[identität] - Christian Lorenz - E-Book

[identität] E-Book

Christian Lorenz

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Beschreibung

Der Euro wurde abgeschafft, und es gab Hintermänner, die von der Einführung der [identität]-Mark profitiert haben. Weiß Thomas Bartmann etwas darüber? Anfänglich weiß er nicht einmal, wie er in dieses abgelegene mecklenburgische Dorf gekommen ist. Die Netz-Piratin Minke nimmt ihn auf, und je mehr sie über ihren Gast herausfindet, desto mehr seltsame Besucher tauchen auf. Wonach suchen diese Männer? Inmitten unberührter Natur beginnt ein Versteckspiel mit tödlichem Ausgang.

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Der AutorChristian Lorenz, geboren 1968 in Schwerin, hat Politikwissenschaft und Journalistik studiert. Schon mit 21 Jahren wurde er Nachrichtenredakteur und schrieb später für verschiedene große Zeitungen. Einige Jahre lang war er Pressesprecher im Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern und arbeitet jetzt als Marketingleiter in Hamburg. Dort lebt er mit seiner Frau, pflegt aber auch ein altes Bauernhaus in der Sternberger Seenlandschaft, wo er am liebsten mit seinem Sohn angeln geht. Sein Roman »[identität]« spielt zum größten Teil in diesem idyllischen Teil Deutschlands.

Das BuchThomas weiß nicht, wie er in diesem abgelegenen Dorf gelandet ist. Er wollte seine Erinnerungen endgültig löschen, doch sie verfolgen ihn. Zu seinem Glück kümmern sich Minke, eine Netz-Piratin mit ausgeprägter Moral, und Förster Herzel um den orientierungslosen Mann. Als sie die Identität von Thomas aufdecken, kommen eine Entführung und illegale Medikamententests ans Licht. Doch die wichtigsten Erinnerungen bleiben verborgen, und es tauchen immer mehr gefährliche Gegner auf, die danach suchen. Im Naturparadies beginnt eine tödliche Treibjagd.

Christian Lorenz

[identität]

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juli 2014 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic®

ISBN 978-3-95819-001-6

Alle Rechte vorbehalten.

Kapitel 1

Voll von Gedanken an Dinge, die am vielleicht letzten sonnigen Herbsttag im Garten erledigt werden mussten, ging Minke Böckenhauer hinüber zum Geräteschuppen. Sie holte sich den Laubbläser, und nach einer Stunde war jedes einzelne Kastanienblatt in einem blauen Abfallsack verschwunden.

Es blieb noch immer viel zu tun auf ihrem Hof, den sie gestern im Stillen verflucht hatte. Gestern hatte auch Nebel den ganzen Tag lang ihr Grundstück belagert, ohne sich zu heben oder wenigstens einen Blick auf ihre Lieblingsbäume, die Kastanien, zu erlauben.

Heute sah alles anders aus. Das letzte Laub strahlte in braun gesprenkeltem Gold, und Minke entschuldigte sich mit einem Blick zum saphirblauen Himmel für ihre Flüche vom Vortag. Sie glaubte nicht an einen Gott, aber ihre Mutter hatte es getan.

Die abgefallenen kranken Blätter, die mit ihren braunen Rändern schon im Sommer wie Herbstlaub gewirkt hatten, mussten jetzt verbrannt werden. Die ebenfalls eingesammelten Kastanien füllten eine Schubkarre. Minke ließ ihre Hände darin versinken und schloss die Augen. Die braunen Handschmeichler erinnerten sie an gemeinsame Basteleien mit ihrer Mutter, an eine sorglose Kindheit, ausgefüllt von Waldspaziergängen mit ihrem Onkel, dem Jäger und Pilzkenner, von archäologischen Expeditionen mit ihrem großen Bruder, der eine unentdeckte Slawenburg zu finden hoffte, von Familienurlauben auf der Insel im See.

Die spielerische Grenzenlosigkeit, die sie als Kind draußen gefunden hatte, war dahin. Alles diente jetzt einem Zweck. Sammelte sie Kastanien, dann für die Hausschweine ihrer Nachbarn, in der Hoffnung auf ein schmackhaftes Paket nach der Schlachtung. Ging sie in den Wald, suchte sie Pfifferlinge oder sammelte Bruchholz für ihren Kamin. Ruderte sie auf den See, dann meist in der Dämmerung, um heimlich die im Schilf versteckten Reusen zu kontrollieren.

Trotzdem hat sich in meinem Heimatdorf erstaunlich wenig verändert, dachte Minke, ganz anders als außerhalb von Suckow. Der Rest der Welt schien rasch wie im Zeitraffer auf den Abgrund zuzurasen, war nur noch wenige Meter vom Sturz entfernt. Oder sollten die beinahe täglichen Katastrophenmeldungen von all den Jahrhundertfluten und Monsterorkanen, Hungersnöten, Brandkatastrophen und vorrückenden Wüsten eventuell nur ein Verkaufstrick sein, um der Welt einen unvermeidlichen Wandel als Horrorstory anzudrehen?

Minke schenkte den großen Medien aus Prinzip keinen Glauben, und warum sollten sie gerade in dieser Sache ehrlich berichten? Die vielen deprimierenden Meldungen mochten zwar stimmen, doch wenn etwas eine Katastrophe war, dann die wirtschaftliche Lage in Deutschland. Ergab sich daraus folgerichtig die Schlussfolgerung, dass die Menschheit zum Untergang verdammt war?

In der mecklenburgischen Provinz würde die Welt hundert Jahre später untergehen, hatte schon der deutsche Reichsgründer Bismarck prophezeit. Zum Glück schien er Recht zu behalten, denn abgesehen von der beinahe traditionellen Armut und Entvölkerung konnte man es in diesem Landstrich gut aushalten.

Der herbstliche Glanz des Tages hatte Minke vergessen lassen, wie fies der Ostwind über die Schafweide fegte. Jetzt fröstelte sie leicht, setzte sich ihre gelbe Lieblingsmütze auf und schlenderte zu der Holzbank mit dem wunderbaren Fernblick, die Herzel aus rötlicher Lärche gezimmert hatte. Von dort konnte man über den ganzen See schauen.

Auf Minkes Lieblingsplatz saß bereits ein stämmiger Mann in blaugrüner Arbeitskleidung. Da es nicht viele Möglichkeiten zum Klönschnack in ihrem sehr kleinen Ort gab, stiefelte Minke neugierig über die Wiese auf den unbekannten Mann zu. Ihre Schafe blökten jämmerlich und ein Bock stupste sie, um der lauten allgemeinen Forderung nach Leckerbissen Nachdruck zu verleihen. Der Mann auf der Bank drehte sich trotz der lärmenden Tiere nicht um, nicht einmal, als Minke direkt hinter ihm das knarrende Gatter öffnete. Laut schimpfte sie mit ihrem aufdringlichen Bock – keine Reaktion beim Besucher.

Das wird wohl nichts mit dem Tratsch am Zaun, dachte sie, ging aber dennoch zur Bank und setzte sich mit einem »’n Abend«.

Die Reaktion dauerte etwas, war aber freundlich. »Guten Tach«, wünschte der Arbeiter mit breitem Mecklenburger Akzent.

»Wird wohl einer der letzten guten Tage in diesem Jahr sein«, erwiderte Minke. »Das Laub ist schon fast runter.«

»Das Laub?«, fragte der Mann. »Soll ich beim Laubharken helfen?«

Erstaunt über das Angebot ärgerte Minke sich kurz, die Blätter bereits aufgenommen zu haben, freute sich aber über die Hilfsbereitschaft. »Vielen Dank, das habe ich gerade erledigt.«

»Was gibt es denn sonst noch zu tun?« Die Selbstverständlichkeit der Frage verblüffte Minke. Er schien es für seine Pflicht zu halten, gerade ihr und gerade jetzt zu helfen. »Wollen Sie unbedingt mit anpacken? Haben Sie denn nichts Besseres zu tun?«

»Nichts Besseres?«, echote der Mann verständnislos. »Was soll ich denn vorhaben? Das ist doch meine Arbeit!«

»Ihre Arbeit?« Jetzt wiederholte Minke die letzten Worte, als sei die stupide Art der Konversation ansteckend.

»Ja, meine Arbeit. Gartenarbeit. Hecken stutzen, an Wegrändern sensen, Rasen mähen, Bäume beschneiden. Solche Dinge.«

»Das mit den Bäumen könnte für mich interessant sein«, überlegte Minke laut. »Was nehmen Sie für die Stunde?«

»Nehmen? Was sollte ich denn nehmen?«

»Na, Geld. Was denn sonst?«

»Nix. Ich werde für solche Arbeiten eingesetzt. Ich bekomme kein Geld.«

»Und wer setzt Sie ein?«

»Das weiß ich nicht.«

Die Antworten machten Minke ratlos. Gehörte der Arbeiter zu den geistig behinderten Schützlingen des Diakonie-Wohnheims in der Kreisstadt? Vor einigen Jahren hatte sich einer ins Dorf verirrt und war im Rinderstall gefunden worden. Nach den Erzählungen von Frau Dücker hatte er sich kaum vom Anblick der Kühe losreißen und keine vernünftigen Antworten geben können.

»Bist du aus Parchim?«, erkundigte sich Minke. »Wohnst du dort in einem Heim?«

»Nein. Ich komme nicht aus Parchim«, lautete die knappe Antwort, »und ich habe auch kein Heim.«

»Du bist obdachlos?«

»Nein, ich glaube nicht. Wenn meine Arbeit beendet ist, werde ich immer abgeholt.«

»Und von wem?« Der Mann antwortete nicht, aber er wirkte völlig harmlos, und Minke beschloss, sein Hilfsangebot einfach anzunehmen. »Gut!«, sagte sie knapp, woraufhin sich der Arbeiter sofort erhob. »Ich zeige Ihnen, wie Sie mir freundlicherweise helfen könnten. Wie ist Ihr Name?«

Minke war unwillkürlich vom Du wieder ins Sie gewechselt, doch der Mann ignorierte das. »Ich heiße Thomas.«

Auch Minke kehrte wieder zum dörflich-vertrauten Du zurück. »Ich bin Minke, und das dort auf dem Eichbarg ist mein Erbhof«, lächelte sie. Mit einer Armbewegung deutete sie über die Schafwiese auf ein klassisches, mit Lehm verputztes und reetgedecktes Hallenhaus.

Die Eichen, die der Anhöhe einst ihren Namen gegeben hatten, waren längst gefällt und vor mehr als hundert Jahren durch Kastanien ersetzt worden. Ihre wolkigen Baumkronen bildeten ein Spalier vom Haus bis hinunter zur Weide. Hinter dem Hof fiel das Gelände ab und öffnete den Blick auf eine scheinbar endlos weite Hügellandschaft mit Weidengestrüpp. Das feuchte Gelände, das Minkes Familie früher nur als Koppel für GallowayRinder nutzen konnte, eignete sich bestens zum Anbau von Weiden, und Biomasse war ein einträglicheres Geschäft als Tierzucht, wie Minkes Vater früh erkannt hatte. Nach seinem Tod konnte sie die Pflanzungen teuer an einen Großstädter verkaufen, der unbedingt in reale Werte investieren wollte. Sie hatte von dem Geld zwei Ferienwohnungen und ein winziges Blockkraftwerk in das überdimensionierte Wohnhaus einbauen lassen. Zwei Windräder und die Sonnenwärme-Umwandler machten sie unabhängig von den verrückten Energiepreisen.

»Die Apfelbäume bräuchten dringend mal ’nen Schnitt«, wies Minke auf die Streuobstwiese hinter dem Haus. »Ich hol gleich eine Leiter und die Baumschere.« Thomas wartete nicht ab, sondern folgte ihr in einem viel zu geringen Abstand. Wie eine streunende Katze, die nach einem Schälchen Milch auf noch mehr Leckerbissen hofft, dachte Minke. Sie reichte ihm eine Aluminiumleiter, nahm selbst die große Schere sowie eine Astsäge und signalisierte mit einem Kopfnicken, dass es mit der Arbeit losgehen könne. Ihr Helfer zeigte keine Reaktion. Erst als sie voranging, folgte er im gleichen unangenehmen Abstand wie zuvor.

»Kennst du dich damit aus?«, erkundigte sich Minke skeptisch. »Alles rausschneiden, was nach innen wächst. Und die hochgeschossenen Wassergerten müssen auch weg!«

»Ich kenne mich damit aus«, bejahte ihr wortkarger Helfer.

»Na gut, dann mach ich uns mal ’ne Kanne Tee. Komme gleich wieder!« Der Mann hatte schon die Leiter aufgestellt. »Sehr schöne alte Bäume«, meinte er. »Die brauchen wirklich einen Schnitt. Hier, die ollen Zweige mit den Flechten, die müssen auch raus.« Es waren die ersten Worte, die der Mann ohne vorangegangene Frage geäußert hatte. Er musste beim Schneiden wohl nicht beaufsichtigt werden.

Die Hausherrin hätte trotzdem gern einen Blick auf ihren Helfer geworfen, doch die Küche besaß kein Fenster zum hinteren Teil des Gartens. Sie lag im linken Teil des Anwesens, wie auch die anderen Zimmer, die Minke nutzte. Jeder, der sich auskannte, kam durch die Küchentür ins Haus.

Hinter dem teilweise verglasten, kaum noch benutzten Scheunentor öffnete sich die Diele mit den Ausmaßen einer Kapelle. »Danz up de Deel, danz up de Deel«, hatte Minkes Vater hier immer beim Reparieren und Herumpusseln gesungen. Sie wurde teilweise als Abstellraum und Werkstatt genutzt. Darüber erstreckte sich ein riesiger Heuboden, überwölbt von einem mit Schilfbündeln gedeckten, ansonsten aber ungedämmten Sparrendach. Minke war seit Ewigkeiten nicht mehr dort oben gewesen. Sie fürchtete sich vor der dunklen Höhle, in der nachts Mäuse um ihr Leben liefen, gejagt von Wieseln, Mardern und Eulen.

In der rechten Hausseite, früher dem Vieh und dem Gesinde vorbehalten, lagen zwei Ferienwohnungen mit jeweils separaten Ausgängen. Im Sommer waren sie gut belegt. Bis vor wenigen Jahren hätte kein Mensch auf Wochenendtouristen in dieser abgelegenen Einöde gesetzt, weil Treibstoff für die kleinen Fluchten aus der Stadt viel zu teuer geworden war. Unverhofft hatte sich dann die Idee mit den Genossenschaften durchgesetzt, die elektrische Minibusse betrieben. Ihre Streckennetze waren mittlerweile gut verbunden, gefördert durch Zuschüsse von den Kommunen, sodass man auch im gottverlassenen Mecklenburg die meisten Orte erreichen konnte.

Das Wasser im Kocher sprudelte. Minke goss es über die letzten Blätter des arg gerupften Pfefferminzstrauchs und betrachtete das Ballett der schwebenden Blätter in der gläsernen Kanne. Sie wartete darauf, den Tee in die Thermoskanne umfüllen zu können, und überdachte, was sie von ihrem Helfer halten sollte. Unruhig lief sie zur Gartenpforte. Suchte vielleicht jemand nach Thomas, wollte ihn abholen? Doch nur »de olle Fru Köpp«, wie schon Minkes Vater sie genannt hatte, mühte sich mit Hilfe eines abgegriffenen Buchenstocks über die Straße. Sie musste über neunzig sein, konnte aber ohne Brille noch erstaunlich gut sehen.

»Guten Tag, Frau Köpp!«, rief Minke und erfreute so die alte Frau mit einer Gelegenheit zum Schwätzchen.

»Tach ok, min Deern! Hefft ji Besuch kregen?« Sie deutete in den Garten, wo Thomas die abgeschnittenen Äste zu einem Haufen aufschichtete.

»Ja, genau«, stimmte Minke ihr spontan zu. »Das ist ein Bekannter, der sich nützlich machen möchte. Arbeitslos, wissen Sie ...«

»Dat is böös, dat mit de Arbeitslosigkeit. As gifft dat nix tau doon in de Welt!« Kopfschüttelnd hielt sich die zwergenwinzige Frau am Zaun fest und schaute interessiert in den Garten. Nebenbei tüderte sie an den Bändern ihrer geblümten Kittelschürze, die lose herabhingen. Ihre weißen Haare waren sorgfältig, aber extrem unmodern mit einer Brennschere onduliert.

Warum muss die so gute Augen haben, grummelte Minke innerlich. Die Geschichte vom arbeitslosen Bekannten würde sich bis übermorgen im ganzen Dorf verbreitet haben. »Ich muss in die Küche, mein Teewasser kocht bestimmt schon«, schummelte sich Minke schnell aus dem Gespräch, bevor sie noch weiteren Unsinn erzählen konnte.

Einige Minuten gab sie der alten Wegelagerin Zeit, davonzuhumpeln. Dann huschte sie mit der Thermoskanne und zwei Bechern in den Garten. Der Haufen mit den entfernten Ästen hatte eine beachtliche Größe angenommen, der Baumschnitt wirkte professionell. Zufrieden setzte sich Minke auf eine Gartenbank, goss sich Tee ein und wärmte ihre Hände am Becher. »Du auch?«, fragte sie, als Thomas zu ihr hinübersah. Wortlos setzte er sich zu Minke und nahm den gefüllten Becher ebenso zwischen die Hände wie sie.

»Du bist aber schweigsam«, sagte sie und bekam als Antwort nur ein Kopfnicken.

»Wo wohnst du? Kennen wir uns vielleicht aus der Gegend hier?« Diesmal gab es ein Kopfschütteln.

»Was soll das heißen? Weißt du nicht, wo du wohnst?« Wieder Kopfschütteln.

»Das gibt es doch gar nicht! Soll ich irgendwen anrufen?«

Jetzt flackerte erstmals ein Gefühl in den Gesichtszügen des rätselhaften Mannes auf. Der Gedanke schien ihn zu verängstigen. Seine Finger krampften sich um den Becher, den er hastig zum Mund führte. Der Tee war noch zu heiß, er hustete und spuckte ihn aus. »Entschuldigung«, sagte er nach einer Weile. »Heute lieber nicht abholen.«

»Was soll denn mit dir geschehen? Willst du hier bleiben?« Er könnte sich um die Herbstbestellung des Gartens und vielleicht auch um das Feuerholz kümmern. Sie würde in Ruhe recherchieren, ob der Mann vermisst wurde oder weggelaufen war. Im allwissenden Datennetz recherchieren konnte sie hervorragend. Damit verdiente sie ihr Geld.

Als keine Antwort kam, machte Minke einen Vorschlag: »Ich mach dir eine meiner Ferienwohnungen fertig. Du musst nichts bezahlen. Kannst dafür im Garten arbeiten.«

»Arbeiten ist gut«, gab Thomas seine Zustimmung.

Der letzte Sturm hatte fast alle Bäume im Ort entlaubt. Nur an den drei uralten Eichen in der Dorfmitte hingen noch verschrumpelte braune Blätter, verhüllten aber kaum mehr das Geäst, das der Regen der letzten Tage nassschwarz gefärbt hatte. Die verkrüppelten Formen der Baumgruppe, die Minke als Kind sehr unheimlich vorgekommen waren, würden für die langen Wintermonate das Panorama vor dem Fenster beherrschen. Auf fünfhundert bis sechshundert Jahre hatte Förster Herzel das Alter der Bäume geschätzt. Was die alles erlebt haben mochten, fragte Minke sich. Vielleicht waren sie schon vor dem Dreißigjährigen Krieg gepflanzt worden; dann hatten sie Wallensteins Söldner gesehen, leibeigene Bauern, Pestkranke und später Junker, russische Panzer, die ersten Mähmaschinen ...

Fast jeden Morgen trat Minke vor die Küchentür. Ihr Blick wanderte über das Dorf und die hügelige Landschaft, die perfekt zueinander passten. Ihre Gedanken schweiften mit, melancholisch zwar, aber zufrieden mit dem romantischen Arrangement. Nur widerstrebend wendete sie sich jetzt von den Eichen ab in dem Gefühl, dringend nach Thomas schauen zu müssen, der sich wie eine Maschine durch den Garten wühlte.

Nachdem die letzten Reihen Mohrrüben und Pastinaken aus dem Boden gezogen waren und gemeinsam mit der Roten Bete in einer Sandmiete lagen, nachdem alles umgegraben und jeder Busch beschnitten worden war, hatte er die verwilderten Felder, auf denen früher Futterrüben für das Pferd wuchsen, wieder urbar gemacht. Für die hellgrünen Haufen von Unkraut mussten neue Komposthaufen angelegt werden. Die alten siebte er gerade und verteilte den feinen Humus auf den Beeten im Garten.

Ganz an dessen Rand waren von Thomas bereits Winterendivien gepflanzt worden, die Frau Dücker vorbeigebracht hatte, auch wenn Minke bezweifelte, dass die Pflanzen noch anwachsen würden. Sie bekam jetzt häufiger Besuch von den Nachbarinnen, getarnt durch kleinere Schenkungen. Die Dücker hatte zwar aufdringlich Ausschau gehalten, sich aber ihre Frage verkniffen, wohingegen Frau Köpps Enkeltochter nicht nur ein paar Quitten gebracht, sondern sich auch ungeniert erkundigt hatte, wie sich denn der arbeitswillige Bekannte so mache – es gäbe auch bei ihnen das eine oder andere zu tun, weil doch ihr Mann auf Montage sei.

Minke hatte bislang noch nichts über ihren seltsamen Gast herausgefunden, weder im jedermann offenstehenden Internet noch in den mehr oder weniger geschützten Bereichen. Nicht einmal in den Datenbanken, zu denen sie durch weitestgehend legale Tricks Zugang hatte. Er wurde nicht von besorgten Angehörigen vermisst, von keiner Behörde gesucht, war aus keinem Heim ausgerissen, und selbst der Bildabgleich – das überraschte Minke am meisten – hatte keinen verwertbaren Treffer gebracht. Sie hatte Thomas unauffällig mit ihrem Komkom fotografiert, während sie in seiner Nähe telefonierte. Von praktisch jedem Menschen standen biometrisch auswertbare Fotografien irgendwo im Netz, wo man sie mit speziellen Tools auch finden konnte. Nur bei Datenschutzparanoikern, Hackern, Geheimdienstlern, Gangstern oder totalen Exoten bekam sie einen solchen »Mismatch« wie bei Thomas ausgeworfen. Er musste strikt darauf geachtet haben, von niemandem fotografiert und von keiner der unzähligen Überwachungskameras erfasst zu werden. Oder in einer abgelegenen Region geboren worden sein, um anschließend ein einsames Leben zu führen.

Als letzte Möglichkeit blieb Minke, die Server der Meldebehörden zu durchsuchen. Morgen würde sie nach Berlin fahren. Von dort aus könnte sie Bots auf die Reise schicken, doch die Ergebnisse würden auf sich warten lassen. Die deutschen Behörden waren dezentral aufgebaut und beschäftigten ernstzunehmende Spezialisten für das Thema Datenschutz. Unterschiedliche, überdies ständig wechselnde Sicherheitsschranken mussten überwunden werden. So eine Aufgabe zu lösen kostete sehr viel Mühe – und normalerweise auch einen Batzen Geld, wie Minke wusste, die häufig dafür bezahlt worden war. Nur wenn bei ihr das Geld wirklich knapp wurde, übernahm sie noch solch anrüchige Aufträge. Damit subventionierte sie ihre Arbeit als Info-Brokerin für Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Medien, die selten oder schlecht bezahlten.

Von der Straße her hörte Minke einen uralten Trecker die Anhöhe zum Eichbarg hinauftuckern. Das musste Herzel sein. Der Förster hatte versprochen, beim nächsten Einschlag günstiges Kaminholz »abzuzweigen«. Über die Herkunft dieser Redensart hatte Minke sich als Gegenleistung schlau machen wollen, es aber vergessen. Doch nicht deshalb war Minke unwohl dabei, dass Herzel gerade jetzt auftauchte. Er war ein naturverbundener Hüter des Waldes, der eloquente Chef des nahe gelegenen Naturparkzentrums und ein echter Freund. Gerade deswegen wollte sie nicht, dass er Thomas sah. Sie konnte ihn nicht anlügen, aber musste sie ihm die Wahrheit erzählen?

Sein vergebliches Klingeln führte Herzel, der sich auf Minkes Grundstück gut auskannte, in den Garten. Nun konnte Thomas nicht mehr in den abgelegenen hinteren Teil des Gartens oder zum Köppschen Nachbargrundstück geschickt werden. Minke umarmte ihren Freund und zog ihn zurück zum Gartentor. »Hast du mir schöne Birke mitgebracht?«, wollte sie wissen. »Die sieht so toll aus, wenn ich sie vor dem Kamin staple!«

»Sorry, sie ist ganz frisch! Du musst die erst mal bei dir im Hof trocknen. Am besten zwei Jahre liegen lassen. Machst du mir bitte das Tor auf?«

Herzel schwang sich auf seinen Oldtimer-Trecker, der im Leerlauf die Luft vor dem Haus verpestete, beschrieb einen großen Bogen und streifte bei der Einfahrt leicht einen Torflügel. Das Rangieren mit Anhänger hatte er erst vor kurzem gelernt, und auch die bockige Schaltung widersetzte sich gerne. Der Traktor machte einen regelrechten Sprung, als Herzel auf dem Böckenhauerschen Hof wenden wollte. »Bleiben Sie lieber weg von diesem Monster!«, rief er Thomas zu, der ihn aber bei dem Getöse nicht verstand und deshalb dichter herankam.

Sicherheitshalber schaltete Herzel den Motor ab und kletterte vom Bock. »Packen Sie mit an?«, fragte er. »Bei diesem Museumsstück kann man die Ladefläche nicht ankippen – klettern Sie hoch? Ich bin übrigens Frank Herzel, Tach’chen«, fügte er hinzu, als Thomas wortlos den Hänger erklomm.

Die kleine Fuhre war schnell entladen, und der Helfer verschwand stumm in Richtung Komposthaufen. »Was ist denn das für einer?«, schaute Herzel ihm entgeistert hinterher. »Hab ich dem was getan?«

»Das ist eine komische ... Geschichte!«, begann Minke ihre knappe Erzählung. Herzel lauschte, nickte und starrte anschließend gedankenverloren auf den Arbeiter in seiner blaugrünen Montur. »Diese Klamotten hab ich schon mal gesehen, und zwar gleich in Massen, diesen Sommer bei unserem Aufforstungsprojekt im Krenzer Wald. Kannst du dich erinnern? Eigentlich wollten wir ein Naturschutzprojekt für junge Leute draus machen, weil der Landkreis mal wieder keine Mittel dafür eingestellt hatte. Dann habe ich aber doch noch Arbeitskräfte zugeteilt bekommen, nämlich so einen Trupp Roboter, alle ungefähr so gesprächig wie dein Freund dort. Ziemlich seltsam kamen die mir vor, wie auf Drogen, aber dafür waren sie zu tüchtig und diszipliniert.«

Herzel strich sich übers Kinn, und Minke massierte ihr linkes Ohr. »Ich werde morgen in Berlin mal schauen, was ich rausbekomme«, sagte Minke nach einer Grübelpause. »Wohl ist mir allerdings nicht bei dem Gedanken, ihn hier allein rumpusseln zu lassen.«

»Ich könnte ihn übernehmen«, schlug Herzel vor. »Im Forst gibt es immer was zu tun. Vielleicht sind seine Kollegen ja gerade irgendwo im Einsatz, ich frage mal beim Landkreis nach.«

»Super Idee!«, bedankte sich Minke erleichtert. »Holst du ihn morgen früh hier ab? Aber tu mir bitte einen Gefallen: Fahrt nicht an der Mautstelle Dalberger Brücke vorbei!«

»Du bist ganz schön paranoid«, lachte der Förster. »Glaubst du wirklich, die würden dort jeden Autofahrer checken?« »Das glaube ich nicht, das weiß ich! Hast du von Meyer gehört, der seiner Frau keine Alimente zahlen wollte?«

»Den haben sie hochgenommen, als er bei seiner Mutter in der Waldmühle zu Besuch war.«

»Genau«, bestätigte Minke. »Und jetzt rate mal, wie sie das rausgekriegt haben ... Seine alte Mutter dürfte ihn wohl kaum verpfiffen haben!«

»Ansonsten wohnt doch nur sein Onkel in der Mühle«, überlegte Herzel, »und der Weg dorthin führt tatsächlich an der Mautstelle vorbei ...«

»Na, macht es klick? Per Kamera mit Kom-Anschluss kann jeder Staatsanwalt oder begabte Hacker dich ausfindig machen!«

»Schon gut, ich fahre eh lieber durch den Wald. Seit ich die Schranken mit dem Komkom bedienen kann, bin ich so schneller als auf der Straße.«

»Du hast bestimmt kein Krypto-Komkom, oder?«, fragte Minke arglos, doch damit brachte sie Herzels hysterische Ader zum Schwellen. »Wird auch schon jedes Handy überwacht? Wer sollte denn solch einen Aufwand betreiben? Das schaffen nicht mal die Amerikaner.«

»Leider hast du wenig Ahnung davon, was die Amerikaner so treiben. Und die Chinesen sind noch viel schlimmer!« Minke sprach ebenso bestimmt wie beruhigend, während sie mit einer Handbewegung Herzels neuerlichen Kommentarversuch abwürgte. »Ich weiß übrigens auch nicht alles, habe mir nur einen rudimentären Überblick verschafft. Kann ich dir gerne mal erläutern, da fällst du vom Glauben ab! Und das Einfallstor in unsere Privatsphäre ist ein ungesichertes Komkom. Nicht nur für die Geheimdienste, die Jungs interessieren sich wenig für uns, sondern auch für jeden Cracker, der dich aus irgendeinem Grund ausspionieren will, für jeden Freak und Perversen! Lass dein Komkom lieber schön in der Hülle, fotografier damit nicht und führ keine Gespräche, die geheim bleiben sollten. Und wenn du es mal nicht brauchst: Akku rausnehmen! Oder besorg dir so ein Ding ...« Minke hielt ihr gesichertes Krypto-Gerät in die Luft und wackelte damit. »Sicher ist sicher!«

»Manchmal glaube ich, du solltest nicht so viel Zeit im Netz verbringen«, grummelte Herzel. »Unter den ganzen Verschwörungstheoretikern und Endzeitaposteln wirst du womöglich noch plemplem.«

Jedes Mal, wenn Minke nach Berlin fahren musste, war sie auf das Schlimmste gefasst. Schon im Minibus, der sie mit leise surrendem Elektromotor in eine schläfrige Stimmung versetzte, lauschte sie in apokalyptischer Erwartung auf die Gespräche der hinter ihr sitzenden Mitfahrer. Stammten die nicht aus der Hauptstadt, konnte man darauf wetten, dass sie sich gegenseitig mit haarsträubenden Gerüchten oder angeblich selbst erlebten Geschichten ängstigten.

Dauerthemen waren die krass steigende Anzahl der Überfälle auf offener Straße, ja sogar schon in den überwachten Shoppingcentern, und die wuchernde Bürokratie, die absurde Bescheinigungen und Gebühren für einfachste Dienstleistungen verlangte. Gerade erörterten zwei Schweriner die Katastrophe, die in der letzten Woche Hohenschönhausen heimgesucht hatte. Ein ganzer Wohnblock war einfach auseinandergebrochen. Erst hatten sich die Fassadenplatten verabschiedet und einen kurzen Blick auf entsetzte, ihrer Außenwände beraubte Mieter erlaubt. Dann war ein tragender Teil des Gebäudes zusammengefallen, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mehr als ein Dutzend Tote mussten aus dem Trümmerhaufen geborgen werden. Seine Tante habe das von ihrem Balkon beobachtet, versicherte der eine Schweriner, und ihn sofort gewarnt. Er wohne nämlich in der gleichen »Schweriner Platte«, die damals Bauarbeiter aus dem Norden auch in Berlin hochgezogen hatten. Sein Block sei zum Glück grundsaniert worden, wofür man in Berlin, das ja bekanntlich durch den Bund zwangsverwaltet werde, wohl kein Geld habe. Jetzt müsse er seiner Tante beim Umzug helfen. Kein Deutscher wolle dort mehr wohnen.

Die ersten dieser unseligen DDR-Bauten grüßten Minke bereits aus der Ferne und höhnten: »Da sind wir aber immer noch!« Sie erinnerte den neben ihr sitzenden Fahrer mit einem Zeichen daran, dass sie in Pankow aussteigen wolle.

An der Peripherie hatte sich das Erscheinungsbild der Stadt in den letzten Jahren kaum verändert. Nur an einer Stelle schlugen funktionale Reihenhausneubauten Schneisen in die überall wuchernden Schreber- und Nachbarschaftsgärten. Gleich daneben verfielen Bürohochhäuser, die nicht über das Stadium des Rohbaus hinausgekommen waren, in maroder Eintracht mit Industriehallen, die in der kurzen Boomphase nach der ersten Währungskrise errichtet worden waren.

Auf wundersame, unverstehbare Weise funktionierte Berlin noch immer ganz leidlich. Die Stadt trotzte dem Finanzkollaps und sogar dem zeitweiligen Zusammenbruch des Autoverkehrs wegen Benzinmangels, arrangierte sich damit, dass manche Stadtteile verelendeten, während andere, reichere Viertel sich abschotteten, und absorbierte immer neue Wellen von Auswanderern aus Staaten, die auf keinem alten Schulatlas verzeichnet waren. Die Berliner profitierten von der Nähe zu Polen, wo die Wirtschaft brummte und jeder Einkauf mit der D-Mark ein Schnäppchen war.

Nachdem Deutschlands Politiker dem Druck einer beispiellosen Medienkampagne nachgegeben und ihren Austritt aus dem Rest der verbliebenen Eurozone beschlossen hatten, war der Wechselkurs der neu etablierten Deutschen Mark in grandiose Höhen geschossen. Zwar brachen die Gewinne vieler exportorientierter Unternehmen ein, aber darunter litt der Osten Deutschlands weniger. Dort setzte man traditionell auf einen Mix aus Schwarzarbeit und knappen Transferleistungen, schlug sich irgendwie durch und war stolz auf einen kreativen Umgang mit der Armut.

Berlin erinnerte Minke an den zusammengebrochenen Wagen voller Bienenstöcke, der seit Jahren in einer überschwemmten Senke hinter ihrem Dorf stand. Die Bienen ließen sich nicht davon stören, dass der Wagen ständig weiter verfiel. Geschäftig sammelten sie Honig und flogen selbst jene Stöcke an, die bereits aus den Fächern gerutscht und halb im sumpfigen Boden versunken waren. Vielleicht nahm ihr Schwarmbewusstsein sogar erfreut wahr, dass niemand mehr den Honig für den Winter gegen minderwertiges Zuckerzeug austauschte, wie es der Imker früher getan hatte. Jeder neue Zustand brachte eben auch Vorteile mit sich.

Würde der einzelne Mensch sich selbst nicht so verflucht wichtig nehmen, sinnierte Minke, dann könnte ihre kollektive Intelligenz die Menschheit auf einen richtigen Weg in die Zukunft führen. Na gut, eine gewagte Theorie, vielleicht zu gewagt, gestand sie sich ein.

Über Selbstverleugnung dachte Minke viel und gerne nach – ein populäres Thema, das ihr ein zufriedenstellendes Einkommen ermöglichte. Zwar pflegte Minke ihr eigenes meinungsstarkes und durchsetzungsfähiges Ego mit Hingabe, arbeitete aber für Klienten, die ihr altes Selbst aus den unterschiedlichsten Gründen loswerden wollten. Warum, das fragte in ihrer Branche niemand. Interessant war nur, wie das neue Selbst aussehen sollte. Auch das verriet einem seit kurzem nicht mehr der Kunde, sondern ein anonymisiertes Netzwerk von Vermittlungs-Bots. Minkes Arbeitgeber Identhesia unterhielt ein solches hochverschlüsseltes System. Es schützte sowohl die Kunden und deren frisch erworbene Identität als auch die – bestenfalls halblegalen – Dienstleister.

Kein Staat konnte es tolerieren, wenn seine Bürger bei Bedarf eine neue Identität annahmen, um in ein neues – oder paralleles – Leben zu schlüpfen. Es sei denn, er schuf die Möglichkeiten dazu selbst. Ironischerweise hatte Minke ihr Gewerbe im Berliner Landeskriminalamt gelernt, wo sie nach einem Umweg über die Ausbildung zum höheren Polizeidienst gelandet war.

In der Polizeiführung hätte sie sich nur mit einer ausbalancierten Mischung von Aggressivität und Duldsamkeit durchsetzen können. Beide Eigenschaften fehlten ihr. Das Sonderdezernat OK schien bessere Verwendung für eine technikfixierte, unauffällige Mitarbeiterin zu haben. In den Labyrinthen der Organisierten Kriminalität verschwand sie fast drei Jahre, bereitete für gefährdete Kollegen und Zeugen in OK-Prozessen den perfekt geplanten Exit vor, schuf ihnen ein neues Leben, in das sie hoffentlich unerkannt wechselten. Und dann war sie selbst einfach verschwunden, in ihr Dorf zurückgekehrt, getrieben von Trauer und Verantwortung.

Der tödliche Unfall ihrer Eltern hatte zum allmählichen, schließlich kompletten Ausstieg aus der Behörde geführt. Auch ihr Ekel vor der Großstadt, der manische Züge angenommen hatte, spielte dabei eine Rolle. Oder gab die Trennung von Rios, der die günstige gemeinsame Wohnung mit hinterlistigen Tricks verteidigt hatte, den letzten Anstoß?

Hier um die Ecke, an der Grenze zwischen Weißensee und Pankow (»an den Rändern der Zivilisation«, scherzte Minke damals), hatten sie gewohnt. Sollte der verblödete Fahrer nicht anhalten? Minke stieß ihm den Ellenbogen in die Seite und verursachte eine Vollbremsung. Unter den missbilligenden Blicken und Bemerkungen der anderen Passagiere verließ sie den Minibus. »Ist bestimmt eine Berlinerin!«, wurde ihr hinterhergerufen, als sei das die ultimative Beleidigung.

Instinktiv hielt Minke nach gelangweilten Jugendlichen Ausschau, die in diesem Viertel gerne aggressiv nach »’ner Mark für ’ne Fluppe« verlangten. Zu sehen waren nur zwei junge, schlanke Schwarze mit scharf geschnittenen Gesichtern, die sich auf der Lehne einer Parkbank lümmelten und so angeberisch große Joints pafften, dass jedem klar sein musste, was sie in einer Plastiktüte zum steuerfreien Verkauf anboten. Die Somali-Clans hatten den Marihuana- und Tabakhandel offenbar von den Kaukasiern übernommen, registrierte Minke.

Neben einem mobilen Verkaufsstand war Verpackungsmüll, der auch anderswo reichlich herumlag, zu einer kleinen Pyramide aufgestapelt worden. Sie umschloss einen Abfalleimer ohne Boden, in den Passanten trotzdem immer noch alles Mögliche hineinzuquetschen versuchten. Die Ordnung ist den Deutschen eben nicht auszutreiben, dachte Minke amüsiert und betrat den Eingangsbereich von Identhesia auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Auch so ein Musterbeispiel für die Beharrlichkeit deutscher Sitten: Alles war unauffällig, zweckmäßig und mit einem bereits bei der Einweihung leicht veralteten Schick eingerichtet. Allein die kräftigen schwarzen und roten Farben in den Treppenaufgängen wirkten unpassend emotional, fast ein wenig wie der Eingang zum Fegefeuer.

Davor kontrollierte ein junger Mitarbeiter ihren Ausweis und ließ die Besucherin mürrisch spüren, dass sie ihn von der Arbeit am Bildschirm abhielt. Man hatte ihm vermutlich nicht erklärt, warum eine so archaische Tätigkeit wie die persönliche Identitätskontrolle in seinem Unternehmen ernst genommen werden musste. Alles drehte sich bei Identhesia um den Zweiklang von Identität und Integrität. Für das Marketing des Unternehmens war es unverzichtbar, sich selbst als integer darzustellen. Zweifelhafte Identitäten konnten für ihre Nutzer unabsehbare, sogar fatale Auswirkungen haben. Auch für die Datenbanken, die Identhesia nutzte, war die Einhaltung von formalen Integritätsbedingungen beim Zugriff eine Frage der Selbsterhaltung. Das hatte aufwendige Prüfungen auf allen Ebenen zur Folge, mit denen Identhesia seine maßlos überhöhten Preise rechtfertigte.

Mit ihrer Identity-Card konnte Minke bis in die Chefetage fahren, wo Charles sie vom Fahrstuhl abholte. »’ab disch kommen sehen, ma chérie«, säuselte der geschäftsführende Gesellschafter, triefend von französischem Charme.

»Du lebst jetzt schon länger in Deutschland, als du jemals in Frankreich warst«, ätzte Minke. »Warum legst du nicht endlich deinen öligen Akzent ab?«

»Monatelang nicht gesehen und zur Begrüßung gleich so eine Unverschämtheit?« Charles schmollte, aber das gehörte zum Rollenspiel zwischen ihnen. Er musste nicht hervorkehren, dass er der Chef war, und Minke musste ihn nicht daran erinnern, dass der Laden ohne ihre diskrete Kompetenz kaum so lukrativ laufen würde.

»Siehst très chic aus«, spendierte sie ihm zum Ausgleich ein Kompliment.

»Freut mich, dass dir meine Neuerwerbung gefällt.« Charles glitt mit zwei Fingern über den grau changierenden Stoff des breiten Revers. »Dreiteilige Anzüge sind gerade wieder im Kommen.«

»Hat der Hacker-Style deine solvente Kundschaft verschreckt?«