Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Bastian Langkamp hat Angst. Sein Leben wird bedroht, und er weiß nicht, warum. Erst wird er fast überfahren, dann beinahe erschlagen. Und immer ist dieser mysteriöse Fremde in der Nähe. Bastian forscht nach und ist sich bald sicher: Er muss eine Schuld begleichen, die er sich vor 300 Jahren selbst aufgeladen hat. Ein Abenteuer, spannend bis zur letzten Zeile; eine Reise in eine unglaubliche Vergangenheit.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
1728
Jetzt.
Sie hatte lange genug gewartet. Jetzt konnte sie es versuchen.
Maria sah sich um. Ihre Geschwister schliefen tief und fest. Peter und Heinrich atmeten ruhig und gleichmäßig. Wie üblich hatte es bei ihren älteren Brüdern am längsten gedauert, bis sie endlich still gewesen waren. Sie konnten es sogar im Bett nicht sein lassen, sich gegenseitig zu necken. Dabei taten sie das den ganzen Tag über auch schon. Es schien wie ein Wettbewerb zu sein, wer wem den besten Streich spielte. Oder einem anderen. Auch Maria hatte darunter bereits zu leiden gehabt.
Heinrich hatte meistens die besseren Ideen. Einmal war eine feine Dame mit der Postkutsche vorbeigekommen. Peter und Heinrich waren fasziniert gewesen von deren riesigen Federhut. Mit dem musste sich doch etwas anstellen lassen? Heinrich schließlich hatte die Idee, es mit der Angelrute zu versuchen.
Die Dame und ihre Begleitung saßen auf der Bank vor der Poststation. Sie mussten warten, bis die Pferde gewechselt waren. Peter und Heinrich schlichen sich aufs Dach und versuchten mit dem Angelhaken, den Hut der Frau ein wenig anzuheben. Heinrich war es als Erstem gelungen.
„Huch!“ Die Dame sprang erschrocken auf, als sich ihr Hut, wie von Geisterhand bewegt, anhob. Auch ihre Begleiter sprangen auf. Alle aber setzten sich schnell wieder, als weder ein Geist noch eine weitere Bewegung des Hutes zu sehen waren. Die Dame richtete noch einmal ihren Hut und begann wieder, sich mit einem Fächer kühlere Luft zuzuwedeln.
Dann schaffte es auch Peter, den Hut zu lupfen. Erneut sprangen alle auf, erneut schauten sie überrascht und ratlos um sich, erneut setzten sie sich unsicher und verwirrt wieder hin.
Peter und Heinrich genossen den Streich, bis Heinrichs Angelhaken sich zu sehr im Hut der Dame verkeilte. Heinrich wollte ihn nur ein wenig nach oben zupfen, doch plötzlich zog die Angel der Dame den Hut vom Kopf. Für Sekundenbruchteile schwebte er über den Köpfen der erneut aufgesprungenen Besucher, dann löste er sich vom Haken und plumpste zu Boden – mitten hinein in eine Pfütze.
Peter und Heinrich hatten teuer dafür bezahlt. Vater hatte jedem zwei Schläge mit der Reitpeitsche verpasst. Maria wusste, wie sehr das schmerzte. Einmal hatte auch sie einen Schlag ertragen müssen. Bei dem Gedanken an den Schmerz drehte sich ihr jetzt noch der Magen um. Sie hatte nicht gedacht, dass irgendetwas so weh tun könnte.
Dabei hatte sie Erfahrung mit Schmerzen. Bei der Arbeit im Haus passierte dauernd etwas. Wie oft hatte sie sich die Finger am Ofen verbrannt oder an einem der heißen Töpfe? Oder sich beim Gemüseschneiden verletzt?
Am meisten geschmerzt allerdings hatte es, als Freya ihr auf den Fuß getreten war. Maria aber war der Haflingerstute nicht böse gewesen. Der Fehler hatte bei ihr gelegen. Sie hatte sich zu nah herangewagt und nicht aufgepasst. Ihr rechter Fuß war zwei Wochen lang dick geschwollen gewesen. Sie hatte Mutter trotzdem in der Küche helfen müssen und die Schmerzen tapfer ertragen.
Mutter brauchte ihre älteste Tochter. Sie schaffte es ohne deren Hilfe nicht, die achtköpfige Familie zu versorgen. Die Brüder mussten Vater im Stall helfen und sich um die Gäste der Poststation kümmern. Meistens mussten nur die Pferde gewechselt werden, aber manchmal übernachteten auch Reisende in der Station.
Eva und Sophia waren noch zu klein, um mitzuarbeiten. Maria jedoch war es nun schon seit zwei Jahren gewöhnt mit anzupacken. Es machte ihr nicht viel aus. Sie war gerne bei ihrer Mutter. Die verlangte zwar viel von ihr, aber sie wusste, dass Achtjährige auch noch Kinder sind. Und so sang die Mutter ihrer Tochter Lieder vor. Maria liebte Musik. Und beim Singen verging die Zeit viel schneller.
Noch mehr als die Musik aber liebte sie die Pferde im Stall. Und zu denen durfte sie nur, wenn sie ihre Aufgaben zu Mutters Zufriedenheit erledigt hatte.
Maria verbrachte so viel Zeit sie nur konnte im Stall. Trotz der Arbeit in der Küche half sie oft auch noch ihren älteren Brüdern, nur um bei den Pferden zu sein. Peter und Heinrich war das recht. Vater ließ die Jungen hart arbeiten. Wenn die Schwester mithalf, konnten sie ein wenig verschnaufen – und sich Streiche ausdenken.
Jetzt aber schliefen sie. Maria lauschte noch einmal angestrengt. Waren wirklich alle eingeschlafen? Peter und Heinrich ganz sicher, Sophia warf sich neben ihr allerdings unruhig hin und her. Aber das tat sie immer. Maria war es gewohnt, im Schlaf Knüffe und Tritte zu erhalten. Sophia träumte sehr viel.
In der Ecke des Zimmers hörte Maria die Eltern schnarchen. Die Mutter ganz schwach und unregelmäßig, nur zu hören, wenn der Vater sein lautes Grunzen für ein paar Minuten einstellte. Maria wusste, die beiden würden bis zum Morgen nicht aufwachen. Es sei denn, Kathrinchen, die jüngste Schwester und gerade mal zwei Jahre alt, würde sie wecken. Kathrinchen schlief noch im Bett der Eltern und ließ sich vom Schnarchen der Eltern nicht erschüttern. Keine Gefahr also für Maria.
Jetzt, dachte sie. Jetzt konnte sie es wagen.
Sie schob die grobe Decke zur Seite, achtete sorgfältig darauf, Sophia nicht zu berühren. Dann deckte sie die Schwester sorgsam zu und stieg aus dem Bett.
Sie schnappte sich ihren Umhang und warf ihn über, schlüpfte in die Schuhe, die sie bereitgestellt hatte. Vorsichtig schlich Maria zur Tür. Hoffentlich knarrte der Holzboden nicht.
Keine halbe Minute später hatte sie das Haus verlassen und hastete über den Hof zum Stall.
Plötzlich stoppte das Mädchen. War da ein Geräusch? Wie ein Stöhnen hatte es sich angehört. Maria hielt den Atem an.
Nein, nichts zu hören. Alles war ruhig. Dennoch wartete sie noch einige Sekunden. Heute waren überraschend Soldaten in die Station gekommen. Sie hatten Probleme mit ihrer Kutsche und benötigten Vaters Hilfe. Weil es so spät geworden war, blieben sie über Nacht. Sie waren im Anbau untergebracht. Dort konnten sie unmöglich etwas von Marias Ausflug mitbekommen haben.
Es blieb still, das Mädchen setzte seinen Weg fort. Vorsichtig öffnete es den Zugang zum Stall und schlüpfte hindurch. Oh, wie sie diesen Geruch liebte! Nach Stroh und Heu – und Pferd. Maria nahm einen tiefen Atemzug.
„Hallo Freya“, sagte sie zu der Haflingerstute am Eingang. Die reagierte nicht. Sie stand still und schlief.
Maria störte das nicht. Sie begrüßte jedes Pferd mit Namen und landete schließlich dort, wo sie schon seit Stunden sein wollte: bei Hilde und ihrem Fohlen Hilla. Heute Morgen erst war es geboren worden. Maria hatte unbedingt dabei sein wollen, doch Vater hatte es verboten. Maria wurde von der Mutter gebraucht.
So konnte sie erst am Nachmittag, als sich Vater und die Brüder um die Soldatenkutsche kümmerten, kurz in den Stall gehen. Maria hatte sich sofort in Hilla verliebt. Das schwarze Fell mit der Blässe auf der Stirn, die schlanken Fesseln, die Augen ... Die Augen, die sie so ängstlich angestarrt hatten.
Auch jetzt taten sie das. Hilla wich zurück zu ihrer Mutter. Die schaute kurz auf, doch als sie Maria erkannte, ließ sie den Kopf wieder sinken.
Auch das Fohlen spürte, dass von dem Mädchen keine Gefahr drohte.
Maria streckte die Hand aus. Langsam, vorsichtig. Hilla sollte sich auf keinen Fall erschrecken. Das Fohlen schaute das Mädchen neugierig an und wehrte sich nicht, als dessen Hand immer näher kam und schließlich sanft über sein Fell strich.
„Ja, Hilla“, sagte Maria leise. „Hab keine Angst. Ich tue dir nichts.“
Hilla fühlte das offenbar auch und ließ sich streicheln. Das Fohlen, so schien es dem Mädchen, kam sogar etwas näher heran.
Maria war glücklich. „Auf dir werde ich das erste Mal reiten“, sagte sie. „Da kann Vater sagen, was er will.“
Hilla wackelte mit dem Kopf, als wolle es Zustimmung signalisieren.
Maria würde, das hatte sie sich fest vorgenommen, bis zum Morgengrauen hier bei Hilla bleiben.
„Ahhh!“
Maria zuckte zusammen. Was war das? Das hatte sich eindeutig wie ein Schrei angehört. Kein übermäßig lauter Schrei, eher ein gequälter, unterdrückter. Auch das Fohlen registrierte den Stimmungswechsel und zog sich zurück. Die Mutter hob den Kopf und schnaubte.
War doch noch jemand wach? Was war, wenn Vater aufgewacht war? Wenn er entdeckt hatte, dass sich die Tochter aus dem Bett geschlichen hatte?
Maria bekam es mit der Angst zu tun. Sie liebte den Vater, aber der war streng. Er würde seine Tochter ganz sicher bestrafen.
Sollte sie wieder zurück ins Haus gehen?
Die Pferde wurden immer unruhiger und scharrten mit den Hufen. Das konnte nicht wegen Vater sein. Die Pferde kannten ihn.
Maria hörte Schritte draußen. Laute Schritte. Sie näherten sich dem Stall.
Maria überlegte. Es führte nur ein Weg in den Stall und genauso wieder hinaus. Der war jetzt versperrt. Wer auch immer vor der Tür war, sie wollte ihm nicht begegnen.
Maria dachte nach. Der Berg aus Heu, hinter dem würde sie sich verstecken. Sie war noch so klein, es war dunkel. Wenn es nicht ihr Vater war, der nach ihr suchte, dann würde sie dort niemand finden. Um jedoch das Heulager zu erreichen, musste das Mädchen am Eingang vorbei. Maria lief los, so schnell und doch auch so leise wie möglich. Sie hatte das Heulager fast erreicht, da öffnete sich das Tor.
Maria blieb wie angewurzelt stehen. Sie hielt den Atem an. Dann sah sie, wie sich ein Stiefel durch die Tür schob.
Ein Soldat! Das musste einer der Soldaten sein! Das Mädchen fröstelte.
Schnell! Noch konnte es gelingen, sich hinter Heu und Stroh zu verbergen. Maria rannte los. Schon war sie an der Tür vorbei, da hörte sie, wie jemand eintrat und stehenblieb. Maria stoppte. Sie wusste, sie war entdeckt.
Sie hielt den Atem an, die Pferde klapperten mit den Hufen. Eines wieherte.
Maria wollte nicht sehen, was hinter ihr war. Sie spürte die Bedrohung. Das war nicht der Vater, von dem sie womöglich erneut einen Streich mit der Peitsche zu erwarten hatte. Nein. Das Mädchen spürte, hinter ihm lauerte Gefahr.
Aber was sollte es tun? Weglaufen nutzte nichts mehr. Ihm blieb nur eines.
Maria holte tief Luft und drehte sich langsam um.
Vor ihr stand einer der Soldaten. Die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, der Hut saß schief auf seinem Kopf. Maria sah in seine Augen und wünschte, sie hätte sie nie gesehen. Dann wanderte ihr Blick nach unten. Der Soldat hielt einen Degen in seiner Hand. Blut tropfte herab. Maria erinnerte sich an den Schrei.
Dann hob der Soldat den Degen, und auch Maria begann zu schreien.
Juni 2011
Wage es nicht!“ Bastian sah Max drohend an.
„Ich?!“ Max Berger war die Unschuld selbst.
„Ja, du. Genau du“, sagte Bastian Langkamp.
„Ich würde das nie tun! Ich bin dein Freund!“, rief Max und schaute beleidigt.
„Ex-Freund, wenn du mich wieder sitzen lässt“, sagte Bastian.
„Keine Angst. Ich habe dich überredet mitzukommen. Ich habe dich im Auto mitgenommen und ich werde dich auch wieder wohlbehalten zu Hause abliefern.“ Max Berger hob die rechte Hand zum Schwur, streckte zwei Finger in die Höhe und drückte die Linke ans Herz. „Ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist.“
„Das ist ja das Schlimme“, brummte Bastian. „Dir ist nichts heilig.“
„Na, na. Das kannst du jetzt aber nicht sagen“, gab Max entrüstet zurück. „Ein guter Whiskey, die Blonde von der Apotheke ...“
„Kannst du denn nicht einmal ernst sein?!“ Bastians Ärger war bereits verflogen. Er musste sich ein Lachen verkneifen. Ganz so leicht aber wollte er es seinem Freund nicht machen. Es war ja richtig, dass der ihn überredet hatte mitzukommen. Und ohne Max würde es ihm um einiges schlechter gehen. Aber er hätte ihn jetzt, da sie gerade Max' Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatten, nicht an einen früheren Besuch auf dem Straßenfest von Gerstetten erinnern müssen.
Auch damals hatte ihn Max mitgeschleppt. Als Bastian allerdings wieder nach Hause wollte, war von Max nichts mehr zu sehen gewesen. Bastian musste die vier Kilometer nach Winterfeld zu Fuß zurücklegen und war entsprechend sauer gewesen.
„Du kannst dich auf mich verlassen“, sagte Max. „Du weißt doch, dass ich alles für dich tue.“ Er schaute Bastian direkt ins Gesicht und versuchte mühsam, aber erfolglos, ernst zu bleiben. Bastian blieb wie angewurzelt stehen. Er wusste genau, worauf Max anspielte und ihm war das Lachen vergangen. „Ich möchte nicht, hörst du, nicht, dass du dich um mich kümmerst. Hast du das verstanden?“
Vier Wochen war es erst her, dass sie zusammen die 800-Jahr-Feier in Schoblingen besucht hatten. Ein Besuch, den Bastian sein Leben lang nicht vergessen würde.
„Aber, Bastian!“ Max zog einen Schmollmund. „Ich habe das damals wirklich nur gut gemeint.“
„Du hast dir einen Riesenspaß gemacht auf meine Kosten!“ Bastian überlegte, ob er nicht doch gleich wieder nach Hause gehen sollte. Jetzt könnte er noch den Zug nehmen.
Max spürte, dass sein Freund wirklich verärgert war. „Bastian, ich weiß, das war ein Fehler und es tut mir leid. Das wird nicht wieder geschehen. Ich habe es gut gemeint, aber ich werde mich nie wieder so in dein Leben einmischen.“
Bastian antwortete nicht. Die Erinnerung hatte ihm tatsächlich die Laune verhagelt.
„Komm schon, Bastian.“ Max gab nicht auf. „Habe ich mich nicht tausendmal dafür entschuldigt?“
„Doch“, gab Bastian zu. Max hatte sich danach wirklich ernsthaft bemüht, seinen Fehler gutzumachen.
„Also gut“, sagte Bastian. „Lass uns gehen.“
„Schön, dass du endlich wieder vernünftig bist“, meinte Max.
Sie gingen los Richtung Ortsmitte von Gerstetten. Die beiden Freunde hörten schon die Musik, das Stimmengewirr wurde lauter. „Du wirst sehen, das wird ein toller Abend“, sagte Max. „Ich kenne die Band, sie wird dir gefallen.“ Und nach einigen Minuten der Stille fügte er hinzu: „Und hübsche Mädchen gibt es auch.“ Vorsichtig linste er zu Bastian und versuchte abzuschätzen, ob er den nächsten Scherz schon wieder anbringen konnte. Es sah gut aus. „Also ich finde ja, die Kleine mit den roten Haaren damals war nicht so schlecht.“ Zur Sicherheit machte er aber doch schnell einen Schritt zur Seite.
„Max! Ich warne dich!“
Wenn er sich an diesen Abend erinnerte, musste Bastian selbst lachen. Die Geschichte war ein echter Schenkelklopfer, wenn man nicht gerade selbst der Betroffene war. Weil Bastian nach der Trennung von Laura immer noch solo war, wollte Max ein wenig nachhelfen. Einer Freundin hatte er den Besuch auf dem Fest angekündigt und sie darum gebeten, ihre Schwester mitzubringen. Von der wusste er, dass sie auf der Suche nach einem Freund war. Dass die nun wiederum zwei weitere Freundinnen im Schlepptau hatte, schien nicht tragisch zu sein. Zunächst. Wenn da nicht Katja gewesen wäre. Die Rothaarige hatte sich sofort in Bastian verguckt. Der wiederum war von ihr nicht ganz so begeistert. Zunächst hatte er versucht, sie höflich abzuweisen, doch so einfach war Katja nicht loszuwerden. Vor allem weil ihre Freundinnen schnell erkannt hatten, dass Katjas Begeisterung für Bastian und dessen hilflose Versuche der Zurückweisung einen Abend voller Spaß versprachen.
Sie schürten deshalb Katjas Feuer nach Kräften und verhinderten Bastians Versuche, Katjas Drängen zu entfliehen. Zweimal war es ihm dann doch gelungen. Aber um welchen Preis!
„Ich werde nie dein Gesicht vergessen, wie du aus dem Würstchenstand gekrabbelt bist“, sagte Max. Die beiden hatten mittlerweile einen Platz auf einer der Bierbänke ergattert. So nah bei der Band, dass sie sie gut hören konnten, allerdings auch so weit weg, dass ein Gespräch noch möglich war. Max versuchte, Bastians hilflosen, verzweifelten Blick nachzuahmen, mit dem er in Schoblingen seinen ersten Ausreißversuch beendet hatte. Bastian hatte vorgegeben, Getränke zu holen und sich dann, als die drei Freundinnen seine Verfolgung aufgenommen hatten, in einem Würstchenstand versteckt. Er war allerdings schnell aufgeflogen, weil die Würstchenbrater einen Dieb in ihm vermuteten und ein lautes Geschrei veranstalteten. Katja und ihre Freundinnen aber retteten ihn. Zumindest war das deren Sicht der Dinge.
Sein zweiter Versuch war erfolgreicher gewesen. Er war zum Toilettenhäuschen gegangen und einfach nicht wiedergekommen. Er hatte alle wütenden Schläge gegen die Türe und sämtliche Flüche und Drohungen ignoriert und war erst wieder herausgekommen, als Max aufgetaucht war und ihm versichert hatte, dass Katja und ihre Freundinnen abgezogen waren.
„Ich habe nicht vergessen, dass du mich damals im Stich gelassen hast“, sagte Bastian.
„Wieso im Stich gelassen?“, protestierte Max. „Ich habe dich auf dem Klo gerettet. Ich habe Katja und ihren Freundinnen gesagt, du seist nirgendwo zu finden und bestimmt bereits nach Hause gegangen.“ Max hob, um die Heldenhaftigkeit seiner Tat zu unterstreichen, den Zeigefinger in die Höhe. „Und bevor du es vergisst: Die Meute vor dem Klo war drauf und dran, die Tür aufzubrechen. Ich ...“ Max betonte das Wort besonders. „Ich habe sie in Schach gehalten!“
„Von wegen Meute“, sagte Bastian. „Ich kann mich an drei Leute erinnern, die aber so voll waren, dass die nie im Leben die Tür aufgebracht hätten.“
„Das glaubst du. Du kannst froh sein, dass ich vorher all meine Überzeugungskraft dazu verwendet habe, die drei zu beruhigen.“
„Überzeugungskraft? Du warst einen Kopf größer als die drei und nicht ganz so betrunken.“
„Ich habe für dich gekämpft.“
„Und wo warst du vorher, als Katja mir kaum Luft zum Atmen gelassen hatte?“
„Ich wollte dem jungen Glück nicht im Wege stehen.“
„Von wegen Glück.“
„Ich finde, ihr zwei hättet gut zueinander gepasst.“
„Spinnst du? Ich bin ja schon mit meinen 1,80 Metern nicht übermäßig groß, aber Katja ging mir grade mal bis zum Bauchnabel.“
„Süß, nicht wahr?“
Bastian sah Max böse an. Der aber ließ sich nicht beirren. „Ich hätte dich natürlich immer unterstützt und dir zu jedem Geburtstag einen neuen Schemel geschenkt.“
„Einen Schemel?“
„Ja, den hättest du gut brauchen können, um deine liebe Frau auch mal im Stehen zu küssen.“
„Idiot!“
„Der Idiot lädt dich zu einem Bier ein“, antwortete Max. „Aber nur, wenn du es holst.“
„Okay“, sagte Bastian. „Ich bin froh, wenn ich dich eine Weile nicht sehe.“
Er schnappte sich den Schein, den Max ihm hinstreckte, und machte sich auf den Weg. Das Fest war gut besucht. Es gab zwar mehrere Getränkestände, doch vor jedem hatten sich Schlangen gebildet.
Bastian erhielt einen Schlag in den Rücken und drehte sich ungehalten um.
„Entschuldigen Sie“, sagte der Mann hinter ihm. „Ich bin selbst gestoßen worden. Ich hoffe, es ist nichts passiert?“
„Nein, alles okay.“ Bastian drehte sich wieder nach vorn. Komischer Kauz. Ein wenig zu gut gekleidet für solch ein Fest. Ein fast weißer Anzug. Der Typ kam eindeutig nicht aus der Gegend. Das war an seinem Dialekt zu hören. Pfälzer, vermutete Bastian.
„Das hat aber lange gedauert“, meckerte Max, als Bastian mit den Getränken zurückkam.
„Ich war nicht der Einzige, der Durst hatte“, antwortete Bastian und stellte vor sich ein Glas Bier und vor Max eine Flasche Wasser. Der schaute die Flasche an, als hätte ihm Bastian eine tote Maus auf den Tisch gelegt.
„Was soll das denn?“, fragte er.
„Du hast versprochen, mich wieder wohlbehalten zu Hause abzuliefern. Also darf ich Bier trinken, du nicht.“
S echs Stunden später war Bastian im Zwiespalt. Der Abend hatte ihm gefallen. Trotz der Kabbeleien mit Max hatte er sich sehr amüsiert. Auch wenn Max nicht gerade der Zuverlässigste war, es war immer wieder ein Vergnügen, mit ihm zusammen zu sein.
Sie hatten noch ein paar Freunde getroffen und die Blonde aus der Apotheke. Als die auftauchte, wusste Bastian wie der Abend enden würde: für Max, die Blonde und für ihn selbst.
Max hatte nur noch Augen für Ute gehabt. So hieß die Blonde. Bastian bewunderte wieder einmal, wie charmant sein Freund sein konnte. Auf diese Weise hatte der noch jede um den Finger gewickelt. Zudem sah Max blendend aus. Gute 1,90 Meter groß, die Figur eines Athleten, volles, blondes Haar. Bastian erinnerte er immer wieder an diese Models aus der Parfumwerbung.
Für seinen Körper hatte Max viel getan. Er war immer sehr sportlich gewesen. Er hatte Fußball gespielt, Leichtathletik betrieben, Zehnkampf, war ein glänzender Skifahrer und hatte sich schließlich auf Sportarten wie Gleitschirmfliegen, Freeclimbing und Downhill-Mountainbiking konzentriert. Ihm fiel alles leicht und das war auch sein Handicap. Max musste sich nie quälen, er musste nie kämpfen und hatte deshalb nie gelernt, für ein Ziel hart zu arbeiten. So war Max in fast allem, was er anpackte, gut, aber er hatte es auch nie ganz in die Spitze geschafft. Das jedoch hatte er auch nie probiert. Es reichte ihm, gut zu sein.
Bastian hätte gerne etwas vom Talent seines besten Freundes gehabt. Sie kannten sich seit dem Kindergarten und hatten sich in den 30 Jahren nie aus den Augen verloren. Sie hatten zusammen Fußball gespielt und waren oft Skifahren gewesen. Bastian war ebenfalls sportlich, doch er musste mehr einbringen, um so gut zu sein wie Max. Nicht nur im Sport. Lediglich in einem Bereich war Bastian deutlich erfolgreicher gewesen.
Aber das ist lange her, dachte Bastian. Und jetzt stand er erst mal wieder allein auf dem Parkplatz. Von Max oder seinem Auto keine Spur.
„Von wegen ich liefere dich wohlbehalten zu Hause ab“, murmelte Bastian vor sich hin. „Muss ich eben wieder zu Fuß gehen. Was stelle ich mich auch immer so blöde an?“
Er hatte sich mit Freunden aus Winterfeld unterhalten, aber nicht daran gedacht, sie um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten. Und während er mit einem ehemaligen Fußballkollegen aus dem Nachbarort an die Bar gegangen war, waren die Kumpels aufgebrochen. Als Bastian zurückkam, fand er den Tisch leer vor.
Das hieß also wieder laufen. Bastian machte das nichts aus. Dann bin ich vielleicht wieder nüchtern, bis ich zu Hause bin. Vier Bier hatte er getrunken und zuletzt noch einen Caipirinha. Das hätte seinen Freunden, mit denen er zuletzt zusammengesessen hatte, gerade mal zum Aufwärmen gereicht. Bastian dagegen spürte die Wirkung des Alkohols. Vielleicht verirrten sich seine Gedanken deshalb in jene Zeit zurück, in der er glücklich gewesen war und die doch nun bereits seit fast zwei Jahren zu Ende war.
Damals musste er nicht in ein leeres Zuhause zurückkommen. Laura hätte auf ihn gewartet. Nein, sie wäre mit ihm zusammen unterwegs gewesen. Sie hätten diesen Abend gemeinsam genossen. Bastian und sie hatten so viel zusammen unternommen. Skifahren, Safariurlaub in Kenia, Kajakfahren in Südfrankreich. Vor allem an die zwei Wochen Südafrika erinnerte er sich gern. Tolle Menschen, eine überwältigende Landschaft, dazu die Nächte mit Laura.
Vorbei, dachte Bastian und seufzte.
Für die nächsten Minuten war sein Kopf völlig leer. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. „Vorbei“, sagte er, und erschrak vor der eigenen Stimme. So laut hatte er nicht reden wollen. „Vorbei“, sagte er noch einmal etwas leiser. „Egal, Bastian. Schau nach vorn!“
Eine Sekunde später lag er auf der Nase.
„Verflucht!“ Er rappelte sich wieder auf. „Nach vorne schauen heißt auch, vor sich auf die Straße zu schauen.“ Er kickte die Weinflasche weg, über die er gestolpert war. Es war zwar zwei Uhr in der Nacht und dunkel, der Vollmond aber erhellte den Weg stark genug, um Hindernisse zu erkennen. Wenn man aufpasste.
Der Schuss jedoch kam völlig überraschend. Bastian erstarrte, dann fand die Erkenntnis den Weg in sein Großhirn. Gefahr! Bastian warf sich nach rechts in den Graben.
Geschmeidig rollte er sich ab, rappelte sich wieder auf und krabbelte auf allen Vieren hinter eine Buchshecke.
Ein Schuss, dachte er. Das war ein Schuss. Er hatte zwar keine Ahnung, wie sich ein Schuss anhörte. Er kannte das nur aus Filmen und gelegentlichen Besuchen im Schützenverein. Aber das war ganz sicher einer. Das konnte nichts anderes gewesen sein. Bastian hielt die Luft an. Würde ein weiterer Schuss fallen? Und wer schoss hier überhaupt? Mitten in der Nacht! Und warum auf ihn?
Bastians Gedanken überschlugen sich. Was war hier los? Er hörte seinen Puls rasen. Sonst hörte er nichts. Es war ruhig. Gespenstisch ruhig. Bis ein Motorroller auftauchte und vorbeifuhr. Zwei Jungen saßen darauf und hatten Mühe, sich gerade zu halten.
Bastian blieb noch einige Minuten liegen. Sein Puls beruhigte sich, das Chaos in seinen Gedanken löste sich. Bastian erhob sich und zupfte kleine Holzstückchen und Steinchen aus seinen Haaren. Die Hose hatte ein Riesenloch in Höhe des rechten Knies, sein Handgelenk, mit dem er sich abgefangen hatte, schmerzte.
Hatte er sich geirrt? Wahrscheinlich. Wer sollte hier auch schießen? Wahrscheinlich war es nur eine Fehlzündung des Motorrollers gewesen.
Schon sauste ein zweiter heran. Auch auf dem saßen zwei Jugendliche, die sich über den zerzausten Bastian amüsierten.
Der klopfte sich den Staub aus den Kleidern und machte sich wieder auf den Weg. „Idiot!“, schalt er sich. „Ein Schuss! Hier in der Provinz! Und auch noch auf mich! Wie blöd kann man eigentlich sein?“ Kopfschüttelnd trottete er weiter. Zumindest ein Gutes hatte der Zwischenfall gehabt: Bastian war jetzt nüchtern. Das rettete ihm das Leben.
Gerade hatte eine Geschichte in seinem Kopf begonnen, Gestalt anzunehmen. Eine Geschichte, die er Max morgen erzählen wollte. Wie der Schuld daran hatte, dass er, Bastian, fast erschossen worden war. Bastian musste den Vorfall nur ein wenig ausschmücken und die Fakten dramaturgisch sortieren.
Das Geräusch hinter sich hatte er deshalb nicht wahrgenommen. Ein Brummen weit weg. Irgendwann aber schlug sein Unterbewusstsein Alarm. Das Geräusch wurde lauter. Es kam näher. Und es hörte sich verdammt nach einem Auto an. Einem Auto, das ziemlich schnell fuhr.
Bastian unterbrach die Arbeit an seiner Geschichte für Max und blieb stehen. Ein Auto? Auf diesem schmalen Verbindungsweg? Der zwar geteert war, aber für Autos verboten? Und in dessen Mitte er selbst gerade stand?
Er reagierte instinktiv, hechtete erneut nach rechts. Keine Sekunde zu früh. Das Auto raste heran, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Bastian registrierte noch, dass es auch ohne Licht fuhr. Dann knallte er auf den Boden und rollte eine kleine Böschung hinunter. Wieder versuchte er, sich so gut es ging abzurollen. Das gelang zwar, doch der große Stein, über den er kullerte, bohrte sich schmerzhaft in seine Seite.
Bastian biss auf die Zähne. Verflucht, tat das weh! Er drückte seine Hände fest auf die verletzte Stelle und hoffte, die Schmerzen würden schnell nachlassen.
Das taten sie, allerdings nicht ganz so zügig, wie Bastian gehofft hatte. Als er versuchte, seine Gedanken wieder zu ordnen, hörte er Schritte. Bastian hielt den Atem an. Wer war das nun wieder? Ein Zurückgelassener wie er, der nach Hause schlurfte? Oder schon wieder einer, der es auf ihn abgesehen hatte? Oder derselbe von vorhin?
Quatsch, dachte Bastian. Der Fahrer des Autos konnte es unmöglich sein. Und ob vorhin wirklich auf ihn geschossen worden war, davon war mittlerweile auch Bastian nicht mehr überzeugt. Aber in den letzten Minuten waren schon ziemlich merkwürdige Dinge geschehen. Und zumindest gerade eben hätte das übel für ihn ausgehen können. Ob es da einen Zusammenhang gab? Bastian konnte sich keinen Reim darauf machen.
Die Schritte kamen näher. Bastian schaute angestrengt nach oben zur Straße. Wer würde gleich auftauchen?
Ein Mann. Gut gekleidet, im Anzug. Der Mond schien so hell, dass Bastian das bestens erkennen konnte. Und er wusste auch sofort, wen er hier vor sich hatte. Vorhin auf dem Fest hatte ihn dieser Fremde vor dem Bierstand angerempelt. Und nun tauchte er hier auf, Minuten nachdem Bastian fast überfahren worden wäre. Konnte das Zufall sein?
Bastian wartete noch eine Weile, dann machte er sich wieder auf den Weg. Er sah Winterfeld schon vor sich. Das Schlimmste war sicher überstanden. Dachte er.
Am nächsten Morgen blieb Bastian lange liegen. Er war zwar bereits um Acht aufgewacht, konnte das Bett aber nicht verlassen. Schon die erste Bewegung verursachte höllische Schmerzen.
Schnell erinnerte er sich deshalb an jene Szenen, die für den schlechten Start in den Tag verantwortlich waren. Was für ein verrückter Abend, dachte Bastian! Zum Glück war nichts Schlimmes geschehen.
Nach seinem zweiten Versuch aufzustehen allerdings war er sich nicht mehr so sicher. Vielleicht war doch etwas gebrochen? Vorsichtig bewegte er Kopf, Nacken, Arme, Beine. Er testete jeden Muskel und wusste danach: Alles funktionierte, es tat nur furchtbar weh.
Dennoch wagte er einen weiteren Versuch, sich aufzurichten – ließ sich aber sofort wieder aufs Bett zurückfallen.
Bastian fühlte sich, als wäre er in eine Schlägerei geraten. Vor allem die rechte Körperhälfte schmerzte. Handgelenk und Ellbogen besonders, dazu die Seite. Der große Stein, erinnerte sich Bastian.
Was war da nur losgewesen auf den paar Kilometern von Gerstetten zurück nach Winterfeld? Einfach nur Pech? Dumm gelaufen?
War das, was er zunächst als Schuss identifiziert hatte, doch nur die Fehlzündung eines Motorrollers gewesen? Und das Auto, das ihn beinahe überfahren hätte, lediglich von einem Betrunkenen gesteuert? Wahrscheinlich war es genauso gewesen, dachte Bastian. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken machen.
Aber dieser Fremde. Bastian hatte ihn noch nie gesehen. Zwar war Winterfeld nicht gerade eine Großstadt, aber alle 7000 Einwohner konnte auch Bastian nicht kennen. Dennoch war er sicher: Der Typ war neu im Ort. Und dass er hier zumindest übergangshalber wohnte, bewies sein Fußmarsch zurück nach Winterfeld.
Der Kerl passte nicht hierher. Mit einem hellen, sicher nicht billigen Anzug auf ein Straßenfest zu gehen, wer kam denn auf so eine Idee? Umso überraschender war es, dass er zu Fuß nach Hause gegangen war. Der hatte doch bestimmt ein teures Auto. Hatte er also womöglich doch Bastian verfolgt?
Dem schwirrte der Kopf. Schuss oder nicht? Attentat oder nicht? Was war das für ein Fremder? Über all der Grübelei überfiel ihn Müdigkeit. Er schlief ein.
Um 10.30 Uhr weckte ihn sein Handy. Bastian schreckte hoch – und wusste auch sofort, warum er immer noch im Bett lag. Die Schmerzen hatten sich nicht verabschiedet.
Sein Handy klingelte weiter. Gott sei Dank lag es direkt neben seinem Bett. Bastian konnte es leicht erreichen. Zumindest verhältnismäßig leicht. Er drehte sich vorsichtig auf die Seite, dummerweise musste es die rechte sein, und machte sich so lang es ging.
Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er das Handy endlich erreicht hatte. „Ja?“
„Hallo, mein Freund. Gut nach Hause gekommen?“
Max! Na, der kam ihm gerade recht.
„Dass du auch noch die Frechheit besitzt, mich anzurufen!“, zischte er ins Telefon.
„Ich sorge mich eben um dich“, antwortete Max ungerührt.
„Das habe ich gestern mal wieder gesehen“, gab Bastian zurück.
„Na, na. Du bist doch gut nach Hause gekommen. Oder erreiche ich dich etwa in einem fremden Bett?“
„Schließe du nicht immer von dir auf andere. Ich bin zu Hause. Dass ich aber überhaupt dorthin gekommen bin, grenzt an ein Wunder.“
„Wieso das denn?“
„Jemand hat versucht, mich umzubringen.“
Sekundenlang blieb es still am anderen Ende der Leitung. Bastian genoss die kurze Zeit. Es war nicht so einfach, Max aus der Fassung zu bringen.
„Umbringen?“ Max schien tatsächlich ernsthaft darüber nachzudenken. Bastian hatte damit gerechnet, ausgelacht zu werden. Er musste ziemlich überzeugend gewesen sein. Und wer sagt denn, dass ich damit falsch liege, dachte er bei sich.
„Erzähle!“, sagte Max. „Was ist passiert?“
„Immer mit der Ruhe“, antwortete Bastian bewusst langsam. Die ehrliche Sorge, die er in Max‘ Stimme hörte, wollte er noch eine Weile genießen.
„Ruhe, Ruhe“, bellte Max. „Jemand will dich umbringen und ich soll ruhig bleiben?!“
Bastian hätte fast in den Hörer gelacht. So hatte er Max noch nie erlebt. „Ich erzähle dir gleich alles. Aber jetzt muss ich erst mal aus dem Bett kommen. Dann werfe ich zwei Aspirin ein, irgendwie wird‘s schon gehen.“
„Aspirin!? Bist du verletzt?“
„Prellungen“, antwortete Bastian, bemüht, cool zu klingen.
„Ich will jetzt endlich wissen, was passiert ist! Ich komme vorbei.“
„Gute Idee“, sagte Bastian. „Und bring was zu essen mit!“
Max hatte sich beeilt. Mit einer Tüte Brötchen, Wurst, Käse, Orangensaft und – Bastian konnte es kaum fassen – einem Schmerzgel tauchte er 30 Minuten später auf. „Jetzt schieß aber los!“, sagte er, nachdem Bastian Kaffee eingegossen und die Brötchen aufgeschnitten hatte.
Bastian sah seinen Freund immer noch verwundert an. „Ich glaub‘s nicht“, sagte er. „Du machst dir tatsächlich Sorgen. Ich hätte eher erwartet, dass du mir nicht glaubst und dich über mich lustig machst.“
„Vor einem Jahr hätte ich das womöglich auch gemacht“, antwortete Max. „Aber seit der Typ in Steinheim seinen Nebenbuhler erst erschlagen und dann in kleine Stücke zersägt hat, um ihn im See zu versenken, weiß ich: Mord und Totschlag gibt es nicht nur in der Großstadt, sondern auch im provinziellsten Dorf. Und vor gerade mal zwei Monaten hatten wir unseren Mord ja auch direkt vor der Haustür.“
Bastian erinnerte sich. Ein paar Fußballer hatten den Wirt vom Vereinsheim über Wochen hinweg geärgert. Daraufhin hatte dessen Bruder beschlossen, den Wirt zu rächen. Aber nicht etwa, indem er den Kickern eine Abreibung verpasst hätte. Er war ihnen nach dem Training hinterhergefahren, hatte sie auf der Schnellstraße überholt und mit einer falschen Polizeikelle auf einen Parkplatz dirigiert. Dort hatte er nicht viel Federlesens gemacht und den Fahrer mit einer Pumpgun erschossen. Der Beifahrer konnte flüchten.
„Stimmt“, sagte Bastian. „Du hast doch damals über den Fall berichtet.“
„Genau. Und seitdem weiß ich: Verbrechen gibt's nicht nur im Kino.“
Max hatte sehr darunter gelitten, was da alles zum Vorschein gekommen war. Er gab zwar gerne den Obercoolen, im Grunde aber war er doch sensibel. Die Berichterstattung über den Mord hatte ihn an seine Grenzen gebracht. Das war etwas anderes als Gemeinderat oder Kindergartenfeste, zwei seiner Einsatzgebiete bei der Lokalzeitung.
Max zählte in der Redaktion zum Stammpersonal. Er schrieb gut. Flüssig, witzig, wie Bastian ihm zugestehen musste. Er liebte die leichten Geschichten. Die Abteilung Attacke umging Max gerne. Er wollte sich's mit niemandem verscherzen.
Bastian hatte ihn deshalb oft kritisiert. Er selbst war zwar auch alles andere als streitsüchtig, aber wer in die Zeitung wollte, musste sich Kritik gefallen lassen. Bastian hatte deshalb oft unliebsame Anrufe erhalten.
Fünf Jahre waren mittlerweile vergangen, dass Max und Bastian in der Redaktion zusammengearbeitet hatten. Unglaublich, dass es überhaupt dazu gekommen war. Max hatte Jura studiert, Bastian hatte sich fürs Lehramt entschieden. Dass Jura eine für Max viel zu trockene Materie war, hatte Bastian von Anfang an gewusst. Max aber hatte immer nur geantwortet: „Die Juristen haben die schönsten Studentinnen.“
Nach vier Semestern jedoch hatten auch die attraktivsten Kommilitoninnen Max‘ Probleme mit dem Studium nicht mehr ausgleichen können. Max brach ab und ergatterte eine Volontariatsstelle in Schoblingen.
Drei Jahre später war auch Bastian im Team. Er hatte sein Studium beendet und er wäre sehr gerne Lehrer geworden. Aber seine Noten reichten nicht ganz. Er schaffte es lediglich auf eine Warteliste. Dass ausgerechnet zu dieser Zeit der Lokalzeitung ein neuer Volontär abgesprungen und er sich just zur gleichen Zeit beworben hatte, war ein außergewöhnlicher Zufall gewesen. Bastian fühlte sich großartig in der Redaktion.
Schreiben, sich mit Menschen auseinandersetzen, das war sein Ding. Außerdem hätte er sonst nie Laura kennengelernt. Und er wäre nicht ...
„He, träumst du!?“ Max packte Bastian an der Schulter und schüttelte ihn.
„Aua!“, schrie Bastian. „Spinnst du?“ Er fasste sich an die Schulter.
„Entschuldigung“, sagte Max. „Aber ich will jetzt endlich wissen, was passiert ist.“
„Okay.“
Bastian erzählte, was ihm widerfahren war. Er schmückte die Geschichte nicht ganz so stark aus, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Wahrscheinlich war ja doch alles nicht so dramatisch.
„Puh, das hätte wirklich ins Auge gehen können“, sagte Max, als Bastian geendet hatte. „Auf dieser Strecke fahren immer wieder Betrunkene mit dem Auto.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist ein Wunder, dass noch nie etwas passiert ist.“
Dann sah er Bastian direkt in die Augen. „Ich bin wirklich froh, dass du mal Torwart warst. Die Reflexe funktionieren noch.“ Dann stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht. Erst noch gebremst, doch schnell konnte er seine diebische Freude nicht mehr zurückhalten. „Aber dass du vor einer Motorradfehlzündung in die Büsche fliehst, das ...“ Er wischte sich die Augen, wo sich mittlerweile Tränen gesammelt hatten, „... das ist die Geschichte des Jahres.“
„Ha, ha“, entgegnete Bastian, überhaupt nicht amüsiert. „Ich hätte wissen müssen, dass ich dir das nicht erzählen sollte. Das werde ich jetzt das ganze Jahr über unter die Nase gerieben bekommen.“
„Wieso nur dieses Jahr?“ Max konnte sich vor Schadenfreude kaum noch halten.
Nach gut einer Stunde hatte sich Max wieder verabschiedet. Im Streit. Allerdings nicht, weil Max seinen Freund wegen der Fehlzündung aufgezogen hatte.
„Jetzt nehm‘ ich dich schon mal mit, damit du endlich wieder unter Leute kommst, und dann passiert so etwas“, hatte Max gesagt. „Ich muss wohl noch besser auf dich aufpassen.“
„Du musst gar nicht auf mich aufpassen!“, hatte Bastian erwidert. Ungewöhnlich heftig. „Du bist nicht meine Mutter“, hatte er gleich noch hinterherschickt. „Ich kann für mich alleine sorgen.“
„Sicher. Aber wie du dich sorgst, das macht mir wiederum Sorgen“, hatte Max gesagt.
„Kümmere du dich um dein Leben und lass mich in Ruhe!“, hatte Bastian gerufen.
„Damit du hier versauerst? Ich lass dich hier nicht allein herumsitzen. Vor allem nicht mit diesen seltsamen Ideen, die du in letzter Zeit entwickelst.“
Die letzte Bemerkung hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Bastian hatte Max rausgeworfen.
Das tat ihm mittlerweile schon wieder leid. Max meinte es doch nur gut mit ihm. Er war damals der Einzige gewesen, der sich um ihn gekümmert hatte. Als Bastian sich an diese Zeit erinnerte, empfand er die körperlichen Schmerzen nur noch als kleine Blessuren.
B astian machte es sich auf seinem Lieblingsplatz im Wohnzimmer bequem. Er drückte seinen Rücken gegen die Rücklehne des Sofas, sein Po grub sich ins weiche Polster. So fühlte er sich wohl, ein sicherer, fester Sitz, die Füße auf dem Boden. Er schloss die Augen.
Es sich derart bequem zu machen, war wahrscheinlich nicht richtig. Aber er meditierte nun mal am liebsten in dieser Stellung.
Er legte die Handinnenflächen gegeneinander wie zum Gebet und hob die gefalteten Hände vor sich in die Höhe. Ein Außenstehender hätte gedacht, Bastian würde beten. Der jedoch nutzte diese asiatische Meditationshaltung lediglich dazu, innerhalb weniger Sekunden eine tiefe Entspannung zu erreichen. Es überraschte ihn immer wieder selbst, wie schnell er hinabsank. Es fühlte sich für ihn jedes Mal an, als wäre er eine volle Flasche, an der jemand am Boden eine Tür öffnete. Alle Anspannung floss hinaus. Diesmal allerdings wollte dies nicht funktionieren.
Ist ja auch kein Wunder, dachte er. Nach dieser Nacht!
Seine Gedanken schweiften ab. Zurück in der Zeit. Zurück zu Laura.
Bastian war sofort fasziniert gewesen von ihr. Er, der Neuling in der Redaktion, hatte zunächst nur die ältere Kollegin bewundert. Laura war zwar lediglich vier Jahre älter als er, aber trotzdem schon sechs Jahre länger im Beruf. Die Sicherheit, die Entschlossenheit, mit der sie Themen anpackte, hatte er sofort bewundert. Und auch ihren Mut. Wenn andere zögerten, war sie schon mittendrin im Thema. Sie hatte vor nichts und niemandem Angst.
Bastian hatte den Kontakt gesucht, um von ihr zu lernen. Sie hatte anfangs gezögert, aber bald bemerkt, dass hier ein engagierter Neuling war, den sie formen konnte. Und benutzen. Bastian musste meist die unangenehme Arbeit erledigen. Fakten überprüfen, Termine arrangieren, koordinieren, Interviewprotokolle abtippen.
Das hasste Bastian am meisten. Natürlich hatte er sofort bemerkt, dass die erfahrenere Journalistin ihn ausnutzte. Aber er würde ihr schon beweisen, dass er mehr konnte. Und als er schließlich dem Bürgermeister eines kleinen Ortes allzu enge Kontakte zu einer Baufirma nachgewiesen hatte, änderte Laura ihr Verhalten ihm gegenüber. Sie bezog ihn immer stärker ein, die beiden wurden ein eingespieltes Team.
Dass sie sich auch außerhalb des Berufes näher kamen, war fast folgerichtig. Laura war keine Model-Schönheit, aber durchaus ein Hingucker. Lange, fast schwarze Haare, sportlich elegant, gut trainiert, mit dem Charme eines fröhlichen Mädchens, auf den so mancher hereinfiel und ein bisschen zu viel erzählte.
Für Bastian jedoch interessierte sie sich erst, nachdem er sich im Beruf bewährt hatte. Womöglich auch weil er alles andere als den männlich zupackenden Typ verkörperte, eher das Gegenteil: unschuldiger Jungspund. Seit es aber gefunkt hatte, waren sie unzertrennlich. So war es nur konsequent gewesen, dass sich die beiden nach vier gemeinsamen Jahren von der Zeitung verabschiedeten und selbstständig machten. Die Agentur New Spirit Communication war von Anfang ein Erfolg gewesen. Laura und Bastian schrieben für die großen Magazine. Hamburg, München, Paris, London – sie recherchierten nicht nur in Deutschland. Vor allem Laura war viel unterwegs gewesen.
Im Rückblick musste Bastian zugeben, dass vor allem Laura für den Erfolg verantwortlich gewesen war. Sie war die Enthüllungsjournalistin, er liebte die weichen Themen. Auf diese Weise allerdings hatten sie sich auch perfekt ergänzt.
Bastian und Laura schienen ein ideales Paar zu sein, beruflich und privat. So hart Laura im Beruf war, sie brauchte auch einen Ort, sich fallenzulassen. Den bot ihr Bastian. Er genoss es, sich um sie zu kümmern, sie zu umsorgen. Er liebte sie und hatte auch an ihrer Zuneigung nicht den geringsten Zweifel, bis zu jenem Sonntag im November 2009.
Europa war Laura zu klein geworden. Sie wollte in die USA. Für Bastian brach eine Welt zusammen. Er wollte auf keinen Fall weg. Schlimmer jedoch war, dass Laura dies wusste und dass es sie nicht im Geringsten interessierte.
Bastian wollte nicht glauben, was ihm da widerfuhr. Er versuchte, Laura davon zu überzeugen, hier zu bleiben. Er dachte darüber nach, mit ihr zu gehen. Aber – und das zog ihm schließlich die Beine unter dem Körper weg – sie wollte das gar nicht.
Laura ging in die USA und schnell zeigte sich, dass sie dort von Anfang an nicht alleine war. Bastian blieb zurück und stürzte ab. Er vergrub sich, litt und kümmerte sich nicht um Aufträge. Die beiden hatten gut verdient, zwei Bücher brachten regelmäßig Tantiemen. Finanziell musste sich Bastian nicht sorgen. Zunächst. Die Rücklagen waren nicht unendlich.
Bastian allerdings war das egal. Er ließ sich hängen, treiben. Er versank im Selbstmitleid, verließ kaum noch das Haus.
Bis sich Max um ihn kümmerte. Er besuchte ihn, hörte sich seine Leiden an, versuchte ihn abzulenken und aufzubauen. Er sprach mit ihm, er beschimpfte ihn. Er schrie ihn an, er schüttelte ihn und nach vier Wochen schaffte er es, Bastian wieder ins Leben zurückzuholen.
Soweit er konnte, versorgte er ihn auch mit Aufträgen. Als freier Mitarbeiter der Zeitung hatte Bastian zumindest ein kleines, einigermaßen regelmäßiges Einkommen. Wichtiger aber war: Er nahm am Leben teil.
Er kümmerte sich sogar selbst wieder um Aufträge. Schrieb bei Firmenjubiläen die Chronik oder überarbeitete für Gemeinden die Geschichtsbücher. Deshalb war sein Hauptarbeitgeber derzeit auch die Heimatgemeinde. Die feierte im kommenden Jahr ihr 900-jähriges Bestehen. Das sollte mit einem großen Fest begangen werden und natürlich einem dicken Buch zur Geschichte Winterfelds. Dieses Buch schrieb Bastian.
Das Telefon klingelte. Bastian schreckte hoch aus seinen Gedanken. Bestimmt Max.
Er griff nach dem Handy. „Was ist denn noch?“, fragte er gereizter als beabsichtigt.
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
„He, was ist los?!“, rief Bastian. „Ist dir noch eine Möglichkeit eingefallen, wie du mich beschützen kannst?“
Der Anrufer blieb weiter stumm.
„Max? Bist du das?“
Bastian hörte nichts, außer einem leisen Atmen.
„Max, wenn du das bist: Ich finde das nicht lustig!“ Er legte auf.
„Idiot!“, schimpfte er.
Dabei glaubte er längst nicht mehr, dass Max angerufen hatte. Wer aber sonst? Wenn sich jemand verwählt hätte, hätte der sich entschuldigt oder, was wahrscheinlicher war, einfach aufgelegt. Wer aber atmete 10, 20 Sekunden in den Hörer? Ein Verrückter? Hatte das etwas mit der letzten Nacht zu tun?
„Verdammt!“ Bastian sprang vom Sofa auf. Mach dich nicht verrückt. Du bist nicht in einem Krimi, in dem jemand verfolgt wird. Es ist nur deine Fantasie, die mit dir durchgeht.
Auf den Sprung folgte der Schmerz. Bastian wurde brachial an die Folgen der vergangenen Nacht erinnert. Er entschied sich dafür, heute die Arbeit ruhen zu lassen. Er griff nach dem Schmerzgel, das Max ihm mitgebracht hatte.
Schaden kann es ja nicht, dachte er.
Dann begann er, das Gel großzügig auf seinem Körper zu verteilen.
Auch am nächsten Tag hatte sich Bastian damit begnügt, Texte zu bearbeiten und nicht zur Recherche nach draußen zu gehen. Zum Redigieren waren nicht allzu viele Bewegungen nötig und damit geringere Schmerzen die Folge. Mehrfach am Tag rieb sich Bastian zudem mit dem Schmerzgel ein. Einmal nahm er zusätzlich ein heißes Bad, um die Muskulatur zu lockern. Er hatte es nicht allzu lange darin ausgehalten. Draußen 30 Grad Sommertemperatur, in der Wanne noch um einiges mehr – Bastian hatte eine Stunde später noch aus allen Poren geschwitzt. Zweimal hatte er sich komplett umziehen müssen, obwohl er ohnehin schon nur mit kurzer Sporthose und Shirt bekleidet war.
Er spürte allerdings auch Besserung. Die rechte Körperhälfte ließ sich schon wieder recht flüssig bewegen.
Heute aber musste sich Bastian nach draußen trauen. Der Kühlschrank war leer, außerdem musste er sich nun endlich mit der Michaelskirche beschäftigen. Über sie hatte Bastian bisher nur Informationen aus der alten Chronik. Daraus ließ sich einiges übernehmen, Bastian jedoch wollte sich selbst ein Bild davon machen. Er hatte sich für heute mit Pfarrer Reichert verabredet.
Der war nicht sonderlich glücklich über den Termin gewesen, denn er hatte die Handwerker in der Kirche. Die seitliche Empore musste überprüft werden, denn zur 900-Jahr-Feier würden auch Gottesdienste angeboten werden und Pfarrer Reichert war sicher, dass sein Haus dann endlich einmal wieder voll sein würde.
„Hier passen 400 Menschen rein“, sagte er zu Bastian, als sie zusammen die Kirche aufsuchten.
„400?“ Bastians Gesicht zeigte, wie sehr ihn diese Zahl überraschte.
„Ja sicher“, antwortete Reichert, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. „Dann sind aber sämtliche Plätze belegt, auch die beiden Emporen, und auf den Gängen stehen die Menschen obendrein noch.“
Bastian schaute ihn skeptisch an.
Pfarrer Reichert erfasste sofort, was Bastian dachte. „Ja, ja, ich weiß schon: Wann kommen schon so viele Menschen in die Kirche?“
Bastian antwortete nicht.
„Die Menschen haben sich von der Kirche abgewandt“, sagte der Pfarrer. Seine Worte klangen weniger traurig als vorwurfsvoll. Er drehte sich weg von Bastian und setzte hinzu, so leise, dass der es nicht verstehen konnte. „Sie werden schon noch sehen, was sie davon haben.“
Reichert schaute nach oben, wo einer der Arbeiter eine der Fußbodenbohlen bearbeitete. „Passen Sie doch auf!“, rief er hinauf. „Sie klopfen da auf 200 Jahre altem Holz.“
Der Arbeiter, der hoch oben unterm Dach hämmerte, unterbrach die Arbeit, schaute zu dem Pfarrer hinunter und machte dann weiter, als hätte es Reicherts Einwurf nicht gegeben.
„Diese Handwerker“, schimpfte Reichert. „Kein Gefühl für das, was sie da in den Händen halten.“
„Was halten sie denn in den Händen?“, schaltete sich Bastian ein. „200 Jahre alte Holzbohlen? Die Kirche ist doch viel älter.“
„Natürlich ist sie älter“, sagte Reichert ungehalten und beäugte weiter argwöhnisch den Arbeiter über sich. „Aber vor 200 Jahren wurden die beiden Emporen erneuert, und seitdem hat es keine Veränderung mehr gegeben.“ Er schaute Bastian an. „Stellen Sie sich das einmal vor, junger Mann: 200 Jahre! Damals wusste noch niemand etwas von Deutschland, es gab jede Menge Kleinstaaten. Napoleon war gerade über Europa hergefallen. Die Menschen waren arm, hier lebten fast ausschließlich Bauern.“
„Und die kamen alle in die Kirche?“, fragte Bastian und versuchte nicht allzu ironisch zu klingen.
Pfarrer Reichert jedoch blieb der Unterton nicht verborgen. „Natürlich sind sie nicht alle gekommen, aber viele. Sie waren noch gottesfürchtig.“
„Weil sie sonst nichts hatten.“
„Weil sie sich nach Gottes Trost sehnten. Weil sie nicht im Überfluss lebten wie wir heute, sondern sich auf das Wesentliche konzentrieren konnten.“