Ich und meine Mutter - Vivian Gornick - E-Book

Ich und meine Mutter E-Book

Vivian Gornick

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Beschreibung

Vivian Gornick ist eine Entdeckung!

Mütter sind anstrengend und bleiben es ein Leben lang. Schon als Kind spürt Vivian Gornick bei ihrer Mutter eine blinde Wut über deren Schicksal als Hausfrau. Begleitet von der trotzigen Behauptung, die wichtigste Rolle einer Frau sei die der Ehefrau und Mutter. Darüber, dass die Tochter Unabhängigkeit und Schriftstellerei wählt, können die beiden Frauen endlos streiten, zugleich sind sie unzertrennlich. In diesem biografischen Roman, der noch nie auf Deutsch erschienen ist und gerade in mehreren Ländern neu entdeckt wird, zerlegen Mutter und Tochter auf kilometerlangen Fußmärschen durch New York weibliche Lebensentwürfe und führen ein furioses und komödiantisches Defilee verschiedenster Charaktere, ihrer Liebhaber, Träume und Enttäuschungen auf.

»Kaum mit Worten zu sagen, wie überragend gut dieses Buch ist.« Washington Post

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Vivian Gornick ist eine Entdeckung!

Mütter sind anstrengend und bleiben es ein Leben lang. Schon als Kind spürt Vivian Gornick bei ihrer Mutter eine blinde Wut über deren Schicksal als Hausfrau. Begleitet von der trotzigen Behauptung, die wichtigste Rolle einer Frau sei die der Ehefrau und Mutter. Darüber, dass die Tochter Unabhängigkeit und Schriftstellerei wählt, können sie endlos streiten, zugleich sind sie unzertrennlich. In diesem biografischen Roman, der noch nie auf Deutsch erschienen ist und gerade in mehreren Ländern neu entdeckt wird, zerlegen die beiden Frauen auf kilometerlangen Fußmärschen durch New York weibliche Lebensentwürfe und führen ein furioses und komödiantisches Defilée verschiedenster Charaktere, ihrer Liebhaber, Träume und Enttäuschungen auf. »Kaum mit Worten zu sagen, wie überragend gut dieses Buch ist.« Washington Post

Vivian Gornick, 1935 als Tochter einfacher jüdischer Einwanderer in der Bronx geboren, ist Autorin, Journalistin, Literaturkritikerin und bekennende Feministin. Sie begann ihre Karriere bei der New Yorker Wochenzeitung The Village Voice und schreibt seither für zahlreiche renommierte Medien, darunter The New York Times und Atlantic Monthly. Gornick veröffentlichte bisher elf Sachbücher mit oft autobiografischem Hintergrund. Mit »Ich und meine Mutter«, diesem modernen Klassiker der amerikanischen Frauenbewegung, erscheint nun erstmals eines ihrer Werke auf Deutsch.

»Die Geschichte einer anhaltend schwierigen Beziehung, glänzend und furios erzählt.« New York Times

»Zurecht als zeitloser Klassiker gefeiert.« Jonathan Lethem

»Vibrierend und lebendig – ›Ich und meine Mutter‹ kartographiert Gefühle und Prägungen und zeichnet eine genaue Landkarte der eigenen Persönlichkeit.« Los Angeles Times

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Vivian Gornick

Ich und meine Mutter

Aus dem Englischen von pociao

Ich bin acht. Meine Mutter und ich verlassen unsere Wohnung im ersten Stock. Mrs Drucker steht auf dem Treppenabsatz vor ihrer offenen Wohnungstür und raucht. Meine Mutter schließt die Tür ab. »Was machst du denn hier draußen?«, fragt sie. Mrs Drucker nickt in Richtung ihrer Wohnung. »Er will bumsen. Ich habe ihm gesagt, dass er duschen soll, ehe er mich anrührt.« »Er« ist ihr Mann, das weiß ich. »Er« ist immer der Mann. »Warum? Ist er so dreckig?«, fragt meine Mutter. »Mir kommt er jedenfalls dreckig vor«, sagt Mrs Drucker. »Drucker, du bist eine Nutte«, sagt meine Mutter. Mrs Drucker zuckt die Achseln. »Ich kann nun mal nicht mit der Subway fahren«, sagt sie. In der Bronx war »mit der Subway fahren« ein Euphemismus für arbeiten gehen.

Zwischen dem sechsten und einundzwanzigsten Lebensjahr lebte ich in diesem Mietshaus. Es hatte zwanzig Wohnungen, vier auf jeder Etage, und alles, woran ich mich erinnere, ist ein Haus voller Frauen. An die Männer habe ich kaum eine Erinnerung. Sie waren überall, klar – Ehemänner, Väter, Brüder –, trotzdem sehe ich nur die Frauen vor mir. Und in meiner Erinnerung waren sie entweder grob wie Mrs Drucker oder hitzig wie meine Mutter. Sie äußerten sich nie so, als wüssten sie, wer sie waren, welches Los sie im Leben gezogen hatten, handelten aber trotzdem häufig so, als wüssten sie es. Durchtrieben, unberechenbar und ungebildet agierten sie wie auf einer Dreiser-Skala*. Es gab Jahre trügerischer Ruhe und dann aus heiterem Himmel einen Ausbruch von Panik und Zügellosigkeit: Zwei oder drei Leben wurden aus der Bahn geworfen (vielleicht ruiniert), und die Unruhe flaute ab. Dann wieder mürrische Stille, erotische Trägheit, gewöhnliche, alltägliche Verweigerung. Und ich – ein Mädchen, das in ihrer Mitte aufwuchs und nach ihren Vorstellungen geformt wurde –, ich atmete sie ein wie Chloroform auf einem Tuch, das man mir auf das Gesicht drückte. Ich brauchte dreißig Jahre, um zu begreifen, wie gut ich sie alle verstand.

Ich bin mit meiner Mutter unterwegs. Ich frage, ob sie sich an die Frauen in unserem Haus in der Bronx erinnert. »Natürlich«, antwortet sie. Ich erzähle ihr, dass ich immer der Meinung war, sexuelle Wut habe sie so verrückt gemacht. »Unbedingt«, sagt sie, ohne aus dem Tritt zu geraten. »Erinnerst du dich an Drucker? Sie sagte immer, wenn sie beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann nicht rauchen könnte, würde sie aus dem Fenster springen. Und an die Zimmerman neben uns? Sie war mit ihm verheiratet worden, als sie sechzehn war, hasste ihn und sagte, es wäre eine Mizwa, wenn er auf der Baustelle umkäme – er war Bauarbeiter.« Meine Mutter bleibt stehen und senkt, erstaunt von ihren eigenen Erinnerungen, die Stimme. »Gewöhnlich nahm er sie mit Gewalt«, sagt sie. »Hob sie mitten im Wohnzimmer hoch und trug sie ins Bett.« Einen Augenblick starrt sie vor sich hin. Sagt an mich gewandt: »Diese europäischen Männer. Sie waren Tiere. Richtige Tiere.« Dann geht sie weiter. »Einmal sperrte Zimmerman ihn aus. Er klingelte bei uns. Er konnte mir kaum in die Augen sehen, fragte, ob er unsere Feuerleiter benutzen dürfe. Ich sagte kein Wort. Er ging durch die Wohnung und kletterte aus dem Fenster.« Meine Mutter lacht. »Diese Feuerleiter war ganz schön beliebt! Erinnerst du dich an Cessa von oben? Ach nein, das kannst du nicht, sie wohnte nur noch ein Jahr hier, nachdem wir eingezogen waren, dann übernahmen die Russen die Wohnung. Cessa und ich waren eng befreundet. Seltsam, wenn ich heute daran denke. Wir kannten uns kaum, niemand kannte die anderen wirklich, manchmal redeten wir nicht einmal miteinander. Aber wir hockten alle aufeinander, gingen ständig in den Wohnungen der anderen ein und aus. In kürzester Zeit wussten alle alles. Nach ein paar Monaten im Haus waren die Frauen, na ja, sehr eng miteinander.

Diese Cessa. Ein hübsches junges Ding, erst seit ein paar Jahren verheiratet. Sie liebte ihren Mann nicht. Aber sie hasste ihn auch nicht. Eigentlich war er ganz nett. Was soll ich dir sagen, sie liebte ihn nicht und ging jeden Tag aus, wahrscheinlich wartete irgendwo ein Liebhaber. Jedenfalls hatte sie langes schwarzes Haar, bis runter zum Hintern. Eines Tages schnitt sie es ab. Sie wollte modern sein. Ihr Mann sagte nichts, aber als ihr Vater zu Besuch kam, warf er nur einen Blick auf ihr kurz geschnittenes Haar und verpasste ihr eine solche Ohrfeige, dass ihr die tote Großmutter aus einer anderen Welt erschien. Dann riet er ihrem Mann, sie einen Monat lang in der Wohnung einzusperren. Sie stieg über die Feuerleiter zu uns herunter und ging durch unsere Wohnung nach draußen. Jeden Nachmittag, einen ganzen Monat lang. Eines Tages kommt sie zurück, und wir trinken einen Kaffee in der Küche. ›Cessa‹, sag ich, ›erklär deinem Vater, dass das hier Amerika ist. Amerika, Cessa! Du bist eine freie Frau.‹ Sie sieht mich an und sagt: ›Was meinst du damit, das hier ist Amerika? Mein Vater kam in Brooklyn zur Welt.‹«

Die Beziehung zu meiner Mutter ist nicht besonders, und während unser Leben voranschreitet, scheint sie sich häufig noch zu verschlimmern. Wir sind gefangen in einem engen Schacht von Vertrautheit, Anspannung und Verpflichtung. Manchmal kommt es zu einer jahrelangen Phase von Erschöpfung, einer Art Mäßigung zwischen uns. Und dann kehrt der Zorn zurück, heiß und klar, erotisch in seiner Dominanz, und verlangt nach Aufmerksamkeit. Im Moment läuft es schlecht zwischen uns. Meine Mutter »geht damit um«, indem sie öffentlich und lautstark die Wahrheit ausspricht. Sobald sie mich sieht, geht es los: »Du hasst mich. Ich weiß, dass du mich hasst.« Wenn ich sie besuche, erzählt sie es allen, die zufällig anwesend sind – einem Nachbarn, einer Freundin, meinem Bruder, einer meiner Nichten. »Sie hasst mich. Keine Ahnung, was sie gegen mich hat, aber sie kann mich nicht ausstehen.« Genauso kommt es vor, dass sie bei einem unserer Gänge mitten auf der Straße einen Fremden anhält und sagt: »Das ist meine Tochter. Sie hasst mich.« Anschließend dreht sie sich zu mir um und fragt: »Was habe ich dir bloß getan, dass du mich so hasst?« Darauf antworte ich nicht. Ich weiß, dass sie vor Wut kocht, und lasse sie schmoren. Warum auch nicht? Ich koche ja selbst.

Trotzdem gehen wir endlos zusammen durch die Straßen von New York. Wir wohnen jetzt beide in Lower Manhattan, nur eine Meile voneinander entfernt, und unterhalten uns am besten beim Gehen. Meine Mutter ist eine urbane Hinterwäldlerin, und ich bin die Tochter meiner Mutter. Die Stadt ist unser natürliches Element. Jeden Tag erleben wir Abenteuer mit Busfahrern, obdachlosen Frauen, Kontrolleuren und Verrückten auf der Straße. Das Gehen holt das Beste aus uns heraus. Ich bin jetzt fünfundvierzig, meine Mutter siebenundsiebzig. Sie ist rüstig und gesund. Es macht ihr nichts aus, mit mir quer durch Manhattan zu laufen. Wir lieben uns nicht auf diesen Märschen, oft schreien wir uns sogar an, aber wir gehen trotzdem gemeinsam.

Am besten ist es, wenn wir über die Vergangenheit reden. »Ma, erinnerst du dich an Mrs Kornfeld? Erzähl mir die Geschichte«, sage ich, und sie erzählt sie mir mit Vergnügen noch einmal. (Sie hasst nur die Gegenwart; sobald die Gegenwart zur Vergangenheit wird, liebt sie sie.) Diese Geschichte ist immer gleich und doch anders, weil ich jedes Mal älter bin und mir eine Frage einfällt, die ich beim letzten Mal noch nicht gestellt habe.

Als meine Mutter mir zum ersten Mal erzählte, wie ihr Onkel Sol versucht hatte, mit ihr zu schlafen, war ich zweiundzwanzig und hörte stumm zu: gebannt und entsetzt zugleich. Den Hintergrund kannte ich in- und auswendig. Sie war das jüngste von achtzehn Geschwistern, von denen nur acht die Kindheit überlebten. (Das muss man sich mal vorstellen: Meine Großmutter war rund zwanzig Jahre ihres Lebens schwanger!) Als die Familie von Russland nach New York auswanderte, hatte sie Sol mitgenommen. Sol war der jüngste Bruder meiner Großmutter und genauso alt wie ihr Erstgeborener (ihre Mutter war ebenfalls zwanzig Jahre lang schwanger gewesen). Die beiden ältesten Brüder meiner Mutter waren ein paar Jahre zuvor vorausgegangen, hatten Jobs in der Bekleidungsindustrie gefunden und für alle elf eine Wohnung ohne Warmwasser in der Lower East Side gemietet: Badezimmer im Gang, Kohleofen in der Küche, dazu eine Reihe von hintereinanderliegenden dunklen Kabuffs. Meine Mutter war damals zehn und musste in der Küche auf zwei Stühlen schlafen, weil meine Großmutter noch einen Untermieter aufgenommen hatte.

Sol war während des Ersten Weltkriegs eingezogen und nach Europa geschickt worden. Als er nach New York zurückkehrte, war meine Mutter sechzehn und lebte als einziges Kind noch im Haushalt. Da kommt er also, ein glamouröser Fremder, und die kleine Nichte, die er zurückgelassen hat, ist jetzt eine junge Frau mit dunklen Augen, glänzendem braunen Haar, Bubikopf und einem hinreißenden Lächeln, die so tut, als wüsste sie nicht, wie man all das einsetzt (das war typisch für meine Mutter: haarsträubende Koketterie ohne einen Funken Schamgefühl). Er zieht in eins der Kabuffs, zwei Wände von ihr entfernt, während die Eltern lautstark am anderen Ende der Wohnung schnarchen.

»Eines Nachts schreckte ich aus dem Schlaf«, erzählte meine Mutter, »ich weiß nicht, warum, und sehe, wie Sol sich über mich beugt. ›Was ist los?‹, wollte ich schon fragen. Ich dachte, es wäre etwas mit meinen Eltern, aber dann sah er so komisch aus, dass ich dachte, er würde vielleicht schlafwandeln. Er sagte kein Wort. Er hob mich hoch und trug mich zu seinem Bett. Dort lagen wir also, er hielt mich in den Armen und streichelte meinen Körper. Dann hob er mein Nachthemd an und streichelte meinen Oberschenkel. Doch mit einem Mal schob er mich weg und sagte: ›Geh zurück in dein Bett.‹ Ich stand auf und ging wieder zu meinem Bett. Er sprach nie darüber, was in dieser Nacht passiert war, und ich auch nicht.«

Als ich die Geschichte zum zweiten Mal hörte, war ich dreißig. Sie wiederholte sie fast Wort für Wort, während wir irgendwo oben in den Sixties die Lexington Avenue entlanggingen. Als sie zum Ende kam, sagte ich: »Und du hast ihn niemals darauf angesprochen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wieso nicht, Ma?«, fragte ich. Sie machte große Augen und presste die Lippen aufeinander. »Weiß ich auch nicht«, sagte sie verwirrt. »Ich weiß nur, dass ich ziemliche Angst hatte.« Ich warf ihr einen, sie hätte gesagt, komischen Blick zu. »Was ist?«, fragte sie. »Passt dir meine Antwort nicht?« – »Nein«, wandte ich ein. »Das ist es nicht. Ich finde es nur seltsam, dass du keinen Ton gesagt und deine Angst für dich behalten hast.«

Als sie mir die Geschichte zum dritten Mal erzählte, war ich fast vierzig. Wir gingen die Eighth Avenue hinauf, und kurz vor der 42nd Street fragte ich: »Ma, hast du dich jemals gefragt, warum du nichts gesagt hast, als Sol dir das antat?« Sie sah hastig zu mir hinüber. Doch dieses Mal war sie schlauer als ich. »Worauf willst du hinaus?«, fuhr sie mich an. »Willst du etwa sagen, dass es mir gefallen hat? Ist es das, was du mir vorwirfst?« Ich lachte nervös, ausgelassen. »Nein, Ma, das habe ich nicht gesagt. Ich finde nur, dass es seltsam ist, dass du keinen Mucks von dir gegeben hast.« Wieder erklärte sie, dass sie große Angst gehabt hätte. »Ach, hör doch auf«, sagte ich scharf. »Du widerst mich an!«, schrie sie mich mitten auf der Straße an. »Meine fabelhafte Tochter! Ich sollte dich noch zwei Jahre aufs College schicken, so fabelhaft, wie du bist. Wahrscheinlich wollte ich, dass mich mein Onkel vergewaltigt, was? Ein ganz neuer Gedanke!« Nach diesem Gang redeten wir einen Monat nicht miteinander.

Die Bronx war ein Flickwerk aus ethnisch besetzten Territorien: Jeweils vier oder fünf Häuserblocks wurden von Iren, Italienern oder Juden beherrscht, doch jedes jüdische Viertel hatte seine Quote an Iren, jedes italienische Viertel seinen Anteil an Juden. Viel ist über diese Mischungsverhältnisse in den diversen Vierteln von New York gesagt worden, doch wer den Spießrutenlauf bei den Iren und Italienern oder die Ausgrenzung durch seine jüdischen Nachbarn überlebt hat, ist eher vom gemeinsamen Leben auf der Straße geprägt als von seinem Status als Außenseiter. Unsere Familie wohnte ein Jahr in einem italienischen Viertel. Mein Bruder und ich waren die einzigen jüdischen Kinder in der Schule, und es ging uns tatsächlich miserabel. Nur das: miserabel. Als wir wieder in ein jüdisches Viertel zogen, war mein Bruder erleichtert, weil er sich nun nicht mehr sorgen musste, dass die anderen Kids ihn als »jüdisches Genie« bezeichnen und jeden Nachmittag verprügeln würden, doch sein Leben veränderte sich nicht wesentlich. In Wahrheit stimulierte uns dieses »Anderssein« der Italiener, Iren oder Juden, die unter uns lebten; es machte uns neugierig, flößte uns ein Gespür für Identifikation ein und verlieh Dingen, die man nach außen fürchtete, insgeheim aber durchaus begrüßte, einen erregenden Kitzel.

In unserem Mietshaus lebten fast ausschließlich Juden, mit Ausnahme einer irischen Familie im Parterre, einer russischen im zweiten Stock und des polnischen Hausmeisters. Die Russen waren groß und still: Sie gingen auf eine Art im Haus ein und aus, die uns geheimnisvoll erschien. Die Iren waren alle schlank und blond: blaue Augen, schmale Lippen, verschlossene Gesichter. Auch sie führten ein Schattendasein unter uns. Der Hausmeister und seine Frau waren ebenfalls ruhig. Sie sprachen einen nie als Erste an. Das ist das Wesentliche, dachte ich, wenn man wenige unter vielen ist: Es bringt einen zum Schweigen.

So wäre möglicherweise auch meine Mutter zum Schweigen gebracht worden, hätte sie weiter unter Italienern gelebt. Vielleicht hätte sie in stummer Panik ihre Kinder geschnappt, wenn ein Nachbar sich mit einem von uns hätte anfreunden wollen, so wie Mrs Cassidy, wenn in unserem Haus eine Frau einem ihrer »irischen Blondchen« übers Haar strich. Aber meine Mutter war nicht eine unter vielen anderen. Hier in dem vorrangig jüdischen Haus war sie in ihrem Element, konnte wählen zwischen der Möglichkeit gesellschaftlicher Teilnahme und dem Rückzug in den eigentlichen, unbekannten Raum, in dem sie sich bewegen, frei ausdrücken, warm und sarkastisch sein konnte, hysterisch und großzügig, ironisch und voreingenommen und gelegentlich das, was sie für liebevoll hielt: eine raue Form von Einschüchterung, in die sie sich flüchtete, wenn die Zärtlichkeit sie überwältigte, denn davor hatte sie am meisten Angst.

Meine Mutter tat sich im Haus vor allem durch ihr akzentfreies Englisch und ihr selbstsicheres Auftreten hervor. Obwohl die Tür unserer Wohnung stets geschlossen blieb (man unterschied zwischen jenen, die zivilisiert genug waren, um Privatsphäre schätzen zu können, und Proleten, die ihre Tür immer einen Spalt breit offen ließen), wussten unsere Nachbarn, dass sie jederzeit anklopfen konnten, um sich Kleinigkeiten für die Küche auszuleihen, Klatsch und Tratsch auszutauschen oder sogar meine Mutter zu bitten, bei einem gelegentlichen Streit zu vermitteln. Dann gab sie die Überlegene, die von dem kindischen Verhalten ihrer minderbemittelten Mitmenschen peinlich berührt war. »Oy, Zimmerman«, lächelte sie gönnerhaft, wenn Mrs Zimmerman sich über eine echte oder eingebildete Kränkung aufregte oder über die perfide Art dieser oder jener Nachbarin herzog. »Wie albern!« Und wenn man ihr etwas erzählte, das sie für gemein oder dumm hielt, reagierte sie scharf: »Lächerlich!« Nie ließ sie sich durch die Vorstellung aus der Ruhe bringen, dass es zwei Seiten einer Geschichte geben könnte oder sich ein Ereignis unterschiedlich deuten ließ. Sie wusste, dass sie im Gegensatz zu den Frauen ringsum »kultiviert« war – ein Mensch höheren Denkens und Fühlens –, was gab es da groß nachzudenken? »Kultiviert« war eins ihrer Lieblingsworte. Wenn Mrs Zimmerman sich an einem Samstagmorgen laut auf der Treppe unterhielt, während wir in der Küche direkt neben der Wohnungstür saßen und uns gegenseitig Blicke zuwarfen, schüttelte meine Mutter unweigerlich den Kopf und bemerkte: »Was für eine unkultivierte Frau.« Machte jemand einen Witz über die schvartzes, erklärte meine Mutter mir gewissenhaft, dass eine derartige Einstellung »unkultiviert« sei. Wenn es beim Lebensmittelhändler Streit über Preis oder Gewicht einer Ware gab, hörte ich wieder den Ausdruck »unkultiviert«. Mein Vater lächelte ihr zu, wenn sie »unkultiviert« sagte, ob nachsichtig oder stolz, hätte ich nicht zu sagen vermocht. Mein Bruder, der seit seinem zehnten Lebensjahr auf der Hut war, stierte ausdruckslos vor sich hin. Ich jedoch absorbierte ihre Worte, sog jede begleitende Geste oder Miene, jede komplizierte Regung oder Absicht auf. Mamas Überzeugung, alle um sie herum seien unkultiviert und das meiste von dem, was sie von sich gaben, lächerlich, prägte mich wie Farbe einen besonders saugfähigen Stoff.

Die Wohnung hatte fünf ineinander übergehende Zimmer. Diese gingen von einer Diele ab. Kein einziges Fenster sah auf den Luftschacht hinaus. Von der Wohnungstür trat man in die winzige Diele, die direkt in die Küche führte. Rechts von der Küche, noch in der Diele, stand der Kühlschrank an der Wand, im rechten Winkel zum Badezimmer, einem winzigen, quadratischen Raum mit lackierter Holztür, deren obere Hälfte aus Milchglas bestand. Am anderen Ende der Diele schlossen sich zwei etwa gleich große Zimmer an, die durch eine Glastür mit Vorhang voneinander getrennt waren. Das zweite dieser Zimmer ging zur Straße hinaus und war nachmittags von Sonnenlicht durchflutet. Zu beiden Seiten dieses Vorderzimmers gab es noch zwei kleine Räume; einer ging ebenfalls auf die Straße hinaus, der andere befand sich zur Rückseite des Gebäudes.

Da das Vorderzimmer und eins der kleinen Zimmer auf die Straße führten, galt unsere Wohnung als besonders begehrenswert, eine Wohnung »nach vorn hinaus«. Vor einigen Jahren hat einmal ein Mann, der in meinem Viertel aufgewachsen war, zu mir gesagt: »Ich dachte immer, ihr wärt wohlhabender als wir, weil ihr nach vorne raus gewohnt habt.« Obgleich nach vorne hinaus zu wohnen tatsächlich bedeutete, dass die Wohnungsinhaber mehr verdienten als jene, deren Wohnungen unten teier in draird (in der tiefsten Hölle) lagen oder nach hinten hinaus gingen, wohnten wir nach vorne hinaus, weil der Anspruch meiner Mutter, die Notwendigkeiten des Lebens besser zu verstehen als andere, zum Teil auf ihrer Überzeugung beruhte, dass eine Wohnung nach hinten hinaus für ihre Familie nicht in Frage kam, solange wir nicht auf Sozialhilfe angewiesen waren. Trotzdem lebten wir – also sie und ich – in Wirklichkeit »nach hinten raus«.

Vom Küchenfenster aus blickte man auf den Durchgang hinter dem Haus, so wie die Küchenfenster des Nebenhauses und die zweier weiterer Gebäude, deren Eingänge sich auf der gegenüberliegenden Seite des rechteckigen Wohnblocks befanden, der all diese Mietshäuser umfasste. In dem Durchgang gab es weder Bäume noch Büsche oder irgendeine Art von Rasen – nur Beton, Drahtzäune und Holzmasten. Und trotzdem ist er mir als ein Ort mit hellem Licht und süßer Luft in Erinnerung geblieben, irgendwie erfüllt von einem ewigen Duft nach sommerlichem Grün.

Der Durchgang fing die Morgensonne ein (in unserer Küche strahlte sie bereits am Vormittag). Es war ein festes Ritual der Frauen, die Wäsche frühmorgens auf einem Waschbrett in der Küchenspüle zu schrubben und dann zum Trocknen in der Sonne aufzuhängen. Quer über dem Durchgang spannten sich zwischen dem ersten und fünften Stock etwa fünfzig Wäscheleinen an hohen Holzmasten, die fest im Betonboden verankert waren. Jede Wohnung hatte ihre eigene Wäscheleine, die zwischen zehn anderen an diesen Holzmasten befestigt war. Die flatternde Wäsche auf einer Leine kam oft der darüber oder darunter in die Quere, und so war es nichts Ungewöhnliches, dass eine Frau kräftig an einer Wäscheleine zog und versuchte, ihre Wäsche aus einem willkürlichen Durcheinander von Laken und Hosen zu befreien. Gleichzeitig rief sie: »Berth-a-a. Berth-a-a. Bist du zu Hause, Bertha?« In allen Gebäuden am Durchgang waren Freunde verstreut, die sich den ganzen Tag irgendetwas zuriefen oder Verabredungen trafen. (»Wann bringst du Harvey zum Arzt?« oder »Hast du Zucker im Haus? Ich schicke Marilyn vorbei« oder »Wir treffen uns in zehn Minuten an der Ecke.«) So viel Gewusel und Leben! Die klare Luft, das schattenlose Licht, Frauen, die hin und her riefen, der Klang ihrer Stimmen, der Geruch nach Wäsche, die in der Sonne trocknete, vermischt mit Stoffen und Farben, die im leeren Raum flatterten. Ich beugte mich aus dem Fenster, mit einem Gefühl von Erwartung, das ich bis heute schmecken kann, und dieser Geschmack ist ein sanftes, sattes Grün.

Für mich konzentrierte sich die ganze Aufregung der Wohnung in der Küche und im Leben vor deren Fenster. Die Aufregung war echt: Sie erwuchs aus Widerspruch. Hier in der Küche machte ich meine Hausaufgaben, leistete meiner Mutter Gesellschaft und beobachtete, wie sie ihren Tag plante und verbrachte. Hier lernte ich auch, dass sie die Gabe und die Kraft besaß, ihre Pflichten mühelos und gut zu verrichten, sie aber eigentlich nicht mochte und ihnen daher auch keine Bedeutung beimaß. Deshalb brachte sie mir nichts davon bei. Ich lernte nie zu kochen, zu putzen oder die Wäsche zu bügeln. Sie selbst war eine langweilige, aber kompetente Köchin, eine blindwütig schnelle Putzfrau und eine besessene Wäscherin.

Trotzdem füllten sie und ich die Küche voll aus. Nach außen hin achtete meine Mutter nicht darauf, was auf der Straße geschah, aber ihr entging nichts. Sie hörte jede Stimme, verzeichnete jede Bewegung auf der Wäscheleine, jedes Flattern der Laken, registrierte jeden Ruf und jede Mitteilung. Wir lachten zusammen über das gebrochene Englisch der einen, die großmäulige Indiskretion einer anderen, ein Kreischen hier, einen phantastischen Fluch dort. Ihre laufenden Kommentare über das Leben draußen vor dem Fenster verschafften mir den ersten Eindruck von den Früchten der Intelligenz: Sie wusste, wie man Klatsch in Wissen ummünzt. Sie hörte, wenn jemand die Stimme um eine Oktave hob und sagte: »Die hat sich heute Morgen mit ihrem Mann gestritten«, oder um eine Oktave senkte: »Ihr Kind ist krank.« Sie schnappte einen schnellen Wortwechsel auf und diagnostizierte eine sich abkühlende Freundschaft. Dieses Talent erwärmte und erregte mich. Das Leben schien voller zu sein, reicher, interessanter, wenn sie den Aktivitäten der Leute im Durchgang einen Sinn gab. Ich spürte eine lebendige Verbindung zwischen uns und der Welt draußen vor dem Fenster.

Die Küche, das Fenster, der Durchgang. Das war die Atmosphäre, in der sie verwurzelt war, der Hintergrund, vor dem sie sich abhob. Hier war sie klug, lustig und voller Energie, konnte Autorität ausüben und Einfluss nehmen. Trotzdem verachtete sie ihre Umgebung. »Weiber, igitt!«, sagte sie. »Wäscheleinen und Klatsch.« Sie wusste, dass es eine andere Welt gab – die Welt –, und manchmal glaubte sie, dass sie sich diese andere Welt wünschte. Dringend wünschte. Dann hielt sie mitten in einer Aufgabe inne, starrte minutenlang auf das Waschbecken, den Boden, den Herd. Doch wohin? Wie? Was?

So war sie gepolt: Hier in der Küche wusste sie, wer sie war, hier in der Küche war sie rastlos und gelangweilt, hier in der Küche funktionierte sie auf bewundernswerte Art, hier in der Küche verachtete sie, was sie tat. Sie ärgerte sich über die »Leere im Leben einer Frau«, wie sie es nannte, lachte jedoch mit einem Vergnügen, das ich heute noch im Ohr habe, wenn sie etwas Kompliziertes analysierte, das im Durchgang vor sich ging. Passiv am Morgen, rebellisch am Nachmittag, wurde sie Tag für Tag neu erfunden und wieder zunichtegemacht. Gierig klammerte sie sich an das Einzige, was sie hatte, genoss ihre eigene Lebendigkeit und fühlte sich gleich danach wie eine Kollaborateurin. Aber wie hätte sie sich einem derart intensiv gespaltenen Leben nicht hingeben können? Und ich nicht ihrer Hingabe?

»Erinnerst du dich an die Rosemans?«, fragt meine Mutter, während wir auf der Höhe der Forties die Sixth Avenue hinaufgehen. »Das war die Familie, die in unseren ersten beiden Jahren in der Wohnung der Zimmermans wohnte.«

»Ja klar«, sage ich. »Ein wirklich interessantes Paar.«

Mrs Roseman war eine jüdische Colette: dick und dunkelhäutig, mit schmalen dunklen Augen in einem wunderschönen Fuchsgesicht und mit einer Korona aus grauschwarz gekräuseltem Haar. Sie war eine leidenschaftliche Kartenspielerin, rauchte Kette und interessierte sich ganz offenkundig nicht für ihre Familie. In ihrer Wohnung wurde ständig gespielt, und »auf dem Herd köchelte den ganzen Tag ein Topf mit irgendeinem abscheulichen Zeug«, erzählte meine Mutter. »Wenn ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam, schmeckte es wie die Schuhsohlen meiner Großmutter.« Doch die Stimme meiner Mutter klang zärtlich, nicht vorwurfsvoll. Sie hing an Mrs Roseman, denn auch sie war vor zehn Jahren Mitglied im Mieterverband Nummer 29 gewesen, in einem Gebäude drei Blocks entfernt.

Schon als kleines Kind wusste ich, dass meine Eltern mit der Kommunistischen Partei sympathisierten und meine Mutter die politisch aktivere von den beiden gewesen war. Um die Zeit meiner Geburt stand sie in der Bronx auf einer Seifenkiste und forderte ökonomische und soziale Gerechtigkeit. Tatsächlich hatte sie auf ihrer Liste von Entbehrungen verzeichnet, dass sie eine talentierte öffentliche Rednerin geworden wäre, hätten ihre Kinder ihr nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Während der Depression unterstützte und leitete die Kommunistische Partei sogenannte Mieterverbände, Organisationen, die gegründet worden waren, um gegen Zwangsräumungen wegen Mietrückständen zu kämpfen. Meine Mutter war Leiterin des Mieterverbandes Nummer 29 in der Bronx (»Ich war die einzige Frau im Haus, die akzentfreies Englisch sprach, daher wurde ich automatisch zur Anführerin gewählt«), und das blieb sie bis kurz nach meiner Geburt, als mein Vater sie zwang, »alles aufzugeben« und mit dem Baby zu Hause zu bleiben. Bis dahin, so sagte sie, hätte sie den Mieterverband geleitet. Dass Mama den Mieterverband geleitet hatte, war ein Klassiker meiner Kindheit. »Jeden Samstagmorgen«, erzählte sie, so wie andere Mütter ihren Kindern das Märchen von Hänsel und Gretel, »ging ich zur Parteizentrale der Kommunistischen Partei am Union Square und erhielt meine Anweisungen für die Woche. Dann organisierten wir uns und machten uns an die Arbeit.« Wie gern sie das sagte: »Dann organisierten wir uns und machten uns an die Arbeit.« Wenn sie diese Worte aussprach, klang ihre Stimme viel unkomplizierter und fröhlicher als bei allen anderen, die ich von ihr hörte.

Dem Mieterverband Nummer 29 gehörten die meisten Frauen in unserem Haus an: eingewanderte Juden, rau und energisch. Die nachbarschaftliche Vertrautheit wurde von ihrer politischen Kameradschaft verstärkt. Als wir später hierherzogen, in unser endgültiges Heim in der Bronx, und meine Mutter herausfand, dass Mrs Roseman nebenan wohnte, war es so, als hätte sie nicht nur unverhofft eine alte Freundin wiedergefunden, sondern ein Familienmitglied, in dessen Gegenwart sie einst von den komplizierten Regungen ihres Geistes und Verstandes überrascht worden war. Mrs Roseman und sie schätzten die Fähigkeit der jeweils anderen, ein politisches Engagement zu verstehen, hinter dem sich ein Reservoir an starken Gefühlen verbarg.

Besonders eine bestimmte Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit im Mieterverband, die ihrer Meinung nach bemerkenswert unpolitisch gewesen war, hielt sie zusammen. Sie erinnerten sich oft an dieses Ereignis, kopfschüttelnd und in einer Atmosphäre anhaltender gemeinsamer Verwunderung. Während der Depression hatten die Frauen des Mieterverbandes in einem Sommer für sich und ihre Familien Zimmer in einer Bungalowsiedlung in den Catskill Mountains gemietet. Die meisten Familien hatten jeweils zwei Zimmer im Hauptgebäude (eins für die Eltern, das andere für die Kinder), einige jedoch konnten sich nur eins leisten. Die Frauen teilten sich die Küchenarbeit, die Männer kamen an den Wochenenden dazu.

Es waren fünfzehn Frauen, erzählte meine Mutter, und in der Küche lernte sie sie besser kennen als während der zwei oder drei Jahre, die sie in der Bronx zusammen gearbeitet hatten. Sie erzählte von Pessy, die »so dumm war, dass sie irgendwelchen Mist auf den Tisch stellte und ihn als Honig ausgab, aber eine gute Genossin, die alles tat, was ich ihr auftrug, ohne zu murren«. Oder Singer, »eine von der empfindlichen Sorte«, die die vulgäre Art der anderen hasste. Da war Kornfeld, »eine dunkle, leidenschaftlich wirkende Frau, die ihre Meinung nie äußerte und immer wartete, bis alle anderen gesprochen hatten. Dann musste man sie fragen, was sie dachte, aber sie hatte immer etwas Kluges zu sagen.« Und natürlich auch Roseman, die schlaue, mit allen Wassern gewaschene, lässige Roseman. Ihre Augen waren überall gleichzeitig, während sie unablässig Karten gab.

In diesem Sommer fand meine Mutter heraus, dass Pessy »unersättlich war, du weißt schon, was ich meine, nicht?« Singer erwies sich als eine wahre Nervensäge. »Ständig fiel sie in Ohnmacht. Egal, was passierte, Singer verdrehte die Augen und war weg.« Und Kornfeld, tja, Kornfeld war eine andere Geschichte.

Samstags kam Pessy am späten Vormittag im Nachthemd herunter, gähnte und rieb sich fröstelnd Arme und Oberkörper. Die anderen lachten. »Na, Pessy?«, meinte eine, »erzähl mal, was du gestern Nacht getrieben hast. War es schön?« Pessy schnaubte. »Was soll ich euch sagen? Man tut, was man tun muss, und dann dreht man sich gegenseitig den Hintern zu und schläft ein. Was gibt es da zu erzählen?« Aber sie wurde rot und lächelte in sich hinein, als hätte sie ein Geheimnis. Singer wandte den Blick ab. Und Kornfeld saß in der Ecke (sie gehörte zu denen, die sich keine zwei Zimmer leisten konnten, sie und ihr Mann schliefen mit den drei Kindern in einem einzigen Raum) und war noch stiller als sonst.

Eines Sonntagabends, als die Männer wieder in die Stadt zurückgefahren waren und die Frauen auf der Terrasse saßen, fragte plötzlich eine: »Wo steckt eigentlich Kornfeld?« Sie sahen sich um, und tatsächlich, Kornfeld war verschwunden. Sie riefen nach ihr: »Kornfeld, Kornfeld.« Keine Antwort. Sie gingen in ihr Zimmer, die Kinder schliefen fest, von Kornfeld keine Spur. Da bekamen sie es mit der Angst und machten sich auf die Suche nach ihr, schwärmten in Zweiergruppen in alle Richtungen aus (»Mein Pech«, sagte meine Mutter, »ich kriegte die Singer ab«), jede mit einer Taschenlampe (»Kannst du dir vorstellen, wie dunkel es damals auf dem Land war?«), und riefen »Kornfeld, Kornfeld« in die Leere.

»Wir müssen eine ganze Stunde wie die Wahnsinnigen herumgelaufen sein«, sagte meine Mutter. »Dann sehe ich genauer hin, wir sind vielleicht eine halbe Meile vom Haus entfernt, und entdecke einen dunklen Schatten auf der Straße, der sich nicht bewegt, man konnte nicht sehen, was es war. Im nächsten Augenblick verdreht Singer neben mir die Augen. Mein Blick schweift von Singer zur Straße und wieder zurück. ›Reiß dich zusammen, Singer‹, sagte ich. Dann wandte ich mich dem Ding auf der Straße zu und sagte: ›Steh auf, Kornfeld.‹ Singer klappte den Mund auf und wieder zu, sagte aber nichts. Das Ding auf der Straße rührte sich nicht. Erneut rief ich: ›Kornfeld, steh auf.‹ Und da stand sie auf. Ich drehte Singer um und bugsierte sie zum Haus zurück.«

»Woher wusstest du, dass es Mrs Kornfeld war?«, fragte ich, als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte. »Keine Ahnung«, antwortete meine Mutter. »Ich wusste es eben. Ich wusste es sofort.« Ein anderes Mal fragte ich: »Was glaubst du, warum sie das getan hat?« Meine Mutter zuckte die Achseln. »Sie war eine leidenschaftliche Frau. Weißt du, vor vierzig Jahren gingen Juden keine Risiken ein wie andere, die ich dir beim Namen nennen könnte, sie hatten keinen Sex, wenn Kinder im Zimmer waren … Vielleicht wollte sie uns bestrafen.« Ein anderes Mal verblüffte mich meine Mutter mit den Worten: »Diese Kornfeld. Sie hasste sich selbst. Deshalb hat sie es getan.« Ich fragte, was sie mit »hasste sich selbst« meine. Sie konnte es mir nicht erklären.

Was ich über die Geschichte mit Kornfeld am stärksten im Gedächtnis behalten habe, ist, dass Mrs Roseman, die in puncto Sex gewitzter war als alle Frauen im Haus zusammen und meine Mutter für eine Romantikerin aus der Arbeiterklasse hielt, sie respektierte, weil sie gewusst hatte, wer das Ding auf der Straße gewesen war.

»Erinnerst du dich an die Mädchen?«, fragt meine Mutter jetzt, als wir uns dem Time-Life-Gebäude nähern. »Die zwei Töchter, die sie mit Roseman hatte?« Mrs Roseman hatte einen Freund gehabt, als sie jung gewesen war, einen italienischen Kommunisten, der gestorben war und sie schwanger zurückgelassen hatte. Mr Roseman hatte sie über alles geliebt, geheiratet, das Kind (einen Jungen) aufgezogen wie sein eigenes und dann noch zwei weitere Kinder mit ihr gezeugt.

»Ja«, sage ich. »Ich erinnere mich an die Mädchen.«

»Und erinnerst du dich, dass die Jüngere während des Krieges, sie muss damals siebzehn gewesen sein, eine Lungenentzündung bekam? Sie glaubten, sie würde sterben, damals starben die Leute noch an einer Lungenentzündung, und ich kaufte sie. Danach hat sie mich immer Mama genannt.«

»Du hast was gemacht?« Ich bleibe stehen.

»Ich habe sie gekauft, ja, ich habe sie gekauft. Weißt du, die Juden glaubten, wenn man jemanden verkaufte, den man liebte und der in Gefahr war, würde man den bösen Blick von ihm abwenden.« Sie lacht. »Was sollte ihnen schon zustoßen, wenn sie nicht mehr dir gehörten?«

Ich starre sie an. Sie ignoriert meinen Blick.

»Roseman klopfte an die Tür und sagte: ›Die Kleine stirbt. Würdest du sie kaufen?‹ Also kaufte ich sie. Ich glaube, ich habe ihr zehn Dollar gegeben.«

»Ma«, sage ich, »du wusstest, dass es ein dummer Aberglaube ist, ein Ammenmärchen, und trotzdem hast du da mitgemacht? Du hast dich bereit erklärt, sie zu kaufen?«

»Natürlich.«

»Aber Ma! Ihr wart doch beide Kommunisten.«

»Ach was«, sagt sie. »Wir mussten ihr Leben retten.«

Meine Eltern schliefen abwechselnd in einem der beiden mittleren Zimmer, einige Jahre in dem nach hinten raus, einige Jahre in dem vorderen, dann war das unbenutzte Zimmer jeweils das Wohnzimmer. Jahrelang trugen sie ein riesiges Philco-Radio und drei große Möbelstücke (eine überladene Couch und zwei Sessel, bezogen mit kastanienbraunem, golddurchwirkten Stoff) zwischen dem vorderen und dem hinteren Zimmer hin und her.

Als ich erwachsen wurde, fragte ich mich, warum meine Eltern nie eines der kleineren Zimmer für sich genommen hatten, sondern sozusagen im offenen Gelände schliefen, und als ich zwanzig war, fragte ich meine Mutter danach. Sie sah mich ungefähr dreißig Sekunden zu lang an. Dann sagte sie: »Wir wussten, dass die Kinder ein eigenes Zimmer brauchten.« Jetzt gab ich ihr die dreißig Sekunden zurück. Sie hatte eine solch unerträgliche Romanze aus ihrer Ehe gemacht, uns alle ans Kreuz des vorzeitigen Todes meines Vaters geschlagen, und jetzt wollte sie mir auch noch weismachen, dass sie die für sexuelle Lust nötige Privatsphäre dem Wohl ihrer Kinder geopfert hatte?

Meine Mutter hatte sich nicht nur wegen ihres akzentfreien Englisch und ihres selbstsicheren Auftretens, sondern auch wegen ihres Status als glücklich verheiratete Frau einen Namen im Haus gemacht. Halt, nein, das ist falsch ausgedrückt. Nicht bloß glücklich verheiratet. Traumhaft verheiratet. Unwiderruflich verheiratet.

Ich glaube, dass meine Eltern glücklich miteinander waren, jedenfalls gingen sie zivilisiert und zärtlich miteinander um – doch die Idealvorstellung von ehelichem Glück, die die Atmosphäre zwischen meiner Mutter und mir beherrschte, machte aus der schlichten Realität etwas, das keinen Respekt verdiente – ganz sicher war sie nicht das, was zählte. Was zählte, war Mamas Verehrung für die Tugendhaftigkeit ihres Ehelebens, die einherging mit einer naserümpfenden Ablehnung aller Ehen, die anders waren als ihre – und die zielstrebige Belehrung in unterschiedlichster Form und über endlose Jahre hinweg, dass Liebe das Wichtigste im Leben einer Frau ist.