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Beschreibung

Marcel Reich-Ranicki hat das literarische Leben in Deutschland geprägt wie wenige andere: Als Leiter der Literaturredaktion der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« war er der erfolgreichste, aber auch umstrittenste Literaturkritiker seiner Zeit. Mit dem »Literarischen Quartett« wurde das Fernsehen zur machtvollen Bühne seiner Kritik. Was er lobte, wurde gelesen, gefürchtet waren seine Verrisse. In diesem Buch erleben wir ihn in seinen eigenen Worten: Offen und ehrlich spricht Reich-Ranicki darin über seine Kindheit und frühe Jugend in Polen, die Schulzeit in Berlin, die düstere Zeit des Nationalsozialismus und sein Leben als Literaturkritiker. Das Buch stützt sich auf Gespräche mit Paul Assall, die noch nie zuvor veröffentlicht wurden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

Dank

»Ich schreibe unentwegt ein Leben lang«

Nachwort

Vorwort

Von einem kleinen Ruhestörer

»Für Günter Grass, der doch auch zu den großen Ruhestörern gehört – von einem kleinen Ruhestörer – sehr herzlich Marcel Ranicki«.[1] Mit diesem kokett-ironischen Augenzwinkern bedankte sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki brieflich für eine Grafik, die ihm Günter Grass im Mai 1973 geschenkt und mit »Nonne mit Aal« signiert hatte, für seinen »Freund (Zweifel) Marcel Reich-Ranicki«.

In seinem Buch Aus dem Tagebuch einer Schnecke hatte Grass in die imaginäre Figur des »Zweifel« die Geschichte von Reich-Ranicki und seiner Frau Teofila eingeschrieben, die Überlebensgeschichte eines Ehepaars im Warschauer Untergrund, das von einem Arbeiterehepaar versteckt und so vor den Nazimördern gerettet wurde. Reich-Ranicki hatte Grass einmal davon erzählt. Grass griff sie auf, um die Geschichte der Verfolgung der Danziger Juden in das Tagebuch einer Schnecke einzuarbeiten. Reich-Ranicki hatte das Werk nie rezensiert, war davon aber sehr angetan, und als man sich gelegentlich traf, lud Grass ihn und seine Frau Teofila einmal spontan zum Abendessen in sein Haus in Wewelsfleth ein.

Ein Versöhnungsessen mit Fisch und Gräten. Dazu muss man wissen: Reich-Ranicki »hasste und fürchtete Gräten«. Die ungnädige Besprechung seiner Blechtrommel, die Reich-Ranicki als erste Arbeit für die Wochenzeitung Die Zeit nach seiner Ausreise aus Polen in die Bundesrepublik zum 1. Januar 1960 verfasst hatte, hatte Grass wohl noch nicht vergessen. Eine Rezension, die Reich-Ranicki später teilweise revidierte, die gleichwohl aber der Auftakt war für eine jahrzehntelange Hassliebe zwischen den beiden Gladiatoren der deutschen Literatur, dem späteren Literaturnobelpreisträger und dem ebenso umstrittenen wie geschätzten »Literaturpapst«, dem Autor unzähliger Kritiken, Essays und Bücher zur deutschen Literatur.

Reich-Ranicki schrieb Über Ruhestörer wie auch über Juden in der deutschen Literatur, ein Buch, das er damals zu dem Abendessen als Geschenk für Grass mitbrachte. Darin hatte er Essays über Ludwig Börne, Heinrich Heine, Hermann Kesten, Manès Sperber, Hans Mayer und andere versammelt. Gewidmet »dem Andenken jener, die von Deutschen ermordet wurden, weil sie Juden waren. Zu ihnen gehören mein Vater David Reich, meine Mutter Helene Reich, geb. Auerbach, und mein Bruder Alexander Herbert Reich.« Sicherlich ein Gastgeschenk mit Hintergedanken: Grass der »große« Ruhestörer und er der »kleine« Ruhestörer, der sich doch bewusst war, dass er auch zu den »Großen« zählte. Er war immerhin der »Große« im deutschen Literaturbetrieb, einer, dessen Leben von deutscher, von deutsch-polnischer Geschichte gezeichnet und vom nationalsozialistischen Grauen bedroht war; dessen Wirken in der Bundesrepublik immer wieder von antisemitischen Skandalen und Anfeindungen unterschwellig oder offen begleitet wurde.

Ihm saß ich gegenüber an einem grauen Wintertag Anfang 1986, den Monat, den genauen Tag weiß ich nicht mehr. Ich fuhr dorthin im Auftrag des Verlegers Egon Amman, um den biografischen Teil eines Projekts zu bewältigen, zu dem der Zürcher Literaturwissenschaftler Peter von Matt den zweiten, den literaturkritischen Part übernahm. Ein Doppelporträt also, von dem letztlich allerdings nur das Gespräch mit Peter von Matt erschien, das war 1992, und es trug den Titel Der doppelte Boden. Warum mein Gespräch entfiel, weiß ich bis heute nicht. Weder Ammann, für den ich in den Anfangsjahren des Verlags als freier Lektor tätig gewesen war und der mich wegen meiner Rolle als Redakteur und Interviewer der Hörfunk-Gesprächsreihe Zeitgenossen des Südwestfunks zu diesem Gespräch geradezu überredet hatte, noch Reich-Ranicki äußerten sich dazu.

Möglicherweise wurde dem Verlag der Druck beider Gespräche zu voluminös. Vielleicht aber spielte auch eine Rolle, dass man einen renommierten Literaturwissenschaftler mit einem eher unbekannten Hörfunkjournalisten zusammengesetzt hatte. Ein Manko für das Marketing. Oder aber in Reich-Ranicki reifte nach der Lektüre der Gedanke, selbst seine Biografie zu schreiben. Das mag wohl auch Egon Ammann bewusst gewesen sein, der Reich-Ranicki sehr hofierte, ihm zum Beispiel die literarischen Novitäten des Verlags – in der Hoffnung, dass er sie besprechen möge – persönlich nach Frankfurt brachte. Natürlich nicht, ohne einen Blumenstrauß für Teofila und die geliebten Menthol-Zigaretten zu vergessen, denn vielleicht würde er den Kritiker und seine Autobiografie eines Tages für seinen Verlag gewinnen können.

Als ich Reich-Ranicki in unserem Gespräch fragte, ob er nicht selbst einmal schreiben wolle, war ihm anzumerken, dass er wusste, worauf diese eher beiläufig gestellte Frage abzielte. Mit seiner Antwort »Ich schreibe unentwegt ein Leben lang« wich er näheren Ausführungen geschickt aus, was aber nicht ausschloss, dass er über sein Leben eines Tages schreiben würde. Dass er dies dann 1999 als fast Achtzigjähriger bei der Deutschen Verlags-Anstalt auch tat, dazu hatten eine Reihe von Ereignissen, Enttäuschungen, Kränkungen, Demütigungen und auch Freundschaftsbrüchen schließlich beigetragen.

Das Gespräch mit ihm stand anfangs unter keinem guten Stern. Er schien griesgrämig gestimmt zu sein. Er hatte erwartet, dass Ammann, den er offensichtlich mochte, mitkommen würde. Das hatte ich aber abgelehnt. Meine Erfahrung hatte gezeigt, dass ein Dritter im Hintergrund solche Gespräche nur behindert, zumal Tonband und Mikrofone allein schon die Nähe zwischen den Sprechenden stören. Er saß rechts von mir vor seiner gewichtigen Bücherwand; ich hatte seine Bilderwand im Rücken, die mir wie eine Trophäensammlung vorkam: Goethe, Schiller, Börne, Heine, Heinrich und Thomas Mann, Brecht, Frisch und andere. Ihnen hat er in seinem Buch Meine Bilder Porträts und kleine Aufsätze gewidmet. Darunter auch Fontane, eine Lithografie von Max Liebermann, die er »von einem Freund geschenkt bekommen« hatte, »der wusste, dass ich, wie er selber, Fontane schätze und liebe. Die handschriftliche Widmung findet sich auf der Rückseite des Porträts und lautet: ›Immer noch unverändert. Ihr Joachim Fest. Weihnachten 1973‹«.

Gleich die Eröffnung unseres Gesprächs, die erste Frage nach der genuinen Aufgabe des Kritikers, passte ihm nicht. Er sprang von seinem Sessel auf und protestierte, diese Frage stehe eigentlich nur Peter von Matt zu. Kurz etwas eingeschüchtert, versuchte ich mich zu entspannen und klarzustellen, dass ich sein Leben und seine Arbeit als Literaturkritiker in engem Zusammenhang sehen möchte. Unerwähnt ließ ich, dass meine »Strategie« auf den Komplex Anerkennung und Liebe hinauslaufen sollte. Mir war bei der Vorbereitung zu dem Gespräch in seinen vielen Kritiken, Essays, Aufsätzen und Interviews aufgefallen, dass er sehr häufig das Thema Liebe ansprach. Er hatte 1985 den Band Über die Liebe herausgegeben, dieser enthielt Gedichte und Interpretationen aus der Frankfurter Anthologie. Das Thema Liebe also, die Frage nach Identität, Zugehörigkeit, nach Anerkennung, nach dem Geliebtwerden, schien ihm ein Herzensanliegen gewesen zu sein. Es sollte der Zieleinlauf meines Gesprächs mit ihm werden.

Drei Stunden sprachen wir dann am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag. Dazwischen ein kleines Mittagsessen, das seine Frau zubereitet hatte. Es wurde stumm eingenommen. Unwirsch sah er dabei seine Post durch. Eine einzige Frage stellte er mir: ob das Rot des Umschlags einer Edition von Wolfgang Koeppens Gesammelten Werken, die er im Suhrkamp Verlag herausgab, passend sei. Ich bejahte, und seine Frau Teofila legte ihre Stirn in Falten, als wollte sie mir bedeuten: »So ist er halt.« Unentwegt obsessiv und leidenschaftlich im Dienste der Literatur.

Von Anfang an. In Polen am 2. Juni 1920 in Włocławek an der Weichsel geboren, 1929 aufgrund ökonomischer Miseren des Vaters mit der Familie nach Berlin übergesiedelt, bot ihm als Jude und Außenseiter, dem die Integration in die deutsche Gesellschaft versagt worden war, die deutsche Literatur schon früh einen Zufluchtsort. Erst recht nach 1938, als die Familie nach Polen deportiert worden war. Im Warschauer Getto, mit dem Tod vor Augen, erhielt die Literatur für ihn existenzielle Bedeutung. »Ich war verliebt in sie, die Literatur«, bekannte er. Eine seiner Lieblingslektüren in Berlin war Thomas Manns Novelle Tonio Kröger, in der ihm der Widerstreit zwischen Künstler und Bürger begegnete. Darin konnte er lesen über »das Gefühl der Separation und Unzugehörigkeit, des Erkannt- und Beobachtetseins«. Auch ihn belastete, dass man »kaum die Augen aufzuschlagen und ein Wort zu sprechen« braucht »und jedermann« wissen wird, »daß Sie kein Mensch sind, sondern irgendetwas Fremdes, Befremdendes, anderes …«.[2]

Es waren Gefühle und Empfindungen, die ihn auch nach 1958, nach der Ausreise aus Polen und der Einreise in die Bundesrepublik, zu der ihm Heinrich Böll verholfen hatte, nie verließen. Nicht während seiner Arbeit als freier Literaturkritiker für Die Zeit und auch nicht im Kreis der Gruppe 47, wo er alsbald zu einem einflussreichen Kritiker aufgestiegen war. Manchmal fühlte er sich »angekommen«, aber dann auch wieder nicht. Er war Jude, Deutscher und Pole, aber kein religiöser Jude, er glaubte an keinen Gott. Und eigentlich war er auch kein Pole und kein Deutscher. Er hatte ein Selbstbild, könnte man sagen, das sich aus allen diesen Elementen zusammensetzte: eine transitorische Existenz, in sich ein portables Vaterland mit Literatur und Musik im Gepäck. Eine Grunderfahrung, die er – ein Vergleich, der mir gar nicht so weit hergeholt zu sein scheint – mit Vertretern der Frankfurter Schule, mit Horkheimer, Adorno, Marcuse oder Fromm, teilte, nämlich »mitten in der Gesellschaft Außenseiter zu bleiben«, für den »keine Anpassung (ausreichte), um sich je der Zugehörigkeit zur Gesellschaft sicher sein zu können«.[3]

Für die Zeit konnte Reich-Ranicki regelmäßig Artikel verfassen, doch die Redaktion hielt ihn auf Distanz. Er machte sich mit seinen Kritiken zwar einen Namen, sozial aber blieb er isoliert, zu keiner einzigen Redaktionskonferenz war er eingeladen worden. Eine Anstellung hatte man dort zwar diskutiert, die Redakteure des Feuilletons aber äußerten durchaus antisemitisch grundierte Bedenken, ob sie »einen so machtbewußten rabulistischen Mann aushalten würden«, wie es freimütig in der Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Wochenzeitung hieß. 1973 kündigte Reich-Ranicki seine Tätigkeit bei der Zeit auf.

Dieselben Irritationen nahm er in der Gruppe 47 wahr, in der eine ganze Reihe von Kritikern und Schriftstellern jüdischer Abstammung ihren Auftritt hatte: Hans Mayer, Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss oder Erich Fried. Ein latenter Antisemitismus war dennoch zu spüren. »Man wurde in der Gruppe als Jude wahrgenommen«, antwortete Reich-Ranicki »diplomatisch verpackt« Ina Hartwig, die ihn für ihre Biografie über Ingeborg Bachmann befragte. »Was aber die früheren Soldaten sprachen, wenn sie unter sich waren – und unter den Mitgliedern der Gruppe 47 waren natürlich nicht wenige ehemalige Wehrmachtssoldaten –, weiß ich nicht. Dass dabei antisemitische Akzente geäußert wurden, halte ich für sehr gut möglich. Natürlich waren die meisten Anwesenden antisemitisch gefärbt. Es war eine Generation, die zumindest von der ›Hitler-Jugend‹ erzogen wurde.«[4] Ein verräterisches Indiz für diese Einschätzung ist von Hans Werner Richter, dem Primus inter Pares der Gruppe, überliefert, dessen Verhältnis zu Juden von Reich-Ranicki als »befangen und verkrampft«[5] beschrieben wurde. In der Gruppe 47 glaubte er dennoch, »eine Art Zuflucht gefunden zu haben«, und er meinte zu wissen, wo er »hingehörte«. In der Erinnerung Hans Werner Richters wird dagegen ein etwas anderes Bild gezeichnet: »Ich lud ihn wieder ein und immer wieder, (…) doch er blieb irgendwie ein Außenseiter, einer der dazugehörte und doch nicht ganz dazugehörte. Ich kann nicht erklären, warum das so war oder warum ich es so empfunden habe.«[6]

Unser Gespräch war in den frühen Abendstunden zu Ende. Seitdem blieb es unveröffentlicht. Wenn es heute erscheint, wird vieles aus Reich-Ranickis Leben, aus dem privaten wie dem öffentlichen, naturgemäß vermisst werden. Irritationen, die sein Selbst, sein Selbstbild erschütterten und vor allem seine eigene große Frage, ob er in der bundesdeutschen Gesellschaft angekommen sei, zeichneten unser Gespräch aus. Er wurde bewundert, verehrt und gleichzeitig von manchen verachtet, gar gehasst.

Seine »Verrisse« waren gewiss schmerzhaft für die Autoren, für Peter Handke, Martin Walser, Botho Strauß oder Günter Grass, dessen »Wiedervereinigungsroman« Ein weites Feld er 1995 im Spiegel mit dem Untertitel Über das Scheitern eines großen Schriftstellers als »mißraten« abkanzelte, als wertlose Prosa gewissermaßen. Die derart vor den Kopf Gestoßenen ließen sich ihrerseits freilich nicht lumpen. Reich-Ranicki kritisiere, was auf ihn selber zutreffe, schimpfte Grass seinerzeit. Er habe im Literarischen Quartett, das nebenbei bemerkt Fernsehgeschichte geschrieben habe, die Literaturkritik »trivialisiert«. »Mit großem Geschrei« inszeniere er dort eine »Ein-Mann-Show«. Handke stellte ihn in seiner Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire gar als mordlustigen Leithund dar, Walser versetzte ihm mit seinem Buch Tod eines Kritikers einen bösen Schlag unter die Gürtellinie. Es sei wahr, er habe viele Feinde, wie er im Gespräch mit Peter von Matt selbst einräumte, das gehöre eben zu seinem Beruf. Aber er hielt sich nie für einen Unfehlbaren. Subjektive Urteilsfähigkeit, Klarheit und Entschiedenheit, stets an den Leiden des Individuums interessiert, das waren seine Leitlinien. Irrtümer gehörten für ihn zum Berufsrisiko. Literatur solle Lust bereiten, nicht Unlust erzeugen. Und er hätte sicherlich dem Bonmot zugestimmt oder besser der Einsicht, die Karl Kraus zugeschrieben wird, dass manche Werke gar nicht durchfallen können, höchstens die Kritik an ihnen.

Gravierender für ihn waren das Zerwürfnis und der Bruch seiner Freundschaft mit Joachim Fest, dem Verfasser einer hochgelobten Hitler- und einer fragwürdigen Speer-Biografie. Sie hatten sich bereits in Hamburg kennengelernt. Und als Fest zum Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berufen wurde, verantwortlich für das Feuilleton, holte er Reich-Ranicki 1973 als Literaturchef nach Frankfurt. Für Reich-Ranicki ein Glücksfall. Dort wurde er zu dem, was ihn eher amüsierte, zum »Großkritiker«, zum »Literaturpapst«, zu einem der wichtigsten Literaturvermittler der Republik.

Zum Bruch mit Fest kam es, als dieser im Juni 1986 gegen den Willen Reich-Ranickis im Feuilleton einen Artikel des Historikers Ernst Nolte veröffentlichte: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Eine rhetorisch hintersinnige Attacke auf das vorherrschende bundesdeutsche Geschichtsbild der nationalsozialistischen Herrschaft, die in der Frage gipfelte: War Stalins Archipel Gulag nicht ursprünglicher als Auschwitz, der »Klassenmord« der Bolschewiki nicht das logische Prius des »Rassenmords« der Nationalsozialisten? Ein Artikel, der eine leidenschaftliche Debatte auslöste, die als »Historikerstreit« ein Jahr lang andauerte.

Reich-Ranicki war empört über Fest. Schon einmal war er von ihm düpiert worden. 1973, als Fests Hitler-Biografie in der Villa seines Verlegers Wolf Jobst Siedler geladenen Gästen präsentiert wurde. Auch Reich-Ranicki war mit seiner Frau eingeladen, wusste jedoch nicht, dass er dort auf Albert Speer, den Architekten und Lieblingsminister Hitlers treffen würde, der Ehrengast des Abends war und der sie beide »wie alte Freunde« begrüßte: »Ja, so war es, er begrüßte uns geradezu herzlich. (…) Dieser dezente Herr, (…) der ein Verbrecher war, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands.«[7]

Warum hatte ihn Fest nicht gewarnt, nicht informiert, fragte Reich-Ranicki sich. Und warum hatte er selbst damals geschwiegen? Er hatte die künftige Zusammenarbeit bei der FAZ nicht belasten wollen. Aber diesmal, in der Kontroverse um Nolte, ging ihm Fest zu weit. Er verdankte Fest viel, ohne ihn wäre er wahrscheinlich nie zu der Institution der Literaturkritik geworden, zu der er aufgestiegen war. »Ich wußte sehr wohl«, schrieb er in seiner Autobiografie, »und vergaß es nie, wem ich die Freiheit, von der ich so ausgiebig Gebrauch machte, zu verdanken hatte. Es war Joachim Fest.«[8] Kurzum: Er konnte verfahren, wie er wollte. Aber diesmal waren die Freundschaftsbande irreparabel zerrissen.

Da ich zu jener Zeit noch nicht wissen konnte, dass mein Gespräch mit ihm nicht veröffentlicht werden würde, verabredete ich mich nochmals mit ihm in Frankfurt zu einer weiteren Sitzung. Ich wollte ihn noch differenzierter zum Antisemitismus befragen und vor allem zu Fest. Diesmal zusammen mit Egon Ammann. Aber wir fanden einen Mann vor, der dazu einfach nicht in der Lage war. Auf Fest angesprochen, flüsterte er nur, nahezu unverständlich, resigniert und depressiv, und drängte, aufzubrechen zu einem Mittagessen in der Stadt.

Erst Jahre später, 1988, äußerte er sich meines Wissens erstmals öffentlich zur Fest-Nolte-Affäre – auf seine Art, ohne Namen zu nennen; und in seinem Metier, versteckt in einer Rezension von Andrzej Szczypiorskis Roman Die schöne Frau Seidenman in der FAZ. »Die Polen, heißt es einmal in diesem Roman«, schrieb er, »seien ohne die Juden ›nicht mehr jene Polen, die sie einst waren und für immer hätten bleiben sollen‹. Und die Deutschen? Da wir in einer Zeit leben, in der ein deutscher Universitätsprofessor allen Ernstes fragt, ob Hitler vielleicht doch berechtigt war, alle Juden aus Deutschland deportieren zu lassen, darf man sich wohl überlegen, ob das Diktum des polnischen Schriftstellers auch für die Deutschen gilt. Ob also die Deutschen ohne die Juden, ohne die jüdischen Schriftsteller und Philosophen, die Musiker, Maler und Theaterleute, die Mediziner, Psychologen, noch jene Deutschen sind, ›die sie einst waren und für immer hätten bleiben sollen‹.«[9]

Eine bittere rhetorische Frage, auf die offenbar immer wieder aufs Neue eine Antwort gefunden werden muss. Erst recht heute, da sich rechtsextremistische und antisemitische Diskriminierungen, Anfeindungen und Anschläge häufen, wie die Schüsse in Hanau oder jene auf die Tür der Synagoge in Halle, wo man zu Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsfest, versammelt war. Die Frage nach der Zugehörigkeit oder der Unzugehörigkeit, die Frage danach, was als Grundlage des Zusammenlebens gelten muss für alle Mitglieder einer Gesellschaft, jenseits ihrer jeweiligen Identität – diese Fragen verblassen nicht.

Anzeichen für seine Unzugehörigkeit sah Marcel Reich-Ranicki immer wieder. Dazu gehörte 1985 der Skandal um Rainer Werner Fassbinders Theaterstück Der Müll. Die Stadt und der Tod, in dem ein »reicher Jude« im Zentrum steht, der das Böse verkörpert. Nicht weil es unter Menschen eben das Böse gibt, sondern weil er Jude ist. Dazu gehörte Martin Walsers Dankesrede in der Paulskirche 1998 zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, worin Walser (Stichwort »Auschwitzkeule«) seinen Unmut über übersteigertes historisches Gedenken äußerte. Dazu gehörte 1994 auch der Film von Tilman Jens für den Kulturweltspiegel der ARD, in dem Reich-Ranicki wegen seiner bis dahin verschwiegenen geheimdienstlichen Tätigkeit in der Nachkriegszeit als polnischer Konsul in London, damals noch Mitglied der kommunistischen Partei Polens, diffamiert wurde. Seine lebenslange, enge Freundschaft mit Walter Jens zerbrach daran.

Dagegen sah er aber auch ein alles überwindendes Zeichen der Zugehörigkeit: Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Gettos. Ende Januar 1990 traf er Willy Brandt zum ersten Mal persönlich in Nürnberg. Bei der Ehrung des neunzigjährigen Herman Kesten. Brandt fragte ihn, wie er überlebt habe. Er erzählte es ihm »so knapp wie möglich« und erwähnte auch, dass er dort, wo heute das Getto-Denkmal steht, zum letzten Mal seinen Vater und seine Mutter gesehen habe, »bevor sie zu den Zügen nach Treblinka getrieben wurden«.

»Als ich mit meinem kurzen Bericht fertig war«, mit diesen Worten beendete er seine Autobiografie Mein Leben, »hatte jemand Tränen in den Augen. Willy Brandt oder ich? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, was ich mir dachte, als ich 1970 das Foto des knienden deutschen Bundeskanzlers sah: Da dachte ich mir, daß meine Entscheidung, 1958 nach Deutschland zurückzukehren und mich in der Bundesrepublik niederzulassen, doch nicht falsch, doch richtig war. Fassbinders Stück, der Historikerstreit und die Walser-Rede, allesamt Symptome des Zeitgeists, haben daran nichts geändert.«[10]

Er war angekommen in Deutschland. Vor allem mit dem Werk über sein Leben, mit dem er vom Kritiker nun auch noch zum Schriftsteller geworden war.

Baden-Baden, im Februar 2020

Paul Assall

[1]Das Fischessen schildert Volker Weidermann in seinem Buch Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2019, S. 220 ff. [2]Thomas Mann: »Tonio Kröger«, in ders.: Sämtliche Erzählungen in zwei Bänden, Band 1, S. Fischer Verlag 1987, 2. Auflage, S. 328. [3]Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, dtv 1991, 3. Auflage, S. 12. [4]Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken, S. Fischer Verlag 2017, S. 109. [5]Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, Deutsche Verlags-Anstalt, 12. durchgesehene Auflage 2000, S. 411. [6]Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 410 (Hervorhebung des Autors). [7]Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, S. 481. [8]Ebenda, S. 496 f. [9]Marcel Reich-Ranicki: »Ort der Geschichte ist Warschau. Der Roman ›Die schöne Frau Seidenman‹ des Polen Andrzej Szczypiorski«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 19. März 1988, Nummer 67.

Ende der Leseprobe