezeigt wurde, wurde nicht angegeben, aber meistens waren es Western oder Filme, in denen ein Hund die Hauptrolle spielte: Lassie oder Rin Tin Tin zum Beispiel. Das letzte Mal wurde ein Dick und Doof-Film gezeigt, meine Lieblingsserie. Deswegen war ich auch stinksauer, als der Film plötzlich riss.

Die Lichter gingen an, ich drehte mich zu dem Mann um, der den Projektor bediente, und sah, wie sich ein Junge in der letzten Reihe auf den Stuhl stellte. War das etwa der gleiche Junge, der jetzt behauptete, ich würde an seinem Platz angeln?

„Ich will mein Geld zurück“, hatte er lauthals durch den Raum gerufen. Er wurde sofort bei den Armen gepackt und nach draußen gebracht. Ich erinnere mich noch, dass ich ihn beneidete, weil er sich das getraut hatte. Ich könnte das nicht. Genauso wenig wie ich mich in die letzte Reihe trauen würde, wo die Jungen und Mädchen saßen, die nicht wegen des Films hier waren, sondern wegen einander.

Der Junge stand nun direkt vor mir. Jetzt war ich mir sicher, er war es!

Paff!

Er traf mich mitten im Gesicht. Ich ließ die Angel fallen und griff mir an die Nase, die nach dem Schlag sofort zu bluten anfing.

Im gleichen Augenblick wurde mein Schwimmer unter Wasser gezogen. Angebissen, es hatte ein Fisch angebissen! Und es schien kein kleiner zu sein! Ich bückte mich, um die Angel aufzuheben. Der Junge, der ebenfalls gesehen hatte, dass einer angebissen hatte, tat das Gleiche, sodass unsere Köpfe zusammenknallten. Das muss wie eine Szene aus Dick und Doof ausgesehen haben.

Wir hielten beide die Angel fest. Der Barsch, den ich meinte, am Haken zu haben, schien ein Hecht zu sein. Es dauerte bestimmt eine Viertelstunde, bevor wir ihn aus dem Wasser geholt hatten.

„Jan“, sagte der Junge. „Ich heiße Jan.“

Glossar auf Seite 136

2

In der Nacht hatte ich wieder Nasenbluten. Unten in der Küche sah ich im Spiegel über der Spüle, dass meine Nase geschwollen war. Außerdem hatte ich ein blaues Auge. Ich sah aus wie ein Boxer nach einem Kampf.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, machte ein paar Boxbewegungen und schnaufte dazu bei jedem Schlag, dann riss ich beide Arme triumphierend in die Höhe. Floyd Patterson, Weltmeister im Schwergewicht.

Schnell nahm ich die Arme wieder herunter, denn sie sahen bescheuert aus, meine dünnen Ärmchen: Typische Hungerwinter-Kinderarme.

Ich wusch mir das Blut aus dem Gesicht und ging wieder die Treppe zum Dachboden hinauf, wo meine vier Schwestern schliefen. Truus direkt neben der Treppe, Toos und Lies nebeneinander unter der Dachschräge und daneben Gerda.

Als ich die Tür zum Jungenschlafzimmer öffnete, hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Bist du das, Kees?“

„Ich habe unten etwas Wasser getrunken“, sagte ich. „Ich hatte Durst. Gute Nacht.“

Ich zog die Tür hinter mir zu und kroch unter meine Bettdecke, nachdem ich Bertje, der im Schlaf die Decke weggestrampelt hatte, zugedeckt hatte. Bertje lag neben dem Stockbett, das ich mir mit Rinus teilte. Ich schlief oben.

Nach den Sommerferien würde ich in die Abschlussklasse der Heiligen Familie gehen, unsere Hauptschule in der Stadt, und dann auch ein eigenes Zimmer bekommen – das Zimmer, das im Moment noch das Schlafzimmer meiner Eltern war. Sie würden nach unten ins Vorzimmer ziehen, das durch Bleiglas-Schiebetüren vom Wohnzimmer abgetrennt wurde.

Am nächsten Morgen wollte meine Mutter, dass ich zum Hausarzt ginge, um meine Nase untersuchen zu lassen.

„Muss das sein?“, fragte ich.

„Dein Kopfkissenbezug war voller Blut.“

„Na und?“

„Soll ich mitkommen?“

„Mama, ich bin fünfzehn!“

„Dann stell dich nicht so an.“

Bevor ich zum Arzt ging, ging ich erst noch in den Schuppen, um nach dem Hecht zu sehen. Ich hatte ihn gestern mit nach Hause genommen und in eine Zinkwanne getan, die ich mit Wasser und Entengrütze aus dem Wassergraben gefüllt hatte. Zuerst hatte der Hecht auf der Seite gelegen, als ob er in den letzten Zügen wäre. Und als ich schon dachte, er sei tot, drehte er sich auf einmal um, schwamm kraftvoll ein paar Runden und schien seine Gefangenschaft akzeptiert zu haben. Um zu verhindern, dass er aus der Wanne heraussprang, hatte ich ein Stück Maschendraht darübergelegt.

Bertje, der den „Echt“, wie er den Hecht nannte, auch sehen wollte, war mit mir gekommen. Als ich den Maschendraht von der Wanne genommen hatte, tauchte mein Bruder sofort seine Hand ins Wasser.

„Nicht!“, rief ich und zog seine Hand heraus. „Das ist gefährlich. Der Hecht kann dich beißen.“

Mein Bruder sah mich verwundert an. Ich legte den Maschendraht zurück auf die Zinkwanne. Der Hecht durfte bis heute Nachmittag im Schuppen bleiben, länger nicht. Meine Mutter brauchte die Wanne, um darin den Spinat zu waschen. Nach der Schule würde ich ihn zusammen mit Jan freilassen, an der gleichen Stelle, wo wir ihn gefangen hatten.

Beim Arzt brauchte ich nicht lange zu warten.

„Steht dir, die Farbe“, sagte er, als er mein Auge begutachtete. „Prügelei?“

Ich nickte.

„Gewonnen?“

Ich machte eine undeutliche Bewegung mit dem Kopf, die sowohl Ja wie Nein bedeuten konnte.

Mein Auge brauche man nicht zu behandeln, sagte der Arzt, die Nase schon.

„Ich befürchte, sie ist gebrochen. Außerdem scheint sie ein bisschen schief zu sein oder war sie das schon? Mal gucken, ob wir das ändern können.“

Eh ich michs versah, hielt der Arzt meine Nase mit beiden Daumen fest und rückte sie gerade. Die Tränen schossen mir in die Augen.

„So ist es besser“, sagte er und gab mir Schmerztabletten mit, für den Fall, dass es noch wehtun würde.

„Ich glaube nicht, dass du operiert werden musst. Komm nächste Woche wieder her zur Kontrolle.“

Eine paar Jahre später würde ich mir aufs Neue die Nase brechen, dann beim Fußballspielen. Beim Versuch den Ball wegzuköpfeln, knallte ich mit der Nase gegen den Kopf des Gegenspielers. Ich spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Meine Nase schien eine Vierteldrehung gemacht zu haben. Der Trick mit den zwei Daumen klappte diesmal leider nicht: Ich musste operiert werden, nur ein kleiner Eingriff, wohl aber unter Narkose.

Ich bekam eine Inhalationsmaske mit Lachgas aufgesetzt, und als ich das Gefühl hatte, ich würde nicht schnell genug das Bewusstsein verlieren, geriet ich in Panik. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass die Narkose nicht wirkte und deswegen musste ich so schnell wie möglich den Arzt warnen. Als ich das tun wollte, hörte ich die Armbanduhr des Anästhesisten ticken: Tick …, tick …, tick …

Das Ticken wurde immer langsamer und klang immer voller, bis es in Glockengeläut überging.

Aus der Ferne hörte ich eine Stimme sagen: „Da wird wieder jemand fliegen“ und spürte, wie meine Unterarme festgehalten wurden. Eine Sekunde später flog ich mit ausgebreiteten Armen über eine glühende Landschaft. Es ertönte Orgelmusik und ein unsichtbarer Engelchor sang Bleib bei mir, Herr! Der Abend bricht herein.

Ich erwachte im Aufwachraum und erinnerte mich an das Fliegen und den Engelchor. Ich hatte aus voller Brust mitgesungen. Bleib bei mir, Herr! Der Abend bricht herein.

Dieses Lied hatte man auch auf Jans Beerdigung gesungen, als man den Sarg aus der Kirche getragen hatte. An diesem Tag war es glühend heiß gewesen.

3

Jan war nicht allein gekommen, er hatte noch jemanden mitgebracht, ein Mädchen.

„Was hast du da am Auge?“, fragte sie.

Sie hatte ein Gesicht mit feinen Zügen, eine auffallend kleine Nase und leuchtende Augen. Ihre dunkelblonden Haare waren mit einer Spange an der Seite festgesteckt. Sie trug ein hellgrünes Kleid mit weißgelben Blumen drauf, wie eine Wiese mit Gänseblümchen.

Ich sah zu Jan.

„Genau“, sagte Jan, „erzähl mal. Was hast du da?“

Anscheinend sollte das Mädchen nicht erfahren, dass ich ihm mein blaues Auge zu verdanken hatte.

„Das ist nichts“, sagte ich.

Sie beugte sich nach vorn, um den Hecht in der Zinkwanne anzuschauen. Dadurch konnte ich in ihren Ausschnitt sehen, der BH ließ den oberen Rand ihrer Brüste frei – für mich Grund genug, rot zu werden. Ich riss den Blick los und schaute wieder zu Jan.

„Was sollen wir machen?“, fragte ich. „Sollen wir ihn freilassen?“ „Freilassen? Bist du verrückt?“, sagte Jan. „Wir haben ihn doch nicht umsonst gefangen! Essen werden wir ihn, aber zuerst kommt er mit uns aufs Foto.“

Das Mädchen richtete sich auf und holte einen Fotoapparat aus der Tasche, einen Kasten, den man vor den Bauch halten musste, anstatt vors Gesicht. Man musste von oben in den Schachtsucher schauen, um zu sehen, was man vor der Linse hatte.

Meine Eltern besaßen keinen Fotoapparat. Ab und zu kam ein Fotograf zu uns ins Haus, ein Bekannter meiner Eltern, der dann die ganze Familie fotografierte. Das letzte Mal war das zu Weihnachten gewesen, da mussten wir uns um die Weihnachtskrippe stellen, nach Alter und Größe geordnet. Ich war der Älteste und stand ganz links, dann kamen Truus, Toos, Lies, Rinus, Gerda und Bertje.

„Wo ist das Vögelchen?“, rief der Fotograf.

„Vögelchen? Da ist doch gar kein Vögelchen!“, sagte Gerda entrüstet, und da mussten wir alle lachen.

„Sehr gut“, sagte der Fotograf. „Das wird ein schönes Bild.“

Demnächst würde er wohl wiederkommen, wenn mein neues Geschwisterchen zur Welt gekommen war.

Meine Mutter war wieder schwanger, auch wenn man das noch nicht sehen konnte. Eigentlich sollte ich es noch gar nicht wissen, aber Truus hatte es mir erzählt.

„Das wird wohl das letzte Mal sein“, hatte sie gesagt. „Mama ist schon zweiundvierzig. Dann wird es gefährlich, noch ein Kind zu bekommen. Man kann während der Geburt sterben oder ein mongoloides Kind bekommen, so ein Kind wie Zudammt-und-Vergenäht.“

Zudammt-und-Vergenäht wohnte am Ende der Straße, an der Ecke neben der Kneipe, und hieß eigentlich Rietje. Sie war schon achtzehn, aber geistig auf dem Stand eines Kindes. Rietje konnte sehr wütend werden und dann stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden und rief: „Zudammt! Zudammt!“

Sonntags nahm Rietjes Vater sie mit zum Fußball, zu den Heimspielen der ersten Liga des Fußballvereins, für den ich auch spielte. In der Pause durfte sie auf das Spielfeld, und dann marschierte sie zur Marschmusik von Koning Voetbal über den Rasen und verscheuchte die Möwen.

Jan holte den Hecht aus der Zinkwanne.

„Halt du ihn am Schwanz fest, dann halte ich den Kopf.“

Das Mädchen drückte auf den Auslöser.

„Bleibt stehen, dann mache ich noch ein Foto.“

„Darf ich ein Foto von dir machen“, dachte ich, von ganz nah, von deinem Gesicht, deiner süßen Nase und dem Funkeln in deinen Augen, der Spange in deinem Haar. Ich fragte sie natürlich nicht, ich würde mich das nie trauen. Außerdem wusste ich nicht, wie man einen Fotoapparat bediente.

Sie schaute konzentriert in den Sucher.

„Nun schau doch nicht so bedrückt, Junge“, sagte das Mädchen zu mir. „Man könnte sonst noch meinen, du hättest Angst vor dem Hecht.“

Sie nannte mich Junge, Jan hatte ihr also meinen Namen nicht gesagt. Ihren wusste ich ja auch nicht, denn er hatte sie mir nicht vorgestellt. Wer war sie? Jans Freundin?

„So ist’s besser“, sagte das Mädchen und drückte erneut auf den Auslöser. Jan nahm mir den Hecht aus der Hand. Das Mädchen steckte den Fotoapparat zurück in ihre Tasche und sagte, sie würde jetzt gehen.

„Tschüss!“

Sie machte einen Hopser und ging über die Brücke. Bitte, dreh dich um, und sie drehte sich um und winkte. Wem winkte sie? Jan? Mir?

Bitte lächle, wenn ich es bin, dem du winkst.

Sie lächelte.

„Das ist Marijke“, sagte Jan. „Meine Schwester. Sie macht tolle Fotos.“

4

Der Hecht schmeckte nach gar nichts.

„Lecker?“, fragte Jan.

Ich nickte.

„Willst du nichts?“, fragte ich.

„Nein, das ist meine Buße“, sagte er. „Weil ich dir gestern eine reingehauen habe.“

„Warum hast du das eigentlich gemacht?“

„Weil es möglich war“, sagte Jan, und damit war für ihn alles gesagt.

Er saß mir im Schneidersitz mit nacktem Oberkörper gegenüber. Zwischen uns lagen die Reste der Glut, über der wir den Hecht gegrillt hatten: Aufgespießt auf einen Stock hatten wir ihn solange gedreht, bis er überall schön gar war.

Jan hatte den Hecht totgeschlagen, mit dem Kopf gegen einen Stein. Ich hatte ihn mit Jans Taschenmesser aufgeschnitten und ausgenommen. Es war ein Armeemesser von Swiss, ein Klappmesser mit allen Extras: unterschiedliche Messerklingen natürlich, aber auch ein Korkenzieher, ein Flaschenöffner, eine Nagelfeile und sogar eine kleine Schere.

„Das hat meinem Onkel gehört“, sagte Jan. „Damit hat er einem NSBler die Kehle durchgeschnitten.“

„War dein Onkel im Widerstand?“

„Natürlich“, sagte Jan. „Meine ganze Verwandtschaft gegen die Rotmoffen!“

„Ja“, sagte ich, „gegen die Rotmoffen.“

Jan hatte einen muskulösen Oberkörper, breite Schultern und kräftige Oberarme. Ich hatte mein Hemd ausgezogen, aber mein Unterhemd behielt ich an.

Über der linken Brust, auf der Höhe des Herzens, hatte ich mit einer Sicherheitsnadel ein Medaillon angesteckt, ein silbernes Heilige Maria Mutter Gottes-Medaillon. Am Rand stand der Text O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir bei dir Zuflucht nehmen eingraviert. All meine Geschwister trugen ein solches Medaillon an ihrem Unterhemd oder Unterrock.