Ich werde die Hoffnung niemals verlieren: Zwei Arztromane Ärztin Alexandra Heinze - Thomas West - E-Book

Ich werde die Hoffnung niemals verlieren: Zwei Arztromane Ärztin Alexandra Heinze E-Book

Thomas West

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane von Thomas West: Ein Schutzengel für Dr. Heinze Jans Vater Dr. Wilde ist ein sehr zurückhaltender Mensch, niemand weiß etwas von dem Schicksalsschlag, der ihn vor fünf Jahren getroffen hat. Erst als der übermütige Jan nach einem Sturz lebensgefährlich verletzt eingeliefert wird, geht er etwas aus sich heraus. Dazu trägt auch Jans alleinstehende Mutter bei. Doch dann sieht sie ihn eines Nachts in einer verfänglichen Situation, und die zarten Gefühle füreinander scheinen zerstört.

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Thomas West

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Inhaltsverzeichnis

Ich werde die Hoffnung niemals verlieren: Zwei Arztromane Ärztin Alexandra Heinze

Ein Schutzengel für Dr. Heinze

Copyright

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Jans Vater

Ich werde die Hoffnung niemals verlieren: Zwei Arztromane Ärztin Alexandra Heinze

Thomas West

Dieser Band enthält folgende Romane

von Thomas West:

Ein Schutzengel für Dr. Heinze

Jans Vater

Dr. Wilde ist ein sehr zurückhaltender Mensch, niemand weiß etwas von dem Schicksalsschlag, der ihn vor fünf Jahren getroffen hat. Erst als der übermütige Jan nach einem Sturz lebensgefährlich verletzt eingeliefert wird, geht er etwas aus sich heraus. Dazu trägt auch Jans alleinstehende Mutter bei. Doch dann sieht sie ihn eines Nachts in einer verfänglichen Situation, und die zarten Gefühle füreinander scheinen zerstört.

Ein Schutzengel für Dr. Heinze

Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 138 Taschenbuchseiten.

Oft sind es unerhebliche Nebensächlichkeiten, von denen Leben und Tod abhängen, denkt Dr. Alexandra Heinze. Doch in ihrem Fall ist es wohl eher ein Schutzengel, der ihr zu Hilfe eilt. Pit Baumleitner sucht nach seinem Vater und übernachtet in einem Park, weil sein Motorrad streikt. Obwohl ihm dort Schlimmes widerfährt, wartet zum Ende das Glück auf ihn …

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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1

"Hast du dir das auch gut überlegt?" Roger blies den Rauch seiner Zigarette an die Spitzen seiner Turnschuhe vor sich auf dem Tisch. Die ganze Zeit schon saß er schweigend da, die Beine auf dem Küchentisch, auf dem noch das Frühstücksgeschirr stand, und beobachtete seinen Freund Pit durch die offenen Zimmertür. Nur mit einer Unterhose bekleidet packte der seine Motorradtasche zusammen.

"Wir würden sogar im Nachspann des Films erscheinen - ,Regieassistenz: Pit Baumleitner und Roger Waßmann‘. Stell' dir das mal vor!" Pit reagierte nicht. Unbeirrt stopfte er seine Wäsche in die schwarze Ledertasche. "Ganz davon abgesehen, dass wir einem Regisseur bei seiner Arbeit auf die Finger schauen könnten." Roger schwang seine Beine vom Tisch, ging auf Pits Zimmer zu und lehnte sich an den Rahmen der offenen Tür. "Und Vogt gehört zu den Großen in Deutschland."

Pit blieb stehen und sah seinen Freund an. "Scheiße! Du machst es einem nicht leicht, ehrlich!" Er seufzte. "Ich muss nach Köln, verdammt!"

"Wir würden uns übermorgen bei Vogt vorstellen und ein, zwei Tage mit ihm über dem Drehbuch sitzen - am Wochenende könntest du immer noch losfahren."

"Zu spät, Roger!" Pit zog den Reißverschluss seiner Tasche zu. "Am Wochenende ist der Mann vielleicht nicht mehr in Köln. Jetzt im Spätsommer zieht es die Penner doch in den Süden oder weiß Gott wohin."

"Du weißt ja nicht mal, ob es überhaupt dein Vater ist, den der Mann gesehen haben will." Roger ließ nicht locker.

"Fred erzählte von einem Stadtstreicher, der in Hamburg einen Mann namens ,Randy‘ getroffen haben will." An Roger vorbei ging Pit in die Küche. "So viele Leute, die ,Randolph‘ heißen, gibt's nun wirklich nicht." Er verschwand im Bad.

"Vielleicht nur ein Spitzname", Roger sagte das ohne große Überzeugungskraft. Seitdem er Pit kannte, seit vier Jahren, wusste er, dass der Freund seinen Vater suchte. Und nun dieser Hinweis von der Arbeiterwohlfahrt in Köln. Roger war sich nicht sicher, ob er in so einer Situation nicht auch alles andere vergessen würde. Er versuchte es trotzdem noch einmal.

"Ich hab' mit dem Prof gesprochen." Er setzte sich auf den Stuhl neben der Waschmaschine. "Er ist bereit, diese Regieassistenz als Praktikum gelten zu lassen." Pit war inzwischen hinter dem Duschvorhang verschwunden. "Außerdem legt er großen Wert darauf, dass wir den Job machen. Der Produzent hat schon seit Jahren nicht mehr bei der Filmhochschule wegen Assistenten angefragt." Hinter dem Vorhang begann das Wasser zu rauschen. Roger musste laut rufen. "Das täte der Reputation unserer Hochschule gut, meint der Prof!" Schweigend wartete er, bis Pit das Wasser abdrehte und den Vorhang aufzog. "Das wäre die Chance, Pit, verstehst du?", beschwor Roger ihn mit einer flehenden Geste.

"Klar versteh' ich." Pit trocknete seinen sehnigen, schmalen Körper ab. "Bin ja nicht blöd." Er begann seinen kurz geschnittenen Lockenkopf zu frottieren. Sein dunkles Haar glänzte feucht. "Mach' du den Job allein, Roger, ich kann nicht, wirklich!"

"Du Granitkopf!", fluchend verließ Roger das Bad. "Wir sind einunddreißig Jahre alt - da lässt man nicht einfach so eine Chance sausen!"

"Du brauchst sie ja nicht sausen lassen, verdammt!", schrie Pit, um den Föhn zu übertönen. "Aber für mich bietet sich eine noch größere Chance!" Er schaltete den Föhn ab und kam an den Türrahmen. "Die Chance, meinen Vater zu finden", leise sprach er, fast heiser, "verstehst du, Roger?"

Einen Augenblick sahen sich die Freunde in die Augen. Es war diese seltsame Mischung aus wilder Entschlossenheit und Trauer, die Roger von Anfang an in Pits Blick fasziniert hatte. Brummend wandte er sich ab.

"Okay, okay", er ging zum Tisch zurück und drückte seine Zigarette aus, "ist schon gut, Junge." Seufzend ließ er sich auf dem knarrenden Stuhl nieder. "Du fährst nach Köln und danach an den Nordpol oder sonst wohin, und ich bleib hier in München." Er angelte sich die nächste Zigarette aus dem Päckchen. "Und spiel' allein Regieassistent."

In seinem Zimmer war Pit dabei, sich anzuziehen.

"So gefällst du mir besser, Alter." Er zwängte sich in seine Motorradkluft und holte den Helm vom Schrank.

"Wann bist du zurück?", wollte Roger wissen.

"Spätestens zu Semesterbeginn." Pit hängte sich den Rucksack um und griff nach seiner Tasche. "Halt die Ohren steif und mach' die Frauenwelt nicht verrückt, während ich weg bin!"

"Heiß' ja nicht Baumleitner." Roger grinste etwas weinerlich und nahm Pit die Tasche ab. Gemeinsam stapften sie das Treppenhaus des Schwabinger Altbaus hinunter. Vor dem Haus sah Roger zu, wie Pit Tasche und Rucksack verstaute. Als der Motor der großen Yamaha aufbrüllte, zog er ein Taschentuch heraus. "Ruf' mal an, wenn du da oben angekommen bist, sonst mach' ich mir Sorgen."

"Ist gut, Mama." Pit umarmte seinen Freund und schwang sich auf die Maschine. Roger schwenkte grinsend sein Taschentuch. "Komm' mir vor, als würde ich in den Krieg ziehen." Pit konnte nicht ahnen, dass er damit der Wahrheit ziemlich nahe kam. Er ließ das Helmvisier herunter und brauste davon.

2

Mit Blaulicht und Martinshorn verließ der Notarztwagen die Stadt und fuhr in Richtung eines kleineren Nebenortes.

"Normalerweise fallen die Leute doch im Juni und im Oktober von den Leitern", sagte Ewald Zühlke zu Alexandra, "was gibt es Ende August denn zu ernten."

"Irgendeine frühe Apfelsorte wahrscheinlich", mischte Jupp Friederichs sich ein, "Goldparmänen oder so was."

"Wir hatten doch im letzten Jahr diese Frau mit der Beckenfraktur", erinnerte sich Alexandra, "die fiel im März von der Leiter, als sie ihr Kätzchen vom Baum holen wollte."

"Genau", Zühlke konnte sich entsinnen, "vielleicht der Kanarienvogel diesmal."

Das Grundstück lag gleich am Ortsrand. Neben dem Haus breitete sich ein Obstgarten aus. Unter einem der Bäume saß ein Mann Anfang sechzig. Eine Frau gleichen Alters und ein jüngerer Mann knieten neben ihm. Eine Leiter lehnte an dem Baum.

"Ich hab' nichts, Herr Doktor", wandte er sich an den heranstürmenden Zühlke, "nur Schürfungen!"

"Da hinten kommt der Doktor." Zühlke deutete mit einer Kopfbewegung auf die herbeieilende Alexandra und packte das Blutdruckgerät aus.

"Natürlich hat er was, Frau Doktor", jammerte die Frau, "sehen Sie nur das Blut." Eine Schürfwunde an Hals und Schlüsselbein blutete. Nicht stark, aber der rote Fleck breitete sich eindrucksvoll auf dem beigen Hemd aus. Alexandra tastete das Schlüsselbein ab. Es schien unverletzt. Auch an Wirbelsäule, Extremitäten und Becken des Mannes konnte die Notärztin auf den ersten Blick keine Frakturen feststellen.

"Die Birnen sind ja noch gar nicht reif." Friederichs blickte staunend in die Krone des Birnbaums.

"Er wollte ja auch keine Birnen ernten", sagte der junge Mann.

"Sondern?"

"Mein Sohn hat heute Geburtstag, wird zehn." Er nickte dem Mann zu, der sich jetzt ächzend erhob.

"Sein Enkel. Er wollte das Geburtstagsgeschenk auf dem Baum verstecken."

Fast gleichzeitig starrten die Sanitäter und die Notärztin auf das große, in Geschenkpapier eingewickelte Päckchen im Gras. Über die Gesichter von Zühlke und Friederichs huschte ein Grinsen.

"Sehr witzig", grollte der Mann und betrachtete seine Schürfwunde.

"Wie ist das passiert?", versuchte Alexandra abzulenken.

"Es wird ihm immer so schwindlig", erklärte die Frau, "plötzlich rast sein Herz, und es wird ihm schwarz vor den Augen."

"Seit wann?" Alexandra tastete nach dem Puls des Mannes. Mit zusammengezogenen Brauen musterte sie seinen geschwollenen Hals.

"Schon lang", der Mann winkte ab.

"Seit er nicht mehr recht schlafen kann", ereiferte sich die Frau, "und abnehmen tut er auch seit Monaten."

"Was sagt Ihr Hausarzt?" Alexandra tastete den Hals ab.

"Der geht doch zu keinem Arzt!", schimpfte die Frau.

Die Notärztin sah über die Schulter Friederichs auf das Formular, dass der gerade ausfüllte. ,Wagner‘ hieß die Familie.

"Kriegen Sie manchmal schlecht Luft, Herr Wagner?"

"Es drückt manchmal ein bisschen im Hals." Der Mann zeigte auf die Schwellung am Halsansatz. Alexandra nickte.

"Wir nehmen Sie mit, Herr Wagner, das Schlüsselbein muss geröntgt werden."

Befriedigt nickend stürmte die Frau auf das Haus zu.

"Ich pack dir deine Sachen zusammen."

"Kommt nicht in Frage!", protestierte ihr Mann. "Ich bleib' doch nicht im Krankenhaus!"

"Das würde ich Ihnen aber sehr empfehlen, Herr Wagner", schaltete sich Alexandra ein. "Wir müssen doch herausfinden, warum Ihnen manchmal schwindlig wird."

"Ist doch alles halb so schlimm", knurrte Herr Wagner.

"Nicht schlimm, Mann?", rief Zühlke. "Sie hätten sich den Hals brechen können!"

"Und stellen Sie sich mal vor, das nächste Mal passiert Ihnen das auf der Autobahn", pflichtete Friederichs seinem Kollegen bei. "Bei 160 km/h!"

Der Mann gab klein bei, ließ sich von seiner Frau eine Reisetasche in die Hand drücken und stieg brav in den Notarztwagen. Eine Viertelstunde später lieferten sie ihn in der Ambulanz ab.

"Wir machen vorsichtshalber eine Röntgenaufnahme von Schulter und Wirbelsäule, Herr Wagner", erklärte Dr. Krug dem neu aufgenommenen Patienten und wandte sich an Alexandra. "Sie glauben an etwas Inneres?"

Sie nickte und tastete wieder den Hals des Mannes ab.

"Hier, diese Schwellung - sieht mir ganz nach einer gewaltigen Struma aus."

Krug tastete die Schwellung sorgfältig ab.

"Eine Schuma?", sagte Wagner erschrocken.

"Eine Struma, Herr Wagner", klärte der Arzt ihn auf, "das ist ein Kropf."

"Liegt bei uns in der Familie", brummte der Patient.

"Und bei Ihnen scheint der nach innen zu wachsen."

"Und wenn die Schilddrüse so anschwillt, scheidet sie manchmal zu viel von ihren Hormonen aus", ergänzte Alexandra ihren Kollegen, "und dann schläft man schlecht, das Herz rast und es wird einem schwindlig."

"Ah so ..." Wagner machte ein sorgenvolles Gesicht. Die Röntgenaufnahmen ergaben keine Frakturen. Alexandra musste sich nicht anstrengen, um den Mann zu einer stationären Behandlung zu überreden. Die Innere nahm ihn zunächst auf. Alexandra begleitete ihn nach oben. Vor dem Stationszimmer wartete seine Familie. Auch der zehnjährige Enkel war dabei.

Die Notärztin verschwand im Büro der Oberärztin.

"Hallo Lore", begrüßte sie ihre Freundin, "ein Leitersturz ausnahmsweise mal für die Innere."

"Herzrhythmusstörungen?"

Alexandra schüttelte den Kopf.

"Verdacht auf Schilddrüsenüberfunktion."

"Dann werde ich gleich mal zu ihm gehen." Lore Keller schlüpfte in ihren weißen Arztmantel und nahm das Stethoskop vom Schreibtisch. "Hast du heute Abend schon was vor, Alexandra?" Alexandra verneinte. "Dann komm doch zu mir - ich mach' eine kleine Nachfeier meines Geburtstages. Für die Schwestern der Station. Ich finde, du gehörst dazu, sooft wie du hier oben bist."

"Gerne", lachte Alexandra.

3

Er sah alles wie durch eine Glaswand: den kleinen Jungen auf dem Arm seiner Schwiegermutter, den Richter, der sich erhob und wartete, bis alle im Saal aufgestanden waren; das angespannte Gesicht des Mannes vor der Anklagebank; sein erleichtertes Lächeln, als er das Urteil hörte; die Reporter und Fotografen, als er hinter dem Mann und dessen Anwalt den Gerichtssaal verließ.

Und dann spürte er den Holzgriff in seiner Faust, und dann sah er das schwarze Eisen in seiner Hand, und dann drehte der Mann sich um, und dann der Schuss, das Blut und die Schreie ...

Brüllend fuhr er hoch. Alles war dunkel. Nur durch die kaputten Rollläden drang etwas Licht in den stickigen Saal. Lautes Schnarchen von allen Seiten.

"Schon wieder mit dem Klabautermann getanzt, oder wie?", grummelte der Mann auf der Liege neben ihm, und der auf der anderen Seite boxte ihn in die Rippen. "Verflucht, jede Nacht wache ich auf von deinem Geschrei." Wütend warf er sich auf die andere Seite. "Kannste nicht im Park pennen?"

Randy antwortete nichts. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte in die Dunkelheit. Bald hörte er seine Nachbarn wieder tief atmen. Er selbst schlief nicht mehr ein. So war es meistens, wenn er diesen verdammten Traum hatte - oft lag er dann bis zum Morgen wach. Wenn er draußen schlief, war das kein Problem. Draußen konnte er aufstehen, durch die Straßen laufen oder einfach in den Fluss starren. Das beruhigte. Deswegen suchte er auch am liebsten Städte auf, durch die ein Fluss strömte: Hamburg, Düsseldorf, Köln oder Heidelberg.

Aber hier im Obdachlosen-Wohnheim konnte er nachts nicht einfach aufstehen. Erstens gab es keinen Aufenthaltsraum und zweitens würde er ein paar von den anderen wecken. Also lag er wach und grübelte. Meistens tat ihm der Kopf weh, wenn er nach so einer Nacht aufstand.

Am Morgen war er der Erste in der Kantine.

"Morgen", knurrte er, während Erika, die gute Seele des Wohnheims, ihm den dampfenden Kaffee in den Aluminiumbecher schöpfte.

"Morgen, Randy", ihre gute Laune war bis nach Süddeutschland hinunter Legende, "gut geschlafen?"

"Nee", knurrte Randy und schlürfte seinen Kaffee. Schweigend verteilte er die Erdbeerkonfitüre auf seinem Margarinebrot. Nach und nach schlurften die anderen herein. Abgerissene, struppige Gestalten die meisten, Mischungen aus Rasputin und Rübezahl, mit trüben Augen und eingefallenen Wangen. Einige wenige machten einen verhältnismäßig aufgeräumten und gesunden Eindruck, sahen eher aus wie Wanderer als wie Berber. Randy gehörte dazu.

Nicht dass er auf seine Gesundheit achtete - das nicht. Ein halbes Päckchen Tabak am Tag war sein Standard. Aber er ging alle zwei Monate zum Friseur, holte regelmäßig neue Kleider bei der Diakonie oder der Arbeiterwohlfahrt. Und jedes Mal, wenn er in Köln vorbeikam, besuchte er Magdovski, einen Freund aus seinem früheren Leben. Der war Arzt und behandelte ihn umsonst. Wenn es ganz schlimm war, fuhr er auch schon mal von Hamburg oder Stuttgart aus nach Köln zu seiner Sprechstunde.

Das Saufen hatte Randy sich gar nicht erst angewöhnt. Schon damals im Knast nicht. Außerdem gehörte er zu den wenigen hier, die mindestens drei oder vier Monate im Jahr arbeiteten. Höchstens fünf Wochen am Stück, klar - viel länger hielt es Randy gar nicht aus in einer Stadt. Irgendwann fingen die Träume an, und dann befiel ihn wie ein Fieber diese Unruhe, und er musste los.

Gegen halb acht saß er immer noch an dem langen, kahlen Tisch. Sein Aluminiumbecher war längst leer. Die anderen kauten und schlürften schweigend vor sich hin. So war das immer in den Wohnheimen. Kaum jemand sprach morgens ein Wort. Abends war das anders, wenn die Lambruscoflaschen leer waren ...

Die Tür öffnete sich. Ein junger, kaum dreißigjähriger Mann kam herein: Energischer, federnder Schritt, Jeans und Lederjacke, kahlgeschorener Schädel. Albrecht Harms, der Leiter des Wohnheims.

"Morgen, Männer!" Und nun war es aus mit der Ruhe. Albrecht erzählte drauf los. Vom Fußballspiel gestern Abend - Schalke gegen Rapid Wien, 2:1 - "Der Thon hat wieder gespielt wie ein junger Gott. Wenn der Trainer den nicht mitnimmt zur WM, na dann gute Nacht" - von dem Zimmer, dass er seiner Freundin neu tapeziert hat, von den beiden Bieren, die er sich besser gespart hätte nach Mitternacht noch, und von dem Flugzeugabsturz, den er während der Fahrt hierher in den Nachrichten aufgeschnappt hatte. Randy war sich nie sicher, ob überhaupt jemand zuhörte. Abgesehen von Erika natürlich. Aber Albrechts fröhliche Stimme hatte etwas Vertrautes.

"Ich hab' 'n Job bei Aldi zu vergeben", unterbrach er den Redeschwall. Die meisten sahen nur kurz auf. Albrecht betrachtete ihn skeptisch von der Seite. "Einkaufswagen zusammenschieben, fünf Mark die Stunde." Niemand reagierte. "Will keiner hin?" Der eine oder andere zuckte mit den Schultern, sonst nichts.

"Haste die Schnauze schon voll?", fragte Albrecht. "Du bist doch erst vier Wochen hier."

"Muss weiter, weg aus Hamburg", sagte Randy. Er stand auf und schob Erika Teller und Becher über den Tresen.

"Wohin?", wollte sie wissen.

"Ruhrgebiet, mal sehen", Randy zuckte mit den Schultern, "Dortmund wär' mal wieder dran. Aber erst noch mal zu Aldi, drei Stunden malochen. Und kündigen, ordnungsgemäß", grinsend hob er seinen Zeigefinger.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

"He, Alter." Albrecht sah ihn an, bettelnd wie ein kleiner Junge. "Ich dachte, du fühlst dich langsam zu Hause bei uns."

"Zu Hause?" Das Grinsen wurde bitter auf Randys Gesicht. Er ging davon.

Später stand Albrecht an der Tür und sah dem Mann hinterher. Für den Sozialarbeiter gehörte Randy zu den wenigen, die das Zeug dazu hatten, noch einmal sesshaft zu werden. Aber seine Hoffnung wurde von Jahr zu Jahr kleiner. Sieben Jahre kannte er Randy. Und seitdem stieg er zwei bis dreimal im Jahr im Wohnheim ab. Vierzehn Jahre, so erzählte man sich, sei Randy schon auf der Straße. Und angeblich habe er vorher zehn Jahre im Gefängnis gesessen. Irgendwo in Südwest-Deutschland. Albrecht war noch nicht dahinter gekommen, weshalb. Darüber sprach Randy nicht, nie ...

4

"Und jetzt werde ich dir schöne, bunte Bilder von Dingen zeigen, die du jeden Tag siehst", Rhena zog den Stuhl mit dem kleinen Jungen näher an den Bildschirm, "und du sagst mir, wie man die Dinge nennt, ja?"

Der Junge nickte und starrte wie gebannt auf den Monitor. Rhena klickte mit der Maus auf das Symbol für Spielzeug, und dann ging es los. Immer wenn sie die Taste drückte, erschien das Bild irgendeines Spielzeugs.

"Ball", sagte der Junge näselnd, "Wokomo-ive, Fiff..."

"Llllokomotive", korrigierte Rhena, "Schschschiff ..."

Seit einem Jahr kam der fünfjährige Junge in ihre logopädische Praxis. Er war mit einer extremen Hasenscharte zur Welt gekommen, hatte etliche Operationen hinter sich und lernte nun mühsam die Worte trotz seiner Behinderung zu modellieren. Er machte keine schnellen Fortschritte, aber er machte welche.

"Sehr schön hast du heute gesprochen, Micha." Sie strich dem strahlenden Bengel über das Haar. "Dafür bekommst du eine Belohnung."

Erwartungsvoll sah er zu, wie die blonde Frau mit dem kurzen Stoppelhaarschnitt genau die Schublade aufzog, in der er die begehrten Schätze wusste. Rhena nahm ein kleines Spielzeugauto heraus und drückte es ihm in die Hand.

"Er spricht schon viel besser als noch vor drei Monaten." Die Mutter drückte Rhena zum Abschied dankbar die Hand. Sie waren etwa im gleichen Alter, Anfang dreißig. Rhena nickte.

Als die Frau gegangen war, ließ sie sich seufzend auf den Sessel hinter ihren Schreibtisch fallen. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf nach hinten an das Bücherregal. Nie würde sie sich ihren Patienten gegenüber irgendetwas anmerken lassen - aber heute war es ihr schwer gefallen, zu lächeln. Sie hatte kaum geschlafen die Nacht, der Streit mit Reinhard steckte ihr jetzt noch in den Knochen. Sie sah auf die Uhr. Gleich zwölf. Ein Widerwille stieg in ihr hoch, als sie zum Telefon griff, aber sie musste ihn anrufen.

"Praxis Dr. Martens?", flötete die Sprechstundenhilfe. Es war das dünne Mickimaus-Stimmchen von Sabine Kern. Schon als Rhena das junge Mädchen vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr aufgefallen, wie sie Reinhard schöne Augen gemacht hatte.

"Meinen Mann, bitte", sagte Rhena knapp.

Sekunde später Reinhards Stimme. "Martens?"

"Rhena hier, bitte hole du Markus von der Schule ab. Ich muss zu einer Konsultation ins Städtische." Ihre Stimme blieb kühl und sachlich.

"Unmöglich, Rhena", brauste er auf, "ich hab' einen Patienten zu einem Gutachten im Wartezimmer sitzen - mit dem bin ich die Mittagszeit über beschäftigt."

"Du fährst doch kaum zehn Minuten bis zur Schule, Reinhard!" Sie wurde laut. "Du setzt den Jungen ins Wartezimmer, und ich hole ihn ab, wenn ich in der Klinik fertig bin!"

Er brachte mal wieder tausend Einwände vor. Irgendwann konnte Rhena es nicht mehr hören und knallte den Hörer auf.

"Scheißkerl!", zischte sie.

Markus ging in die zweite Klasse der Grundschule. Auf dem Weg dorthin gab sich Rhena ihren bitteren Gedanken hin. Wie war sie geflogen auf Reinhard, damals vor acht Jahren. Sie hatte ihr Praktikum auf einer Hals-Nasen-Ohren-Station im Städtischen Krankenhaus gemacht. Reinhard war damals Oberarzt dort. Sie war Mitte zwanzig und er fast vierzig, und so ungeheuer männlich. Es dauerte nur ein paar Tage, bis sie sich am Ziel ihrer Träume wiederfand - in seinem Bett. Markus war das Ergebnis.

Hinter ihr hupte es ungeduldig. Rhena schreckte zusammen. Die Ampel war schon lange auf Grün gesprungen. Sie würgte den Motor ab, das Hupen wurde penetranter.

"Ist ja gut", schimpfte Rhena, "Saftarsch!" Endlich sprang der Wagen an.

Heute machte sie sich nichts mehr vor. Sie war damals wie besoffen gewesen vor Verliebtheit und Sex. Und wie geblendet von seiner oberärztlichen Herrlichkeit.

"Gott, war ich dämlich", flüsterte sie, während sie auf den Parkplatz des Schulgeländes fuhr. Markus war noch keine zwei Jahre auf der Welt gewesen, und Reinhard hatte gerade die eigene Praxis eröffnet, da begann es schon zu kriseln. Er hatte sie mit seiner Arzthelferin betrogen. Erst als er die Frau entlassen hatte, war Rhena bereit gewesen, ihm zu verzeihen. Sie hätte lieber das Kind und ihre Sachen nehmen und weit weglaufen sollen - schon wenige Monate später betrog er sie wieder.

"Hinterher ist man immer klüger", murmelte sie. Sie schloss den Wagen ab und ging auf das Schulgebäude zu. Jetzt hatte sie ihn in Verdacht, es mit der neuen Praxishilfe zu treiben. Im Grunde war er ihr längst gleichgültig. Seit vier Jahren hatten sie getrennte Schlafzimmer und waren eigentlich nur noch eine Art Wohngemeinschaft. Um dem Jungen eine heile Welt vorzugaukeln, dachte Rhena bitter. Sie suchte den Eingangsbereich hinter der Glasfront nach dem Blondschopf ihres Sohnes ab.

Gestern Abend aber hatte Reinhard so widerlich nach dem billigen Parfum des Mädchens gestunken, dass Rhena der Kragen geplatzt war. Deswegen der Krach und die schlaflose Nacht. Ihre Mutter fiel ihr ein. ,Wie lange willst du das noch mitmachen, Rhenakind‘, hatte sie neulich gesagt. Ausgerechnet Ma, dachte Rhena, die hat's nötig.

Jetzt kam Markus aus dem Schulgebäude gestürzt.

"Hallo, Mama!" Sie fing ihn auf und drückte ihn. Er wehrte ab. "Nicht", unsicher sah er sich nach den Kameraden um. Zärtlichkeiten seiner Mutter in der Öffentlichkeit waren ihm peinlich.

"Aber nachher im Auto krieg' ich einen Kuss", forderte sie lachend. Von einer Sekunde zur anderen schien sie wieder die glücklichste Frau der Welt zu sein. Das Theaterspielen hatte sie bei ihrer Mutter gelernt. Erst als Jugendliche hatte Rhena kapiert, wie sehr ihre Mutter unter dem treulosen und tyrannischen Vater gelitten haben musste. Seit vier Jahren war er tot, und Rhenas Mutter blühte auf.

Sie hielt bei McDonalds und holte Hamburger und Pommes für Markus. Damit setzte sie ihn in die Cafeteria des Städtischen und ging auf die HNO-Station. Sie erschrak, als sie im Krankenblatt las, wie jung die Frau war, mit der sie Sprachübungen machen sollte: Achtunddreißig! Ihr Hals war dick verbunden - Operation nach Kehlkopfkrebs.

Der Kleine mit der Hasenscharte fiel Rhena ein, während sie sich dem Bett der Frau näherte. Sie drückte ihr vorsichtig die Hand und betrachtete ihr eingefallenes, bekümmertes Gesicht. Sie dachte an ihren Jungen unten in der Cafeteria, und sie dachte an ihren gesunden Körper.

Du hattest doch nicht etwa irgendwelche Sorgen, Rhena?

5

Im Nachhinein erwies sich der Vormittag als einer der schlimmsten Frühdienste seit langem. Das lag weniger an den vielen Notfällen innerhalb kürzester Zeit - kaum waren sie im Bereitschaftszimmer oder in der Ambulanz, um ihre Patienten abzuliefern, da jagte sie die Rettungsleitstelle zum nächsten Notfall. Es lag vor allem an dem letzten Einsatz.

Sie wurden in den Stadtwald geschickt und dachten zunächst an einen Verkehrsunfall, weil die Polizei die Leitstelle verständigt hatte. Was sie dann im Stadtwald erwartete, jagte selbst dem abgebrühten Zühlke einen kalten Schauer über sein breites Kreuz.

"Da steht einer und winkt." Friederichs setzte den Blinker nach rechts. Der Mann am Straßenrand winkte sie in einen Waldweg. Alexandra schaltete das Martinshorn aus.

Nachdem sie etwa hundertfünfzig Meter weit in den Wald hineingefahren waren, sahen sie zwei Streifenwagen und drei zivile Fahrzeuge am Wegrand parken.

"Das ist doch die Kripo." Alexandra legte die Stirn in Falten. Ihr schwante nichts Gutes.

"Da hinten im Wald stehen sie." Zühlke deutete auf eine Gruppe von Männern, die etwa zweihundert Meter entfernt im Unterholz herumstapften. Er sprang aus dem Wagen, schnappte sich den Notfallkoffer und rannte los. Alexandra blieb ihm dicht auf den Fersen.

Sie waren noch keine fünfzig Schritte gelaufen, als sich ein Mann aus der Gruppe löste und auf sie zukam. Schon von weitem winkte er ab.

"Zu spät", rief er und reichte Alexandra die Hand. "Velten, ich glaub' wir kennen uns." Alexandra nickte. "Sie werden nur noch den Tod feststellen können, leider." Er drehte sich um und führte das Notarztteam zu einem Gebüsch. Eine Frauenleiche lag im Unterholz. Zühlke kniff Augen und Lippen zusammen, Friederichs wandte sich ab und Alexandra wurde blass.

"Um Gottes willen", flüsterte sie. Sie beugte sich zu dem leblosen Körper hinunter. Im Oberbauch entdeckte sie mehrere Einstiche. Alexandra tastete nach der Halsschlagader. Nichts. Auch die Pupillen reagierten nicht mehr. "Sie kann noch nicht lange tot sein", sagte sie, "keine Flecken, keine Ödeme, der Körperstamm fühlt sich sogar noch warm an."

"Die Pilzsammler, die sie fanden, berichteten, sie hätte noch oberflächlich geatmet. Das ist vierzig Minuten her", sagte Velten, "deswegen hat die Streife, die zuerst benachrichtigt wurde, Sie auch rufen lassen."

Mit weichen Knien ging die Notärztin ein wenig abseits. Der Kommissar folgte ihr.

"Höchstens dreißig Jahre alt, nicht wahr?", fragte Alexandra.

"Eher jünger", meinte Velten. Friederichs und Zühlke gesellten sich zu ihnen.

"Meinen Sie, das war ein ...", Friederichs unterbrach sich.

"Ein Sexualverbrechen, meinen Sie sicher", der kleine Kommissar nickte bedächtig und strich sich über sein schütteres angegrautes Haar, "sieht ganz danach aus. Wenn, dann wäre es das vierte in diesem Sommer. Vorgestern erst mitten in der Stadt. Die anderen Frauen sind aber mit dem Leben davongekommen."

Die Rückfahrt ins Marien-Krankenhaus verlief schweigend. Alexandra fühlte sich zerschlagen. "Mistkerl!", sagte Zühlke irgendwann.

"Verdammter Mistkerl!", antwortete Friederichs.

6

Der Verkehr war an diesem Dienstagvormittag lange nicht so dicht gewesen, wie Pit befürchtet hatte. In weniger als zwei Stunden hatte er die Geislinger Steige hinter sich gebracht und fuhr auf das Stuttgarter Dreieck zu. Dort ging dann nichts mehr. Der Verkehr staute sich auf einer Länge von fast zwanzig Kilometern. Selbst für einen Motorradfahrer gab es kein Vorwärtskommen. Nach zwei Stunden im Stau hatte Pit die Nase voll und bog in eine Raststätte ein. Er bestellte einen Snack und vertiefte sich in die Tageszeitung. Doch er konnte sich nicht recht konzentrieren. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu seinem ehemaligen Schulkameraden, den es von München nach Köln verschlagen hatte, wo er als Sozialarbeiter der Arbeiterwohlfahrt tätig war. Fred - so hieß der Mann - arbeitete mit Obdachlosen, und Pit hatte ihm schon vor vier oder fünf Jahren von seinem Vater erzählt. Damals - Pit war nach einem abgebrochenen Kunststudium ein paar Jahre in Europa herumzigeunert - hatte er angefangen, nach seinem Vater zu suchen. Von den Adoptiveltern, bei denen Pit aufgewachsen war, hatte er nie viel erfahren. Seine Mutter sei bei einem Autounfall gestorben, hatte die Pflegemutter mal erzählt. Zusammen mit Pits älterer Schwester - er konnte sich weder an die eine, noch an die andere erinnern. Sein Vater sei ,untergetaucht‘ - so hatten die Pflegeeltern das immer genannt und sich ansonsten in Schweigen gehüllt. Erst auf dem Sterbebett - der Pflegevater war längst tot - hatte ihm seine Pflegemutter verraten, dass Pits Vater als Landstreicher umherzog.

Das war kurz vor dem Studium an der Filmhochschule gewesen. Seitdem, seit vier Jahren, klapperte er die Großstädte ab, suchte die Berberszene auf und sprach mit den Vertretern der Sozialen Dienste, die sich um Obdachlose bemühten. Und nur endlich ein Fingerzeig! Wenn auch nur ein schwacher. Irgendein Penner hatte in irgendeiner norddeutschen Großstadt einen ,Randy‘ getroffen - und Pits Vater hieß Randolph Ehrenberg. Er selbst trug den Familiennamen seiner verstorbenen Adoptiveltern. Pit war entschlossen, diesen Stadtstreicher in Köln zu suchen und mit ihm zu sprechen.

Die wachsende Unruhe trieb ihn schließlich wieder auf die Autobahn hinaus. Der Stau hatte sich noch nicht vollständig aufgelöst, aber immerhin ging es wieder voran. Am frühen Nachmittag erreichte er das Karlsruher Dreieck. Kurz vor Heidelberg verließ er die A1 und fuhr in den kleinen Ort wenige Kilometer südlich von Heidelberg. Am Friedhof stellte er die Maschine ab.

Selbstverständlich hatte er damals, vor vier Jahren, das Jugendamt angeschrieben. Von den Angestellten hatte er erfahren, dass er seine ersten drei Lebensjahre in diesem Ort verbracht hatte. Und dass seine Mutter und seine Schwester hier begraben lagen. Und natürlich hatte er den Ort aufgesucht und bei den Bewohnern nach seiner Familie und vor allem nach seinem Vater gefragt. Die Leute hatten sich bedeckt gehalten. Viel mehr, als er schon wusste, konnte er nicht in Erfahrung bringen. Allerdings hatte er in der Dorfkneipe einen alten Mann getroffen, der mutig genug gewesen war, ihm zu verraten, warum sein Vater im Gefängnis gesessen hatte - wegen Mordes!

Die Gräber waren in einem gepflegten Zustand. Nachdem Pit etwa eine halbe Stunde vor ihnen verweilt hatte, suchte er die Friedhofsgärtnerei auf. Dort hatte er eine Dauergrabpflege in Auftrag gegeben. Er begrüßte den Gärtner, der ihn gleich wiedererkannte.

"Hat der Mann sich noch einmal gemeldet?" Der Gärtner schüttelte den Kopf. "Meine Adresse hat sich geändert", Pit schob ihm seine Visitenkarte über den Ladentisch. "Falls er sich meldet, geben Sie ihm die." Der Gärtner nickte.

Pit ging zu seinem Motorrad zurück. Kurz bevor er damals, vor vier Jahren, zum ersten Mal den Ort und die Gräber besucht hatte, war sein Vater hier gewesen. Der Gärtner hatte ihm davon erzählt.

Anderthalb Stunden später hatte er das Frankfurter Kreuz hinter sich. Am späten Nachmittag, irgendwo bei Limburg begann seine Yamaha zu stottern. Fluchend fuhr Pit an eine Tankstelle.

7

Nach einer halben Stunde schon war die Frau erschöpft.

"Das war für den Anfang genug." Rhena drückte ihr die Hand. "Sie dürfen sich nicht überanstrengen. Wir machen viele kleine Schritte, so kommen wir auch ans Ziel, okay?" Die Frau nickte ihr dankbar zu. "Ich komme übermorgen wieder, also am Donnerstag." Sie verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Unten, in der Cafeteria, saß Markus und machte Hausaufgaben. "Toll", lobte Rhena ihn. Sie hatte ihn gar nicht aufgefordert, in der Wartezeit für die Schule zu arbeiten.

"Jeder macht halt seine Arbeit", zuckte Markus mit den Schultern. Er tat manchmal ein bisschen neunmalklug.

"Weißt du was?", sagte Rhena und sah auf die Uhr: Es war kurz nach eins. "Ich habe keine Lust etwas zu kochen - wir gehen Pizza essen. Das haben wir uns verdient."

"Au ja!" Eine halbe Stunde später saßen Mutter und Sohn in einer kleinen Pizzeria in der Innenstadt. Markus rückte jetzt erst mit dem ersten Diktat seiner kurzen Schullaufbahn heraus, für das er eine Note bekommen hatte. Stolz präsentierte er das Heft seiner überraschten Mutter. "Eine Eins." Das wurde mit einem großen Eisbecher gefeiert. Später, als sie im Auto saßen, sagte Markus: "Papa hat doch erst um halb drei wieder Sprechstunde, nicht wahr?" Rhena nickte. "Dann möcht' ich gern' zu ihm und ihm meine Eins zeigen." Rhena war wenig begeistert von der Idee. Aber Markus konnte äußerst hartnäckig sein. Schließlich gab sie nach.

"Also gut", seufzte sie, "ich weiß aber nicht, ob er Zeit haben wird." Die Aussicht, Reinhard zu begegnen, verscheuchte die gute Stimmung der letzten Stunde gründlich.

Die Praxis war abgeschlossen. Rhena klingelte nicht. Sie wusste, dass die beiden Arzthelferinnen bis um halb drei Mittagspause hatten, und Reinhard eventuell noch mit seinem Gutachten beschäftigt war. Also zog sie den Schlüssel heraus und schloss auf. Markus folgte ihr.

In der Praxis war kein Mensch zu sehen.

"Ich lausch' mal an der Tür des Sprechzimmers, ob Papa einen Patienten bei sich hat." Rhena huschte an die Sprechzimmertür. Eigenartige Geräusche drangen nach draußen. Für einen Augenblick dachte Rhena, irgendjemand dort hinter der Tür in Reinhards Sprechzimmer würde vor Schmerzen schreien und stöhnen. Aber nur für einen Augenblick. Eiseskälte kroch aus ihrem Bauch über ihre Brust bis in ihren Kopf hinauf.

"Was ist, Mama?" Markus Stimme klang beunruhigt. Am Gesicht seiner Mutter las er ab, dass irgendetwas nicht stimmte. Rhena bedeutete ihm mit einem Handzeichen still zu sein und nicht näher zu kommen. Dann stieß sie die Tür auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde wurden Schreie und Stöhnen lauter, dann verstummten sie. Über den Boden des Sprechzimmers verstreut - Kleidungsstücke: Hemd, Bluse, BH, ein Slip. Im Behandlungssessel Reinhard mit Sabine Kern auf seinem Schoß. Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht, Reinhard fiel die Kinnlade herunter.

"Dein Sohn will dich sprechen." Rhena wunderte sich über die Ruhe, die sie plötzlich empfand. Eiskalt war sie. Sie schloss die Tür. "Dein Vater kommt gleich, Schatz - ich warte unten auf dich."

Später, als sie nach Hause fuhren, und Rhena immer wieder den fragenden Blick ihres Sohnes im Rückspiegel erhaschte, wusste sie mit noch nie empfundener Klarheit, was sie zu tun hatte.

8

Am Bahnhof hatte er seine Sachen in ein großes Schließfach gestopft. Viel hatte er ja nicht: einen Rucksack, zwei Taschen - eine große und eine kleine. Dann war er zu Aldi gegangen und hatte drei Stunden Einkaufswagen zusammengeschoben. Genauso lange wie er mit dem Filialleiter am Tag zuvor vereinbart hatte. Keine Minute länger.

Der Filialleiter zuckte nicht mal mit der Wimper, als Randy ihm sagte, dass er wahrscheinlich erst im Januar oder im Februar nächsten Jahres wiederkäme. Er holte eine Kasse heraus, legte Randy einen Quittungsblock zum Unterschreiben vor und zahlte ihn aus - einhundertfünfzig Mark.

Einen Augenblick stand Randy unschlüssig in der Bahnhofshalle und überlegte, ob er sich von dem Geld nicht eine Fahrkarte kaufen sollte. Wenigstens bis Hannover oder Bielefeld.

"Quatsch", scheuchte er die Versuchung fort und holte seinen Kram aus dem Schließfach. Eine Dreiviertelstunde später stand er an der Auffahrt zur A7 und hielt den Daumen heraus.

Randy hatte Glück. Der Fahrer eines kleinen Kühllasters nahm in mit. Transportierte Krabben und Hering nach Bielefeld. Der Mann war sehr gesprächig. Erzählte sein ganzes Leben. Randy merkte gar nicht, wie die zweihundertfünfzig Kilometer Autobahn vorbeirauschten. Der Mann war etwa zehn Jahre jünger als er selbst, also Anfang vierzig. Hatte auch seine Familie verloren, allerdings durch Scheidung. Im Gefängnis hatte er ebenfalls gesessen - weil er seine Alimente nicht gezahlt hatte.

Natürlich erzählte Randy auch von sich: von seinen Reisen hin und her durch die Republik, von seinen Freunden in den verschiedenen Großstädten, von seinen zahlreichen Jobs als Parkwächter, als Zeitungsausträger - "wenn man draußen schläft, ist man sowieso früh wach" - als Gabelstaplerfahrer, als Klempnergehilfe und unten, in Stuttgart, als Helfer in der Wilhelma. Vom Gefängnis erzählte er nichts. Und von seiner ehemaligen Familie schon gar nicht.

"Mensch, Kerl!", rief der LKW-Fahrer. "Ich glaub', ich mach' auch die Platte - dein Leben ist ja richtig spannend!" Randy schwieg. "Und im Winter, wo schläfste da?"

"Wenn's kalt wird, such' ich mir 'ne Pension", er grinste den Mann an, "oder 'ne Frau." Der Fahrer lachte schallend.

An der Ausfahrt in Bielefeld setzte er den Landstreicher ab.

"War Klasse dich kennenzulernen", strahlte der LKW-Fahrer. Randy ließ sich von ihm auf die Schulter klopfen. Sekundenspäter war er wieder allein.

Obwohl er fast zwei Stunden lang vergeblich den Daumen herausreckte, war er lange vor Sonnenuntergang in Dortmund. Der Wagen, der ihn schließlich mitnahm, raste streckenweise mit zweihundert Sachen die A2 herunter - ein Ferrari. Der Fahrer bemerkte Randys erstaunten Blick, als er ihm die Beifahrertür öffnete.

"Bin auch nur ein Mensch", bemerkte er trocken, "und habe klein angefangen, ganz klein." Und dann, während er virtuos mit Gaspedal, Schaltung und Lichthupe operierte, erzählte er seine Geschichte. Eine atemberaubende Geschichte - so atemberaubend, wie zahllose andere, die Randy in den letzten vierundzwanzig Jahren gehört hatte: im Gefängnis, unter Brücken, in Autos, in Obdachlosenheimen, in Kneipen oder sonst wo.

In Dortmund leistete er sich eine Fahrkarte, um mit der Stadtbahn bis zum Hauptfriedhof zu fahren - für ihn der schönste Platz in Dortmund. Er ging ganz um den Friedhof herum, was einer kleinen Wanderung gleichkam, denn der Dortmunder Hauptfriedhof ist der zweitgrößte Deutschlands. Vom Wald aus betrat er den dicht bewaldeten Park und suchte den Pavillon im Zentrum des Friedhofs. Es sah zwar nicht nach Regen aus, aber man konnte nie wissen.

Als die Sonne unterging, schlurften zwei Kollegen den mittleren Hauptweg herauf. Mike war dabei.

"He, Randy, altes Haus!", rief er von weitem. Sie hatten sich zuletzt vor drei Wochen in Hamburg gesehen. Schulterklopfend begrüßten sie sich. Mikes Kumpel - er hieß Richard, und Randy kannte ihn flüchtig - hatte ein paar Dosen Bier dabei und es wurde Wiedersehen gefeiert. Sie erzählten von den letzten Wochen, von ihren großen und kleinen Siegen und Niederlagen, von den gemeinsamen Bekannten aus der Berberszene.

"Bin gestern aus Köln gekommen", erzählte Mike, "ist nicht mehr das, was es mal war." Er winkte müde ab. "Vertreiben dich aus der Fußgängerzone, jagen dich vom Dom weg und wenn du in der Innenstadt bettelst, kann sein, das de die Bullen aufm Hals hast."

"Wolltest doch 'ne Therapie machen", erkundigte Randy sich. Mike führte seit Jahren einen aussichtslosen Kampf gegen den Alkohol. Obwohl er nicht mal Mitte dreißig war, sah er aus wie Anfang fünfzig.

"Der Sozialarbeiter in Köln sucht einen Platz für mich", erzählte er, "soll jede Woche anrufen." Er trank die Bierdose leer und beförderte sie mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb. "Wahrscheinlich so'n Trick, um zu testen, ob ich's ernst meine." Er stutzte. "Übrigens - der Fred, der scheint dich zu kennen."

"Was für'n Fred?"

"Na der Typ, der für uns Berber zuständig ist in Köln, der Sozialarbeiter. Er hat gesagt, ich soll's ihm stecken, wenn ich dich treffe. Hat 'ne Nachricht für dich oder sowas."

Randy winkte müde ab.

9

Paul Becker sah auf die Uhr: 21.20 Uhr. Acht Stunden war er jetzt schon unterwegs. Er hatte keine Lust, mit den Bullen Ärger wegen Überschreitung der vorgeschriebenen Fahrtzeit zu bekommen. So etwas könnte das ganze Geschäft verderben. Also steuerte er seinen Brummi bei der nächsten Raststelle auf die Abbiegespur. Er ging zunächst in den Waschraum. Seit Klagenfurt hatte er kein Wasser mehr auf der Haut gespürt. Er duschte ausgiebig und rasierte sich danach. Anschließend betrat er die Raststätte. Mit einem kurzen Blick über den weitläufigen Raum überzeugte sich Paul davon, dass er niemanden hier kannte. Wäre kein Unglück gewesen, aber bei so einer heißen Fahrt begegnete er ungern irgendwelchen Bekannten, die dumme Fragen stellten.

Er füllte sich ein Glas mit Cola und lud sich am Buffet den Teller voll mit Bratkartoffeln und Rührei mit Speck. Wie immer wählte er einen Platz in einer der beiden dem Ausgang schräg gegenübergelegenen Ecken. Paul fühlte sich besser, wenn er den Überblick hatte - und sicher sein konnte, dass niemand hinter ihm stand. Die Überlebensstrategien, die er im Knast gelernt hatte, waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Und die geschäftlichen Strategien ebenfalls. Die beiden Männer in Klagenfurt zum Beispiel hatte er nur durch die Windschutzscheibe ihres Wagens gesehen. Von seinem Auftraggeber - den er übrigens nur als Telefonstimme kannte - wusste er lediglich den Autotyp und das Erkennungszeichen: ein dunkelblauer Volvo, dreimal Aufblenden - zweimal kurz, einmal lang. Danach war Paul ausgestiegen und hatte sich in eine Kneipe gesetzt. Als er eine Stunde später zurückkam, war alles erledigt und der Volvo längst wieder nach Italien unterwegs. Und im LKW hinten, unter den Lederkollektionen aus Milano, verbargen sich dreihundert Kilo Haschisch aus Istanbul.

Gegen Morgen würde Paul die Ladung in Aachen abliefern. Und die zweite Hälfte seines Honorars kassieren - dreitausend Mark. Solche Fahrten waren nur eine von vielen Spezialitäten, mit denen Paul Becker seinen aufwendigen Lebensunterhalt finanzierte. Er hatte eine breitgefächerte und zwölf Jahre lange Ausbildung hinter sich: in der Bruchsaler Justizvollzugsanstalt.

Paul schob den leeren Teller beiseite und steckte sich eine Zigarette an. Auf dem Nachbartisch lag eine vergessene Tageszeitung. Er stand auf und holte sie sich - der ,Mannheimer Morgen‘. Den politischen Teil überflog er, den Wirtschaftsteil überblätterte er, in ,Vermischtes‘ und vor allem in den Sportteil vertiefte er sich hingebungsvoll. Nach einer halben Stunde und zwei weiteren Zigaretten faltete er die Zeitung zusammen und wollte sie weglegen. Sein Blick fiel auf die Kontaktanzeigen der letzten Seite. Darunter eine umfangreiche Anzeige mit dem Titel ,Erbe gesucht‘. Paul grinste und überflog die Anzeige. ,Am 23.12.1996 verstarb in Mannheim Lina Ehrenberg, zuletzt wohnhaft ...‘ Paul stutzte und sah genauer hin. ,… als einziger Erbe kommt ihr Großneffe Randolph Ehrenberg, geboren am 23.1.1944, in Betracht ...‘