Eine Frau in New York - Vivian Gornick - E-Book

Eine Frau in New York E-Book

Vivian Gornick

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Beschreibung

Stadtluft macht Frauen frei!

Wir finden zu uns, indem wir anderen begegnen. Vivian Gornick ist eine Suchende, und nichts beruhigt ihr fragendes Herz mehr als ein Fußmarsch durch die schwindelerregenden Straßenschluchten New Yorks. Auf der Suche ist sie nach sich selbst, nach der Frau, die sie sein möchte. Und so sind die alltäglichen Begegnungen ihr Elixier: Aus den Gesprächen auf der Straße erfährt sie von den Schicksalen der anderen und lernt aus deren Überlebenstechniken, sie liebt den Geschmack von Welt auf der Zunge, die Streitbarkeit der Vielfalt und genießt die Wahlfreiheit, die sie als ungebundene Frau in der Stadt hat.

»Eine Frau in New York« ist das zutiefst ehrliche Bekenntnis Vivian Gornicks, der Grande Dame der amerikanischen Frauenbewegung, zu einem selbstbestimmten, unkonventionellen Leben, eine mutige Annäherung an das Fremde, eine Ode an wahre Verbundenheit und eine Liebeserklärung an diese kräftezehrende und zugleich so vitalisierende Stadt: New York.

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Seitenzahl: 205

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Wir finden zu uns, indem wir anderen begegnen. Vivian Gornick ist eine Suchende, und nichts beruhigt ihr fragendes Herz mehr als ein Fußmarsch durch die schwindelerregenden Straßenschluchten New Yorks. Auf der Suche ist sie nach sich selbst, nach der Frau, die sie sein möchte. Und so sind die alltäglichen Begegnungen ihr Elixier: Aus den Gesprächen auf der Straße erfährt sie von den Schicksalen der anderen und lernt aus deren Überlebenstechniken, sie liebt den Geschmack von Welt auf der Zunge, die Streitbarkeit der Vielfalt und genießt die Wahlfreiheit, die sie als ungebundene Frau in der Stadt hat.

Eine Frau in New York ist das zutiefst ehrliche Bekenntnis Vivian Gornicks, der Grande Dame der amerikanischen Frauenbewegung, zu einem selbstbestimmten, unkonventionellen Leben, eine mutige Annäherung an das Fremde, eine Ode an wahre Verbundenheit und eine Liebeserklärung an diese kräftezehrende und zugleich so vitalisierende Stadt: New York.

Vivian Gornick, 1935 als Tochter einfacher jüdischer Einwanderer in der Bronx geboren, ist Autorin, Journalistin, Literaturkritikerin und bekennende Feministin. Gornick veröffentlichte bisher elf Sachbücher mit oft autobiografischem Hintergrund. Gornick, eine Grande Dame der amerikanischen Frauenbewegung, wird gerade in vielen Ländern entdeckt bzw. wiederentdeckt. »Ich und meine Mutter«, 2019 erstmals auf Deutsch erschienen, wurde 2019 von der New York Times zum besten Memoir der vergangenen fünfzig Jahre gewählt. Ihr neuestes Buch, »Eine Frau in New York«, wurde für den National Book Critics Circle Award nominiert.

»Witzig, elegisch und der Wahrheit verpflichtet – ein schmales Buch, das lange nachhält.« The New York Times

»Ein unglaubliches, aufwühlendes Memoir.« The Los Angeles Times

»Die besten Bücher wie die besten Freundinnen und Freunde, wie die intimsten Gespräche geben uns das Gefühl, verstanden zu werden. Sie rufen in uns auch das Gefühl hervor, dass das Zuhause wirklich unser Zuhause ist. ›Eine Frau in New York‹ kann wie ein Überlebens-Ratgeber gelesen werden.« The New York Times Book Review

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Vivian Gornick

Eine Frau in New York

Aus dem Englischen von pociao

Leonard und ich …

Leonard und ich sitzen bei einem Kaffee in einem Midtown-Re­staurant.

»Und?«, frage ich. »Wie fühlt sich dein Leben so an?«

»Wie ein Hühnerknochen, der mir im Schlund stecken geblieben ist«, sagt er. »Ich kann ihn weder runterschlucken noch ausspucken. Im Moment versuche ich nur, nicht dran zu ersticken.«

Mein Freund Leonard ist ein geistreicher, intelligenter Schwuler, sehr feinsinnig, was sein eigenes Unglück ­angeht. Der Feinsinn wirkt belebend. Einmal lasen wir in einer Gruppe Impressionen eines Lebens, die Erinnerungen des US-Politikers George Kennan, und trafen uns dann, um dar­über zu diskutieren.

»Gebildet und poetisch«, sagte jemand.

»Ein Kalter Krieger, getrieben von Nostalgie«, sagte ein anderer.

»Schwache Leidenschaften, ausgeprägter Ehrgeiz und absolut von sich überzeugt«, meinte ein Dritter.

»Das ist der Mann, der mich mein Leben lang gedemütigt hat«, sagte Leonard.

Leonards Haltung gegenüber Kennan erneuerte in mir den Nervenkitzel revisionistischer Geschichtsschreibung – das gewöhnliche Drama, die Welt Tag für Tag aufs Neue durch die Augen der Geschädigten zu sehen – und erinnerte mich daran, warum wir Freunde sind.

Wir haben unter derselben schädlichen Politik gelitten, Leonard und ich. In uns brennt dasselbe leidenschaftliche Gefühl, in eine vorherbestimmte soziale Ungerechtigkeit hineingeboren worden zu sein. Unser Thema ist das entgangene Leben. Die große Frage für uns beide: Hätten wir die Ungerechtigkeit erfunden, um unser Elend – er, der Schwule, ich, die Überzählige – nutzbar zu machen, wäre sie nicht schon fix und fertig da gewesen? Auf diese Frage konzentriert sich unsere Freundschaft. Tatsächlich definiert sie unsere Freundschaft – prägt ihren Charakter und ihre Ausdrucksweise – und hat mir mehr über die geheimnisvolle Natur gewöhnlicher menschlicher Beziehungen beigebracht als jede andere Form von Nähe, die ich kenne.

Seit über zwanzig Jahren treffen Leonard und ich uns einmal in der Woche zu einem Spaziergang mit Abendessen und anschließendem Kinobesuch, entweder in seinem Viertel oder in meinem. Abgesehen von den zwei Stunden im Kino reden wir ohne Punkt und Komma. Jedes Mal schlägt einer von uns vor, nächstes Mal Karten für ein Theaterstück, ein Konzert oder eine Lesung zu besorgen, doch sind wir offensichtlich beide nicht imstande, den Abend, an dem wir uns treffen, im Voraus zu planen. Unsere Gespräche sind für uns beide die befriedigendsten, die wir haben, deshalb können wir nicht eine einzige Woche darauf verzichten. Unsere gegenseitige Anziehungskraft hat damit zu tun, wie wir uns selbst sehen, wenn wir uns unterhalten. Einmal wurde ich am selben Tag von zwei verschiedenen Fotografen porträtiert. Auf beiden Aufnahmen erkannte ich mich wieder, definitiv, trotzdem kam mir das Gesicht auf dem einen Foto gebrochen und zerstückelt vor, auf dem anderen dagegen wie aus einem Guss. Genauso ist es bei Leonard und mir. Was der jeweils andere sieht, ist das, was wir in unserem Kopf mit uns herumtragen und was uns das Gefühl von Ganzheit vermittelt.

Nun könnte man fragen, warum wir uns dann nicht mehr als einmal in der Woche treffen, die Welt öfter gemeinsam erleben, den anderen mit einem täglichen Schwätzchen aufmuntern. Das Problem ist, dass wir beide einen Hang zum Schwarzsehen haben. Egal, worum es geht, für uns ist das Glas immer halb leer. Einer von uns ist unweigerlich gerade mit Verlust, Scheitern oder Niederlage beschäftigt. Wir können nicht anders. Wir wünschten, es wäre nicht so, aber so fühlt es sich für uns beide an, und so, wie sich das Leben anfühlt, wird es zwangsläufig auch gelebt.

Eines Abends hatte ich auf einer Party eine Auseinandersetzung mit einem Freund, der für seine Redegewandtheit bekannt ist. Anfänglich reagierte ich nervös auf jede seiner Herausforderungen, doch nach einiger Zeit fand ich mein Selbstbewusstsein wieder und verteidigte meinen Standpunkt erfolgreicher als er. Die anderen scharten sich um mich. Das war toll, sagten sie, einfach toll. Erwartungsvoll drehte ich mich zu Leonard um. »Du warst nervös«, sagte er.

Ein anderes Mal besuchte ich mit meiner Nichte Florenz. »Wie war’s?«, fragte Leonard. »Eine wundervolle Stadt«, sagte ich. »Meine Nichte ist großartig. Es ist zwar nicht einfach, eine ganze Woche rund um die Uhr mit jemandem zusammen zu sein, du verstehst, aber wir sind gut miteinander ausgekommen und kilometerweit am Arno entlanggelaufen, einem sehr schönen Fluss.«

»Wirklich schade, dass dich das Zusammensein mit deiner Nichte so genervt hat«, bemerkte Leonard.

Und noch ein anderes Mal war ich übers Wochenende ans Meer gefahren. Ein Tag war verregnet, am anderen schien die Sonne. Wieder fragte Leonard, wie es gewesen war. »Erfrischend«, sagte ich. »Der Regen hat dir also nichts ausgemacht«, stellte er fest.

Ich rufe mir in Erinnerung, wie sich meine eigene Stimme manchmal anhört. Meine stets kritische Stimme, da mir kein Makel und keine Unvollständigkeit entgehen. Meine Stimme, bei deren Ton so häufig Leonards Augen aufflackern oder sein Mund schmal wird.

Am Ende eines gemeinsam verbrachten Abends schlägt meistens einer von uns spontan vor, dass wir uns in dieser Woche unbedingt noch mal sehen müssten, doch dieser Impuls hält sich nur selten lange genug, um in die Tat umgesetzt zu werden. Bestimmt meinen wir es so, wenn wir uns verabschieden – nichts wäre uns lieber, als den Kontakt auf der Stelle wieder aufzunehmen, doch schon im Aufzug zu meiner Wohnung bemerke ich das Kribbeln auf der Haut, Nachwirkung eines Abends voller Ironie und abwertender Urteile. Nichts Ernsthaftes, nur oberflächliche Blessuren – tausend winzige Nadelstiche auf Armen, Hals und Brust –, aber irgendwo in meinem Innern, an einem Ort, den ich nicht einmal benennen könnte, zieht sich etwas zusammen bei der Aussicht, all das so schnell erneut durchzumachen.

Ein Tag vergeht. Dann noch einer. Ich muss Leonard an­rufen, sage ich mir, doch ein ums andere Mal bleibt die Hand, die zum Hörer greifen wollte, reglos. Vermutlich geht es ihm ähnlich, denn auch er ruft nicht an. Der nicht ausgeführte Impuls führt zu Mutlosigkeit. Aus Mutlosigkeit wird Antriebslosigkeit. Erst wenn dieser Zyklus von gemischten Gefühlen, fehlendem Mut und gelähmtem Willen seinen Lauf genommen hat, wird das Bedürfnis nach einem Wiedersehen so stark, dass die Hand nach dem Telefon greift und die Aufgabe vollendet. Leonard und ich betrachten uns als Vertraute, weil unser Zyklus für seine Vollendung nur eine Woche braucht.

Gestern kam ich …

Gestern kam ich aus dem Supermarkt am Ende meines Blocks und bemerkte aus den Augenwinkeln den Bettler, der regelmäßig vor dem Geschäft steht: ein kleiner weißer Typ mit permanent ausgestreckter Hand und einem Gesicht voller geplatzter Äderchen. »Ich brauch was zu essen«, die übliche Leier, »mehr will ich nicht, nur was zu essen, was immer Sie erübrigen können, nur was zu essen.« Als ich an ihm vorbeiging, hörte ich direkt hinter mir eine Stimme: »Okay, Kumpel. Du brauchst was zu essen? Hier hast du was.« Ich drehte mich um und sah einen untersetzten schwarzen Mann mit kalten Augen, der vor dem Bettler stand und ein Stück Pizza in der ausgestreckten Hand hielt. »Ach, Mensch«, winselte der Bettler, »du weißt doch, was …« Die Stimme des anderen wurde genauso eiskalt wie seine Augen. »Du hast gesagt, du brauchst was zu essen. Hier ist was zu essen«, wiederholte er. »Ich habe es für dich gekauft. Iss es!« Der Bettler schreckte sichtlich zusammen. Da wandte sich der Mann vor ihm ab und versenkte die Pizza mit einer Geste größtmöglicher Verachtung im Abfalleimer.

Als ich wieder nach Hause kam, konnte ich dem Drang nicht widerstehen, unserem Pförtner José von dem Vorfall zu erzählen – irgendwo musste ich das einfach loswerden. Josés Augen wurden immer größer. Als ich fertig war, sagte er: »Ach, Miss Gornick, ich weiß, was Sie meinen. Mein Vater hat mir mal eine Lektion für genau dasselbe erteilt.« Diesmal wurden meine Augen groß. »Wir spielten draußen mit dem Ball, als ein Penner mich um was zu essen anbettelte. Also kaufte ich einen Hotdog und brachte ihm den. Daraufhin verpasste mir mein Vater eine saftige Ohrfeige. ›Wenn schon, dann mach es wenigstens richtig‹, sagte er. ›Man spendiert nicht jemandem einen Hotdog ohne gleichzeitig ein Mineralwasser dazu.‹«

1938 …

1938, nur wenige Monate vor seinem Tod, schrieb Thomas Wolfe an Maxwell Perkins: »Ich hatte diese ›Eingebung‹ und wollte dir schreiben, um dir zu sagen … ich werde immer so an dich denken und für dich fühlen wie an jenem vierten Juli vor drei Jahren, als du mich am Schiff abgeholt hast und wir auf einen Drink zu dem Café am Fluss gefahren sind und später auf die Spitze des hohen Gebäudes, wo sich die ganze Fremdheit und die Herrlichkeit und Macht des Lebens und der Stadt unter uns ausbreiteten.«

Mit der Stadt war natürlich New York gemeint – die Stadt von Whitman und Crane –, dieses sagenhafte Umfeld für den Schöpfungsmythos des genialen jungen Mannes, der in der Hauptstadt der Welt landet wie in einem säkularen Ta­bleau der Verkündigung, als hätte die Stadt auf ihn und nur ihn gewartet, damit er die Brücke überquert, den Boulevard entlangschreitet, die Spitze des höchsten Gebäudes erklimmt und wo man ihn endlich als die heroische Gestalt anerkennt, die er in Wahrheit ist.

Meine Stadt ist das nicht. Meine ist die der wehmütigen Briten – Dickens, Gissing, Johnson, besonders Johnson –, die Stadt, in der keiner von uns irgendwohin geht, weil wir schon da sind, wir, die ewigen Grundlinge, die durch die schäbigen, schwindelerregenden Straßen wandern, auf der Suche nach einem Ich, das sich im Blick eines Fremden spiegelt.

In den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts zog Samuel Johnson durch die Straßen von London, um sich von einer chronischen Depression zu heilen. Johnsons London war eine von Seuchen bedrohte Stadt – offene Kloaken, Krankheit, Armut, Elend –, erleuchtet von qualmenden Fackeln, deren Bewohner sich nachts in einsamen Gassen gegenseitig die Kehle aufschlitzten. Auf diese Stadt bezog sich Johnson, als er sagte: »Wenn jemand London leid wird, ist er das Leben leid.«

Für Johnson war die Stadt immer eine Möglichkeit, von ganz unten, dem Abgrund, dem seine heftigsten Beschimpfungen und ein gewaltiges Missbehagen galten, wieder nach oben zu kommen. Die Straße lockte ihn aus seiner griesgrämigen Isolation, erweckte seine angeborene Großzügigkeit wieder zum Leben, gab ihm den Funken seines Intellekts zurück. Auf der Straße machte Johnson seine unsterblichen Beobachtungen, hier eignete er sich seine Weisheit an. Spätnachts, auf der Suche nach Unterhaltung in den Tavernen, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass die Gesellschaft anderer seine eigenen Bedürfnisse widerspiegelte: Männern, die tranken und sich über Gott und die Welt unterhielten, bis der Morgen graute, weil keiner von ihnen nach Hause wollte.

Johnson hasste und fürchtete das Dorfleben. Die abgeschiedenen, stillen Straßen brachten ihn zur Verzweiflung. Im Dorf fehlte ihm die Möglichkeit, seine Anwesenheit zu reflektieren. Seine Einsamkeit wurde unerträglich. Die Bedeutung der Stadt lag darin, dass sie die Einsamkeit erträglich machte.

Ich habe immer in New York gewohnt …

Ich habe immer in New York gewohnt, aber einen großen Teil meines Lebens sehnte ich mich nach der Stadt, so wie jemand aus der Provinz davon träumt, endlich in der Hauptstadt anzukommen. Als Kind in der Bronx zu leben, war, wie in einem Dorf aufzuwachsen. Von frühester Jugend an wusste ich, dass es einen Mittelpunkt-der-Welt gab und ich weit davon entfernt existierte. Gleichzeitig war mir klar, dass Downtown Manhattan nur eine Subway-Fahrt entfernt lag. Manhattan war Arabia.

Mit vierzehn nahm ich zum ersten Mal diese Subway und erkundete dann die Insel kreuz und quer, zu Fuß, im tiefsten Winter ebenso wie im Hochsommer. Der einzige Unterschied zwischen mir und jemandem aus Kansas bestand dar­in, dass Letzterer den einsamen Sprung des Einwanderers ein für alle Mal macht, ich dagegen viele kleine Trips in die Stadt unternahm und immer wieder nach Hause fuhr, auf der Suche nach Trost und Bestärkung, Trott und Langeweile, bevor ich den großen Schritt wagte. Den Broadway hinunter, die Lexington Avenue hinauf, über die 57th Street, von einem Fluss zum anderen, durch Greenwich Village, Chelsea, die Lower East Side, mit einem Satz runter zur Wall Street, dann wieder rauf zur Columbia. Jahrelang bin ich diese Straßen entlanggelaufen, erregt und gespannt, und Abend für Abend in die Bronx zurückgekehrt, wo ich darauf wartete, dass das Leben begann.

In meinen Augen war die West Side ein einziger langer Mietshausblock voller Künstler und Intellektueller. Dieser Reichtum, der in der East Side von Geld und gesellschaftlichem Status widergespiegelt wurde, machte die Stadt so glamourös und zugleich schrecklich aufregend. Ich hatte den Geschmack von Welt, schierer Welt auf der Zunge. Ich musste nur alt genug werden, und New York würde mir zu Füßen liegen.

Als Kind streifte ich mit meinen Freundinnen durch die Straßen der Nachbarschaft. Je älter wir wurden, desto größer wurden unsere Kreise, Stück für Stück, bis wir kleinen Mädchen durch die Bronx zogen, als wären wir auf einer Mission ins Landesinnere. Wir benutzten die Straßen so wie Kinder auf dem Land Felder und Flüsse, Berge und Höhlen: um uns einen Platz auf der Landkarte unserer Welt zu sichern. Stundenlang waren wir unterwegs. Mit zwölf erkannten wir auf Anhieb, ob die Sprache oder das Äußere eines Passanten auch nur im Geringsten aus dem Rahmen fiel. Kam uns ein Mann entgegen und rief: »Na, wie läuft’s, Mädels? Wohnt ihr hier in der Gegend?«, wussten wir Bescheid. Ging eine Frau nicht zielstrebig Richtung Einkaufsmeile, waren wir im Bilde. Wir wussten sogar, wie aufregend dieses Wissen war. Wenn etwas Komisches passierte – und es brauchte nicht viel, bis wir etwas »komisch« fanden, wir hatten ein ausgeprägtes Gefühl für Normen –, verbrachten wir anschließend Stunden damit, es zu analysieren.

Eine Freundin auf der Highschool zeigte mir zum ersten Mal die Straßen von Upper Manhattan. So viele Sprachen und auffallende Eigenheiten – Männer mit Bart, Frauen in Schwarz und Silber. Diese Leute waren keine Arbeiter, das war unübersehbar, aber zu welcher Klasse gehörten sie dann? Und überall Straßenverkäufer! In der Bronx rief ein vereinzelter Obst- und Gemüsehändler vielleicht: »Missus! Heute frische Tomaten!« Hier aber verhökerten die Leute laut und aufdringlich Uhren, Radios, Bücher, Schmuck auf dem Gehweg. Und nicht nur das, Männer und Frauen, die vorbeikamen, beteiligten sich noch an dem allgemeinen Geschrei: »Wie lange soll es diese Uhr denn tun? Bis zur nächsten Straßenecke?« »Ich kenne den Mann, der das Buch geschrieben hat, es ist keinen Pfifferling wert.« »Wo hast du das Radio denn her? Nicht dass mir morgen früh die Bullen auf der Matte stehen!« Welche Aufregung, was für ein Gewusel! Wildfremde Menschen kamen ins Gespräch, zogen sich gegenseitig auf, riefen durcheinander, strahlten vor Vergnügen, explodierten vor Wut. Die allgemeine Ungeniertheit von Gebärden und Ausdruck faszinierte uns: der elegante Flirt, die routinierten Wortwechsel, die überschäumende Ausgelassenheit, der Witz und der Übermut, mit denen die Menschen aufeinander und sich selbst reagierten.

Eine Freundin vom College ging mit mir die West End Avenue entlang. Ich hatte noch nie zuvor eine so breite und prächtige Straße gesehen wie diese, mit Pförtnern vor Häusern, die beeindruckend hoch waren und die Straße über eine Strecke von zweieinhalb Kilometer säumten. Meine Freundin erzählte, dass Musiker und Schriftsteller in diesen großen Steinhäusern lebten, Wissenschaftler und Emigranten, Tänzer und Philosophen. Bald darauf war ein Ausflug nach Downtown erst komplett, wenn ich einmal die West End Avenue zwischen der 107th und der 72nd Street entlanggelaufen war. Für mich wurde diese Avenue zu einem Sinnbild. Hier zu leben, würde bedeuten, dass ich angekommen war. Ich war mir noch nicht ganz im Klaren darüber, ob ich selbst der Künstler/Intellektuelle sein würde oder mit einem verheiratet wäre – irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich selbst den Mietvertrag unterschrieb –, aber das spielte keine große Rolle. So oder so würde ich in einer der Wohnungen dort landen.

Im Sommer besuchten wir die Konzerte im Lewisohn Stadium, dem großen Amphitheater auf dem Campus des City College. Hier hörte ich zum ersten Mal Mozart, Beethoven und Brahms. Die Konzerte fanden Mitte der sechziger Jahre ein Ende, doch in den späten Fünfzigern, als ich jeden Juli und jeden August auf den steinernen Tribünenplätzen saß, wusste ich, wusste es einfach, dass die Männer und Frauen ringsum alle in der West End Avenue wohnten. Wenn das Orchester die Instrumente stimmte und die warme, sternenfunkelnde Nacht sich über uns herabsenkte, spürte ich, wie sich das ganze intelligente Publikum geschlossen vorbeugte, wie es sich nach der Musik und sich selbst in der Musik verzehrte: als wäre das Konzert eine Freiluft-Erweiterung seines eigenen Lebens. Auch ich beugte mich vor, hoffentlich ebenso intelligent wie die anderen, allerdings war mir klar, dass ich die Bewegung nur nachahmte. Das Recht, die Musik so zu lieben wie sie, hatte ich mir noch nicht verdient. Innerhalb weniger Jahre ging mir allmählich auf, dass es möglicherweise auch nie so weit kommen würde.

Als ich erkannte, dass ich mich immer mehr zu einer gesellschaftlichen Randfigur entwickelte, konnte nichts mein wundes, zorniges Herz besser heilen als ein Fußmarsch durch die Stadt. Ich spürte, wie der Druck nachließ und der Frust sich abbaute, wenn ich die unterschiedlichen, einfallsreichen Überlebenstechniken der Leute in den Straßen sah und wie sie auf zig verschiedene Arten darum kämpften, menschlich zu bleiben. Bis in die Nervenenden spürte ich den allgemeinen Widerstand gegen den Untergang. Dieser Widerstand wurde zu meinem ständigen Begleiter. Nie war ich weniger allein als allein in einer überfüllten Straße. Hier, so stellte ich fest, konnte ich mir mich vorstellen. Hier, so dachte ich, kaufe ich Zeit. Was für eine Vorstellung: Zeit zu kaufen. Eine, die ich über Jahre hinweg mit Leonard ­teilte.

Ich wurde erwachsen und zog nach Downtown Manhattan, und natürlich kam alles anders als erwartet. Ich ging aufs College, aber mein Examen brachte mir keine Stellung in Midtown ein. Ich heiratete einen Künstler, und wir lebten in der Lower East Side. Ich fing an zu schreiben, doch jenseits der 14th Street las mich kein Mensch. Für mich öffneten sich keine Türen zur goldenen Gesellschaft. Der glitzernde Betrieb blieb auf Abstand.

Bei meinen Freunden …

Bei meinen Freunden bin ich bekannt dafür, dass mir Anschaffungen nichts bedeuten. Die Leute machen sich über mich lustig, weil ich anscheinend wunschlos glücklich bin, weder weiß, wie die Dinge heißen, noch zwischen Original und Fälschung, Klassik und Mittelmaß unterscheiden kann. Das liegt nicht etwa an intellektuellem Desinteresse; es ist eher so, dass Dinge mich schon immer in Panik versetzten. Angesichts von Farbe, Struktur, Fülle – Glamour, Spaß, Verspieltheit – fühle ich mich unbehaglich, und das ist der Grund für meine Unsicherheit. Mein Leben lang habe ich mehr oder weniger improvisiert, weil »Zeug« mich nervös macht.

Leonard hat eine Lebensweise entwickelt, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil davon ist, die ich jedoch, ehrlich gesagt, eher als Spiegelbild sehe. Seine Wohnung quillt über von japanischen Drucken, indischen Teppichen, mit Samt bezogenen Möbeln aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie kommt mir vor wie ein Set von Museumssälen mit ihm als Kurator. Ich sehe, dass er seine physische Umgebung ebenso verzweifelt vollstopft, wie ich die meine leer halte. Trotzdem ist er in seiner Wohnung ebenso wenig zu Hause wie ich in der meinen; und genau wie ich braucht er Beton unter den Füßen.

Nach dem Examen …

Nach dem Examen am College bedeutete New York für mich Manhattan, doch für Leonard, der ebenfalls in der Bronx aufgewachsen war, blieb es seine Nachbarschaft. Schon als ich ihn kennenlernte – das ist jetzt mehr als dreißig Jahre her –, hatte er im Gegensatz zu mir die Straßen von Brooklyn, Queens und Staten Island abgeklappert. Er kannte Sunnyside, Greenpoint, Red Hook; Washington Heights, East Harlem und South Bronx. Er wusste, was es bedeutet, wenn in einer Einkaufsstraße von Queens die Hälfte der Geschäfte verbarrikadiert war, ein Stück des Hafenviertels von Brooklyn restauriert wurde, ein Garten in Harlem nur kränkliche Blumen hervorbrachte oder ein Lagerhaus am East River in ein Dritte-Welt-Einkaufszentrum umgewandelt wurde. Er wusste, wo sozialer Wohnungsbau funktionierte und wo er eine Katastrophe war. Obendrein war er nicht nur in den Straßen zu Hause, sondern wusste auch über Piere, Eisenbahngleise und Subway-Linien Bescheid. Central und Prospect Park kannte er wie seine Westentasche. Die Fußgängerbrücken am East River, die Fähren, Tunnel und Umgehungsstraßen waren ihm ebenso vertraut wie Snug Harbour, City Island und Jamaica Bay.

Er erinnerte mich an die Gassenjungen, die als Protagonisten in italienischen Nachkriegsfilmen auftraten: Rosselinis hinreißende Lumpenkinder, die Rom ihren Stempel aufdrücken, weil sie sich hier perfekt auskennen. Für mich sah Leonard immer genauso aus wie sie, wenn wir einen unserer langen Märsche durch ein Viertel machten: hungrig nach Informationen, wie es nur ein Kind aus der Arbeiterschicht sein kann, Informationen darüber, wie man sich den Boden unter seinen Füßen aneignet. Mit ihm als Führer breiteten sich die Viertel kilometerweit in alle Richtungen aus und erschienen meinem ahnungslosen Auge häufig als Wüsten, bis ich anfing, sie so zu sehen wie Leonard: als ein einzigartiges Meer von Ghettos, die auf ewig frisches Blut in ein Viereck von Glanz und Wohlstand pumpten.

Auf unseren Wegen änderte sich beim Gehen der Charakter von Zeit-und-Raum. Das »Stunden«-Konzept löste sich auf. Die Avenues wurden zu einem langen Band offener Straße, die sich vor uns erstreckte, und nichts konnte uns aufhalten. Die Zeit dehnte sich aus, bis sie Ähnlichkeit mit der aus der Kindheit bekam, scheinbar unendlich, im Gegensatz zu heute: immer ein knappes Gut, immer etwas, das einem im Nacken sitzt, immer nur eine flüchtige Markierung des eigenen emotionalen Wohlbefindens.

Auf einer Silvesterparty …

Auf einer Silvesterparty kommt Jim eilig auf mich zu. Sarah nickt nur und wendet sich ab. Vor einem Jahr war ich eng mit dem einen, vor zwei Jahren mit der anderen befreundet. Heute Abend wird mir klar, dass ich ihn seit drei und sie seit sechs Monaten nicht gesehen habe. Eine Frau, die nur drei Blocks von mir entfernt wohnt, taucht mit glänzenden Augen auf. »Du fehlst mir!«, seufzt sie sehnsüchtig, als wären wir ein Liebespaar, das in Kriegszeiten durch Umstände, auf die es keinen Einfluss hat, voneinander getrennt worden ist. Ja, nicke ich und gehe weiter. Wir werden uns fröhlich umarmen, all diese Leute und ich: kein kummervoller Blick, keine vorwurfsvolle Silbe zwischen uns. Und tatsächlich gibt es auch keinen Anlass für Kummer. Wie Objekte in einem geschüttelten Kaleidoskop haben wir alle einfach nur die Position im Muster unseres vertraulichen Umgangs miteinander verändert. Viele von uns, die sich noch vor gar nicht langer Zeit regelmäßig getroffen haben, werden sich in Zukunft eher zufällig als absichtlich wiedersehen: in einem Restaurant, im Bus, bei einer Hochzeit in einem ehemaligen Lagerhaus. Ach, aber da ist jemand, den ich seit Jahren nicht gesehen habe. Und plötzlich flackert eine alte Intensität zwischen uns auf, sodass wir uns für die nächsten sechs Monate einmal pro Woche treffen.

Immer wieder muss ich an die Freundschaften zwischen den Bewohnern unseres Hauses in meiner Kindheit denken, alle miteinander eher zufälliger Natur. Rundliche, dunkeläugige Frauen mit einem stummen Verständnis für die Bedürfnisse des Augenblicks. Welche Rolle spielte es, ob die Nachbarin Ida oder Goldie hieß, wenn man bloß jemand brauchte, der einem zehn Dollar leihen, einen Engelmacher nennen oder während eines Ehekrachs zustimmend nicken konnte? Was zählte, war, dass nebenan jemand wohnte. Solche Bindungen, um mit Sartre zu sprechen, waren eher kontingent als essenziell.