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In den 70er Jahren beginnt die Liebesgeschichte zwischen der Studentin Meret und dem jungen Doktoranden Wolfgang, aber schon nach wenigen Jahren reißen Ereignisse, die sie nicht beeinflussen können, die beiden auseinander. Sie sind gezwungen, jeder für sich ein Leben zu leben, zu heiraten, Kinder in die Welt zu setzen - vergessen können beide ihre große Liebe nicht. Ein absurder Zufall sorgt viele Jahre später dazu, dass die Kinder einander kennenlernen und sich miteinander anfreunden. Bedeutet diese Freundschaft auch für die Eltern ein Wiedersehen nach diesen vielen Jahren?
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ob die Geschichte autobiographisch sei, wurde immer wieder gefragt. Okay, zugegeben, immer wieder ist etwas übertrieben. Genau genommen hat das noch niemand gefragt. Wie denn, wenn das Buch gerade erst veröffentlicht wird? Aber sie, die Frage, schreit auch ungestellt so nach einer Erwiderung, dass sie nicht unbeantwortet bleiben darf.
Deshalb: Nein!
Das ist doch mal eine eindeutige Aussage, sollte man meinen, wenn die Sache nicht einen Haken hätte, und der heißt:
Ja!
Und das sind nur scheinbare Widersprüche. Wie könnte es anders sein? Fragt man Wolfgang oder Meret oder Simon oder Annemarie oder Roger oder Célestine, dann werden sie allesamt unisono mit allem Nachdruck sagen: Was denn sonst, wir haben es genauso miterlebt und beschwören, dass alles der reinen Wahrheit und nichts als der Wahrheit entspricht. Dann braucht man den Autor gar nicht mehr anzusprechen, sechs Zeugen reichen in jedem Gerichtsprozess.
Fragt man den Autor trotzdem, wird er sich winden und drehen und komisch verschwurbelte Antwortversuche von sich geben wie: Jaaaa, irgendwie stecke er in jedem geschriebenen Wort mit drin und zwischen den Zeilen…usw.
Der Graffitikünstler Banksy hat 2018 vom Auktionshaus Sotheby`s ein Bild für 1,8 Millionen Euro versteigern lassen, das sich unmittelbar nach dem Verkauf durch einen im Rahmen versteckten Schredder selbst zerstörte. Dummerweise hat der Schredder nicht richtig funktioniert, das Bild wurde nur halb zerstört. Der Käufer verkaufte das halbzerstörte Werk drei Jahre später für 21,9 Millionen, wieder bei Sotheby`s.
Ein nicht ganz so bekannter Künstler hat einem Besucher seiner Vernissage auf die Frage hin, was seine abstrakte Kunst denn aussagen solle und welche politische Relevanz sie habe, eines seiner Werke über den Schädel geschlagen und dabei total zerstört. Das Bild, nicht den Schädel.
Was uns das sagen soll?
Zwischen dem, was Autor*in bzw. Künstler*in aussagen will, und dem, was Rezipient*in, Leser*in daraus macht, kann eine riesige Lücke klaffen. Und das ist gut so. Jeder macht aus dem, was er/sie/es betrachtet, sieht, liest ein ureigenes Erlebnis, sogar, wenn er/sie/es das gar nicht will.
Die Wahrheit steckt also im Buch, und mehr gibt es zur Eingangsfrage nicht zu sagen.
Hoffentlich eine vergnügliche Wahrheit.
Dortmund, Oktober 2024
H.U. Brenk
Meret und Wolfgang 1975 – 1978
Wolfgang 1978 – 1982
Meret 1979 – 1995
Hamburg 1983 – 1995
Annemarie und Simon 1994 – 2009
Célestine und Roger 2004 – 2010
Salzburger Freunde 2010-2014
Pläne 2015/2016
Vanuatu 2016
Epilog 2017
And in the end the love you take is equal to the love you make.
(The End, vom Album „Abbey Road“, 1969, The Beatles,
Text und Musik: Paul McCartney)
When she touched my hand what a chill I got, her lips are like a volcano when it`s hot.(All Shook Up, als Single veröffentlicht 1957, Elvis Presley, Text und Musik: Otis Blackwell)
Es würde bestimmt wieder eine dieser unsäglich langweiligen AStA-Feten werden, auf denen man sich endlosen Debatten mit verhinderten Revoluzzern stellen musste. Erst vor zwei Wochen hatte er sich dieser Gefahr ausgesetzt, als er der Einladung eines Kommilitonen namens Bernd nachkam, mit ihm zu einem Diskussionsabend in die Kaschemme, der beliebtesten Szenekneipe hier in Kiel, zu kommen. Als dort genügend Alkohol geflossen war, bekamen sich die Vertreter der KPD/ML mit der Konkurrenz von der KABD dermaßen in die Haare, dass Wolfgang sprachlos zusehen musste, wie der große gesellschaftliche Umschwung hier im Kellerlokal mit bloßen Fäusten ausgetragen wurde, nachdem beiden Parteien die unvereinbaren Argumente ausgegangen waren. Sein Studienfreund jammerte derweil in einer stillen Ecke der SDS nach, für die nach 1970 doch nur dieser ͵sozialdemokratische Weicheiverband SHB΄ in Erscheinung getreten sei und alle wirklich linksradikalen Bemühungen konterkariert habe. Dem Lokalbesitzer, einem kahlköpfigen Hünen jenseits der 50, war diese Situation offenbar nicht neu. Er hatte die richtigen Argumente parat, indem er einen nach dem anderen am Kragen packte und aus dem Lokal warf. Beschimpfungen als Konterrevolutionär und Revisionist konnten ihn in keiner Weise beeindrucken. Bedauerlicherweise differenzierte er nicht nach Partei, Geschlecht oder Alter, so dass auch Wolfgang unsanft auf dem Pflaster landete, wo er nicht umhin konnte zuzugeben, dass der Wirt offenbar der einzige war, der keine Klassenunterschiede kannte. Die Genossinnen und Genossen leckten ihre Wunden und waren sich einig, dass sie diesen scheißbürgerlichen Ort nie wieder betreten wollten – allerdings waren sie sich darüber auch am Vorabend schon einig gewesen. Dann zogen sie schimpfend weiter zur nächsten Brutstätte ihrer umstürzlerischen Phantasien, und Wolfgang trottete frustriert zu seinem Zimmer im Wohnheim. Dies war wirklich ein Abend zum Vergessen! Zwei blaue Flecken, und das zweite Glas Bier war noch nicht einmal ganz ausgetrunken!
Nun also diese Veranstaltung des AStA! Das konnte ja heiter werden! Seine Gedankenspiele, sich eventuell einer studentischen Gruppierung anzuschließen, waren nur von ganz kurzer Dauer, denn eigentlich wollte er nur in Ruhe studieren, beziehungsweise in den Vorlesungspausen an gepflegten Doppelkopfrunden teilnehmen. Welche Partei hätte es auch sein sollen? Marxisten, Leninisten, Trotzkisten, Maoisten, glühende Verehrer der kambodschanischen roten Khmer oder der albanischen Form unter Enver Hoxha, war die DKP kommunistisch oder Moskau hörig – wie sollte man sich da orientieren? Dann die ständigen Störungen durch irgendwelche Aktivisten, die wieder einmal einen Professor wegen angeblicher faschistoider Umtriebe im Vorlesungsbetrieb boykottieren wollten, die AStA-Vertreter immer mitten dabei. Noch in der vergangenen Woche musste das Matheseminar deswegen ausfallen – sehr dumm, weil er den Schein dringend brauchte!
Eigentlich war er mit der politischen Situation auch gar nicht so unzufrieden, soweit sie ihn überhaupt interessierte. Mit Helmut Schmidt gab es seit einem Jahr einen Bundeskanzler, der seinen Vorstellungen nicht völlig fremd war und gerade die Volljährigkeit und damit die Wahlberechtigung ab 18 durchgesetzt hatte. Schmidt-Schnauze nannten ihn seine Eltern, die als eingefleischte Katholiken natürlich CDU wählten. Und ein Präsident, der im Vorjahr einen Hitparadenerfolg mit einem Volkslied verbuchen konnte, war für das Land auch ein Novum. Überhaupt schien sich weltweit einiges zum Guten zu wenden. Sogar der schreckliche Vietnamkrieg war soeben zu Ende gegangen, und in Spanien neigte sich die letzte westeuropäische Diktatur ihrem Ende zu.
Als ihm alle diese Gedanken durch den Kopf gingen, musste er sich eingestehen, dass die K-Gruppen-Studenten seinen Weltfrieden doch erheblicher störten, als ihm lieb war. Es gab Wichtigeres, viel, viel Wichtigeres! Was interessierten ihn General Franco auf seinem Totenbett oder Gerald Ford im Weißen Haus – in den kommenden Wochen war unbedingt ein Termin bei seinem Doktorvater zu vereinbaren, dessen Andeutungen nur so zu verstehen waren, dass Entscheidungen anstanden, die erheblichen Einfluss auf seinen Lebensweg nehmen könnten. Und was vielleicht von noch größerer Bedeutung war: auf den AStA-Feten traf man zwangsläufig auf Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts. Es war nämlich sein weitaus drängendstes Problem, dass er, immerhin bereits im fortgeschrittenen Alter von zweiundzwanzig Jahren, noch nicht in festen Händen war. Ein paar Flirts und sogar einige bis zu einem halben Jahr andauernde Bindungen zierten seine bisherige amouröse Karriere, aber das war es dann auch. Den vielen Predigten der ganzen linken Szene von freier Liebe und Sex ohne Verpflichtungen hätte er nur zu gerne geglaubt, hingegen zeigte sich der weibliche Teil der Revolution leider meistens viel prüder als erhofft. Sollte Politik testosteron- beziehungsweise östrogenzersetzend wirken? Möglicherweise lag es an seiner eigenen Schüchternheit, denn viel zu häufig versagte sein Charme und ihn überfiel eine lähmende Angst vor Enttäuschungen, wenn sich denn überhaupt eine Gelegenheit für einen Anbahnungsversuch andeutete.
An Äußerlichkeiten konnte es nicht liegen. Er trieb regelmäßig Sport, was ihm zu einer durchaus stattlichen Erscheinung verhalf, und hatte sich extra mit neuer Kleidung eingedeckt. Dazu gehörten die unvermeidliche Schlaghose und das hautenge Hemd unter dem Pollunder. Jeans und T-Shirt gefielen ihm zwar besser, aber man musste bereit sein, Kompromisse einzugehen. Einen Versuch war es wert.
So gerüstet traf er um 21 Uhr in der Uni-Cafeteria ein – die Show konnte beginnen. Nur wenige Minuten später war er bereits überzeugt, dass alles genauso desillusionierend ablaufen würde wie bei den vergangenen Meetings. In dem bis zur Undurchdringlichkeit rauchgeschwängerten Raum saßen die üblichen Cliquen zusammen und bestätigten sich gegenseitig ihre Überzeugungen, einige hockten in dunklen Ecken, um mit Alkohol, Joints und diversen Erzeugnissen der chemischen Industrie ihr Bewusstsein zu erweitern, und nur ganz vereinzelt bewegten sich selbstverliebte Gestalten zu den Rhythmen der Musik, die aus den überstrapazierten Boxen dröhnte. Offensichtlich hatten einige Mädchen ihre Schallplatten mit gerade angesagten Discoliedchen selbst mitgebracht, denn sonst wären George McCraes ͵Rock your baby΄ und Carl Douglas` ͵Kung Fu Fighting΄ nicht auf einer Veranstaltung des Studentenausschusses zu hören gewesen. Da waren die soliden Rockakkorde von Bachman Turner Overdrive`s ͵You ain`t seen nothing yet΄ nachgerade erholsam. Enttäuscht zog sich Wolfgang an den Tresen zurück, um dem trostlosen Abend wenigstens mit Alkohol etwas Sinn zu verschaffen.
„Hey, musst du noch raus zur Revolution?“, sprach ihn jemand an. Er drehte sich um und war völlig überrascht, vor sich ein sehr hübsches, junges Erst ̶ oder Zweitsemester zu sehen.
„Fällt heute wegen akuter musikalischer Verseuchung aus“, entgegnete er, „und kann erst wieder aufgenommen werden, wenn Howard Carpendales ͵Deine Spuren im Sand΄ auf den Barrikaden erklingt.“
„Na, das passt!“, meinte sein Gegenüber vieldeutig.
„Wie bitte?“
„Hat deine Mami dich neu eingekleidet? Jedenfalls sieht dein Outfit schwer nach Quelle-Katalog, Seite ͵Junge Mode΄ aus, passend zu Howie und Demis Roussos.“
Das war frech. Wo so viel Mühe darin steckte! Aber wer sich verteidigt, klagt sich an.
„Du hast Recht, meine Mutter dominiert mich. Ich brauche dringend Hilfe. Ich heiße Wolfgang, wer bist du?“
„Meret. Angenehm. Du wolltest mich gerade zu einem Drink einladen, oder?“
„Ja, gerne. Milch? Saft? Oder darfst du schon Cola trinken?“
Das schien ihr zu gefallen, sie holte sich selber eine Flasche Bier aus dem Selbstbedienungskühlschrank und legte das Geld in die bereitstehende Box.
„Schau mich nicht so vorwurfsvoll an“, meinte sie. „Ich bin schon volljährig!“
„Dank der Hilfe von Helmut Schmidt!“
„Zugegeben, sonst hätte ich noch zwei Jahre warten müssen. Ich soll dich also therapieren, ohne Couch und Wünschelrute. Das kostet aber! Woher wusstest du, dass ich Freudianerin bin?“
„Wer eine Couch sucht, wird eine Couch finden. Ist das nicht die Devise von Freud?“
„Du hast ihn durchdrungen und verstanden, wie ich sehe. Also, willst du hierbleiben und warten, bis endlich ABBA gespielt werden?“
„Nichts gegen ABBA, steht meine Mutter total drauf. Ich stimme dir trotzdem zu, lass uns irgendwohin gehen, wo wir uns der Weltrevolution entziehen und therapeutisch tätig werden können.“
Noch nie war Wolfgang einer so selbstbewussten, intelligenten, humorvollen Frau begegnet, und er war selig, dass sie ihn tatsächlich begleitete. Sie zogen auf die große Liegewiese des Campus, bewaffnet mit einem Getränk und aufgeregt wie Schulkinder vor der ersten Tanzstunde. Bis tief in die Nacht sprachen sie angeregt über alles, was ihnen in den Sinn kam und freuten sich, dass zwischen ihnen große Übereinstimmung herrschte. Sie lachten ausgiebig, wenn der andere einen Scherz machte, und waren ehrlich betrübt, wenn ein tragisches Erlebnis aus der Vergangenheit berührt wurde. Kurzum: zwei Seelen fanden zueinander, bis beiden bei den ersten Anzeichen der Morgendämmerung klar wurde, wie sehr alles um sich herum vergessen und wie schnell die Zeit verstrichen war. Nicht ohne sich gleich für den kommenden Abend zu verabreden, gab sie ihm zum Abschied einen Kuss.
Wolfgang schwebte in seine Bude, an Schlaf war nicht zu denken. Meret war in seinen Gedanken, ihr Geruch wich nicht aus seinen Kleidern, ihr ansteckendes Lachen klang in seinen Ohren nach. Kein Zweifel – das war Liebe auf den ersten Blick und er konnte es kaum erwarten, sie am Abend wiederzutreffen. Und dieser Abend entwickelte sich in gleicher Weise über alle Maßen erfreulich.
Schon nach kurzer Zeit konnten beide keinen Sinn mehr darin erkennen, die Miete für zwei kleine Wohnungen zu bezahlen, wenn sie sich doch ohnehin nur noch in einer aufhielten, und so zogen sie zusammen. Nach den allerersten Tagen, in denen Wolfgang zu keinerlei vernünftigem Gedanken mehr fähig gewesen war, entdeckte er nun, wie gut Meret ihm in jeder Hinsicht tat. Seine Vorlesungen und Seminare fielen ihm leichter, die Recherchen zu seiner Promotion wurden fruchtbarer, Hausarbeiten schrieben sich fast von alleine, und der abendliche Austausch über ihre oder seine Veranstaltungen half beiden, die Inhalte zu sortieren und besser zu verstehen. Sie teilten ähnliche Vorlieben für Musik, Theater und Kunst, sie liebten gemeinsame ausgedehnte Wanderungen in den umliegenden Wäldern, und sie tauschten ihre Lektüren. Kein Wunder, dass sich daraus bei beiden ein Gespür entwickelte, wie es um den anderen bestellt war, ohne dass dafür viele Worte notwendig waren.
„Was ist los?“, empfing sie ihn eines Abends.
„Och, nichts. Ich bin nur platt.“
Das war ein völlig unzulänglicher Versuch, sie nicht mit seinen Sorgen zu belasten, wie er sofort erkannte.
„Klar, sieht man! Also: was ist passiert?“
„Ich weiß nicht, ist doch egal!“
„Jetzt spuck schon aus! Ich rate mal. Du hattest doch heute das Gespräch mit deinem Doktorvater. Kommt es von daher? Gab`s Ärger?“
Er musste einsehen, dass sie nicht aufgeben und früher oder später sowieso erraten würde, worum es ging.
„Er hat mir ein Angebot gemacht.“
„Ist doch super! Dann muss er deine Arbeit doch schätzen! Was hat er dir angeboten?“
„Ich soll für ein Jahr zu Forschungszwecken nach La Réunion.“
Das verschlug ihr kurz die Sprache, bis sie sich schnell wieder gefangen hatte.
„Prima, ist doch toll. Ein Jahr auf einer Südseeinsel, das ist ein Traum! Wann soll es losgehen?“
„Anfang des kommenden Monats schon. Und Réunion liegt nicht in der Südsee, sondern vor Madakaskar.“
„Klugscheißer! Das kommt plötzlich. Aber du musst es machen! Das ist eine einmalige Chance.“
Er konnte die Sorgen aus ihren Worten filtern.
„Ich habe abgelehnt.“
„Waaas? Bist du wahnsinnig?“
Wieder verstand er sehr genau, wie sehr sie sich freute.
„Ja, der Prof war nicht so begeistert. Er will versuchen, mir diese Möglichkeit in den nächsten Semestern noch einmal zu verschaffen, aber das konnte er nicht garantieren. Meret, ich kann das nicht ohne dich machen!“
„Das ist sooo lieb von dir! Aber bei der nächsten Chance sagst du zu! Wir werden das schon hinbekommen!“
Für sein Fachgebiete Ozeanographie und Meeresbiologie wäre diese Insel vor Madagaskar von ganz außerordentlicher Bedeutung gewesen, gab es hier doch ein Korallenriff, wie man es nur an wenigen Orten auf der Welt, wie etwa dem berühmten Great Barrier Reef vor Australien, finden konnte. Seine Entscheidung bereute er jedoch keineswegs, Meret übertraf alle anderen Interessen bei weitem.
Es dauerte nicht lange bis Meret zu einigen Mitbewohnern des Hauses gute Beziehungen aufgebaut hatte und sie wiederholt zu einem kleinen Umtrunk eingeladen wurden. Insbesondere der Bewohner der Nachbarwohnung, ein ewiger Student mit Namen Gerd Reppes, erwies sich als echte Hilfe, wenn es galt, Post anzunehmen, Wasserhähne zu reparieren oder schweres Mobiliar zu tragen. Er studierte schon im sechsunddreißigsten Semester Betriebswirtschaft und machte keinerlei Anstalten, diese Lebenssituation grundlegend zu verändern.
Im folgenden Jahr traf er den Kommilitonen Bernd, den er aus dem gemeinsamen Abenteuer in der „Kaschemme“ kannte, in der Cafeteria, und er schien in ziemlich schlechtem Zustand zu sein. Zunächst versuchte Wolfgang, jeglichen Kontakt zu vermeiden, wegen seiner leidvollen Erfahrungen damit, sich mit den Genossen auf Diskussionen einzulassen, aber er konnte seinem Schicksal nicht entrinnen. Bernd setzte sich einfach zu ihm an den Tisch und begann ohne Gruß und Einleitung das Gespräch.
„Was für ein beschissenes Jahr!“
„Wie man`s nimmt! Ich habe soeben im Doppelkopf gewonnen, Meret ist zwanzig geworden und ABBA haben schon die dritte Single in den Top Ten.“
„Bist du vollkommen privatisiert, du Revisionist? Biermann wurde ausgebürgert, Ulrike Meinhof hat sich umgebracht und Mao ist tot, Mann!“
„Ja, so gesehen! Aber Franz Josef Strauß ist immer noch da, es geht doch nichts über ein sauberes Feindbild. Sag mal: ich wollte dich immer schon fragen, was du eigentlich studierst.“
„Erinnere mich nicht daran. Ich habe in der nächsten Woche Prüfungen.“
„Worin?“
„Lehramt. Geschichte und SoWi. Für die Klausuren habe ich noch nichts getan.“
„Ein Abend in der Kaschemme kann da bestimmt weiterhelfen.“
„Du sagst es. Kannst du mir zehn Mark leihen?“
Soviel wissenschaftlichem Arbeitseifer wollte er nicht im Wege stehen, und daher gab er Bernd seinen letzten Geldschein, wohl wissend, dass dies eine Investition in eine sehr ferne und ungewisse Zukunft war. Immerhin erinnerte ihn das Gespräch daran, dass er mit Meret für deren Klausur lernen wollte. Sie empfing ihn schon offensichtlich aufgebracht, allerdings nicht wegen seiner Verspätung, wie er sofort erfuhr.
„Du kannst es dir nicht vorstellen! Das gibt`s doch gar nicht. Mann, oh, Mann! Wer hätte das gedacht!“
„Nun komm mal runter. Nichts ist passiert, ich bin bereit“, versuchte er sie zu beruhigen.
„Denk dir nur, da haben die tatsächlich erst jetzt im britischen Unterhaus einen Antrag eingebracht, die Prügelstrafe an Schulen zu verbieten! Jetzt! 1976!“
„Immerhin ist der Antrag nun auf dem Tisch.“
Er verstand ihre Empörung als angehender Psychologin.
„Der Antrag wurde abgelehnt!“, schrie sie förmlich vor Wut. „Und weißt du, wann diese sinnlose Prügelei in Deutschland verboten wurde?“
Nein, er hatte keine Ahnung und vermutete einen Termin kurz nach der Staatsgründung oder eventuell mit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949.
„1950?“, lautete sein zaghafter Versuch.
„Von wegen! Erst 1973, und das nicht einmal in allen Bundesländern. In Bayern ist es bis heute erlaubt. Ich fasse es nicht! Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich nach dem Examen tun werde.“
„Du machst eine Praxis für Kinderpsychologie auf. Das ist wunderbar, genau so kann ich mir deine spätere Tätigkeit vorstellen.“
„Schön, dass du das so siehst. Die Sache hat aber einen Haken. Was macht ein Meeresbiologe in der Stadt?“
Er konnte nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken.
„Weißt du, was mir daran besonders gut gefällt?“
Sie sah ihn mit großen Augen fragend an.
„Du kannst dir offenbar eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Insofern verstehe ich das als verklausulierten Heiratsantrag. Und ich sage ja!“
Sie strahlte über das ganze Gesicht und sagte: „Ich habe heute unsere Hochzeitsmelodie gefunden.“
„Was ist es? Mozart? Beatles? Elvis?“
„Nein, sie haben eben im amerikanischen Soldatensender AFN ein tolles Lied gespielt, das es bei uns noch gar nicht zu kaufen gibt. Soll im nächsten Jahr herauskommen. Eagles, ͵Hotel California΄, wird dir gefallen. Super Melodie und ein grandioses Gitarrenduett am Ende. Hör mal!“
Damit drückte sie die Tasten des Kassettenrekorders, der bei ihnen immer in erreichbarer Nähe und direkt neben dem Radio stand. Die Qualität war grauenhaft und die ersten Takte fehlten, weil sie nicht schnell genug zum Gerät gelangt war, aber die beiden waren zu euphorisiert, um sich mit solchen Details aufzuhalten. Als Don Felder und Joe Walsh mit ihren Gitarren loslegten, gingen sie schon anderweitigen Beschäftigungen nach.
Ihre Beziehung erreichte ihr zweites Jahr, seine Abschlussprüfungen begannen und damit die Suche nach möglichen Arbeitgebern. Immerhin blieben danach noch einige Monate für die Fertigstellung der Promotion, die von seinem Doktorvater wohlwollend begleitet wurde. Immer wieder erinnerte dieser Wolfgang daran, dass in seinem Arbeitsbereich das Auslandsjahr eine quasi unausweichliche Bedingung für künftige lukrative Festanstellungen bedeute, wenn er nicht Zeit seines Berufslebens auf einer Assistentenstelle festkleben wolle. Und dann wurde Wolfgang eines Morgens tatsächlich wieder vor die gefürchtete Entscheidung gestellt.
„Ich habe Ihnen im letzten Jahr angedeutet, dass La Réunion eine einmalige Chance war. Nun ja, das Observatoire océanologique de Banyuls-sur-Mer bietet gerade eine Stelle an. Das ist nicht ganz so exotisch, sondern an der französischen Mittelmeerküste, aber vielleicht trotzdem ganz interessant. Überlegen Sie es sich! Ich brauche die Antwort allerdings noch in dieser Woche.“
Da war sie, die unangenehme Situation, vor der er sich gerne gedrückt hätte. Die Notwendigkeit, irgendwann an einem solchen Projekt teilzunehmen und damit in die grausame Realität der Arbeitswelt einzusteigen, lag auf der Hand. Aber es lief so gut mit Meret, er fühlte sich wohl wie noch nie in seinem Leben. Durfte er dieses Glück auf eine solche Probe stellen?
Sein Mentor spürte das Zögern.
„Besprechen Sie das Angebot mit allen Menschen, die Ihnen wichtig sind. Aber denken Sie auch daran, dass ich Ihnen nicht ständig die Türen aufhalten kann. Ich muss mich noch um einige andere Interessenten kümmern.“
Sollte er sich freuen? Sollte er ablehnen? Wie lange konnte er dem Herrn Professor noch alle Angebote ausschlagen, bis der die Geduld verlor und nicht mehr damit zu ihm kam? Das Departement Languedoc kannte er von einem früheren Urlaub, damals noch ohne Meret, und dieser südlichste Teil Frankreichs war ohne Zweifel außerordentlich attraktiv. Banyuls sur Mer lag zudem vom französisch-spanischen Grenzübergang Cerbère-Port Bou nur wenige Autominuten entfernt, dort ließ es sich aushalten. Falls neben der Arbeit Zeit für Exkursionen blieb, lagen hinter der Grenze die attraktive Stadt Barcelona und, noch viel näher, Figueras und Cadaqués als überaus reizvolle Dörfchen, in denen Salvator Dali lebte. Aber Meret! Wenn er sie doch mitnehmen könnte! Das war nur leider unmöglich! Er müsste ihren Aufenthalt selbst finanzieren und zudem auf seine kleine, kostenlose Assistentenstube verzichten. Außerdem stand sie selber gerade in ihren letzten Semestern, wie sollte es ihr möglich sein, ihr Studium zu unterbrechen?
Natürlich wusste sie schon beim Eintreten, womit er sich gerade auseinandersetzte.
„Heute war das Gespräch mit deinem Mentor, nicht wahr? Du siehst irgendwie nicht ganz zufrieden aus!“
„Er hat mir wieder eine Stelle angeboten.“
„Ist doch prima! Darüber haben wir vor einem Jahr gesprochen. Du musst das annehmen! Wir werden die Zeit schon überstehen! Wohin soll`s denn gehen?“
Täuschte er sich, oder klangen in ihren ungestümen Worten doch auch ein wenig die Befürchtungen mit, die er selber hegte.
„Südfrankreich, am Mittelmeer.“
„Na, also! Das ist nicht ganz so paradiesisch wie diese kleine Insel vor einem Jahr, aber andere träumen davon, dort Urlaub zu machen. Du hast natürlich zugesagt!“
Sie sah ihn fragend an, und dieses Mal war er sicher, in ihrem Blick auch Angst zu erkennen.
„Ich mache es nicht.“
„Hast du den Verstand verloren? Was ist los mit dir? Willst du gar nicht erwachsen werden?“
„Ich will mit dir erwachsen werden. Nein, ich werde den Job nicht annehmen. Im nächsten Jahr bist du fertig, dann können wir gemeinsam losziehen.“
„Falls es wieder ein so attraktives Angebot gibt.“
Trotz ihrer Einwände spürte er deutlich ihre Erleichterung. Damit waren die Würfel gefallen, auch wenn in ihm ein wenig die Furcht nagte, er könnte damit möglicherweise seine letzte Chance verpasst haben. Dann würde seine berufliche Karriere darin ihren Höhepunkt erreichen, dass er in irgendeinem Tropenhaus die Aquarien putzen dürfte.
„Bist du dir wirklich sicher? Das tust du aber hoffentlich nicht nur meinetwegen und trauerst später dem verpassten Angebot nach!“
„Weißt du, was mich wirklich traurig macht?“
Sie sah sein schelmisches Grinsen und wusste, dass nichts Ernsthaftes mehr kommen konnte. Fröhlich fragte sie: „Nämlich was?“
„Elvis ist tot. Kam gerade in den Nachrichten. Kein Wunder, dass Karel Gott mit seiner Biene Maja so erfolgreich werden konnte.“
„Du hast recht! Wir werden eine Kerze zum Gedenken an den King und an das Dahinsiechen des deutschen Schlagers aufstellen.“
Damit war das Thema vom Tisch und Wolfgang konnte mühelos seinem Doktorvater am folgenden Tag die Entscheidung ohne alle unterschwelligen Bedenken mitteilen. Der zeigte sich allerdings in keinster Weise erfreut und ließ ihn das auch deutlich spüren. Alle folgenden Termine zur Besprechung der Doktorarbeit fanden in gespannter Atmosphäre statt, häufig genug musste Wolfgang vor verschlossener Tür warten oder herbe Kritik über sich ergehen lassen. Überhaupt herrschte an der Universität eine gereizte Stimmung, seit die RAF ihren mörderischen Feldzug in der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer hatte gipfeln lassen. Die völlig missverstandene ͵klammheimliche Freude΄, die in einem Nachruf auf den ebenfalls ermordeten Generalbundesanwalt Buback geäußert wurde, nahmen etliche linke Studentengruppierungen zum Anlass für Sympathiekundgebungen.
Wolfgang fehlte dafür jedes Verständnis und auch die Zeit, weil er wie besessen die Dissertation fertigzustellen versuchte, auch gegen alle Widerstände seines ihm ehemals so wohlgesonnenen Professors. Was er hingegen erstaunt zur Kenntnis nahm, war der Umstand, dass er seinen Schuldner Bernd an keinem der Stände sah, die überall aufgebaut wurden, um Unterschriften für oder gegen die PLO, Rote Khmer, Kurden, den persischen Schah oder vergleichbare Gruppierungen zu sammeln.
Ebenso emsig verfolgte Meret ihr Ziel, die Abschlussprüfungen zu erreichen, und als das neue Jahr angebrochen war und das Wintersemester sich seinem Ende zuneigte, legten beide ihre schriftlichen Ausarbeitungen, sie fürs Staatsexamen, er für die Promotion, vor und warteten auf die letzten, finalen Ereignisse. Beide freuten sich wie die Schneekönige, sowohl über die eigene Leistung, wie auch über die Erfolge des jeweils anderen.
Meret kam als Erste auf die Zielgerade, und als Wolfgang vor der Tür zu dem Raum wartete, in dem sie den letzten Teil des Examens ablegte, war er aufgeregter als sie selbst. Das Gremium brauchte nach der Befragung nur wenige Minuten der Beratung, bis das Urteil feststand, und es war ein grandioser Erfolg. Nichts anderes hatten beide erwartet, trotzdem bedeutete es eine ungeheure Erleichterung und sie feierten das Ende ihrer Studienzeit gänzlich unangemessen in einer Imbissbude unweit der Wohnung. Für Nebentätigkeiten war in dieser spannenden Phase keine Zeit geblieben, daher sah es mit ihren finanziellen Reserven finster aus.
„Was willst du jetzt mit der vielen freien Zeit anfangen?“, fragte Wolfgang, während er sich eine Pommes mit den Fingern aus ihrer Schale nahm, in Mayonnaise tunkte und genussvoll zwischen die Zähne schob.
„Hab` ich denn viel Zeit? Ständig muss ich bei dir Korrektur lesen, du kommst einfach nicht zu einem Ende. Am Ende werde ich dich durchfüttern müssen, weil du mit fünfzig Jahren immer noch über den Einfluss des Planktons auf den Stoffwechsel der Tiefseequallen sinnierst!“
„Gott sei Dank! Ich hegte schon die Befürchtung, meine Bratkartoffeln selber kochen zu müssen.“
„Die werden in der Pfanne gebraten, mein Lieber. Hach, du bist ohne mich einfach nicht überlebensfähig. Ein hilfloses Plankton im Großstadtmeer!“
„Wir sind eine Biozönose, da gibt´s keine Zweifel!“
„Eine Diözese?“
„Eine Gemeinschaft von Organismen verschiedener Arten in einem abgegrenzten Lebensraum, eine Biozönose eben.“
„Sind wir so verschiedene Arten?“, fragte sie mit gespielter Enttäuschung.
„Aber sicher, und dafür danke ich dem Schöpfer sehr! Aber Diözese stimmt ja auch irgendwie. Du bist meine Bischöfin und ich die gläubige Gemeinde. Wir sollten daran arbeiten, dass noch viele Schafe in diese Gemeinde finden.“
„Nun werde mal nicht unanständig. Die katholische Kirche ist außerdem weit davon entfernt, Frauen den Zugang zur Bischofswürde zu gewähren.“
„Weil sie dich noch nicht kennen!“
„Gilt für Bischöfinnen auch das Zölibat?“
„Das lateinische Wort caelibatus meinte die männliche Ehelosigkeit. Ich denke, da lässt sich für uns eine Lösung finden. Sonst treten wir ganz fix zu den Altkatholiken über, bei denen gibt es solch eine unsinnige Regelung nicht. Andererseits geht es den Bischöfen finanziell gar nicht so schlecht.“
„Damit sind wir beim Problem.“
„Wir brauchen Geld. Stimmt. Postkutschenüberfall? Das stelle ich mir sehr romantisch vor. Ich warte nur schon lange vergeblich auf die Kutsche.“
„Du schaust zu viele Western. Die große Zeit von Butch Cassidy und Sundance Kid ist vor neun Jahren zu Ende gegangen. Ich meine es ernst. Ab morgen fange ich verschärft an, nach sinnvollen Stellenausschreibungen zu suchen.“
„Super, meine Bratkartoffeln sind gesichert.“
„Freu dich nicht zu früh, sonst verkaufe ich mein Plankton als Düngemittel an die landwirtschaftliche Genossenschaft.“
„Jawohl, Frau Bischöfin, die Anrede Eminenz ist sowieso weiblichen Geschlechts. Ob die Kurie sich dabei etwas gedacht hat? Wenn es ihrer Eminenz beliebt, will ich gerne zu Diensten sein, denn ich bin nicht würdig, der Bettvorleger ihrer Schlafstätte zu sein.“
„Wir haben gar keine Bettvorleger!“
„Das wäre ein unverzeihlicher Zustand, den wir dringend überprüfen sollten.“
„Da fällt mir ein, dass Eminenz doch das Substantiv ist zu eminare, also herausragen. Ob das auf alles Herausragende anwendbar ist, sozusagen als terminus technicus?“
„Meret, ich bitte dich! Du wirst ausfallend.“
So machten sie sich vergnügt philosophierend auf den kurzen Heimweg.
Wolfgang suchte fast täglich das Sekretariat des Prüfungsamtes an der Uni auf, um am Schwarzen Brett nachzuschauen, ob endlich ein Termin für seine Verteidigung angesetzt war. Wie das schon klang: Verteidigung. Als ob es etwas zu verteidigen, geschweige denn anzuklagen gäbe. Von seiner Dissertation war er vollkommen überzeugt, mochte sein beleidigter Doktorvater auch kein Wort mehr mit ihm gesprochen haben. Nur die Sache mit dem Auslandsjahr war wohl erledigt, für seine weitere Karriere nicht unbedingt eine förderliche Tatsache.
So sehr er den Tag herbeisehnte, so sehr machte es ihn dann doch nervös, als er eines Tages tatsächlich seinen Namen auf dem Prüfungsplan entdeckte. Es war so weit, der letzte Schritt musste getan werden. Prüfer war natürlich sein Mentor, als Zweitprüfer fand er, entgegen aller vorherigen Vereinbarungen, einen ihm völlig unbekannten Namen, und den Prüfungsvorsitz sollte der Dekan der Fakultät übernehmen, der gemeinhin als streng, jedoch integer galt. Viel Zeit blieb nun nicht mehr, diesen Tag, der für Ende Oktober 1978 angesetzt war, vorzubereiten, aber eigentlich wusste er schon lange, wie er seinen Vortrag aufbauen wollte.
Meret beriet ihn, wie er sich für diesen Tag kleiden sollte, sauber, modisch elegant, aber nicht zu auffällig. Man trug Hosen mit leichtem Schlag und hohem Bund, fast wie die ͵Betrüger΄ aus früheren Zeiten, dazu farbenfrohe Hemden, die durchaus mit Blumen gemustert sein durften und deren Kragen über den des Jackets ragten, alles hauteng geschnitten. Ein gewisser Herr Travolta hatte zu der unsäglichen Discomusik der Bee Gees ein nicht unwesentliches Vorbild geliefert. Wolfgang mochte weder ͵Stayin` alive΄, noch diesen Look, aber die Ratschläge seiner Freundin befolgte er gehorsam. Abgesehen vom Jacket, das er durch eine schlichte Weste ersetzte. Merets Vorschlag einer glänzenden Discojacke war ihm doch zu weit gegangen.
Er erinnerte sich an ihre Bemerkung bei ihrer ersten Begegnung über seine Kleidung mit den Worten ͵Hat Mami dich neu eingekleidet΄. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, so selbstverständlich war ihre Anwesenheit geworden. Damit wurde ihm jedoch bewusst, dass er seine Partnerin noch seinen betagten Eltern vorstellen musste, die ihn bei jedem seiner viel zu seltenen Besuche mit diesbezüglichen Fragen löcherten. Er nahm sich vor, das bei nächster Gelegenheit nachzuholen.
Disputationen sind öffentlich, und Wolfgang freute sich, dass tatsächlich etliche frühere Kommilitonen bereits anwesend waren, als er begann, seinen Vortrag vorzubereiten, indem er einige Bilder und Poster an der Wand befestigte und den Tageslichtschreiber anschloss. Seine Nervosität wusste er gut zu überspielen, zu sicher fühlte er sich in seinem Fachgebiet und brachte das Referat souverän zu Ende. Das Publikum klopfte sogar zustimmend auf die Tische, ein eigentlich unzulässiger Vorgang während einer Prüfung. Die Befragung begann hingegen mit einem gänzlich unerwarteten Überfall seines Mentors, was denn seine Meinung über den gerade neu gewählten polnischen Papst sei. Aber zu Wolfgangs morgendlichen Ritualen gehörte das eifrige Zeitungsstudium, so dass er sofort den Faden aufnehmen konnte. Es sei schon der dritte Papst in diesem Jahr, keineswegs jedoch passiere dies zum ersten Mal. Es habe gar schon einmal ein Jahr mit vier Päpsten gegeben. Herr Wojtyla zeichne sich überdies durch herausragende Leistungen als Philosoph, Dramatiker und Theologe, darüber hinaus noch als Fußballer aus. Dann konnte er sich die kleine Spitze nicht verkneifen, dass dies alles nicht direkt etwas mit seiner Dissertation oder seinem Vortrag zu tun habe. Später erfuhr er von ehemaligen Leidensgefährten, dass dieser unsachliche Versuch eine oft geübte Technik seines Prüfers war, um die Kandidaten zu verunsichern. Da dies nun nicht gelungen war, verlief die weitere Befragung ohne Probleme, und nach einer kurzen Beratung wurde ihm als Note ein „cum laude“ mitgeteilt. Nicht die allerhöchste Rite, aber damit konnte er gut leben.
„Fühlt sich komisch an, oder?“, fragte Meret beim obligatorischen Festbankett im Schnellimbiss. „So gar keine Termine und Verpflichtungen mehr.“
„Aber auch befreiend! Außerdem muss ich noch einige Male zur Uni, um aufzuräumen, Bücher abzugeben und ähnlichen Kram. Und natürliche die Urkunde abholen.“
„Die kommt übers Bett!“
„Ich bin doch nicht Doktor der Gynäkologie geworden! Oder hätte ich das besser werden sollen?“
„Keine Sorge, ich komme aus gutem, altem, katholischem Stall. Wenn ich will, kann ich mich ganz anständig benehmen.“
„Da fällt mir ein: im nächsten Monat hat meine Mutter Geburtstag. Das wäre eine prima Gelegenheit, meine Eltern kennenzulernen.“
„So ernst ist es?“, fragte sie zweifelnd. Gleichzeitig vernahm er so etwas wie Zufriedenheit, vielleicht sogar Glück im Klang ihrer Stimme. „Aber in der ersten Novemberwoche bin ich noch zu Vorstellungsgesprächen unterwegs.“
„Also abgemacht. Ich freue mich. Und Jobsuche geht natürlich vor, wegen der Bratkartoffeln. Das bleibt mir nun auch nicht mehr erspart, nachdem die Quelle der Auslandseinsätze versiegt ist.“
„Diese Professorenmimose hat sich tatsächlich nie wieder bei dir gemeldet?“
„Wir sind auf alle Zeiten getrennt von Arbeitstisch und Bett.“
„Das will ich doch wohl hoffen. Können wir uns noch eine gemeinsame Extraportion Pommes Schranke leisten?“
„Nur, wenn du bereit bist, dafür in den nächsten Tagen ausschließlich von Luft und Liebe zu leben.“
„Wie herrlich! Das ist eine wohltuende Diät! Herr Doktor, ich bin so frei.“
„Gynäkologie und Ozeanographie sind genau genommen gar nicht so weit auseinander. Ich werde es dir beweisen!“
„Oh ja, bitte.“
Damit stand ihr Programm, sowohl für diesen Abend, wie auch für den mütterlichen Geburtstag im nächsten Monat, fest. Viel mehr familiäre Verpflichtungen gab es auch nicht zu erwarten, weil beide Einzelkinder waren und Merets Eltern, wie sie einmal erwähnt hatte, schon lange nicht mehr lebten. Einigkeit herrschte zwischen ihnen auch darin, dass sie eine gänzlich andere Familienplanung anstrebten als ihre Eltern, mit einem Haus voller Kinder. Es musste nur nicht gleich sofort so sein.
Der Besuch bei Wolfgangs Eltern verlief in sehr entspannter Atmosphäre, abgesehen davon, dass sein Vater Meret sofort so sehr in sein Herz schloss, dass er sich ausschließlich mit ihr unterhielt und die beiden scherzend und lachend alles um sich herum außer Acht ließen. Er war ein pensionierter, einfacher Postbeamter, Briefträger aus Berufung, wie er selber gerne betonte, und seine Frau konnte, noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, trotz bester Leistungen nur die Volksschule abschließen, weil ͵Mädchen nach der Schulzeit sowieso heiraten und Kinder bekommen und dafür kein Abitur brauchen΄. Ihrem einzigen Sohn die Karriere ermöglicht zu haben, die ihnen selbst verwehrt geblieben war, machte sie mächtig stolz.
Er half seiner Mutter in der Küche beim Abwasch, und sie gab ihrem ͵Wolferl΄ Ratschläge für eine kluge Haushaltsführung mit auf den Weg. Er hasste diesen Kosenamen, mit dem sie ihre und ihres Mannes Verehrung für Wolfgang Amadeus Mozart zum Ausdruck brachte, ließ jedoch alles geduldig über sich ergehen. Als der Zeitpunkt des Aufbruchs gekommen war, winkte ihn sein Vater bedeutungsvoll zu sich und flüsterte ihm zu:
„Junge, wenn du die gehen lässt, spreche ich kein Wort mehr mit dir!“
Auch Meret schien sehr beschwingt vom Verlauf des Abends, möglicherweise lag es aber auch an den sehr zum Vergnügen des Vaters gemeinsam verkosteten zwei Gläsern Cognac.
„Ihr duzt euch? Das ging ja schnell!“, meinte Wolfgang, als sie sich auf dem Heimweg bei ihm einhakte.
„Ja! Bist du eifersüchtig? Ich darf sogar Daddy zu ihm sagen. Prima alte Herrschaften hast du!“
„Mit dem Cognac hast du ihn natürlich um den Finger gewickelt. Diesen Fusel mag sonst keiner, ich schon mal gar nicht.“
„Alles hat seinen Preis. Mir hat er auch nicht geschmeckt.“
So verabschiedete sich auch dieses Jahr, ohne dass einer von beiden eine gute Anstellung gefunden hätte. Es ging immer mehr an ihre wenigen Ersparnisse und sie reduzierten ihre Ansprüche, wo sie nur konnten. Der Fernsehanschluss wurde ebenso abgemeldet wie das Telefon, wenn doch einmal wichtige Gespräche anstanden, half ihnen der Besitzer des Schnellimbisses aus, oder sie nutzten die Geräte an der Universität, an der er immer noch nicht seinen Arbeitsplatz vollständig aufgeräumt hatte. Sie verdiente etwas Geld hinzu, indem sie am Wochenende in der Kaschemme kellnerte, er fand mitunter im Unibuchhandel einen Aushilfsjob. Manchmal fanden sie interessante Stellenangebote und fuhren für Vorstellungsgespräche in die entlegendsten Winkel der Republik, nur um enttäuscht und ohne Zusage zurückzukehren. Da halfen die guten Beziehungen zu seinen Eltern sehr, um sich an so manchem Wochenende wieder einmal dort durchzufuttern. Befriedigend fanden sie die Situation mitnichten.
„Ich will dich bei mir haben, wenn du nicht bei mir bist“, wurde er an einem Nachmittag empfangen.
„Ja, das klingt logisch!“
„Keine Witze, Herr Doktor! Ich habe für den frühen Abend einen Termin bei einem Fotographen gemacht.“
„Wozu? Wir versetzen unser Mobiliar, um wenigstens von trockenem Brot und Wasser leben zu können, und du engagierst einen Paparrazzo?“
„Keine Widerrede. Und zieh dir ein sauberes T-Shirt an, auf dem man nicht sieht, was du zu Mittag gegessen hast.“
„Mir bleibt wohl nichts erspart“, beschwerte er sich, folgte aber gehorsam ihren Anweisungen.
Mit dem Ergebnis der Fotositzung waren beide außerordentlich zufrieden, der junge Mann verstand es sehr gut, seine Modelle ins rechte Licht zu rücken und ihnen ein freundliches Lächeln in die Gesichter zu zaubern. Zum Abschluss wollte er erfahren, wie viele Abzüge in welchen Formaten die beiden haben wollten. Wolfgang bestellte für sich eines in Passfotogröße für sein Portemonnaie, Meret bestand auf einem Abzug im Format DIN A 3. Auf dem Heimweg kaufte sie einen Bilderrahmen für diese Größe. Nachdem die fertigen Bilder abgeholt worden waren, zierte dieser Rahmen den Holzkasten, der als Ersatz eines Schränkchens neben ihrem Bett stand.
Ein halbes Jahr später marschierte er während der Sommersemesterferien zur Uni, um endgültig alle Verbindungen zu lösen und der Aufforderung seines ehemaligen Mentors zu folgen, endlich den Arbeitsplatz zu räumen. Irgendwie hatte sich in all den Jahren nichts verändert, immer noch waren alle Wände mit Postern, Pamphleten und Angeboten beklebt, und selbst in dieser vorlesungsfreien Zeit konnten sich einige Studentenbewegungen nicht mit Aktionen und Kundgebungen zurückhalten. Er passierte gerade den Stand des RCDS, als ihn jemand anzischte:
„Psssst! Hey Wowwang!“
Es gab nur wenige, die ihn so nannten, und diese Bezeichnung gefiel ihm genauso wenig wie das ͵Wolferl΄ seiner Mutter. Er drehte sich um und traute seinen Augen nicht.
„Bernd! Hast du dich im Stand verirrt? Mensch, der Schah ist abgehauen, Khomenii ist zurück im Iran und Karl Carstens ist Präsident. Du musst doch mit roten Fahnen durch die Hauptstadt ziehen!“
Fast hätte er ihn nicht erkannt, wie er dort stand, adrett mit gestärktem weißen Hemd und sorgfältig gebügelter Stoffhose. Fehlte nur die Krawatte.
„Mach dich ruhig lustig. Ich habe die echte Herausforderung gefunden und bin froh, dazu zu gehören. Wahrscheinlich ganz im Gegensatz zu dir, oder?“
„Sollte es noch einmal einen Aufstand der Besitzlosen gegen das Establishment geben, stünde ich in der ersten Reihe. Dabei fällt mir ein: ich bekomme noch zehn Mark von dir.“
„Betrachte es als Spende an die internationale christliche Gemeinschaft. Ich bin Gesinnungsfranziskaner und habe allen irdischen Gütern abgeschworen.“
„Aber Meret hat mir erzählt, dass sie dich am vergangenen Wochenende in der Kaschemme gesehen hat.“
„Nun mach mal halblang! Alles hat seine Grenzen, und auch die ärmsten Sünder werden von der Kirche aufgefangen.“
„Dann weiß ich dich in bester Gesellschaft und habe eine Sorge weniger. Mach`s gut!“
„Nicht so schnell, warte! Ich habe einen ganz wichtigen Tipp für dich.“
„Ja, bitte?“
„Ja, also, weißt du, das nächste Wochenende steht an, und ich bin gerade furchtbar klamm. Wenn du mir da etwas aushelfen könntest. Das wäre echt ein wertvoller Akt christlicher Nächstenliebe.“
Also kramte Wolfgang wieder einmal die letzten Münzen hervor, um sie dem armen Glaubensbruder für geistige Getränke in der Kaschemme zukommen zu lassen. Als er sich zum Gehen abwandte, fasste Bernd ihn am Arm.
„Ich habe dir doch etwas versprochen. Und Versprechen habe ich noch nie gebrochen.“
„Fast nie. Eigentlich immer.“
„Ja, ist ja gut, hör auf. Jetzt kommt`s: Aimée Mauduit in Paris, Sekretärin von Jean Dorst. Da solltest du dich mal melden. Aber schnell, das Angebot steht nicht mehr lange.“
„Welches Angebot?“
„Sei nicht so begriffsstutzig. Jean Dorst ist der Direktor des Nationalmuseums für Naturgeschichte in Paris, und von seiner Sekretärin, eben dieser Aimée, weiß ich, dass die ganz dringend einen Ozeanographen suchen.“
„Ach so, ja. Paris. Sag mal, kannst du mir das Geld für ein Zugticket und eine Übernachtung leihen?“
„Du bist ein Witzbold! Nutze deine Chance, alles Gute dafür.“
Damit wandte Bernd sich von ihm ab, um bloß nicht die gerade geschnorrten Münzen zurückgeben zu müssen, und Wolfgang ging seines Weges. Der Hinweis wollte ihm nicht aus dem Kopf, und Paris wäre schließlich nicht der schlechteste Ort für einen ersten ernstzunehmenden Job. Sollte er es wagen? Es war nicht ganz billig, und eine Übernachtung müsste mindestens zusätzlich eingeplant werden. Das alles für eine weitere Absage? Man könnte vorher anrufen, wenn sich die Nummer ausfindig machen ließe, aber seiner Erfahrung nach ging nichts über das persönliche Gespräch. Zu dumm, dass Meret gerade für ein Vorstellungsmarathon in Bremen weilte, sie hätte ganz sicher gewusst, was zu tun war.
Sein Heimweg führte am Hauptbahnhof vorbei, dort erfragte er, nur für alle Fälle, den Preis für eine Rückfahrkarte. Noch immer unentschlossen und ganz in Gedanken kam er zu Hause an, wo er seinem Nachbarn Gerd Reppes im Hausflur begegnete.
„Wolfgang, ich brauche deinen Trost und Beistand. Komm in meine Bude, ich muss mich betrinken.“
Etliche Flaschen Bier später lag der Grund für Gerds Trauer klar auf dem Tisch. Sein Vater, Besitzer einer Großbrauerei in Bayern, wollte sich zur Ruhe setzen und seinen einzigen Sohn zum Direktor machen.
„Kannst du dir das vorstellen?“, fragte Gerd. „Ich mit Maßanzug und Chauffeur in Vorstandssitzungen, im Sommer Strandurlaub in unserem Ferienhaus in Monaco, abends eingeladen von Fürst Rainier und Gracia Patricia, im Winter Urlaub in Sankt Moritz. Es ist furchtbar!“
„Ich könnte mich bereit erklären, dir beim Geldverschwenden unter die Arme zu greifen.“
„Darauf müssen wir trinken. Prost.“
Im Laufe des Abends hörte Wolfgang auf zu versuchen, mit seinem Nachbarn, der offenbar überhaupt nicht betrunken wurde, Schritt halten zu wollen. Irgendwann beschloss Gerd, sein Schicksal hinreichend bedauert zu haben und begann, sich für Wolfgangs Gemütszustand zu interessieren. Als er von dessen jüngsten Erlebnissen hörte, bot er ihm sofort an, das Ticket und die Hotelrechnung zu übernehmen.
„Das nehme ich auf gar keinen Fall an“, lehnte der junge Doktor der Ozeanographie ab.
„Du musst! Ab morgen früh bin ich weg in Bayern, was kann ich dann noch für dich tun? Sollte ich jemals für eine bayerische Brauerei einen Ozeanographen brauchen, stelle ich dich sofort ein. Nimm es als Werbegeschenk. Nicht lange fackeln, Tasche packen und sofort los!“
„Und Meret?“
„Ruf sie an!“
„Ich weiß noch nicht einmal, wo sie gerade ist.“
„Dann leg ihr eine Nachricht auf den Tisch! Du bist ja in zwei Tagen wieder da.“
Viel gab es nicht einzupacken, Zahnbürste, frische Wäsche, Papiere, das musste reichen. Dann schrieb er eine Nachricht für Meret auf einen Briefbogen, den er auf den Küchentisch legte:
Meine allerliebstereste Meret!
Ein Stellenangebot aus Paris!!! Ist das zu fassen? Ich muss bis morgen vorgesprochen haben, deshalb entschuldige bitte meine überstürzte Abreise. Bin übermorgen wieder da, für Dich, für Alles!
Ich küsse Dich und vermisse Dich schon jetzt!
Dein Dich liebender Doktor der Meeresgynäkologie Wolfgang Müller
Er würde doch nur für knapp zwei Tage fortbleiben, bis dahin war sie vielleicht noch gar nicht wieder zurück. Als er in Eile, um den Nachtzug noch zu erreichen, hektisch die Wohnungstür aufriss, zog durchs geöffnete Badezimmerfenster von ihm unbemerkt ein heftiger Windstoß durch die Wohnung und blies die Nachricht vom Tisch, die dann langsam durch den Raum schwebte und schließlich unterm Küchenschrank landete.
She seems to have an invisible touch, yeah, she reaches in an grabs right hold of your heart.(Invisible Touch, vom gleichnamigen Album, 1986, Genesis, Text und Musik: Tony Banks, Phil Collins, Mike Rutherford)
So kam es, dass Wolfgang, bewaffnet mit den allernötigsten Utensilien für eine Nacht, um 23.35 Uhr im Nachtzug nach Paris mit einem Umstieg in Hamburg saß, zweiter Klasse und Raucherabteil, weil etwas anderes nicht mehr zu bekommen gewesen war. Er würde einen großartigen Eindruck beim Vorstellungsgespräch hinterlassen: von Zigarettenqualm durchtränkte Kleidung, etwas verkatert von dem Umtrunk mit Gerd und mit einer abgegriffenen Handgepäcktasche. Meret hätte ihn so niemals ziehen lassen. Wenigstens war ihm Zeit genug geblieben, sich am Bahnhof einen Faltplan von Paris zu kaufen, es blieben gut dreizehn Stunden Zeit, darin zu blättern und herauszufinden, wie er zu diesem Nationalmuseum gelangen sollte. Im Straßenverzeichnis war das Institut tatsächlich mit der Rue Cuvier, nicht allzu weit vom Bahnhof Montparnasse entfernt, angegeben. Dann konnte er wenigstens während des Fußweges versuchen, den Nikotingeruch, den Restalkohol und den Schlafmangel durch die Nachtfahrt aus den Kleidern zu schütteln.
Am Mittag in Paris angekommen ärgerte er sich immer noch, dass er nicht mit Meret hatte sprechen können. In einer Illustrierten waren Berichte erschienen, dass es bereits erste mobile Telefongeräte, sogenannte Knochen, zu einem horrenden Preis für den Einbau in Autos gab, mit wirklich tragbaren Geräten gab es in der Schweiz tatsächlich schon Testdurchläufe. Zwar besaß er gar kein Auto, aber diese Möglichkeit der Kommunikation wollte er sich in naher Zukunft auf keinen Fall entgehen lassen.
Mit Hilfe des faltbaren Stadtplans fand er die Rue Cuvier ohne Probleme, die Dame am Empfang verstand trotz seiner völlig unzureichenden Französischkenntnisse auch, in welcher Angelegenheit er den Direktor zu sprechen wünschte. Monsieur Dorst war sogar anwesend und bereit, ihn zu empfangen, wenig überraschend, wie er wenig später feststellen sollte. Ein Museumsangestellter brachte ihn zum Büro, wo er direkt ins Vorzimmer geleitet und von einer hübschen jungen Dame begrüßt wurde.
„Bonjour, Monsieur. Que puis-je faire pour vous?“
„Äh, ja, guten Morgen, Bonjour, ich bin Monsieur Müller. Je veut parler mit dem Direktor“, radebrechte er nervös.
„Ah, du bist Wolfgong Müller, aus Döitschlond. Isch bin Aimée Mauduit. Schön, dass du bist da, gerade noch reschtzeitisch. Du kannst reden auf doitsch, isch `abe studiert in Fribourg. Bernard `at misch vorböreitet.“
Sieh mal einer an, dachte Wolfgang. War der gute Bernd doch hilfreicher als gedacht.
„Oh, wie schön. Mein Französisch ist nämlich nicht so gut. Bernd hat mir gesagt, dass ihr hier einen Ozeanographen gebrauchen könnt. Ich habe alle Papiere mitgebracht. Kann ich den Herrn Dorst sprechen.“
„Naturellement, sischerlisch. Und Französisch wirst du nischt brauchen, da wo du arbeitest. Wo ist Gepäck für das Jahr?“
„Diese Tasche ist alles. Bis morgen wird es reichen, dann hole ich den Rest nach.“
Was meinte sie damit, dass er keine Französischkenntnisse brauchen würde? Und warum Gepäck für ein Jahr? Sollte ein solcher Wust an Arbeit auf ihn warten, dass er überhaupt nicht aus seinem Laboratorium herauskäme?
„Erst isch bringe disch zu directeur, dann du bekommst alle Papiere, et alors, los es geht!“, sagte sie, und drückte einen Knopf zur Gegensprechanlage.
„Monsieur Dorst, l`océanographe allemand est ici.“
„Merveilleux! À l`intérieur!“, kam es zurück.
Er verstand nicht ganz, was sie meinte, war aber froh, dass sie mit ins Büro des Direktors kam, um eventuell als Dolmetscherin eingreifen zu können. Das erwies sich hingegen als überflüssig, weil ein überaus freundlicher Mittfünfziger ihn in fließendem Deutsch willkommen hieß und sich als Jean Dorst vorstellte. Er war 1924 im Elsass zur Welt gekommen, was seine Sprachkenntnisse erklärte.
„Wenn Sie gestatten, Herr Müller, nenne ich Sie Wolfgang. Wir duzen uns hier alle. Schön, dass du so schnell kommen konntest, und noch besser, dass Bernard uns alles Notwendige mitgeteilt, sogar ein Foto und eine Kopie deiner Promotion geschickt hat. So konnten wir die erforderlichen Papiere tatsächlich noch zeitnah beschaffen. Das Ministerium hat ausnahmsweise prompt mitgearbeitet. Du musst nur noch unterschreiben.“
Wolfgang verstand gar nichts mehr. Ministerium, Papiere, Unterschrift – was sollte das alles? Wieso verfügte Bernd über Kopien und das Foto? Und was wollten die hier damit anfangen?
„Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nicht. Wollen Sie mir nicht erst meinen Aufgabenbereich beschreiben?“, stotterte er.
„Oh, hat Bernard dir nicht alles erzählt? Ich mache es kurz, denn der Wagen wartet schon. Und bitte, wir sind per du!“
„Der Wagen, welcher Wagen?“
„Eh bien. Wir brauchen dich für ein Forschungsprojekt auf den Neuen Hebriden. Sagt dir das etwas?“
„Wenig. Die liegen, wenn ich das richtig weiß, ziemlich weit weg und gehören zu Frankreich.“
„Etwa 16500 km Luftlinie, und sie werden von Großbritannien und Frankreich gemeinsam verwaltet.“
16500 km, das verschlug ihm nun vollends die Sprache. Da konnte man nicht mal eben nach Hause fahren oder sich bei den Eltern am Wochenende durchfuttern.
Herr Dorst fuhr unbeirrt fort: „Vielleicht hast du gehört, dass die Inseln die Unabhängigkeit anstreben und sowohl London als auch Paris damit einverstanden sind. Wir wollen das Land aber nicht völlig ins Unbekannte stürzen lassen. Deshalb wird es deine Aufgabe sein, eine umfassende Studie über die Meeresfauna der Region zu erstellen. Du fliegst direkt von Paris mit einem Zwischenstopp zum Auftanken in San Francisco zum Hauptort Port Vila. Dauert etwa dreißig Stunden. Dort wartet ein Boot, dass dich zur Forschungsstation auf einer kleinen Außeninsel, nämlich Étarik bringen wird.“
„Und wann soll es losgehen?“
„Jetzt. Mein Wagen bringt dich zum Flughafen, und um 17 Uhr fliegst du ab.“
Wolfgang fiel der Unterkiefer herab.
„Ich habe gar keinen Koffer. Was ist mit einem Visum? Ich muss doch meine Freundin informieren! Wie soll ich mich dort verständigen? Was…“, stammelte er.
„Wir haben noch vier Stunden Zeit, genug, um das Nötigste einzukaufen. Am Flughafen wirst du direkt ohne Abfertigung zur Maschine gebracht. Ein Visum brauchst du nicht, weil die Neuen Hebriden zu Frankreich und England gehören. Und um die Sprache musst du dir schon mal gar keine Sorgen machen.“
Aimée mischte sich ins Gespräch ein.
„Isch bin dir so neidisch. Ganz alleine auf Insel in großes océan, wie romantisch. Eine ganze Jahr nur du und Fische und tauchen und Sonne und Strand!“
Er suchte immer noch nach Ausreden. Das kam ihm doch alles etwas zu plötzlich.
„Ich habe gar kein Geld, um etwas einkaufen zu können. Und ich muss mich unbedingt mit meiner Freundin besprechen.“
„Non, non“, fiel ihm Aimée ins Wort. „Wir `aben gemacht eine Liste mit Sachen, die du musst unbedingt mitnehmen, und du musst in Kauf`aus nur sagen für Muséum National d`Histoire Naturelle, dann sie schicken billet an uns. Und isch sage Freundin, dass du bist auf eine einsame Insel. Alles wird gut. Du musst sagen ja!“
„Das kommt so plötzlich, ich könnte doch auch etwas später hinterherfliegen. Warum macht ihr das nicht selbst?“, wandte Wolfgang sich wieder an den Direktor.
Jean Dorst erklärte: „Ich bin Ornithologe, das gehört also nicht zu meinem Fachgebiet. Flora und Fauna der Inseln haben die Briten übernommen. Und es muss wirklich heute sein, weil wir extra eine Militärmaschine für das gesamte Forscherteam organisiert und mit allen Überflugerlaubnissen ausgestattet haben. Es tut mir leid, dass dir so wenig Vorbereitungszeit geblieben ist. Aimée wird noch das Finanzielle mit dir regeln. Bon voyage, au revoir!“
Er schüttelte tatsächlich die ihm entgegengestreckte Hand und folgte Mademoiselle Mauduit ins Vorzimmer. Was er dort erfuhr war allerdings sehr erfreulich. Er erhielt gleich vorab 2000 Franc Vorauszahlung und für die Dauer seiner Tätigkeit würden monatlich 4000 Franc steuerfrei auf sein deutsches Konto überwiesen. Vor Ort brauche er das Geld nicht, die Versorgung erfolge kostenfrei von der Hauptstadt aus. Bei diesen Summen wurde ihm schwindelig. 4000 Franc, das waren mehr als 1700,- DM! Solche Summen wären für Meret und ihn ein warmer Geldsegen!
Als die Maschine abhob wurde ihm immer mulmiger zumute. Hatte er wirklich zugesagt? Warum? Lag es am zweifellos umwerfenden Charme von Aimée? Ihre Hilfe beim Abarbeiten der Einkaufsliste war sehr wertvoll gewesen, und er glaubte ihrer Versicherung, ganz bestimmt Meret in Deutschland zu verständigen. Dann wurde er noch mit etlichem Informationsmaterial über den Zielort wie auch über seinen Arbeitsbereich versorgt, bevor er sich unversehens in der Militärmaschine der französischen Luftwaffe wiederfand, wo man ihn mit den Mitgliedern der englischen Gruppe bekanntmachte.Verglichen mit dem Komfort dieses Flugzeuges musste man die gewöhnliche Economy Class in einem normalen Linienflug für luxuriös halten. Er saß wie alle anderen auf einer einfachen Pritsche, Service gab es selbstverständlich gar nicht und es brummte entsetzlich laut. Also nutzte er die langen Stunden des Fluges, um sich mit Hilfe der Broschüren auf das Reiseziel vorzubereiten.