Ich weiß was du getan hast - Stefan Zeh - E-Book
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Ich weiß was du getan hast E-Book

Stefan Zeh

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In Stuttgart-Neugereut wird eine junge Frau kaltblütig ermordet. Der Fall scheint klar: Ein klassisches Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang. Während der Esslinger Hauptkommissar Kern und seine junge Kollegin nach Beweisen suchen, stoßen sie auf ein verworrenes Netz aus vernichtender Schikane, gezielten Demütigungen und tief sitzendem Hass. Welche Rolle kam der jungen Frau in dem grausamen Spiel zu? Und was weiß die Schülerin, die verlor, was ihr am meisten bedeutete? Die Zeit drängt, denn für den Täter hat das Spiel gerade erst begonnen...

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Seitenzahl: 525

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Ich weiß was du getan hast

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Ich weiß

was du

getan

hast

von Stefan Zeh

Vom Autor von:

2. Auflage

Texte: © Copyright by Stefan ZehUmschlaggestaltung: © Copyright by Sarah Schemske/buecherschmiede.net

Verlag:Stefan Zehc/o skriptspektor e. U. Robert-Preußler-Straße 13 / TOP 15020 SalzburgAT - Ö[email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Mein besonderer Dank gilt Regina Nicolaidis für ihr besonderes Engagement und ihre große Unterstützung. Außerdem möchte ich mich bei Markus Kaufmann bedanken, der für die Überarbeitung keine Mühen gescheut hat.

Personenverzeichnis

   Kripo K1 Stuttgart

Markus Kern: Kriminalhauptkommissar

Kathrin Klein: Kriminaloberkommissarin

Oliver Ziegler: Kriminalkommissar

Cem Aktürk: Kriminalkommissar, IT-Spezialist

Dr. Günther Freck: Rechtsmediziner

Herr Gust: Spurensicherung

Frau Spahn: Sekretärin

Herr Wullner: Kriminalrat

Henriette Fellbinger: Staatsanwältin

K2 Stuttgart

Olaf Rotenberg: Kriminalhauptkommissar

Miriam Schendt: Kriminalkommissarin

Walter Herbst: Kriminalkommissar

Thomas Pfelzer: Kriminalkommissar

Luise Möller: Kriminalkommissarin

Sören Jung, Kriminalkommissar von der K5

Lehrkräfte und Mitarbeiter am AMG

Larissa Kreuzner: Klassenlehrerin

Manfred Schweickhardt: Schulleiter

Konstantin Weber: ehemaliger Schulleiter

Herr Thiel: Bio- und Mathelehrer

Herr Liebknecht: Sportlehrer

Herr Dorn: Sozialpädagoge

Umfeld von Larissa Kreuzner

Michael Lehm: Freund

Svenja Schwarz: beste Freundin

Nadja Schäfer: Bekannte

Helga Kreuzner: Mutter

Nadine Feiß: Nachbarin

Leonie Beck: Nachbarin

Martin Hanau: Trainingspartner im Tennis

Weitere Hauptpersonen

Julius: Schüler am AMG

Erwin Mahle: Schüler am AMG

Marvin Leist: Erwins bester Kumpel

Jonas Brenz: Erwins Kumpel

Dominic Freiser: Erwins Kumpel

Jennifer Weihn: Schülerin am AMG

Claudia Morin: beste Freundin von Jennifer

Sven Seidel: Mitbewohner von Jennifer

Adrian Neumann: Familienvater

Anna Schempp: Ex-Frau von Adrian

Matthias Wolf: Lebensgefährte von Anna

Familie Reims und Helmen

Tobias Reims: Schüler am AMG und Julius bester Freund

Lukas Reims: Vater von Tobias

Nathalie Reims: Mutter von Tobias

Emil Reims: Bruder von Tobias

Amelie Reims: Schwester von Tobias

Gregor Helmen: Cousin von Tobias

Anja Helmen: Tante von Tobias

Simon Helmen: Onkel von Tobias

Weitere Schüler am AMG

Marcel

Lars

Timo

Theresa

Mareike

Vincent

Sonstige

Gerhard Bauer: Vermieter

Frau Nessel: Leiterin der Jugendherberge

Abkürzungen

JVA: Justizvollzugsanstalt

KTI: Kriminaltechnisches Institut

AMG: Albrecht-Magnus-Gymnasium

„Der Mörder sticht dem Opfer in die Kehle.

Der Mobber sticht dem Opfer in die Seele.“

(Robert Keller, Jurist)

Alle handelnden Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

1

Heute würde er seinem Leben ein Ende setzen. Er stand hoch oben auf dem Hochhaus und sah hinab. Es ging sehr weit in die Tiefe. Den Sprung würde er auf keinen Fall überleben. Er hatte alles genau geplant. Hatte dem Hausmeister erst einen Tag zuvor den Schlüssel für das Dach stibitzt und damit die Tür zum Dach des Hauses, in dem er wohnte, aufgeschlossen. Anschließend dem Hausmeister den Schlüssel unauffällig in den Briefkasten geworfen. In seiner Wohnung, einige Etagen tiefer, hatte er einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er in kurzen Sätzen erklärte, was in seinem Leben schiefgelaufen war. Vielleicht hätte er besser einen Brief verfasst, was in seinem Leben gut lief, dann wäre nur ein Wort notwendig gewesen: Nichts. Er wusste nicht mehr genau, wann das Drama seinen Anfang nahm. Vielleicht war es der Tag, als er beschloss, seinen Arbeitsplatz zu wechseln, um eine neue Stelle mit besserem Gehalt anzunehmen. Wieso nur? Er konnte es nicht mehr nachvollziehen. Der Abteilungsleiter in der neuen Firma hatte ihn von Anfang an auf dem Kieker. Er ließ keine Gelegenheit aus, seine Arbeit herunter zu putzen, machte ihn wegen jeder Kleinigkeit zur Schnecke, stellte ihn vor allen Kollegen bloß. Wann immer irgendetwas schief lief, er war dafür verantwortlich. Wenn er etwas gut machte, wurde es ignoriert. Er verstand nicht, warum. Er wusste nicht, was der Abteilungsleiter gegen ihn hatte. Aber er hasste ihn abgrundtief. Er den Abteilungsleiter und der Abteilungsleiter ihn. Und dann war passiert, worauf der Abteilungsleiter solange gewartet hatte. Ihm war ein Fehler unterlaufen. Kein großer. Er arbeitete im Einkauf und hatte versehentlich ein Produkt in der falschen Menge gekauft. Eine einfache Stornierung hätte es getan. Aber das wollte der Abteilungsleiter gar nicht. Er wollte die Chance nutzen, ihn fertig zu machen. Richtig fertig zu machen. Der Abteilungsleiter berief eine Teamsitzung ein, und zeigte allen anwesenden Kollegen die Bestellung, die er getätigt hatte. Allen vorzuführen, wie unfähig er war, wie dumm. Dass man ihn lieber als Putzmann hätte einstellen sollen, statt als Einkäufer. Dass er die Geschäftsleitung wohl bestochen haben musste, um die Stelle zu bekommen. Der Abteilungsleiter genoss es, ihn bloß zu stellen. Aber selbst das reichte ihm nicht. Er ging noch weiter. Er sollte ab sofort jede Bestellung, jeden Einkauf, jede Stornierung kontrollieren und abzeichnen lassen. Aber nicht vom Abteilungsleiter, sondern von einem Azubi! Und dieser stand in der Hierarchie unter ihm. Ihm kochte das Blut. Er hasste diesen Dreckskerl so sehr, er hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. So ein Mistkerl! Er hätte kündigen sollen. Schon gleich in der ersten Woche. Spätestens nach diesem Zwischenfall. Was er nicht tat, weil die Bezahlung gut war und er auf eine Versetzung in eine andere Abteilung hoffte. Statt der Versetzung bekam er dann die Kündigung. Sein Abteilungsleiter hatte ihn nicht nur vor allen Kollegen herunter, sondern auch bei der Geschäftsleitung schlecht gemacht. Er wurde mehr oder weniger raus geekelt. Als er an diesem Tag nach Hause kam, war er überzeugt, noch dreckiger, noch elendiger hätte er sich nicht mehr fühlen können. Er war so wütend, so frustriert und gleichzeitig auch so beschämt. Er wollte sich erst mal einen starken Drink können und Gott danken, dass er aus dem Laden raus war. Er irrte sich. Als er nach Hause kam, erwischte er seine Frau mit seinem besten Freund im Bett. Er schloss die Augen. Das Bild vor sich. Wie hatte sich sein einst so gutes Leben in so kurzer Zeit in einen solchen Alptraum verwandeln können? Dem Seitensprung folgte noch eine ganze Reihe anderer Ereignisse, eines schmerzhafter wie das andere. Und jetzt war er am Boden zerstört. Am Ende. Er ertrug diese ständigen Erniedrigungen von allen Seiten einfach nicht mehr. Es war dunkel an diesem Maiabend. Dunkel und kühl. Eine sternenklare, eiskalte Nacht. Er sah auf die gegenüberliegende Seite, wo sich ein anderes Hochhaus befand. Er sah Licht brennen. Eine Familie, die mit ihren Kindern am Esstisch saß - wann hatte es das zuletzt bei ihm gegeben? Zwei Teenies, die sich einen Film ansahen - wie gerne hätte er mit einem von ihnen getauscht, sie wirkten so glücklich und sorglos. Aber vermutlich trog der Schein. Es war egal. Alles war besser als seine Situation. Aber darum musste er sich in wenigen Sekunden nie wieder Sorgen machen. In einer anderen Wohnung war Licht angegangen. Er sah ein Pärchen, das miteinander diskutierte. Er fragte sich, ob sie auch diskutieren würden, wenn sie wüssten, was ihm alles passiert war. Vermutlich würden sie sich erleichtert und glücklich umarmen. Er tat auf dem Kiesdach einen Schritt nach vorne und sah hinab. Er sah die Mülltonnen, einen Baum, Rasen. Er würde so springen, dass er auf dem Asphalt landen würde. Kurz und schmerzlos. Die Höhe war schwindelerregend. Es ging wirklich verdammt tief hinab. Er spürte wieder, wie er den Tränen nahe war. Er hatte so oft geweint die letzten Tage. Er hatte gar nicht mehr aufhören können. Zumindest hatte er versucht, etwas zu retten. Nach seinem Rauswurf und der Geschichte mit seiner Frau wollte er neu anfangen, ein neues Leben. Aber wie? Es gab niemanden mehr. Sein einziges Kind war tot. Noch immer spürte er den bohrenden Schmerz, wenn er daran dachte. Es war als hätte ihm jemand einen Dolch in sein Herz gerammt. Er hatte es nicht kommen sehen, er hatte ihm nicht geholfen. Seine Frau war danach nicht mehr dieselbe. Sie waren beide gelähmt in ihrem Schmerz. Sprachen nicht mehr miteinander, gingen nicht mehr aus, taten eigentlich überhaupt nichts mehr. Andere Familien lernten, mit ihrem Verlust zurecht zu kommen. Der Verlust verband sie. Aber nicht seine. Seine Familie war daran zerbrochen. Er hatte versagt. Wieder einmal. Er schaute erneut zum Gebäude gegenüber. Das Paar stritt sich ziemlich heftig. Er kannte die Frau. Die beiden brüllten sich gegenseitig an, sie gestikulierte wild mit den Armen. Da das Fenster geschlossen war, konnte er nicht hören, worum es ging. Es war auch nicht wichtig. Nichts mehr war wichtig. Er würde in wenigen Augenblicken seinen Frieden haben. Vorsichtig ging er auf die Brüstung zu. Er wollte sehen, wo genau er landen würde. Umso näher er dem Rand des Daches kam, desto stärker raste sein Herz. Sie hatten recht. Sie alle. Er war ein Nichtsnutz. Zu nichts zu gebrauchen. Von allen verlassen oder rausgeworfen. Jetzt hatte er nicht einmal mehr genug Geld, seine Miete zu bezahlen. Es war vorbei. Er konnte nicht mehr. Er stand hoch oben, direkt am Rand. Ihm wurde beinahe schwindlig, so tief ging es hinab. Er sah Autos, die Straße unter ihm. Er war nur noch einen Schritt entfernt. Einen Schritt und er hatte für immer Frieden. Erneut lief ihm eine Träne über die Wange. Er sah zu dem streitenden Pärchen hinüber. Der Mann schritt, noch immer wild schreiend, durchs Zimmer und knallte die Wohnungstür hinter sich zu. Er trat ein wenig vom Dachrand zurück. Warum zögerte er? Er bückte sich, hob die halbvolle Bierflasche auf und trank einen Schluck. Der Alkohol sollte es ihm einfacher machen. Aber er war noch nicht so weit. Er nahm einen weiteren, kräftigen Schluck. Er fragte sich, wie die anderen wohl reagieren würden, wenn sie von seinem Suizid erfuhren. Würden sie geschockt sein? Entsetzt? Oder würde es ihnen scheißegal sein? Vermutlich Letzteres. Vermutlich würde die einzige Person, die an seinem Grab stand, der Pfarrer sein. Und die Leute, die das Grab zuschaufeln mussten. So wie er seine Ex-Frau kannte, würde sie sich noch über die teure Bestattung beschweren. Er leerte die Flasche in einem Zug. Gegenüber sah er, dass der Mann wieder zurückgekommen war. War es derselbe? Allerdings sah es von hier nicht so aus, als wolle er sich entschuldigen. Er ging auf die Frau zu und schlug ihr ins Gesicht. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Was für ein Arschloch. Naja, nicht sein Problem. Er hatte den Mut gefunden. Ganz langsam ging er auf die schmale Brüstung zu. Er nahm die Bierflasche und warf sie hinab. Nach einigen Sekunden zerschellte sie lautstark auf dem Asphaltboden. Er sah sich auf der Straße um. Es schien niemandem aufgefallen zu sein. Sie waren in der Gegend Randalierer gewöhnt. Er stieg auf die schmale Brüstung. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Alkohol benebelte seine Sinne nicht ausreichend. Aber ausreichend genug, um es zu Ende zu bringen. Nie wieder Schmerzen. Nie wieder Demütigungen. Nie wieder dieses Gefühl der Verzweiflung, der Angst, der Ausweglosigkeit. Er würde Frieden finden. Und vielleicht in einem neuen, glücklicheren Leben aufwachen. Er spürte ein Gefühl von Glück, fast schon Euphorie. Er warf einen allerletzten Blick zu dem Pärchen. Und hielt in der Sekunde, in der er springen wollte, inne. Das Pärchen stritt nicht mehr. Die Nachbarin lag auf dem Boden. Der Mann packte sie an den Haaren und schleifte sie zum Fenster. Was geht denn da ab?, fragte er sich. Der Mann auf der gegenüberliegenden Seite ließ die Frau los und öffnete die Balkontür. Er schleifte sie hinaus. Dann packte er die Frau an der Hüfte und warf sie vom Balkon.

2

Der Klingelton seines Handys riss Kriminalhauptkommissar Markus Kern aus dem Schlaf. Er drehte sich zur Seite und sah auf den Wecker. Die Leuchtziffern zeigten 04:45 Uhr an. Kern gab einen mürrischen Laut von sich, worauf sich seine Frau Sandra vom ihm wegdrehte und die Decke über den Kopf zog. Sie war die nächtlichen Anrufe gewöhnt. Kern griff nach seinem Handy. „Kern“, meldete er sich, noch etwas verschlafen. „Guten Morgen, Chef“, erklang die fröhliche Stimme von seiner Kollegin. Es war Kriminaloberkommissarin Kathrin Klein, die zu jeder Uhrzeit den Eindruck erweckte, fit und ausgeschlafen zu sein. Aber das lag vermutlich an ihren 28, während er selbst bereits 50 war. Der Unterschied machte sich allmählich bemerkbar. „Tut mir leid, Sie so früh morgens wecken zu müssen“, entschuldigte sich Kathrin. „Schon ok“, murmelte Kern. „Was und wo?“ Er ahnte bereits, was kommen würde. „Neugereut, Pelikanstraße“, informierte ihn seine Kollegin. „Dort wurde vor einer halben Stunde eine Frauenleiche gefunden.“ „Gut, bin so schnell wie möglich da.“ Kurze Zeit später fuhr Markus Kern mit seinem schwarzen BMW die Kormoranstraße entlang und bog hinter der U-Bahnhaltestelle in die Pelikanstraße ein. Er kannte die Gegend nur wenig, aber dank seinem Navi war es einfach zu finden, und um diese Uhrzeit gab es kaum Verkehr. Er bog links ab und parkte seinen Wagen auf dem großen Parkplatz, der sich vor mehreren Hochhäusern befand. Kern stieg aus. Es war noch sehr kühl an diesem Montagmorgen, obwohl die Temperaturen für Mitte Mai tagsüber schon angenehm warm waren. Kathrin Klein kam ihm entgegen. Sie hatte lange, blonde Haare, blaue Augen und ein hübsches Gesicht. Mit ihrer schlanken, sportlichen Figur zog sie nicht selten die Blicke von Männern auf sich. Kern bemitleidete sich selbst kurz angesichts von so viel Frische und Jugendlichkeit, und das mitten in der Nacht. Seine optisch besten Zeiten waren definitiv vorbei. Sein ursprünglich braunes Haar war mittlerweile leicht ergraut und wurde von einigen kahlen Stellen unterwandert. „Morgen“, grüßte Kern seine Kollegin. „Wo ist die Leiche?“ „Dort drüben.“ Kathrin deutete auf eine Stelle hinter dem weiß-blauen Hochhaus, neben dem Kern geparkt hatte. „Eine Passantin hat sie heute morgen auf dem Weg zur Arbeit gefunden.“ Kathrin führte Kern auf den Rasen hinter dem Gebäude, wo bereits eine Polizeiabsperrung angebracht war. Daneben hatten sich ein paar neugierige Passanten eingefunden, die sich das Spektakel, trotz der frühen Uhrzeit, nicht entgehen lassen wollten. Ein bärtiger, gut genährter Polizist begrüßte sie und ließ Kern und Kathrin durch die Absperrung. Auf dem Rasen lag die Leiche einer jungen Frau. Ihre Haltung war verkrümmt und neben ihr war eine Blutlache, soweit Kern das in dem Licht, das die Kollegen angebracht hatten, erkennen konnte. Sie trug keine Schuhe und war nur leicht bekleidet. Über sie war ein Notarzt gebeugt. Mehrere Kollegen der Spurensicherung umkreisten die Szenerie und schossen Fotos. „Was wissen wir?“, wandte sich Kern seiner Kollegin zu. „Die Frau heißt Larissa Kreuzner“, antwortete Kathrin. „Die Nachbarin, die sie gefunden hat, konnte sie zweifelsfrei identifizieren.“ Sie deutete auf eine junge Frau neben der Absperrung, die sichtlich geschockt wirkte und sich mit einem uniformierten Polizisten unterhielt. „Todesursache?“ „Vermutlich ein Fall aus großer Höhe“, antwortete der glatzköpfige Notarzt, der sich erhob und Kern begrüßte. „Ich gehe davon aus, sie ist von einem der Balkone gestürzt.“ Er deutete nach oben. „Ich kann im Moment allerdings noch nicht sagen, ob Suizid oder Fremdeinwirkung. Das muss die Obduktion klären.“ „Können Sie schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“, hakte Kern nach. „Schwierig.“ Der Notarzt runzelte die Stirn und warf einen erneuten Blick auf die Leiche. „Ich würde sagen, mindestens zwei und höchstens sechs Stunden. Genauer möchte ich mich im Moment nicht festlegen.“ „Danke.“ Kern nickte und sah sich um. Gegenüber befanden sich weitere Hochhäuser, mit einem rot-orange-beigen Anstrich. Mit etwas Glück hatte einer der Nachbarn von dort aus etwas gesehen, wobei die hohen Bäume die Sicht deutlich erschwerten. „Was ist mit den Nachbarn?“, fragte Kern den uniformierten Polizisten. „Werden im Moment von meinen Kollegen befragt“, erklärte der Beamte, der sich als Herr Fischer vorstellte. „Wir konnten mithilfe der Nachbarin bereits den Hausmeister ausfindig machen. Er hat die Wohnung von Larissa Kreuzner aufgeschlossen, das Team von der Spurensicherung ist bereits vor Ort. Soll ich Sie zur Wohnung führen?“ Offenbar waren heute morgen alle auf Zack, dachte Kern verdrießlich. „Bringen Sie meine Kollegin hinauf, ich möchte mich noch kurz mit der Nachbarin, die die Leiche gefunden hat, unterhalten.“ „Einverstanden.“ Fischer verschwand mit Kathrin hinter dem Gebäude. Kern wandte sich der jungen Frau zu, die noch immer ziemlich verstört drein blickte. „Guten Morgen“, sagte Kern höflich. „Mein Name ist Kern, Kripo Stuttgart. Kann ich Ihnen kurz ein paar Fragen stellen?“ „Natürlich“, antwortete die junge Frau unsicher, ihren Blick jetzt von der Leiche abgewandt. Kern schätzte sie auf Ende 20, mit braunen, schulterlangen Haaren. Sie trug einen Mantel und drückte eine kleine Handtasche an sich. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. „Sie sind?“ „Nadine Feiß“, antwortete sie. Kern notierte sich den Namen auf seinem Notizblock. „Sie haben die Leiche von Larissa Kreuzner gefunden?“ „Ja, ich wollte heute morgen zur Arbeit und lüfte immer kurz, bevor ich die Wohnung verlasse. Als ich die Balkontür öffnete, habe ich einen dunklen Schatten auf dem Rasen entdeckt. Ich bin auf den Balkon, um nachzusehen, was das war, und da habe ich sie gefunden.“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf und Kern merkte, wie ihr die Tränen hochstiegen. „Der Anblick war entsetzlich.“ Kern holte ein Taschentuch aus seiner Jacke und reichte ihr es. Nadine Feiß nahm es dankend an. „Um wie viel Uhr war das?“ „Müsste so gegen vier gewesen sein“, überlegte sie. „Ich verlasse meistens gegen 04.10 Uhr das Haus.“ „Ist Ihnen vielleicht heute morgen oder gestern Abend irgendetwas aufgefallen?“ Nadine dachte nach. „Nicht, dass ich wüsste, nein.“ Sie schüttelte abermals den Kopf. Sie wirkte etwas nervös. „Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Frau Kreuzner?“ „Nachbarschaftlich“, entgegnete sie. „Ich kannte sie nicht wirklich, wir haben uns ein oder zweimal im Treppenhaus unterhalten, ansonsten das übliche „Hallo“ und „Auf Wiedersehen“. „Verstehe.“ Kern nickte. „Hören Sie, bitte verstehen Sie meine Ungeduld nicht falsch. Ich habe vorhin mit meinem Chef telefoniert, dass ich später komme, ohne ihm genau zu sagen, was los ist. Interessiert ihn vermutlich auch nicht. Aber ich muss jetzt gehen, sonst kriege ich Ärger.“ „Ok, dann möchte ich Sie nicht weiter aufhalten. Wir melden uns, falls wir noch Fragen haben. Danke.“ „Kein Problem.“ Nadine entfernte sich und machte sich eilig auf den Weg zur Haltestelle. Als Kern in Richtung Hauseingang ging, kam Kathrin um die Ecke. Sie drückte Kern einen Becher mit heißem Kaffee in die Hand. „Sie sind ein Schatz“, sagte Kern schmunzelnd und nahm ihn dankbar entgegen. „Wo haben Sie denn den aufgetrieben?“ „Der Hausmeister war so freundlich, uns welchen zu machen.“ Kathrin lächelte. Polizistin hin oder her, ihrem Charme erlag offensichtlich jeder, selbst unter den gräuslichsten Umständen, stellte Kern innerlich fest. „Nett von ihm,“ grummelte er. „Konnte sie uns weiterhelfen?“ Kathrin deutete mit dem Kopf in Richtung der Stelle, an der sich Kern mit der Nachbarin unterhalten hatte. „Sie hat die Leiche etwa gegen vier Uhr entdeckt, das grenzt den Zeitraum, laut Angaben des Notarztes, auf zwischen 22 bis 2 Uhr ein. Jetzt müssen wir aber erst mal die Obduktion abwarten, um zu wissen, womit wir es überhaupt zu tun haben.“ Kathrin nickte. „Was ergab die Spurensuche in der Wohnung?“ „Die Spurensicherung durchkämmt momentan jeden Zentimeter. Ich wollte sie nicht stören und habe nur einen kurzen Blick hineingeworfen. Konnte im ersten Moment aber nichts Auffälliges erkennen.“ „Ok, dann warte ich, bis die Spurensicherung durch ist und sehe mir anschließend die Wohnung nochmal gründlich an. Lassen Sie die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen und fahren Sie anschließend ins Kommissariat. Vielleicht haben wir ja bereits erste Ergebnisse. Wir treffen uns dann dort.“ „Alles klar“, antwortete Kathrin und ging zum Leichenfundort, während sich Kern auf den Weg nach oben machte.

Adrian Neumann war inzwischen zu Wodka übergegangen. Nachdem er den gesamten Biervorrat geleert hatte, brauchte er etwas Stärkeres. Geschlafen hatte er gar nicht. Wie so oft die letzten Nächte. Er saß einfach nur da und starrte die Wand an. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er alles beenden wollte, wurde vor seinen Augen die Nachbarin vom Balkon geworfen. Einfach so. Es war unfassbar. Adrian stand noch einige Minuten auf dem Dach und versuchte zu begreifen, was er da gesehen hatte. Er konnte es nicht. Irgendwann machte er sich an den Abstieg und kehrte zu seiner Wohnung zurück. Er öffnete ein weiteres Bier und versuchte zu verstehen, wer das getan haben könnte und warum. Er kannte die Frau. Es war Larissa Kreuzner. Er hatte ein paar Mal mit ihr zu tun. Besonders gemocht hatte er sie nicht. Aber warum stieß sie jemand vom Balkon? Er spürte eine Mischung aus Entsetzen und Wut. Entsetzen, dass jemand einen anderen Menschen einfach hinunter warf, wie ein Stück Müll, aber auch Wut, dass es ausgerechnet an jenem Abend passierte, an dem eigentlich er sterben wollte. Er, nicht sie. Es war eine makabre Ironie des Schicksals. Stunden später saß er noch immer regungslos in seiner Wohnung. Er schenkte sich erneut ein Glas Wodka ein und leerte es in einem Zug. Das Brennen in seiner Kehle tat gut. Wirklich betrunken machte es ihn nicht. Adrian war den Alkohol gewöhnt. Er war in der letzten Zeit sein bester Freund. Abhängig war er nicht, zumindest glaubte er das. Eigentlich war es ihm auch egal, er wollte eh alles beenden. Ob er dann abhängig war oder nicht, spielte keine Rolle. Adrian plante keine Kehrtwende. Er würde einfach kommende Nacht wieder hinaufsteigen und hoffen, dass er es dieses Mal durchziehen konnte. Er hätte es auch letzte Nacht noch tun können. Niemand sonst schien von Larissa Kreuzners Tod etwas mitbekommen zu haben. Offenbar war er der einzige Zeuge. Aber er konnte es nicht. Er wusste nicht warum, aber ihm war klar, in dieser Nacht würde er es nicht mehr tun. Inzwischen wurde es draußen hell. Adrian hatte sich gefragt, wie lange es dauern würde, bis jemand ihren Tod bemerkte. Einige Stunden vergingen, ohne dass etwas passierte. Irgendwann in den frühen Morgenstunden sah er dann ein Blaulicht auf der Hauswand gegenüber. Nacheinander trafen Polizei-, und Rettungswagen ein. Adrian kamen kurz Zweifel, ob Larissa den Sturz möglicherweise überlebt hatte. Aber das war bei der Höhe ausgeschlossen. Bald darauf kamen zwei weitere Fahrzeuge, vermutlich von der Kripo, und Adrian bemerkte einen Herrn, der von seinem Fahrzeug zusammen mit einer jungen Frau zum Tatort ging. Außerdem waren Leute von der Spurensicherung aufgetaucht. Als nicht allzu lange danach die Leiche auf einer Bahre mit einer schwarzen Plane abtransportiert wurde, bestätigte sich das, was er eigentlich schon wusste. Larissa Kreuzner war tot. Einige Zeit später sah er Polizeibeamte, die die Häuser abklapperten und vermutlich nach Zeugen suchten. Sie klingelten auch bei ihm. Aber er machte nicht auf. Er wusste, er hätte Informationen liefern können, hätte erzählen können, was er gesehen hatte, aber er konnte es nicht. Die Polizei würde Fragen stellen. Unangenehme Fragen. Und was sollte er sagen, was er auf dem Dach gemacht hatte? Sich die schöne Aussicht ansehen? Es gab noch einen weiteren Grund. Sie würden ihn bitten, mit auf das Präsidium zu kommen, damit sie seine Aussage schriftlich aufnehmen konnten. Sie würden vielleicht wieder kommen und neue Fragen stellen. Er würde in den Fall involviert werden. Und das wollte Adrian auf keinen Fall. Er wollte abschließen. Mit sich, mit dem Leben. Wenn er sich erst aus der Deckung wagte, ging das nicht mehr so einfach. Sonst glaubten sie am Ende noch, sein Suizid hätte mit Frau Kreuzner zu tun. Er schenkte sich ein weiteres Glas ein, hielt aber in der Bewegung inne. Allmählich machte sich der Alkohol bemerkbar. Ihm war schlecht und in seinem Kopf begann es zu hämmern. Normalerweise bekamen die Leute erst hinterher einen Kater, wieso hatte er so ein Pech? Er stellte das Glas wieder ab und ging erneut zum Fenster. Mittlerweile war es nahezu Tag und die Szenerie gut erkennbar. Die Polizei schien fertig zu sein. Von den Männern in der weißen Kleidung war nichts mehr zu sehen. Auch die beiden Kommissare konnte er nirgends entdecken. Nur das Absperrband und ein Polizeiwagen standen noch da. Draußen hatte sich ein ganzer Haufen sensationslüsterner Nachbarn eingefunden, die alle noch etwas aufschnappen wollten. Blöde Gaffer. Vermutlich war es das Highlight in ihrem langweiligen Leben. Jetzt hatten sie endlich mal etwas zu erzählen. Adrian hegte keinerlei Zweifel, dass dieselben Nachbarn auch um seine Leiche herumstehen und tuscheln würden. Der komische Eigenbrötler, der sich mehr und mehr verkroch, dem die Frau weggelaufen und dessen Sohn tot war. Klar, sie würden sich ihr Maul über ihn zerreißen. Und wer weiß, was sie noch alles hinzudichteten. Larissa Kreuzner hatte es gut. Sie musste sich um derlei Dinge keine Gedanken mehr machen. Er ließ den Vorhang los und legte sich aufs Sofa. Wie musste es sich anfühlen, eine Familie zu haben, der man berichten konnte, was passiert war? Der man überhaupt etwas erzählen konnte. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Es war zu lange her. Vielleicht hatte er nie eine Familie gehabt. Aber tief in seinem Inneren wusste er, es war anders. Es gab eine Familie. Es gab eine glückliche Zeit in seinem Leben. Damals, noch gar nicht allzu lange her. Bevor die Tragödie sein Leben heimsuchte, und von einem Tag auf den anderen nichts mehr war wie vorher. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Nie wieder. Sofort spürte er den Schmerz. Er konnte ihn nicht abstellen. Er konnte ihn auch nicht mehr ersäufen. Sein Leben war vorbei. Er spürte, wie ihn die Müdigkeit endlich einholte. Er schloss die Augen und hoffte, nie wieder aufzuwachen.

4

Als Kern das Besprechungszimmer betrat, waren neben Kathrin Klein die Kriminalkommissare Oliver Ziegler und Cem Aktürk anwesend. Ziegler, eher schlank und drahtig, war bereits lange Zeit bei der K1, während Cem, ein junger Mann mit schmaler Figur und etwas kleiner als Ziegler, aus der Abteilung für Cyberkriminalität gewechselt war. Kern nahm auf einem der freien Stühle gegenüber von Kathrin Platz. „Hier, extra für Sie besorgt“, sagte Kathrin mit einem Zwinkern und schob Kern eine braune Tüte hin. „Was ist das?“ Kern sah neugierig hinein. Begeistert fischte er einen Schokodonut heraus. „Ok, erst der heiße Kaffee und jetzt noch ein Schokodonut, was haben Sie ausgefressen?“, grinste er Kathrin herausfordernd an. Kern hatte eine Schwäche für Donuts, und Kathrin wusste das. Das letzte Mal, als Kathrin gleich mit einer ganzen Schachtel Donuts ankam, musste sie ihrem Chef beibringen, dass sie zur Befragung eines Zeugen die Bahn nehmen musste, weil sie zum wiederholten Male geblitzt worden und für einen Monat ihren Führerschein los war. Kern war alles andere als amüsiert. Kathrin war eine hervorragende Ermittlerin, nur mit Tempolimits nahm sie es nicht so genau. Ihr war offensichtlich nicht bekannt, dass es sich bei den weißen runden Schildern mit schwarzer Zahl und roter Umrandung nicht um Empfehlungen handelte. Kern wusste, dass Kathrins Vater sie als Kind gerne auf Auto- und Pferderennen mitgenommen hatte und sie daher eine Leidenschaft für alles hatte, was ordentlich Tempo vorwies. Leider ihren Fahrstil mit eingenommen. Auf Polizeieinsätzen, bei denen es um jede Sekunde ging, war Kathrins Tempo von Vorteil. Sie war immer die Erste vor Ort. Obwohl sie sehr schnell fuhr, blieb sie konzentriert und ihre Unfallstatistik war blank, soweit Kern wusste. Außerhalb von Einsätzen war es eher unangenehm bis peinlich, wenn eine Polizistin den Führerschein verlor, weil sie ständig zu schnell fuhr. „Keine Sorge.“ Kathrin wusste bereits, worauf Kern anspielte. „So wie ich Sie kenne, haben Sie heute morgen das Frühstück ausgelassen und da wollte ich Ihnen eine Kleinigkeit mitbringen.“ „Vielen Dank. Das ist ausgesprochen aufmerksam, um nicht zu sagen, lebensrettend“, antwortete Kern erleichtert und wandte sich an die gesamte Mannschaft. „Bevor wir uns dann unserem Fall widmen, möchte ich Ihnen unser neues Teammitglied, Cem Aktürk, vorstellen.“ Er nickte diesem zu. „Sie erinnern sich bestimmt, Herr Aktürk hat uns bei unserem letzten Fall unterstützt und vertritt Jürgen Matern, der ab heute in Elternzeit ist.“ Er sah in die Runde. „Gut. Dann die wichtigste Frage zuerst, haben wir schon den Bericht von Freck?“ Dr. Günther Freck war Rechtsmediziner und ein Meister seines Fachs. Er führte schon seit Jahren im Auftrag der Polizei Obduktionen durch und es gab nichts, was ihm entging. Er war extrem genau, sehr gründlich und beeindruckte immer wieder durch sein erstaunliches Fachwissen. Kern persönlich hielt ihn für ziemlich schräg, seit er einmal während einer Obduktion sein mitgebrachtes Gulasch genüsslich verspeiste, während vor ihm eine ausgeweidete Leiche lag. Dennoch gab es keinen Zweifel an seinen Fähigkeiten. „Ich habe vorhin mit Freck telefoniert“, antwortete Kathrin. „Er schickt uns den Bericht, sobald er fertig ist. Dürfte bald soweit sein.“ „Ok.“ Kern nickte. „Bevor wir weitere Schritte unternehmen, müssen wir wissen, ob wir es mit einem Suizid oder einem Mord zu tun haben.“ Kern wartete einen Augenblick. „Wurden die Angehörigen des Opfers informiert?“ „Ja, wir haben Beamte zu den Eltern von Frau Kreuzner geschickt. Außerdem gab es offenbar einen festen Freund, den wir bisher noch nicht erreichen konnten“, kam von Cem. „Was ergab die Befragung der Nachbarn?“, wandte sich Kern an Ziegler. „Scheint niemand beobachtet zu haben, ob sie gestoßen wurde oder gesprungen ist“, sagte er kopfschüttelnd. „Allerdings berichteten uns einige Nachbarn, dass es zuvor einen lautstarken Streit zwischen Larissa Kreuzner und ihrem Freund gab. „Hat dieser Freund einen Namen?“, hakte Kern ungeduldig nach. „Ja.“ Ziegler blätterte in seinen Unterlagen. „Michael Lehm. Sie sind seit drei oder vier Jahren zusammen und in letzter Zeit gab es immer wieder laute Auseinandersetzungen.“ „Auch körperliche?“ „Das konnten uns die Nachbarn nicht sagen, aber es wurde öfters mal sehr turbulent.“ „Den Namen haben die Eltern auch erwähnt“, warf Cem ein. „Die Mutter von Larissa Kreuzner ist absolut überzeugt, dass dieser Lehm ihre Tochter ermordet hat und sie hält ihn für einen Grobian und Schläger, dem sie alles zutraut.“ „Interessant“, erwiderte Kern. „Aber solange wir noch nicht wissen, ob es überhaupt ein Mord war, sollten wir uns mit voreiligen Schlussfolgerungen zurückhalten. Was haben wir sonst noch über das Opfer?“ „Laut ihren Eltern ist sie 31 Jahre, unterrichtet Deutsch und Englisch am Albrecht-Magnus-Gymnasium in Stuttgart-Sommerrain, wohnt alleine und hatte scheinbar einen guten Draht, sowohl zu ihren Kollegen als auch zu den Schülern“, fasste Kathrin die wichtigsten Informationen zusammen. „Die Beamten haben sich erkundigt, ob Frau Kreuzner irgendwelche Feinde hatte“, ergänzte Cem. „Ihre Mutter nahm das erneut zum Anlass, ihren Freund zu beschuldigen, Larissa das angetan zu haben. Ansonsten konnte sie uns keine Hinweise liefern.“ Kern seufzte hörbar. Eine aufgewühlte Mutter, die schon wusste, wer der Täter war, obwohl es noch offen war, dass es überhaupt einen gab. Das Gespräch mit den Eltern, und vor allem mit der Mutter, dürfte wenig angenehm werden. „In Ordnung“, sagte Kern. „Wir müssen sowohl mit den Eltern als auch mit ihrem Freund sprechen. Außerdem müssen wir uns an der Schule von Frau Kreuzner umhören und mit dem Rektor reden. Bevor wir uns jetzt aber mit wilden Verschwörungstheorien herum schlagen, warten wir ab, was Freck uns schickt. Was hat die Spurensicherung herausgefunden?“ „Es wurden DNA-Spuren sichergestellt, die von unterschiedlichen Personen stammen. Die Auswertung wird allerdings noch etwas Zeit in Anspruch nehmen“, antwortete Kathrin und widmete sich wieder der vor ihr aufgeschlagenen Mappe. „Außerdem wurden auf dem Teppich in der Wohnung von Frau Kreuzner mögliche Schleifspuren entdeckt. Es könnte also durchaus sein, dass sie auf den Balkon geschleift wurde“, schlussfolgerte Kathrin. „Sonst wurde nichts Nennenswertes gefunden.“ „Interessante Details“, bemerkte Kern. „Wenn sie tatsächlich über den Teppich geschleift wurde, wäre ein Suizid sehr unwahrscheinlich.“ In diesem Moment öffnete sich die Tür und Frau Spahn, die zierliche Sekretärin, die schon seit Anbeginn der Zeit für die Kripo arbeitete, kam herein. „Bitte entschuldigen Sie die Störung“, sagte sie höflich. „Das Fax ist gerade reingekommen.“ Sie überreichte Kern das Dokument. „Vielen Dank.“ Kern nahm das Schreiben zur Hand, während Frau Spahn leise den Raum verließ. „Der Bericht von Freck“, erklärte Kern, während ihn der Rest des Teams gespannt beobachtete. „Alles klar.“ Mit finsterem Gesichtsausdruck reichte er Kathrin den Bericht. „Wie es aussieht, haben wir einen Mord.“

5

Jennifer Weihn war nervös. Sie hatte ein Vorstellungsgespräch bei einer angesagten Werbeagentur in Stuttgart. Sie hatte sich dort bereits vor dem Abitur als Grafikdesignerin beworben und zu ihrer großen Überraschung eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhalten. Das Unternehmen war nicht das einzige, das sie angeschrieben hatte. Es waren zig Bewerbungen rausgegangen. Aber trotz ihrer guten Noten im Abschlusszeugnis erhielt sie fast nur Absagen. Umso größer ihre Freude, als sie eines Morgens das Einladungsschreiben in ihrem Briefkasten vorfand. Jenny, wie Freunde sie nannten, hatte sich umfangreich über die Firma informiert, im Internet recherchiert und sogar dort angerufen, um etwas zu finden, das ihr einen Vorteil verschaffte. Sie hatte etliche Bücher aus der Bücherei besorgt, um für etwaige Fragen gewappnet zu sein. Hatte sich Notizen gemacht, ein passendes Outfit besorgt, war die wichtigsten Antworten nochmal im Kopf durchgegangen. Ihr Vater erklärte sich bereit mit ihr zu üben, was sie dankend annahm, aber ihrem Vater gegenüber zu sitzen, war ein völlig anderes Gefühl, als einem Personalchef. Jenny konnte sich in Vorstellungsgesprächen gut verkaufen. Obwohl sie erst drei oder vier gehabt hatte, war das Feedback durchweg gut und sie erhielt beinahe immer eine Zusage. Trotzdem war sie unruhig. Das Gespräch war ihr wichtig. Sie wollte die Stelle. Grafikdesignerin zu werden war ihr großer Traum. Schon als Kind. Sogar in ihrer Freizeit arbeitete sie gerne am PC, entwarf Bilder für die Schülerzeitung und hatte ihrem Vater bei einem Projekt für seinen Chef geholfen. Sie hatte sogar einen Entwurf für das Logo der Schule erstellt und dieser war als bester ausgewählt worden. Sie konnte also auf viel Erfahrung zurückblicken und würde diese in dem Gespräch auch zum Ausdruck bringen. Vorausgesetzt, sie vergaß nicht die Hälfte. Die erste Viertelstunde war die Schlimmste. Danach ging es. Trotzdem war der erste Eindruck nicht unerheblich und sie wollte auf keinen Fall so wirken, als wäre sie völlig durch den Wind. Aber genau so fühlte sie sich. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Noch über eine halbe Stunde Zeit. Eigentlich kein Grund, sich zu beeilen. Aber langsamer laufen konnte sie nicht. Jenny war 18 Jahre und hatte lange, blonde Haare, die ihr bis zur Taille reichten, mit vereinzelt orange-roten Strähnchen. Sie besaß die dazu passenden hellblauen Augen und ein sehr hübsches Gesicht. Sie trug eine beigefarbene Stoffhose und einen Blazer über einem schwarzen Oberteil. Um den Hals trug sie eine silberne Kette mit einem Opal, der ihre Augenfarbe aufgriff. Ihr gutes Aussehen war in vielen Situationen nützlich, allerdings wollte sie in dem Gespräch mit ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten und nicht nur mit ihrem Äußeren überzeugen. Sie bog in die Eierstraße ein. Den Weg hatte sie sich vorab bei Google Maps angeschaut und eingeprägt. Es dürfte kein Problem werden, die Firma zu finden. Rechts von ihr befand sich die Matthäuskirche. Diesen Teil von Stuttgart kannte sie überhaupt nicht. Sie war zwar ein oder zweimal mit der U-Bahn vorbeigefahren, aber nie ausgestiegen. Sie bog in die Dornhaldenstraße ein und fand auf Anhieb das Gebäude. Sie warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr. Immer noch 25 Minuten. Sollte sie schon mal hochgehen? Oder lieber noch etwas draußen warten? Sie wusste, es gab nichts Schlimmeres, als zu spät zu einem Vorstellungsgespräch zu kommen, meinte aber sich dunkel zu erinnern, dass es auch einen schlechten Eindruck machte, viel zu früh zu kommen. Und sie war definitiv zu früh. Sie blieb also vor der Tür stehen und wartete einen Moment. Es war ein angenehm warmer, wenn auch trüber Maitag. Nach dem eisigen Winter hätte man annehmen können, die Temperaturen würden Mitte Mai noch bescheiden ausfallen, aber mit 20 Grad war es schon sehr mild, obgleich das Wetter im Moment wenig einladend war. Sie ging im Kopf nochmals die Standardfragen durch. Sie hatte sich vorab jede einzelne Frage aus den Ratgebern auf einem Block notiert und sich eine pfiffige Antwort überlegt, die nicht zu abgedroschen klang. Auf einige Fragen war es schwierig, überhaupt etwas Überzeugendes zu finden, das nicht auch jeder andere bringen würde. Aber letztendlich gelang es ihr, gute Antworten vorzubereiten, von denen sie wusste, wie sie sie rüber bringen würde. Wenn sie nur nicht so nervös wäre! Dabei konnte sie es doch. Sie hatte es ein dutzend Mal im Kopf durchgespielt. Es konnte nichts schief gehen. Sicher war sie allerdings nicht. Aber ihr war klar, wenn sie weiter hier draußen stand und die Fragen durchexerzierte, machte sie sich nur verrückt. Die Werbeagentur befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes und machte auf Jenny einen ansprechenden Eindruck. Die Mitarbeiter, die sie zu Gesicht bekam, waren alle noch relativ jung und wirkten weder gestresst noch überfordert. Ganz im Gegenteil, das Betriebsklima schien entspannt. Sie sah einen jungen Mann, der bei einer Frau, höchstens Ende 30, saß und sich leise plaudernd über etwas auf dem Bildschirm unterhielt. Eine andere Frau bereitete Kaffee zu und sprach aufgeregt mit einer Kollegin. „Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“, lächelte sie die junge Frau hinter dem Empfangstresen an. Sie nannte ihren Namen und ihr Anliegen, worauf die Empfangsdame ein kurzes Telefonat führte und sie dann freundlich bat, ihr zu folgen. Sie führte Jenny in einen Nebenraum mit einem flachen orange-farbenen Sofa und bat Jenny, Platz zu nehmen, der Chef würde gleich kommen. Jenny hängte ihre Jacke an den bereits ziemlich vollen Garderobenständer und wartete. Die Wanduhr tickte leise, sie hörte Stimmen aus dem Nebenraum, wo vermutlich momentan ein weiteres Vorstellungsgespräch geführt wurde. Sie sah sich um. Vor ihr stand ein breiter Glastisch mit einer kunterbunten Obstschale darauf, an der Wand hingen mehrere Poster von Covern verschiedener Zeitschriften, an denen die Werbeagentur vermutlich mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu dem Raum, in dem sie zuvor gewesen war, waren die Wände hier gerade und nicht unter einer Dachschräge. Sie holte ihr iPhone heraus. Sie hatte vier ungelesene Whatsapp-Nachrichten. Aber egal. Die würde sie nachher noch lesen können. Sie wollte auf keinen Fall durch Anrufe oder vibrierende Nachrichten unangenehm auffallen, also aktivierte sie den Flugmodus und steckte das iPhone wieder in ihre Handtasche. Zehn Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Ihre Nervosität wuchs. Auf der Hinfahrt in der U-Bahn war es mit der Unruhe noch einigermaßen gegangen. Vor dem Gebäude wurde es stärker und jetzt, unmittelbar vor dem Gespräch, war es am schlimmsten. Sie hoffte, sie würde bald rein gebeten. Die Zeit kam ihr endlos vor, obwohl der Termin gerade einmal fünf Minuten über der Zeit lag. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Flasche Mineralwasser und ein Orangensaft. Die Empfangsdame hatte ihr angeboten, sich zu bedienen, aber sie war zu nervös, sie konnte nichts trinken. Wenn sie sich einschenkte, würde sie bestimmt in der Sekunde aufgerufen werden. Ihre Gedanken schweiften zur Schule. Es war unglaublich, wie schnell die Zeit am Ende vorbeigegangen war. Jenny hatte sich nie wirklich vorstellen können, wie es sein würde, wenn ihre Schulzeit tatsächlich beendet war. Das war quasi ihr gesamtes, bisheriges Leben. Zumindest der Teil, an den sie sich erinnern konnte. Nun war es vorbei. Sie war immer überzeugt gewesen, es müsste ein gutes Gefühl sein. Nicht mehr ihre ganze Zeit verschwenden, auf sinnlose Fächer zu lernen, sich auf nervtötende Prüfungen vorzubereiten, Hausaufgaben zu machen und sich durch einschläfernde Physikstunden durch zu schlagen. In dieser Hinsicht war sie froh. Und vermutlich wäre sie glücklich, wenn da nicht dieses andere Ereignis gewesen wäre. Dieses Ereignis, das ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Das sie noch immer schmerzte, wenn sie daran dachte. Was mochte nur passiert sein? Sie stellte sich diese Frage immer und immer wieder. Oft lag sie nachts wach und konnte keinen Schlaf finden. Sie dachte an ihr letztes Gespräch und ihre letzten Worte. Dachte an den Tag, wo sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber es gab keinen Hinweis auf das, was folgte. Oder wenn doch, dann fand sie ihn nicht. Vielleicht war es nie ein Zufall gewesen. Sie bekam es nicht aus dem Kopf. Sobald es um sie herum still wurde, dachte sie wieder daran. Es ließ ihr einfach keine Ruhe. Diese quälende, unbeantwortete Frage: Was war passiert? In diesem Moment wurde die Tür zum Nebenzimmer geöffnet. Die Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. Ein junger Mann mit glatten, braunen Haaren und Bart trat aus der Tür. „Frau Weihn?“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. „Ja.“ Sie lächelte ebenfalls und erhob sich.

6

Kathrin Klein und Markus Kern waren mit Kerns BMW auf dem Weg zu Michael Lehm, dem Freund des Opfers. Ziegler und Cem hatten die undankbare Aufgabe, nochmal die Eltern von Larissa Kreuzner aufzusuchen. So schnell, wie sich Frau Kreuzners Mutter auf den Freund als Mörder eingeschossen hatte, noch bevor überhaupt fest stand, dass es ein Mord war, ahnte Kern bereits, was auf sie zukommen würde. Doch er selbst wollte als Erstes mit Herrn Lehm sprechen, unter anderem auch, um zu überprüfen, wie er auf die Nachricht, dass seine Freundin ermordet wurde, reagierte. Dr. Freck ließ in seinem Gutachten keine Zweifel an einem gewaltsamen Tod aufkommen. Der Gerichtsmediziner entdeckte an der Leiche mehrere Verletzungen und Prellungen im Gesicht, die nicht vom Aufprall stammten. Freck vermutete, dass ihr der Täter mehrmals mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte und sie dann über die Balkonbrüstung warf. Dazu passten die weiteren Verletzungen an der Kopfhaut, die darauf hinwiesen, dass sie an den Haaren nach draußen gezogen wurde. Außerdem Verletzungen am Bauch, als sie über die Brüstung gehievt wurde. Die Blutspuren, die die Spurensicherung am Tatort gefunden hatte, ebenso wie die Schleifspuren auf dem Teppich bestätigten den Verdacht. Außerdem lag Ziegler mit seiner Vermutung, der Täter habe Handschuhe getragen, richtig. Freck gelang es, im Gesicht des Opfers Spuren von Leder zu finden, die auf schwarze Lederhandschuhe hindeuteten. Routinemäßig wurde noch die Auskunft von Larissa Kreuzners Hausärztin angefordert, die bestätigte, dass Frau Kreuzner im Moment nicht suizidgefährdet war. Es handelte sich um ein besonders gewalttätiges Verbrechen. Wer immer das getan hatte, musste  verdammt wütend gewesen sein. Allein brutal auf sie einzudreschen, fand Kern schon schlimm genug - aber sie dann noch wie Müll über die Brüstung zu werfen - das sah nach fürchterlicher Rage aus. „Hier rechts“, deutete Kathrin auf die Abzweigung. Sie kannte die Gegend wesentlich besser, als er, da sie in unmittelbarer Umgebung wohnte. Sie fuhren über den Ostendplatz, wo zu dieser Zeit geschäftliches Treiben herrschte. Die Ostendstraße führte weiter bergauf, vorbei an der örtlichen Polizeidienststelle und ging dort in die Gablenberger Hauptstraße über. „Die nächste links“, wies ihn Kathrin an. Wäre Kern alleine unterwegs gewesen, hätte er einfach das Navi eingeschaltet, aber da Kathrin sich auskannte, war das nicht nötig. Kern bog in die Pflasteräckerstraße ein und kurz darauf in die Klingenstraße, die ihnen Michael Lehm als Adresse genannt hatte. Sie suchten die Hausnummern ab und hielten schließlich gegenüber einem weißen Haus, in dem Michael Lehm wohnte. Kathrin und Kern stiegen aus und klingelten. Ein älterer Herr mit einem grauen Einkaufwägelchen ging an ihnen vorbei und stierte unbeteiligt, leise vor sich hin grummelnd, in die Landschaft. Einige Sekunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Kern wurde langsam ungeduldig. Er klingelte erneut. „Wir haben ihm doch gesagt, dass wir kommen, wieso macht er jetzt nicht auf?“ Er sah auf seine Uhr. Viertel nach drei. „Vielleicht hat er sich verspätet“, meinte Kathrin achselzuckend. Der Türöffner summte und Kern betrat das Treppenhaus, gefolgt von Kathrin. Im dritten Stock öffnete ihnen ein junger Mann mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren und einer hohen Stirn. Michael Lehm wirkte mitgenommen, was angesichts der Tatsache, dass seine Freundin tot war, nicht verwunderte. Völlig am Boden zerstört schien er allerdings nicht. „Bitte verzeihen Sie das lange Warten“, entschuldigte er sich bei den Kommissaren. „Ich war grade noch am Telefonieren.“ „Kein Problem“, antwortete Kern freundlich und betrat die Wohnung. Michael Lehm führte sie durch den Flur in ein kleines Wohnzimmer, in dem außer einem Fernseher, einer Stehlampe und einer großen Couch nicht wirklich viel vorhanden war. Er lud sie ein, Platz zu nehmen und Kathrin setzte sich neben Kern. Lehm nahm ihnen gegenüber Platz. „Sie wissen, warum wir hier sind?“, eröffnete Kern das Gespräch. „Ich gehe davon aus, es geht um den Tod meiner Freundin“, erwiderte Lehm nüchtern. „Richtig. Meine Kollegen haben Ihnen bereits mitgeteilt, dass Ihre Freundin, Larissa Kreuzner, tot unterhalb ihres Balkons im Garten gefunden wurde. Uns liegen inzwischen die Angaben der Gerichtsmedizin vor und wir können davon ausgehen, dass sie ermordet wurde.“ Kern und Kathrin beobachteten Lehm. „Oh mein Gott“, entfuhr es ihm. Er zeigte jedoch kaum Regung. Wenn er schockiert war, ließ er es sich nicht anmerken. Nach einigen Sekunden, ohne dass jemand etwas sagte, nahm Lehm den Faden wieder auf. „Ich habe bereits etwas in der Art vermutet, als mir ihre Kollegen von ihrem Tod berichtet haben“, sagte er trocken. „Eine Suizid hielt ich von Anfang an für ausgeschlossen.“ „Wieso?“, erkundigte sich Kathrin interessiert. „Es gab nie einen Grund, von so etwas auszugehen. Sie war ein fröhlicher, aufgeschlossener Mensch, und ich wüsste nichts von Problemen, die einen Suizid erklären würden.“ „Wir haben gehört, in letzter Zeit gab es häufiger Streit zwischen Ihnen und Ihrer Freundin“, bemerkte Kern. „Es gab ein paar Auseinandersetzungen, wie in jeder Beziehung“, räumte Lehm achselzuckend ein. „Aber ich denke, das ist normal.“ „Die Nachbarn haben uns berichtet, es hätte am Vorabend des Mordes einen besonders lauten Streit zwischen Ihnen und Ihrer Freundin gegeben“, fühlte Kern ihm auf den Zahn. „Worum ging es da?“ „Ach das“, winkte Lehm ab. „Es ging darum, dass Larissa und ich zum Kino verabredet waren, aber sie einfach nicht erschien. Ich habe sie dann auf dem Handy angerufen, aber sie ging nicht ran. Also beschloss ich, zu ihr zu fahren.“ „Um wie viel Uhr war das?“, fragte Kathrin. „Ich glaube, kurz nach acht. Der Film fing 20 Uhr an und wir wollten uns davor treffen, aber sie kam einfach nicht.“ Kern holte seinen Block raus und machte sich einige Notizen. „Was passierte, als Sie bei ihr ankamen?“ „Ich fragte sie, was los war, warum sie nicht an ihr Handy ging und warum sie nicht zu unserer Verabredung erschien.“ Er machte einen Moment Pause. „Aber anstelle einer Entschuldigung kam nur, sie hätte es vergessen und habe im Moment Wichtigeres zu tun.“ „Ich gehe davon aus, darüber waren Sie nicht besonders erfreut?“, hakte Kathrin nach. „Nein, ganz und gar nicht. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr Verhalten bescheuert finde und wie sie sich eine Beziehung vorstelle, wenn sie ständig absagt!“ „Ständig?“, insistierte Kern. „Ja, ständig“, wiederholte Lehm, der nun merklich lauter geworden war. „Es war nicht das erste Mal, dass sie mich versetzte, und eigentlich gab es nie einen plausiblen Grund. Das eine Mal hat sie es vergessen, das andere Mal hat sie die Arbeit aufgehalten. Es war ständig irgendetwas.“ „Da haben Sie die Beherrschung verloren und ihr eine versetzt“, folgerte Kern. „Was? Nein!“ Er wirkte empört. „Wie kommen Sie jetzt auf so was?“ Kern antwortete nicht sofort, sondern wartete gespannt. „Ich habe sie nie geschlagen! Wir haben uns angeschrien, die ohnehin schon angespannte Atmosphäre wurde noch schlimmer, und schließlich hatte ich die Nase voll und bin wieder gegangen. Aber das war's auch.“ „Um wie viel Uhr war das?“, fragte Kathrin erneut. „Weiß nicht, gegen 22 Uhr, vielleicht etwas später.“ Er wirkte verunsichert. Die Frage von Kern schien ihn sichtlich zu beunruhigen. „Als Sie Frau Kreuzner verlassen haben, war sie also noch völlig lebendig und hatte keinerlei erkennbare Verletzungen?“, erkundigte sich Kern. „Ja, natürlich.“ Lehm schien sich sicher. „Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, als Sie die Wohnung Ihrer Freundin verließen? Eine andere Person oder sonst etwas?“ Kathrin schaute ihn erwartungsvoll an. Lehm dachte nach. „Nicht, dass ich wüsste, nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir waren nur beide ziemlich sauer.“ Kathrin warf einen Blick zu Kern. Ihm war anzusehen, dass er Lehm nicht glaubte. „Kennen Sie Larissa Kreuzners Mutter?“, fragte Kern. „Ja, wieso?“ „Sie ist überzeugt, dass Sie der Mörder ihrer Tochter sind und teilte uns das mit, noch bevor fest stand, dass es überhaupt ein Mord war.“ Lehm schnaubte verächtlich. „Das war ja klar. Wer auch sonst? Sie konnte mich noch nie leiden. Vom ersten Tag an, war sie mir gegenüber feindselig eingestellt. Ich weiß nicht, warum, ob es mein Aussehen ist, mein Job oder was auch immer. Sie konnte mich jedenfalls nicht leiden und machte keinen Hehl daraus, dass sie mich für den falschen Freund ihrer Tochter hielt und mich am Liebsten raus ekeln würde. Frau Kreuzner gehört zu den Frauen, die immer genau wissen, was ihrer Tochter gut tut und was nicht, und war überzeugt, ich definitiv nicht!“ Kern überlegte. Die Mutter hatte es Lehm sicher schwer gemacht. Aber in der Regel besaßen Mütter ein feines Gespür. Hatte sie eine Vorahnung, wie Lehm auf eine Zurückweisung reagieren würde? „Was arbeiten Sie denn?“, griff Kathrin den Job auf. „Ich arbeite in der Buchhaltung einer großen Firma.“ Seine Stimme klang tonlos. „Herr Lehm, wie es nach dem bisherigen Stand der Ermittlung aussieht, sind Sie der Letzte, der Larissa Kreuzner lebend gesehen hat. Und Sie hatten kurz davor einen so lauten Streit mit ihr, dass es sogar die Nachbarn mitbekommen haben,“ stellte Kern fest. „Wollen Sie etwa damit andeuten, dass ich sie getötet habe?“ Lehm wurde deutlich lauter. „Haben Sie?“, fragte Kern provokant. Lehm lief dunkelrot an. „So ein Schwachsinn,“ rief er aufgebracht und sprang auf. „Wir haben uns geliebt, es war lediglich eine kleine Auseinandersetzung, sonst nichts. Das kommt in jeder Beziehung vor.“ Seltsam, dass er das wiederholte, dachte Kathrin. Es schien ihm wichtig zu sein, dass der Streit völlig normal war. „Setzen Sie sich bitte wieder“, forderte Kern Lehm auf. „Unsere Fragen sind reine Routine.“ Lehm schien das nicht zu besänftigen. Noch immer vor Wut kochend, nahm er wieder Platz und sah den Kommissar an. „Nehmen wir an, Ihre Schilderungen sind korrekt.“ „Sind sie“, unterbrach Lehm ihn unwirsch. „Lassen Sie mich bitte ausreden.“ Er hasste es, unterbrochen zu werden. „Larissa Kreuzner starb zwischen 22 und 2 Uhr. Sie sagten, Sie haben die Wohnung gegen 22 Uhr verlassen. Folglich muss der wahre Mörder kurze Zeit später die Wohnung betreten haben. Sie sagen aber, Ihnen sei niemand aufgefallen?“ „Nein“, bekräftigte Lehm, der sich bemühte, ruhig zu bleiben. „Was passierte, nachdem Sie die Wohnung verließen?“ „Ich habe mich in mein Auto gesetzt und bin hierher gefahren.“ „Kann das jemand bezeugen?“ „Nein, ich wohne, wie Sie sehen können, allein.“ „Haben Sie die Wohnung später nochmal verlassen?“, umging Kern die Provokation. „Nein.“ Kern blickte zu Kathrin. Das Gespräch war festgefahren. Lehm war unglaublich wütend darüber, auch nur im Entferntesten als Täter in Betracht gezogen zu werden. Dabei war die Möglichkeit alles andere als absurd. Nicht selten verlor ein Freund die Beherrschung, wenn er von seiner Freundin versetzt oder abserviert wurde, und Lehm war äußerst impulsiv und reizbar. Kern konnte sich durchaus vorstellen, dass ihm die Hand ausrutschte. Aber war er deswegen ein Mörder? Kathrins Blicken zufolge, schienen ihr die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen. „Ich glaube, wir sind soweit fertig.“ Kern erhob sich. Kathrin stand ebenfalls auf. „Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, falls wir noch weitere Fragen haben.“ Lehm antwortete nicht und machte keine Anstalten, das Sofa zu verlassen. „Auf Wiedersehen“, verabschiedeten sie sich und gingen zur Wohnungstür. Lehm schien kein Interesse mehr an Höflichkeiten zu haben.

7

Drei Jahre zuvor ... Es war ein drückend heißer Augusttag. Die Sonne brannte mit 39 Grad auf die Stadt, und kaum jemand, der nicht zwangsweise raus musste, verbrachte den Tag in der glühenden Mittagshitze. Der Himmel war wolkenlos und es war beinahe windstill, was die unerträgliche Schwüle noch extremer machte. Erwin Mahle störte das allerdings nicht. Er genoss die heißen Temperaturen. Sie hatten sich für 14 Uhr im F3 in Fellbach verabredet. Er steuerte mit seinem Fahrrad auf den Fahrradständer zu. Normalerweise fuhr er mit dem Moped, aber da es sich zurzeit in der Werkstatt befand, musste er aufs Rad ausweichen. Die große Schlange vor dem Freibad sah er bereits von Weitem. Jeder, der konnte, nutzte den Tag für eine Abkühlung. Er stieg ab und befestigte sein Rad mit der Kette an dem Ständer. Eine breite Gestalt mit dunkelblonden, kurzen Haaren, einem korpulenten Körper in blauem T-Shirt und Badehose kam ihm entgegen. „Hey Erwin“, begrüßte ihn Marvin Leist. „Hi“, nickte Erwin ihm zu, der seine Stimme, ohne aufzusehen, erkannte. „Die Schlange ist krass. Hätte nicht gedacht, dass heute so viel los ist.“ „Wundert mich nicht“, antwortete Erwin, rüttelte an der Kette und erhob sich. Er nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie sich an sein Shirt. „Die anderen schon da?“ „Ja, wir haben uns schon mal angestellt.“ Erwin folgte Marvin in die Mitte der Schlange, wo zwei weitere Jungs, mit Sporttasche und Rucksack bewaffnet, standen. „Hey Mann“, begrüßten ihn die beiden und grinsten. „Wir haben schon gewettet, du kommst erst, wenn wir ganz vorne stehen“, feixte der schlanke, junge Mann mit Cappy und ärmellosem Shirt. Der andere trug T-Shirt und Badehose, war groß und stämmig. Erwin nahm sein Cappy ab und strich sich durch die kurzen, schwarzen Haare. „Der Coolste zum Schluss, wisst ihr doch“, entgegnete Erwin selbstgefällig.“ Er begrüßte die beiden Jungs mit Schulterschlag. Der schlanke junge Mann war Jonas Brenz und ging ebenso wie Dominic Freiser und Marvin auf die gleiche Schule wie Erwin. Sie kannten sich seit der fünften Klasse und waren seitdem befreundet. Sie trafen sich zurzeit so oft es irgendwie ging im Freibad, allerdings legten die Temperaturen die letzten Tage nochmal deutlich zu, sodass der Ansturm immens war. Drinnen angekommen, war, wie erwartet, ein Pulk von Leuten, die alle versuchten, die wenigen vorhandenen Schattenplätze für sich zu nutzen. „Ey, ich hab echt keine Lust, in der Sonne zu liegen“, beschwerte sich Marvin. „Hat schon gereicht, in der Schlange gegrillt zu werden.“ „Blindfisch, da drüben ist doch ein freier Schattenplatz! Sogar mit Liege.“ Erwin deutete auf einen Fleck weiter hinten im Bad. „Blindfisch, da liegt ein Handtuch drauf!“, konterte Marvin, was Erwin aber nicht im Mindesten zu stören schien. Er ging schnurstracks auf die Liege zu, griff das Handtuch und warf es auf den Rasen. Marvin und Dominic lachten. „So, jetzt gehört der Platz uns!“ Er stellte seinen Rucksack ab, legte sein eigenes Handtuch auf die Liege und machte es sich unter dem Sonnenschirm bequem. „Was machst du, wenn das Handtuch irgendeiner scharfen Braut gehört?“, fragte Jonas. „Die sind wütend noch viel schärfer“, erklärte Erwin lässig. „Außerdem darf sie sich dann gerne zu mir legen.“ Erwin war es völlig egal, was andere von ihm dachten. Hauptsache, er hatte einen guten Platz. Er konnte es auch nicht leiden, in einer Schlange anstehen zu müssen. Normalerweise drängelte er sich einfach vor. Ein paar empörte Kommentare nahm er in Kauf. Man musste eben schauen, wo man blieb. Er zog das T-Shirt aus und brachte einen braun gebrannten, sportlichen Oberkörper zum Vorschein, für den er regelmäßig ins Fitnessstudio ging. „Komm, lass uns ins Wasser gehen“, rief Marvin. „Ist selbst im Schatten echt warm.“ „Klar.“ Erwin erhob sich. Sie überquerten die Wiese und gingen auf das Becken zu, das völlig überlaufen war. Wirklich schwimmen konnte man hier nicht, es gab gerade genug Platz, ein wenig zu planschen oder Wasserball zu spielen. Aber das genügte heute völlig. „Ach, sieh mal an, wer da ist“, rief Erwin und deutete auf eine junge Frau, die am Beckenrand stand. „Oh, was machst du denn hier?“, fragte Claudia Morin, die mit ihnen in dieselbe Klasse ging. Sie trug ein helles Top über dem Bikini und hatte einen dunklen, südländischen Teint. „Bin extra deinetwegen hier“, antwortete Erwin plump und nahm Claudia freundschaftlich in den Arm. „Na, klar.“ Sie rollte mit den Augen und schubste ihn weg. „Wieso das T-Shirt? Sind dir unsere 40 Grad in Südafrika zu kalt?“ „Erstens komme ich aus Südfrankreich und zweitens hab ich mir die Schultern verbrannt“, erwiderte Claudia. „Ein Jammer“, sagte Erwin, hörbar sarkastisch, „aber baden kannste trotzdem.“ Er verpasste Claudia einen Stoß und sie landete bäuchlings im Becken. „Gib mir die Faust“, rief Marvin breit grinsend und Erwin stieß ein. Claudia kam laut prustend wieder an die Wasseroberfläche. „Du Idiot“, schrie sie, was Erwin und die anderen dazu brachte, sich erst recht darüber lustig zu machen. „Hey Süße.“ Erwin beugte sich hinunter zum Beckenrand. „Da vorne steht extra ein Schild, vom Rand rein springen verboten. Kannst nicht einfach von der Seite rein!“ Claudia warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Lachend entfernten sich Erwin und die anderen von Claudia, die sich noch immer über Erwins maßlose Unverschämtheit ärgerte. Sie gingen zu der gelben Wasserrutsche, an der sich ebenfalls eine Schlange, hauptsächlich von ungeduldig wartenden Kindern, gebildet hatte. „Hast du eigentlich vor den Ferien noch Stress bekommen, wegen der fehlenden Hausaufgaben?“, fragte Marvin, während sie sich der Rutsche näherten. „Nee, hat mich bisschen wütend angeschnauzt, ich solle die Hausaufgaben zukünftig machen, meine Versetzung ist eh schon gefährdet, aber das war's auch. Nur das Übliche blabla. Komm, geh aus dem Weg!“ Erwin stieß zwei kleine Kinder zur Seite und drängelte sich nach vorne zur Rutsche. „Aber jetzt lass uns nicht über Schule reden, geht mir schon genug auf die Nerven, dass wir da drin jedes Mal kochen und sinnlosen Müll lernen, während draußen das geilste Wetter ist.“ Marvin, Dominic und Jonas folgten Erwin, der unter lautstarkem Protest weitere Kinder zur Seite schob und schon beinahe ganz oben stand. „Hör mal“, beschwerte sich eine junge Mutter, die mit ihrem Sohn auf der Rutsche stand, der noch zu klein war, um selbst zu rutschen. „Du kannst dich doch wohl hinten anstellen, wie jeder andere auch!“ „Nee sorry, wir sind VIP's“, grinste Erwin frech und schmiss sich laut grölend auf die Rutsche. Eine halbe Stunde später lag Erwin auf der Liege, die er nach dem Baden in die Sonne gezogen hatte, während seine Kumpels die Handtücher um die Liege herum ausgebreitet hatten. Das weggeworfene Handtuch lag noch immer zusammen geknüllt auf dem Rasen. „Hey Dome, hast du was zu knabbern dabei?“, fragte Erwin. Dome war Dominics allgemeiner Spitzname. „Hier.“ Er fischte ein Dose Chips aus seinem Rucksack und warf sie Erwin zu. „Klasse“, sagte Erwin begeistert und riss sofort die Packung auf. Marvin saß auf dem Handtuch neben ihm und scannte die Landschaft. „Oh weh, ich glaub, da kommt der Typ, dem das Handtuch gehört.“ Erwin drehte sich auf der Liege um und folgte Marvins Blick. Ein Mann, Mitte 40, mit Brille, nahm verwundert das zusammen geknüllte Handtuch in die Hand. „Leg dich hin und tu so, als wüsstet du von nix“, wies Erwin Marvin an und legte sich selbst wieder hin. „Der Typ sieht nicht nach Stress aus.“ „Hey Jungs“, fragte der Mann wenig amüsiert und wandte sich an Erwin. „Kann das sein, dass das mein Platz ist?“ „Nee. Die Liege war frei, als wir kamen“, log Erwin. „Das Handtuch hab ich aber vorhin hier liegen lassen“, beharrte der Mann, der sich um einen freundlichen Ton bemühte. „Keine Ahnung, dann war's der Wind.“ Es ging kein Lüftchen. Der Mann seufzte. „Würdest du jetzt bitte aufstehen und dir einen anderen Platz suchen?“ Erwin erhob sich. Die anderen beobachteten ihn gespannt. Er trat ganz nah an den Mann heran. „Hör mir mal gut zu“, sagte Erwin feindselig und baute sich vor dem Mann auf. „Das ist mein Platz und wenn du zu dumm bist, dein Handtuch so hinzulegen, dass es nicht weg fliegt, dann bist du selber Schuld. Und jetzt mach einen Abgang!“ Er machte mit dem Kopf die entsprechende Bewegung. Eine Sekunde lang passierte nichts. Der Mann stand nur da und starrte Erwin an. Dann entschied er sich, dass es den Streit nicht wert war und ging, jedoch nicht, ohne nochmal den Kopf zu schütteln. „So ein Honk“, rief Erwin und legte sich wieder auf die Liege. „Wir sind kaum eine Stunde da und du hast dich schon mit dem halben Schwimmbad angelegt“, bemerkte Marvin. „Wenn du so weiter machst, schmeißen die uns noch raus.“ „Entspann dich!“, antwortete Erwin gelassen. „Wir sind hier Stammkunden. Die brauchen uns.“ „Na dann.“ Marvin schien mit der Antwort zufrieden und legte sich wieder hin. Eine Viertelstunde später schreckte Erwin hoch. Er war eingeschlafen und hatte irgendeinen Mist geträumt. Er sah sich um. Marvin und Dominic dösten ebenfalls. Nur Jonas hatte Kopfhörer drin und blätterte in irgendeinem Buch. „Jonas, lass uns mal ein Eis holen gehen.“ Jonas reagierte nicht. „Jonas!“, sagte Erwin lauter, da ihn dieser offensichtlich nicht hörte. Jonas sah in Erwins Richtung und nahm die Kopfhörer raus. „Was ist los?“ „Eis ist los!“, erklärte Erwin bestimmt „Klar.“ Jonas stand auf. „Hey Dicker.“ Er trat Marvin an den Fuß. „Komm, lass mal Eis holen.“ „Von mir aus“, seufzte der und erhob sich. Der Terrassenbereich, in dem das Eis angeboten wurde, befand sich auf der anderen Seite des Bades. Erwin und die beiden anderen schlenderten gemächlich über den Rasen, während Erwin den Blick schweifen ließ. „Kann es sein, dass es noch voller geworden ist?“, fragte er mürrisch. „Glaub schon“, stimmte Marvin zu und sah sich um. „Wenn noch mehr kommen, können sie die Leute auf der Wiese stapeln.“ Zwei junge Frauen, die Erwin nicht kannte, kamen ihnen entgegen und warfen Erwin vielversprechende Blicke zu. Frauen kennen zu lernen, war für ihn ein Kinderspiel. Er sah gut aus, konnte charmant sein, und meistens reichte ein Lächeln und ein paar Schmeicheleien und sie warfen sich ihm an den Hals. Jetzt hatte er allerdings keine Lust, sie anzusprechen, es war einfach zu heiß. Er wollte sich ein Eis holen und danach wieder ab ins Wasser. „Ich glaub, ich spinne, guck mal, wer da ist“, rief Marvin und zeigte auf einen kleinen pummeligen jungen Mann, der es sich mit einem einzelnen, beigen Handtuch mitten in der Menschenmenge bequem gemacht hatte. Sein Gesicht war mit zahlreichen Pickeln übersät und er hatte eine leichenblasse Haut, was nur mit Lichtschutzfaktor 50 möglich sein konnte, ansonsten wäre sie entweder braun oder verbrannt. „Was will das Opfer denn hier?“, fragte Marvin und blieb stehen. Julius, der mit ihnen in eine Klasse ging, war ein wenig jünger als sie und der Klassenstreber. Er hatte Bestnoten und war sowohl bei den Lehrern, als auch bei vielen Mitschülern beliebt. Zumindest anfangs. Bis Erwin beschloss, das zu ändern. Er hasste Julius. Er konnte nicht genau sagen, warum. Vielleicht seine Art, sein Auftreten oder seine langsame Stimme. Er mochte den Kerl einfach nicht und machte keinen Hehl daraus, dass er ihn nicht leiden konnte. Erwin wechselte abrupt die Richtung und bewegte sich auf Julius zu. „Erwin, lass den doch“, versuchte Marvin beschwichtigend. „Wir wollten uns doch ein Eis holen.“ Aber Erwin ließ sich nicht beirren und ging zügig auf Julius zu, der sie noch nicht bemerkt hatte. Marvin warf Jonas einen genervten Blick zu, folgte Erwin aber. „Ey, Pissnelke!“, begrüßte Erwin seinen Klassenkameraden. Julius sah kurz auf und gab dann ein kurzes „Hallo“ von sich, ehe er den Blick wieder senkte. „Ganz allein hier?“, fragte Erwin überflüssig laut und trat zum Spaß gegen Julius Rucksack. „Ja“, antwortete Julius in der Hoffnung, Erwin möge schleunigst wieder abhauen. „Wo ist dein schwuler Freund?“, fragte Erwin, der keinerlei Anstalten machte, zu gehen. „Welcher schwule Freund?“ Julius blickte Erwin wieder nur für einen kurzen Moment an. „Na, der, mit dem du immer rumhängst!“ „Hat keine Zeit.“ Erwin spürte, wie unangenehm Julius das Gespräch war. Es gefiel ihm, Leute zu drangsalieren, und umso schlimmer sich der andere fühlte, desto mehr genoss er es. Er war der Chef. Der Anführer. Und der Rest hatte sich unterzuordnen. „Pass mal auf, das Schwimmbad ist schon voll genug. Was hältst du davon, du packst deine Sachen und verziehst dich? Hier ist kein Platz für Opfer wie dich.“ Julius antwortete nicht. „Hallo, ich rede mit dir!“, rief Erwin und trat heftiger gegen Julius Rucksack. „Komm, lass gut sein!“, versuchte Marvin die Situation zu beruhigen. „Ich darf genauso hier sein wie du“, unternahm Julius einen schwachen Versuch, sich gegen Erwin zur Wehr zu setzen. „Ach ja?“, fragte Erwin zynisch. „Hat dir das deine Mama gesagt?“ „Nein.“ Julius wich erneut Erwins Blick aus. Erwin trat ganz nah an ihn ran. „Wir wollen dich nicht. Keiner will dich. Hier nicht, und in der Schule erst recht nicht.“ Julius sagte nichts mehr. Er starrte nur noch gerade aus, traute sich nicht mehr, Erwin anzusehen. „Du bist nichts als Dreck!“, sagte Erwin verächtlich. „Erwin, jetzt komm endlich!“, rief Marvin. Erwin machte einen Schritt zurück, ohne Julius aus den Augen zu lassen. „Wir sehen uns.“ In dem Moment, in dem Julius entspannt aufatmete, trat Erwin mit voller Wucht gegen seinen Rucksack, sodass dieser quer über den Rasen flog. „Was soll denn das?“, rief Julius aufgebracht, und rannte los, um seinen Rucksack zu holen. „Ja los, lauf du Opfer!“, brüllte ihm Erwin hinterher. Er lachte, dann folgte er Marvin und Jonas zur Terrasse.

8

„Ein unangenehmer Typ“, bemerkte Kern und stieg in seinen schwarzen BMW. „Dass er bei Routinefragen gleich so ausrastet, kommt mir verdächtig vor“, sagte Kathrin und stieg auf der Beifahrerseite ein. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass er seine Freundin geschlagen hat, aber ob er sie auch vom Balkon geworfen hat, ich weiß nicht.“ „Der gleiche Gedanke ging mir auch durch den Kopf.“ Kern lenkte seinen Wagen auf die Straße. „Als ich das Gutachten gelesen habe, bin ich von einem Täter ausgegangen, aber es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass Herr Lehm seiner Freundin eine verpasst hat und anschließend abgehauen ist“, fuhr Kern fort. „War Frau Kreuzner, laut Frecks Bericht, nicht bewusstlos, als sie über die Brüstung geworfen wurde?“, überlegte Kathrin laut.