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Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern – darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Identitäten. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band enthält Texte von José F.A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma, Michael Stavaric, Yoko Tawada, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen.
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Seitenzahl: 257
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Identitäten – Dialoge im Deutschunterricht
Schreiben – Lesen – Lernen – Lehren
Jörg Roche / Gesine Schiewer
unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F. A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma und Michael Stavariˇc
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0032-8
Diesem Begriff haftet in der alltäglichen Wahrnehmung häufig etwas Abgehobenes an. Denn wer führt schon einen ‚Dialog’ innerhalb der Familie, mit Freunden, Nachbarn, Verkaufspersonal, Behörden oder im Berufsleben? Eher sind in alltäglichen und beruflichen Kommunikationssituationen das ‚Gespräch’, die ‚Besprechung’, das ‚Meeting’, die ‚Diskussion’, der ‚Small Talk’, allenfalls die inzwischen etwas altmodisch anmutende ‚Konversation’ als typische Textsorten anzutreffen.
In politischen Kontexten, in Forschung und Wissenschaft ist ‚Dialog’ ein Begriff, der mit einer Reihe von
unterschiedlichen, unter Umständen konträren theoretischen Positionen (zum Beispiel als politisches Instrument der Konfliktlösung oder als Mittel in der Wissensvermittlung)
variablen Auffassungen von universellen Aspekten und von kultureller Vielfalt („Dialog der Kulturen“)
differierenden praktischen Anwendungsfeldern der Verständigung und Mediation
verbunden sein kann.
Über Jahrhunderte war es die Philosophie, in der der ‚Dialog’ seine grundlegende wissenschaftliche Verortung fand. Dabei verdeutlicht schon ein kursorischer Blick auf die Begriffsgeschichte die Breite seines Spektrums unterschiedlicher Auffassungen.
So ist in der Antike und im Mittelalter ‚Dialog’ in erster Linie eine wichtige Form des mündlichen und schriftlichen Erkenntnisgewinns, das heißt eine dialogisch ausgestaltete Textgattung, in der Erkenntnis im Austausch erzielt wurde. Sie erlaubte es, unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Der sokratisch-philosophische Dialog etwa kann als „praktizierte Form der Wahrheitssuche und Wissensbildung“ beschrieben werden (Schlaeger 1996: 421ff.).
Ganz anders wird demgegenüber im 17. Jahrhundert mit René Descartes’ prinzipieller Unterscheidung zwischen der ‚denkenden’ und der ‚ausgedehnten’ Substanz (oder auch zwischen ‚Geist’ und ‚Körper’) und mit seiner Auffassung des ‚cogito ergo sum’ (‚ich denke, also bin ich’) das Denken im für sich raisonnierenden Subjekt begründet. Damit wird der andere Mensch „als Redepartner allenfalls in rhetorischer, für die Wahrheitssuche subsidiären Form“ benötigt (Schlaeger 1996: 421ff.). Ja, sogar die Erkenntnis eines anderen Menschen überhaupt – im äußerlich wahrnehmbaren Körper – als „ein anderes denkendes Ich“ wird auf einen Analogieschluss gegründet, also der Annahme des Bestehens von Ähnlichkeiten von eigenem und fremdem Ich (vgl. Heinrichs 1972: 226). Nur aufgrund der hypothetischen Unterstellung, der Andere denke wie man selbst, kann man ihn Descartes zufolge überhaupt erkennen und sich mit ihm verständigen. Der Dialog tritt hier in seiner Bedeutung also in den Hintergrund beziehungsweise wird als „ein stiller Dialog der Seele mit sich selbst“ verstanden. Dies ist eine Auffassung, die aber auch schon in der Antike bei Platon anzutreffen war (vgl. Meyer 2006: 8).
Für die Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts geht es in Anlehnung an Martin Buber um
„ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung zu einem interpersonalen ‚Zwischen’, das heißt zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt“ (Heinrichs 1972: 226). Hier wird von einer Form gesprochen, „die das Miteinander der Wahrheitssuche vor die Vernunft des Einzel-Ichs stellt, für die Wissensbildung ein unabschließbarer kommunikativer Vollzug und nicht die Entfaltung eines Denksystems nach ehernen logischen Gesetzen“ ist. (Schlaeger 1996: 421ff.)
In der Tradition von Bubers Grundausrichtung der Dialogphilosophie steht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die dialogische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit der besonderen Berücksichtigung von Prozessen des Verstehens und angemessenen Deutens. Später nimmt sich, vor allem in Bezug auf die Interkulturelle Kommunikation, die Interkulturelle Literaturwissenschaft und die Interkulturelle Sprachdidaktik, auch die Interkulturelle Hermeneutik, dieser Problematik an, indem sie das „Fremdverstehen“ als einen dialektischen Prozess zwischen Kulturen zu fassen versucht, statt ihn als historischen Prozess wie in der Hermeneutik zu betrachten. Es geht dabei, wie Charles Taylor (1992) es im Anschluss an Gadamer nennt, um eine Horizontverschmelzung („fusion of horizons“) aus eigenen und fremden Horizontkomponenten. In diesem Prozess bilden sich modifizierte Positionen der Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde und der Wahrnehmung des Fremden durch das Eigene. Die daraus entstehenden Positionen sind gesellschaftlichen Normen, individuellen Dispositionen und der Interaktion aus beiden geschuldet. Begriffe wie „Perspektivenwechsel“, „das Eigene und das Fremde“, „interkulturell“ oder auch „der dritte Raum“ (Bhabha 1994) sind diesem Ansatz verpflichtet.
In den letzten Jahrzehnten wurden insbesondere zwei Positionen prominent: eine „opti-mistische“ mit der Diskursethik von Jürgen Habermas und der dialogischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer, und eine entgegengesetzte von Samuel P. Huntington mit der Auffassung eines zu erwartenden „Kampfes der Kulturen“.
Die Diskursethik hat die Orientierung auf den so genannten „Dialog der Kulturen“ maßgeblich beeinflusst. Auf Initiative des damaligen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami wurde für das Jahr 2001 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das „Jahr des Dialogs der Kulturen“ beschlossen. Unter anderem erschien daraufhin im Oktober 2001 der vom Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan initiierte Band: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations. In deutscher Übersetzung wurde er unter dem Titel Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen noch im selben Jahr publiziert. Vorgestellt wird in dem prominent präsentierten Band ein Rahmenkonzept, das für die Praxis des interkulturellen Dialogs auf sämtlichen politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen geeignet sein soll (vgl. Schiewer 2010).
Auch vom Auswärtigen Amt in Deutschland wurde der Ansatz aufgegriffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass z.B. Probleme des Schutzes der natürlichen Umwelt und ihrer Erhaltung für zukünftige Generationen nicht mehr allein auf nationaler Ebene gelöst werden können. Daher werden die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsame internationale Bemühungen als unabdingbar erachtet. Es geht somit um Dialog zwischen Regierungen und Zivilgesellschaften, das heißt zwischen staatlichen Akteuren und nichtstaatlichen Organisationen, Stiftungen, Kirchen, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen.
Der zentrale Ansatzpunkt ist darauf fokussiert, eine Gegenposition zu Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ einzunehmen und im Dialog der Kulturen – als kultureller Idee der globalen Verständigung – die Chance für eine friedliche Zukunft zu sehen. Grundlegend soll dabei die Auseinandersetzung mit einer neuen Auffassung von Vielfalt sein. Anlässlich eines Runden Tisches am Sitz der Vereinten Nationen im September 2000 erklärten der Generalsekretär, zwölf Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister verschiedener Länder übereinstimmend, dass mit Hilfe eines solchen Dialogs zwischen den Kulturen alle Nationen in der Lage seien, Feindschaft und Konfrontation durch Gespräch und Verständnis zu ersetzen. Es knüpfen sich also sehr weit reichende Hoffnungen an das Projekt.
Worauf aber gründet sich die Hoffnung, dass das vorgestellte Konzept diese umfassenden Erwartungen erfüllen kann? Wie also wird hier der ‚Dialog’-Begriff bestimmt?
Im Vorwort erklärt Kofi Annan seine Überzeugung, „dass Dialog über Streit obsiegen kann“ (Annan 2001: 11), womit Dialog und Streit hier in Opposition zueinander gesetzt werden. Der Persönliche Beauftragte Annans, Giandomenico Picco, betont in der anschließenden Danksagung (Annan 2001: 13): „Vielleicht wird die Brutalität derjenigen, die nicht an einen Dialog der Kulturen glauben, andere – wie uns – ermutigen, die Aufgabe [eines Dialogs der Kulturen, Verf.] ernster zu nehmen.“ Selbstverständlich bezieht sich diese Äußerung auf das Attentat in New York vom 11. September 2001. Wörtlich genommen wird hier allerdings denjenigen Brutalität unterstellt, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht an einen, an diesen Dialog der Kulturen glauben.
Der ‚Dialog’-Begriff wird in diesem Band weiterhin an die Hoffnung gebunden, eine – wie vermutet wird – bestehende Furcht vor Vielfalt zu überbrücken. Der Dialog der Kulturen solle der Vielfalt die angenommene Angstbesetztheit nehmen und sie in einen positiv empfundenen Wert verwandeln. Die Voraussetzungen werden dabei auf das Individuum projiziert: Es nehme Vielfalt gelegentlich als Bedrohung wahr, gleichzeitig fühle es jedoch auch die verbindende Gemeinschaftlichkeit zwischen den Menschen. Daher beginne der Dialog „in unserem Inneren“ (Annan 2001: 35). Dementsprechend wird wiederholt an die Verantwortlichkeit des Einzelnen appelliert (Annan 2001: 40).
Als zentrale Charakteristika dieses Dialogs werden genannt: respektvolle Kommunikation, gegenseitiges Verständnis, Gerechtigkeit und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit. Er müsse offen geführt werden und auf Sachkenntnisse gegründet sein. Wichtig sei insbesondere, weder überreden noch bekehren zu wollen (vgl. Annan 2001: 68), sondern zuzuhören und zu lernen (vgl. Annan 2001: 82). Unter dem Stichwort „Weisheit“ werden Geduld und Aufnahmebereitschaft als entscheidende Aspekte des Zuhörens betont: Inhalt und subtile Bedeutungsnuancen seien sowohl rational als auch emotional zu erfassen (vgl. Annan 2001: 103).
Auf der Basis eines solchen Dialogs werde die Würdigung unterschiedlicher Auffassungen und Perspektiven möglich (vgl. Annan 2001: 68f.). Der Dialog der Kulturen solle von der Vielfalt menschlicher Kulturen und der Anerkennung von Gleichheiten und Unterschieden ausgehen.
Der Dialog erlaube durchaus Skepsis und eine kritische Haltung – ein Aspekt, der wohl als Absicherung gegen den eventuellen Vorwurf, es werde hier stark harmonisierend argumentiert, zu werten ist. Die rationale Entscheidung für Vertrauen, so heißt es weiterhin, sei jedoch zur Überwindung der Angst vor der Vielfalt unabdingbar (vgl. Annan 2001: 83).
Nicht zu übersehen ist hier die Anlehnung an andere Konzepte Interkulturellen Verstehens, die auf Perspektivenwechseln und idealisierend kommunikationstheoretischen Vorannahmen basieren (vgl. etwa die Kommunikationsmaxime von Grice 1975). Es handelt sich also auch hier um einen normativ-programmatischen Ansatz, der dazu tendiert, faktisch in aller Regel gegebene Asymmetrien, Macht- und Interessenlagen zu verschleiern und die Konfliktlösung als rationalen Automatismus eines Austauschs von klar definierbaren und offenen Positionen zu präsentieren. Wenn schon 2001 durchaus berechtigte Zweifel geäußert werden konnten, ob die hohen Erwartungen tatsächlich zu erfüllen seien, dann kann kaum geleugnet werden, dass es inzwischen hierzu noch weitaus mehr Anlass gibt. Stimmen, die von einem „Kampf der Kulturen“ sprechen, sind, trotz aller mit oft guten Argumenten vorgetragenen Kritik an den Begründungen Samuel P. Huntingtons, eher noch lauter geworden.
In Anbetracht der Dringlichkeit, auf internationalen wie nationalen Ebenen in politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, religiösen Umfeldern und insbesondere in allen Bereichen des Schul- und Bildungswesens realistische Dialogpraxen vermitteln und einzusetzen zu können, besteht ein großer Bedarf an theoretisch-konzeptuellen Grundlagen, bei denen auf den idealistischen Impetus interkultureller Verständigung vielleicht nicht ganz verzichtet werden muss, die aber den erwähnten faktisch existierenden Asymmetrien, Machtungleichheiten und divergierenden Interessenlagen nolens volens Rechnung tragen.
Es ist, mit anderen Worten, nach einem Ansatz zu suchen, der den tatsächlichen Dialogbedingungen Rechnung trägt und real erfahrbare Probleme der Kommunikation nicht übergeht oder minimiert. Denn ein „wirklicher, echter, wahrer“ Dialog, der immer wieder beschworen wird, kann nur gefördert werden, wenn bestehende Asymmetrien und Machtstrukturen greifbar werden, die in nahezu jeder Auseinandersetzung – wenn nicht sogar in überhaupt jedem und auch dem privaten menschlichen Austausch – unvermeidlich sein dürften. Ein politisch, gesellschaftlich und ökonomisch relevanter, effektiver Dialog der Kulturen wird daher darum bemüht sein müssen, die Einseitigkeit rational-diskursiver Kommunikationstheorien zu vermeiden. Vielmehr sind gegenüber letztlich ethnologisch gegebenen Verhaltensfacetten des Menschen, welche mit Fragen von Identität, Interesse, Macht, Status und Emotionalität einhergehen, die Augen und Ohren nicht zu verschließen.
Aus diesem Grund bietet es sich an, nicht nur im politischen Dialog, sondern gerade auch im Alltag solche Dialogbedingungen zu unterstützen, die Asymmetrien nicht zu überdecken suchen, sondern möglichst offenkundig werden lassen, damit sie behandelt werden können. Es gilt demnach, die unhintergehbare Perspektivik jedes Teilnehmers mit ihren lebensweltlichen und historischen Bedingungen sowie die Schwierigkeit ernst zu nehmen, das Gelingen von Verständigung zu überprüfen. Auch das Wissen um ein potentielles Misslingen von Kommunikation ist daher konstruktiv zu nutzen, trägt es doch zu einer Sensibilisierung in Bezug auf die Vielfalt möglicher Ursachen von Missverständnissen und das Scheitern von Verständigung bei, unter anderem infolge von semantischen Divergenzen zwischen den Sprachen. Wenn diese potentiellen Hindernisse als möglich akzeptiert werden, kann erkennbar werden, ob Verständigung überhaupt angestrebt wird und wo ihre jeweiligen Schwierigkeiten liegen, oder ob es nur um Scheingefechte geht, die der verdeckten Ausnutzung von Machtverhältnissen und der indirekten Durchsetzung von Interessen dienen. Die Rahmenbedingungen eines Dialogformats, das die skizzierte Offenheit akzeptiert, sind durch zumindest folgende Aspekte gekennzeichnet:
Es sollte eine grundsätzliche freiwillige Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten vorhanden sein, die auch für alle Beteiligten erkennbar sein sollte.
Vor diesem Hintergrund muss es in einem Dialog Optionen und Mechanismen nicht nur für Konsens geben, sondern auch für Dissens, Vertagung und nicht zuletzt einen Abbruch. Konsens ist dabei nicht mit Freundschaft zu verwechseln, Dissens nicht mit Feindbildern zu identifizieren.
Erforderlich sind fundierte Kenntnisse verschiedener Gesprächsstile und kulturell geprägter Dialogformen und -typen, um über Kriterien zu verfügen, die es erlauben, sowohl das Bestehen kulturell bedingter Wissensasymmetrien als auch Formen der verdeckten Kooperationsverweigerung zu erkennen und zu unterscheiden.
Diese Bedingungen können jedoch nicht als vorhanden vorausgesetzt werden. Vielmehr bedarf es ihrer Entwicklung, Erprobung und Verfeinerung. Mit anderen Worten: Die Entwicklung einer Dialogkultur hat didaktische Implikationen.
Trotz der oben skizzierten Voraussetzungen für einen politischen Dialog haben sich auf breiter Ebene im Bereich der Dialog-Konzepte konsensorientierte Ansätze etabliert, die im Wesentlichen auf der von Jürgen Habermas begründeten rationalen Diskursethik fußen. Zumindest im Hinblick auf eine Dialogdidaktik, die Relevanz für die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern haben soll, ist dies jedoch als ein reduktionistisches Konzept zu betrachten, das mit zu starken programmatisch-normativen Vorannahmen bezüglich kommunikativer Prozesse und Dialogsituationen einhergeht.
Eine hierfür angemessene Dialogdidaktik verlangt in jedem Fall nach Ergänzungen dieses konsensorientierten Ansatzes und nach alternativen Konzepten. Hierfür geeignet ist der Ansatz der Transdifferenz.
Die Entwicklung des Transdifferenzansatzes geht auf ein Graduiertenkolleg zurück (vgl. Breinig/Lösch 2002). Dialog wird hier auf die Prozesse der Kommunikation, des Verstehens und der Verständigung, also die Sprachverwendung, gegründet. Damit setzt auch die Dialogdidaktik bei der erst-, zweit- und fremdsprachlichen Spracharbeit an, die im Unterricht erfolgen muss.
In knapper Skizze geht es bei dem Transdifferenzansatz um Folgendes:
Zu Beginn der Entwicklung des Ansatzes der Transdifferenz lag der Fokus noch auf der unhinterfragten Annahme gelingenden Verstehens.
Nach einer ersten kritischen Auseinandersetzung rückten auch das Nicht-Verstehen und Missverstehen in den Blick.
Um eine krude und unrealistische Binarität zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen zu vermeiden, wurde die Aufmerksamkeit auf Differenzen gelegt, und darauf, was sie jeweils ausmachen. Auf diese Weise können Gesprächspartner dafür sensibilisiert werden, dass sie Äußerungen ihres Gegenübers kaum jemals zu 100 % oder zu 0 % so verstehen, wie er sie gemeint haben mag, sondern dass es Übergänge zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen gibt, die graduell sind.
Die Auseinandersetzung mit Differenzen ist die Voraussetzung für den Zugang zu einer „positiven Transdifferenz“.
Dem Transdifferenzansatz geht es also darum, Differenzen anders zu denken, sie auszuhandeln und nicht in Verstehen/Nicht-Verstehen – vollkommene Nachvollziehbarkeit oder komplette Unzugänglichkeit – auflösen zu müssen.
Klaus Lösch beschreibt dies so:
In einem allgemeinen Sinn – und im Anschluss an die Bedeutung ‚quer hindurch‘ der Vorsilbe ‚trans‘ – bezeichnet Transdifferenz all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die Grenzlinien hindurch geht und die ursprüngliche eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen. (Lösch 2005: 27)
Der Konstanzer Soziologe Ilja Srubar kommentiert dies in seinem Beitrag Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive so:
Die Reflexion der Relativität von „Weltanschauungen“, die an unterschiedliche soziale Standorte gebunden sind, die ein Individuum in seiner Biografie durchläuft, dient ebenso bereits Karl Mannheim 1929 zur Illustration der Auflösung der vermeintlichen Homogenität individuellen Wissensvorrats in eine zeitliche Sequenz von ungewissen Wahlen und Entscheidungen […]. Viel wichtiger ist jedoch, dass die wissenssoziologische Arbeit Mannheims paradigmatisch „die Gesellschaft“ in eine Vielfalt von Denkstandorten verwandelt, die sich durch eine beschreibbare Eigenlogik auszeichnen und zwischen welchen Übersetzungsprozesse stattfinden müssen, sollen Gesellschaftssysteme nicht zusammenbrechen. (Srubar 2009: 131f.)
Handlungen erscheinen vor diesem Hintergrund prinzipiell als Zeichen, die anderen zur Deutung auferlegt sind. Die Ungewissheit der Referenz kennzeichnet auch die Zeichensysteme selbst. Aus dem Phänomen der unaufhebbaren kommunikativen Unschärfe resultiert die Erfahrung der Differenz, auf die auch der Begriff der Transdifferenz zielt.
Denn binäre Systeme aus „Eigenem“ und „Fremdem“ sind nur begrenzt wirksam. Ein Perspektivenwechsel unterstellt, dass es sich um klar definierbare Perspektiven und nicht um offene Wahrnehmungen handelt. Der zugrundeliegende Kulturbegriff geht von trennbaren, eigenständig existierenden Systemen mehr oder weniger stark ausgeprägter Homogenität aus. Unberücksichtigt bleiben dabei kognitive Aspekte der Wahrnehmung: Wie sollen Perspektivwechsel stattfinden, wenn der kognitive Apparat des Betrachters/Lerners derselbe bleibt? Wenn zu unterstellen ist, dass der gleiche kognitive Apparat Eigenes und Fremdes getrennt voneinander wahrnehmen kann, dann wäre er nicht lernfähig, und damit wäre das Ziel interkulturellen Verstehens apriori unrealistisch.
Anleihen fand der Transdifferenzansatz in dem Konzept der „Transkulturation“, das zuvor von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz (1947) formuliert wurde. Es betont den Prozesscharakter der Kulturentwicklung und -konstruktion. Anders als der Begriff ‚Transkulturalität’, der das (statische) Ergebnis von oft nicht genauer bestimmten Transkulturationsprozessen bezeichnet, wird unter ‚Transkulturation’ der Prozess der Konstruktion und Aushandlung individueller Bedeutungen von Kulturen verstanden. Nach Atsuko Onuki und Thomas Pekar (2006) können Kulturen somit als Figurationen und Defigurationen von sich prozessual konstituierenden (figurierenden) Einheiten gefasst werden, die sich zugleich in einer ständigen Veränderungsbewegung befinden. Diese Veränderbarkeit und Dynamik sprengt die Grenzen gängiger, auch verbreiteter transkultureller Kulturkonzepte und ist Grundlage des Transdifferenzkonzeptes.
Und weil sich zum anderen, in Hinsicht auf unsere eigene kulturelle ‚Verortung‘ (oder auch ‚Ortlosigkeit‘), jede spezifische Kultur selbst als eine ‚Figuration‘ begreifen lässt, d.h. als eine prozessual sich konstituierende Einheit, die sich jedoch in einer ständigen Veränderungsbewegung befindet. Die Rede von ‚Figuration‘ (kultureller Figuration) soll darauf aufmerksam machen, daß sich jede Kultur in einem permanenten und unaufhebbaren Spannungsfeld von De- und Refiguration befindet. Dieser besondere zeitlich-dynamische Aspekt unterscheidet im übrigen ‚Figuration‘ am klarsten von Begriffen wie Struktur, Gestalt, Form etc. (Onuki/Pekar 2006: 9)
Im Sinne von Lösch (2005: 33) ist Kultur damit kein abgeschlossenes, auf sich selbst bezogenes System:
Kultur ist kein autopoietisches System, das in ausschließlicher Selbstbezüglichkeit die eigenen Elemente selbst produziert und in diesem Prozessieren die konstitutive System-/Umweltgrenze affirmiert und perpetuiert, sondern ein prozessuales Produkt der Interaktion von Systemen, deren Grenzen freilich erst in diesem Austauschvorgang gezogen und beständig revidiert werden.
Kultur ist demzufolge als die denotative Bedeutungsebene von sozialer und sprachlicher Interaktion zu definieren. Sozialisations-, Akkulturations-, und Integrationsprozesse sowie letztlich auch Individuationsprozesse im Sinne soziokultureller Selbstwahrnehmung beruhen auf der Viabilisierung konnotativer Bedeutungen in gesellschaftlichen Kontexten. (Wendt 2002: 42)
Mit der Begrifflichkeit von Transdifferenz und Differenz soll also die Unbestimmbarkeit und Veränderbarkeit kultureller Erscheinungen so gefasst werden, dass es weder zu einer normierenden Synthese noch zu einer Auflösung von Differenzen kommt. Der Transdifferenzansatz löst das Problem der kognitiven Dissonanz also durch ein dynamisches Nebeneinander mehr oder weniger interagierender und temporärer Positionen und Einstellungen. Differenzen komplementieren die binäre Ordnung. Durch die dynamische Integration des Fremden in bestehende und sich verändernde Wissensbestände wird die binäre Trennung in Eigenes und Fremdes obsolet.
Mit diesem Verstehensmodell einher geht eine Umstellung auf ein dynamisches Identitätskonzept. Nicht die Frage „Wer bin ich?“, sondern die Frage: „Wer werde ich?“ steht im Mittelpunkt der Identitätskonstitution (vgl. Allolio-Näcke/Kalscheuer 2005: 18). Die vielfältigen Austausch- und Veränderungsprozesse von Kulturen im Kontakt beziehungsweise im Zeitalter der Globalisierung können zu einer Komplexitätssteigerung von Identitäten führen, die als postnational bezeichnet werden können. Bei einer gewissen Fragmentarisierung des Selbst findet, so wird angenommen, eine „Teilhabe an mehreren Kollektiv-Intersubjektivitäten“ statt (vgl. Hildebrandt 2005: 351).
Wie aber werden die Kompetenzen erworben, die für den Umgang mit solcher Komplexität nötig sind? Es ist davon auszugehen, dass sich die transdifferente Qualität der Wissensorganisation am besten selektiv nach Bedarf und Disposition in bestimmten thematischen Domänen entwickelt, die für ein Individuum relevant sind. Die Themenauswahl und die Zugänge zu den Themen in diesem Buch sind dieser selektiven, individuellen Vorgehensweise verpflichtet.
Die in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren sind vorwiegend Preisträgerinnen und Preisträger des Adelbert-von-Chamisso-Preises, der – von dem Romanisten Harald Weinrich begründet – von 1985 bis 2017 vergeben wurde. Sie sind besonders sensibilisiert für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (vgl. Schiewer 2017, Internationales Forschungszentrum Chamisso-Literatur: http://www.chamisso.daf.uni-muenchen.de/bibliographie_autoren/index.html, Robert Bosch Stiftung: http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/4595.asp).
Darüber hinaus ist zu betonen, dass bereits didaktische Konzepte für die Arbeit mit interkultureller Literatur verfügbar sind, die mit den skizzierten Grundlagen des Transdifferenzansatzes kompatibel sind. Besonders hervorzuheben ist hier vor allem der Band des Chamisso-Preisträgers José F.A. Oliver, der 2013 im Verlag Klett/Kallmeyer unter dem Titel Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung erschienen ist und dessen Autor auch am vorliegenden Band federführend mitgewirkt hat.
Wichtig ist, sich hier zunächst mit einigen Grundauffassungen José F.A. Olivers vertraut zu machen, der 2013 keineswegs eine Standarddidaktik für kreatives Schreiben vorlegte. Vielmehr überträgt er seine Einsichten in sprachlich-linguistische Prinzipien in die gezielte Förderung des Umgangs von Schülerinnen und Schülern mit Sprache. Literatur ist für Oliver erst einmal so etwas wie eine allgemein menschliche Anlage oder eine anthropologische Gegebenheit: „[…] ich will behaupten, dass jeder Mensch Poetisches und dessen Gesten in sich birgt. Die beste Voraussetzung, sich einem unbeschriebenen Blatt Papier anheim zu geben. Sich zuzutrauen.“ (Oliver 2013: 11f.) Im Zentrum steht für ihn die Arbeit am Wort und am individuellen Wortschatz:
Das Vermögen, zu sagen, was der Einzelne erlebt, fühlt und denkt, hängt unmittelbar mit dem Wortmaterial zusammen, das ihm zur Verfügung steht. Oft wird – wenn es um die (deutsche) Sprache geht – bei Schülern das ‚Defizitäre‘ im Umgang mit ihr hervorgehoben. Ich stelle mich in meinen Schreib- und Textwerkstätten lieber auf eine bejahende Art und Weise den Gegebenheiten: Jede scheinbar noch ‚mangelhaft‘ wahrgenommene und als solche sanktionierte Sprache birgt Schönheit und die Qualität des Abenteuers. Wie schön, dass der Ausdruck ‚Wortschatz‘ auch andere Blickweisen zulässt als lediglich die der rohen Quantität der Fehler. Ein einzelner Wortfund kann ein Schatz sein. (Oliver 2013: 12)
Angestrebt wird ein verfeinertes Bewusstsein für den Umgang mit Sprache und auf diese Weise eine Fortentwicklung des Bewusstseins für sich selbst, für die eigene Person:
Ausgangspunkt meiner Anregungen für Schüler ist immer das Wort und die wahr:nehmungen, ihre wahr:nehmungen, die das Wort begleiten. Das eigene Wort und das andere. Das fremde, das fremdgebliebene, das fremdgemachte, das fremdgewordene. Wird das Wort hernach bedachter vernommen, erfahren und gewählt, schenkt Sprache dem Menschen eine simultane Beziehung zu den Wörtern und eine bewusstere Identität, so meine Hoffnung. (Oliver 2013: 12f.)
Die sprachtheoretische Basis der Arbeit Olivers konzentriert sich auf die Sensibilisierung für Konnotationen, Bedeutungen neben der eigentlichen Wörterbuchbedeutung, beziehungsweise „Bedeutungshöfe“. Er geht von dem Beispiel des Wortes „Tafelsüße“ aus, einer Form des Zuckerersatzes, und beschreibt seine persönlichen Assoziationen: der Schultafel, die ihm näherliegt als der ihm ebenfalls in den Sinn kommende Tafelspitz. Da in seinem Buch das lyrische Schreiben im Schulunterricht beschrieben wird, stellt er in den Raum, ob „Tafelsüße“ in diesem Zusammenhang eine mögliche Metapher sei. Dies lässt er zunächst offen, sieht darin aber durchaus eine Option (vgl. Oliver 2013: 11). Hieran schließt er folgende Reflexion an:
Zumindest steht die eigenwillige Konnotation [der Schultafel] gleichnishaft vor einer offenen Tür. Ein Zugang in die erste flüchtige Draufschau dessen, wie inspirierend Bedeutungshöfe sind, wenn sich Wörter aufs Unerwartete mit den ungestümen oder selbstverständlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Alltagsrealien verbinden. In meinem Fall „Frühstück“ und „Tafelsüße“ oder „Zuckerersatz“ und „Schule“. Seien die Wörter nun aus dem Alltäglichen entnommen, quasi eins zu eins abgebildet, oder auf eine scheinbar rätselhafte Weise sprachlich aus ihnen ins Entlegene verschoben.
Das Ziel seiner Arbeit im Unterricht besteht hierin:
Seit Jahren versuche ich bei Schülern aller Schularten, den feinsinnigen und experimentierfreudigen Umgang mit Sprache zu fördern, und nehme deshalb die jungen Menschen beim Wort. […]
Deshalb wäre mein Vorschlag, die Sprache jedes Einzelnen im Deutschunterricht mit einfachen Übungen und Methoden nicht ‚abzurufen’, sondern zu erkunden: Vom w:ort in den Satz. Vom Satz in die Verdichtung. Aus der Verdichtung in den Vers. Vom Vers vielleicht in ein Gedicht. (Oliver 2013: 12f.)
Im hier Folgenden werden die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen von José F.A. Olivers eigener Arbeit im Unterricht und seine Anregungen für Lehrkräfte für das lyrische Schreiben dargestellt. Worin bestehen die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen einer solchen Einübung in das lyrische Schreiben mit der Ausbildung eines vertieften Bewusstseins für Konnotationen und Bedeutungshöfe?
Die Erklärung dieses Punktes verlangt, an dieser Stelle ein wenig auszugreifen und dabei auch nochmals auf einige theoretische Fragen zu verweisen.
Es geht – in aller Kürze zusammengefasst – um das Vermögen, sich in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen thematischen Zusammenhängen differenziert auszudrücken, Stellung zu nehmen und zum Beispiel in Argumentationen seinen Standpunkt deutlich zu machen, ohne sich durch rhetorische Winkelzüge des Gegenübers irritieren zu lassen, unter Umständen sich auch öffentlich zu äußern und gegebenenfalls an gesellschaftlich relevanten Diskursen zu beteiligen. Mit anderen Worten: eine ausgesprochene Dialogfähigkeit auszubilden.
All dies erfordert ein entwickeltes Bewusstsein für semantische „Feinarbeit“, das heißt für Konnotationen und Bedeutungshöfe. Man spricht unter anderem in der Diskursanalyse und Diskurslinguistik in diesem Zusammenhang auch von „Deutungshoheit“ (vgl. hierzu zum Beispiel Spitzmüller/Warnke 2011; Kuße 2012). Darunter versteht man das erfolgreiche Besetzen von Semantiken. Auch der sowohl soziologisch als auch kommunikationswissenschaftlich bestimmte Begriff der „Macht“ ist in diesem Zusammenhang sehr präsent – so spricht man auch von „Kommunikationsmacht“ (Reichertz 2009).
Besonders anschauliche Beispiele findet man dafür im Zusammenhang von Translationen, seien es Übersetzungen oder gedolmetschte Texte: die Entscheidung etwa, die baskische ETA entweder als „Befreiungsorganisation“ oder als „Unabhängigkeitsorganisation“ oder als „Terrororganisation“ zu bezeichnen, geht mit dem einher, was man als Ausübung von „Deutungshoheit“ bezeichnet (vgl. Valdeón 2007).
Es kommt mit anderen Worten darauf an, in alltäglichen und anderen Situationen, in Zweiergesprächen (in der Soziologie als Mikro-Ebene bezeichnet) oder auch in Unterrichtsgesprächen (die der soziologischen Meso-Ebene angehören)
solche Deutungshoheiten zu erkennen und benennen,
sich gegebenenfalls mittels semantischer Differenzierung dagegen wehren zu können und
eigene Positionen zu vertreten.
Konkret erfolgt dies in kommunikativen Prozessen. Einseitiger „semantischer Bedeutungshoheit“, das heißt, einseitiger Weltdeutungshoheit soll entgegengewirkt werden durch kommunikative Arbeit im Sinn dessen, was als „Aushandlung von Bedeutungen“ bezeichnet wird. Dies ist auch die Basis kommunikationstheoretisch und interkulturell anspruchsvoll fundierter Modelle des Dialogs der Kulturen. Kaum jemals werden dabei reine Informationen „verschoben“; auch wenn geläufige Kommunikationsmodelle dieser Auffassung dadurch Vorschub leisten, dass sie in technizistischem Duktus von Sendern und Empfängern, Kanälen und Störquellen etc. sprechen. Vielmehr handelt es sich um Bemühungen darum, sich verständlich zu machen, zu angemessenen Deutungen zu gelangen, sich durch Rückfragen zu vergewissern, mittels Paraphrasen das bereits Gesagte in anderer Formulierung des gemeinten beziehungsweise aufgefassten Inhalts erneut begreiflich zu machen und dergleichen mehr.
Den hier skizzierten Grundlagen der interkulturellen Kommunikation, des Transdifferenzansatzes und der Didaktik des Dialogs sind der vorliegende Band und die folgenden Bände der Reihe verpflichtet.1 Die Didaktik speist sich zudem aus den Konzepten und Erfahrungen vieler Chamisso-Autorinnen und -Autoren in Schulwerkstätten, Meisterklassen und Workshops.
Die Eignung von Spracharbeit unter Anleitung von literarischen Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht wird hier hinsichtlich ihrer spezifischen sprachlichen Merkmale aufgezeigt. Die entsprechende Kompetenzförderung im Deutschunterricht ist Grundlage für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Situationen mit Konfliktpotential bewährt. Die didaktisch orientierte Arbeit schließt eng an die gezielte Förderung des Bewusstseins für semantische Differenzierungen an, das insbesondere von José F.A. Oliver akzentuiert wird. Formen sprachlicher Verfremdung sind dabei besonders geeignet, den Umgang mit semantischer Differenzierung zu schulen, indem ein ‚Denken wie üblich’ hinterfragt wird und eindimensionale Sprachformen aufgebrochen werden. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Befähigung zum multiperspektivischen Denken geleistet werden, das ein ‚Durchspielen von Optionen’ erlaubt und somit reflektierte Haltungen fördert, die differenziert geäußert und vertreten werden können. Solche Formen der Spracharbeit können – auch fachlich institutionalisiert – in der internationalen Germanistik und dem Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fruchtbar gemacht werden.
Sowohl die persönliche Präsenz der Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht als auch die entsprechenden in diesem Band erstmals vorgelegten Arbeitsmaterialien erlauben die sinnvolle und gezielte Einbindung dieser Literatur in den Unterricht. Dabei geht es über Sprechanlässe hinaus um ein umfassenderes Verständnis von Literatur und ihres kulturvermittelnden Potentials. Das können interkulturelle Literatur und Texte der Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger in besonderer Weise leisten, unter anderem weil hier ein spezifisches poetisches Programm wichtig ist, in dem die Sprache mit Aspekten wie der Schaffung von „Bedeutungshöfen“ kontinuierlich fortentwickelt wird.
Der hier verfolgte Ansatz ist verbunden mit den Zielsetzungen der Interkulturellen Bildungsforschung – die damit zugleich auch fortentwickelt werden, indem Komponenten der Mehrsprachigkeitsforschung, der Kommunikations- und Dialogforschung, der Interkulturellen Literaturwissenschaft mit und in der Spracharbeit verbunden werden. Auf diese Weise kann zugleich möglichen Formen struktureller Benachteiligung im Bildungssystem direkt entgegengewirkt (vgl. Auernheimer 2004, Wintersteiner 2007) und der Blick auf die Förderung individueller Talente und Stärken gerichtet werden. Der Transdifferenzansatz bringt mit sich, dass Bildungssysteme von authentischer Multikulturalität und natürlicher Mehrsprachigkeit ausgehen sollten. Interkulturelle Bildung und damit auch Dialogfähigkeit wird oft unter der Annahme behandelt, dass Lerner fremdsprachen- und fremdkulturunerfahren seien, was aber heute so nicht mehr zutrifft (vgl. die demographische Entwicklung zu wachsenden Anteilen von Menschen mit Migrationshintergrund, Globalisierung der Medien). Lerner und Lehrkräfte leben heute zunehmend unter interkulturellen und multikollektiven und daher mehrsprachigen Bedingungen, die allerdings von den Betroffenen wohl der Tendenz nach ebenso oft positiv wie negativ bewertet werden. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit sollten daher als konstitutive Grundbedingungen der Lehrpläne behandelt werden und auf Einsprachigkeit ausgerichtete Bildungsnormen ablösen.
Wenn Vielfalt mit anderen Worten konstitutiv ist für Gesellschaften, dann ist sie in den Bildungssystemen zu berücksichtigen und kann zu einem Motor des Lernens werden.
Ausdrücklich ist der Band für mehrere Adressaten konzipiert, namentlich für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden übliche Grenzziehungen des Unterrichts und entsprechende Textsorten der Lehrwerke und Lehrerhandreichungen aufgehoben. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung des vorliegenden Bandes ab.