Idol in Flammen - Rin Usami - E-Book
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Idol in Flammen E-Book

Рин Усами

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Beschreibung

Ein preisgekrönter Bestseller aus Japan von einer 21-jährigen Autorin, die zum Shootingstar der japanischen Literatur avanciert: Rin Usami. Die Schülerin Akari ist von Masaki, einem Mitglied einer beliebten J-Pop-Gruppe, besessen. Sie schreibt einen Blog, der ihm gewidmet ist, und verbringt Stunden im Internet auf der Suche nach Informationen über ihn und sein Leben. Als Gerüchte aufkommen, dass ihr Idol einen weiblichen Fan angegriffen haben soll, explodieren die sozialen Medien. Masakis Situation spitzt sich zu und droht auch Akaris Leben zu zerstören. Anstatt einen Weg zu finden, sich zu befreien, wird Akari noch fanatischer. Ein Roman über Fankultur und die zerbrechliche Psyche junger Menschen von einer Autorin, die nicht viel älter ist als ihre Heldin. »Idol in Flammen« wirft ein grelles Licht auf die Geldmacherei der Popindustrie, die verführerische Macht der sozialen Medien und die gewaltige emotionale Leere, die sich auftut, wenn sich ein Idol als normaler Mensch mit Fehlern und Schwächen entpuppt.

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Seitenzahl: 136

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Rin Usami

Idol in Flammen

Roman

Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Rin Usami

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Rin Usami

Die 1999 geborene Rin Usami wuchs in der Präfektur Kanagawa vor den Toren Tokios auf und begann bereits in der Highschool mit dem Schreiben von Romanen. Ihr Debütroman Kaka, wurde mit dem Bungei-Preis und dem Yukio-Mishima-Preis ausgezeichnet. Für ihren zweiten Roman erhielt Usami den renommierten Akutagawa-Preis und ist damit die drittjüngste Preisträgerin in der Geschichte dieses Preises. Derzeit ist sie Studentin an der Waseda-Universität in Tokio.

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Über dieses Buch

Ein preisgekrönter und gehypter Bestseller aus Japan von einer 21-jährigen Autorin, die zum Shootingstar der japanischen Literatur avanciert: Rin Usami.

Akari ist von Masaki, einem Mitglied einer beliebten J-Pop-Gruppe, besessen. Sie schreibt einen Blog, der ihm gewidmet ist, und verbringt Stunden damit, süchtig nach Informationen über ihn und sein Leben zu scrollen. Als Gerüchte aufkommen, dass ihr Idol einen weiblichen Fan angegriffen hat, explodieren die sozialen Medien. Masakis Situation spitzt sich zu, und drohen auch Akaris Leben zu zerstören. Anstatt einen Weg zu finden, sich zu befreien, wird Akari noch fanatischer, da sie davon überzeugt ist, dass er der einzige ist, der sie versteht.

Ein Roman über Fankultur und die zerbrechliche Psyche junger Menschen von einer Autorin, die nicht viel älter ist als ihre Heldin. »Idol in Flammen« wirft ein grelles Licht auf die Geldmacherei der Pop- Industrie, die verführerische Macht der sozialen Medien und die gewaltige emotionale Leere, die sich auftut, wenn ein Idol in Ungnade fällt, nur um eine echte Person zu werden.

Inhaltsverzeichnis

Textbeginn: Mein Idol steht in Flammen

Mein Idol steht in Flammen. Er soll einen Fan geschlagen haben. Noch ist kein einziges Detail bekannt. Und obwohl noch nichts bekannt ist, ist das Netz über Nacht zu einem Fegefeuer geworden. Die schwüle Hitze hat mich schlecht schlafen lassen, aber vielleicht hat mich auch eine böse Vorahnung geweckt. Als ich nach meinem Handy greife, um nach der Uhrzeit zu sehen, ist in den sozialen Netzwerken bereits die Hölle los. <Masaki soll einen Fan geschlagen haben> lesen meine müden Augen, und für einen Moment fühle ich mich wie im Film. An der Rückseite meiner Oberschenkel klebt Nachtschweiß. Nachdem ich im Netz die Nachrichten gecheckt habe, kann ich mich nur noch auf mein Bett kauern, von dem die dünne Sommerdecke heruntergefallen ist, und zusehen, wie sich die Posts vervielfältigen und die Flammen um sich greifen, wobei mich nur eins interessiert: Wie geht es meinem Idol?

<Bist du okay?> Narumis Message legt sich wie ein Balken über Masakis Augen auf dem Sperrbildschirm, wodurch sein Bild wie ein Verbrecherfoto aussieht.

»Bist du okay?«, fragt Narumi noch einmal, als sie sich am nächsten Morgen in letzter Sekunde zu mir in die Bahn stürzt. Sie spricht offline genau wie online. »Nichts ist okay«, sage ich, während mir auffällt, dass Narumis mitleidiges Gesicht mit den aufgerissenen Augen und besorgt zusammengezogenen Brauen wie ein Emoji aussieht. »Stimmt, wie auch.« »Ja, wie auch.« Narumi, die die obersten zwei Knöpfe ihrer Schuluniformbluse geöffnet hat, lässt sich in den Sitz neben mir fallen, und ich nehme den frischen Zitrusduft ihres Deos wahr. Ich entsperre meinen Handybildschirm, auf dem ich im grellen Sonnenlicht kaum etwas erkennen kann, mit 0815, Masakis Geburtsdatum, und gehe ohne nachzudenken auf eine Social-Media-App, die voll mit den geistigen Ausdünstungen unzähliger Menschen ist.

»Harter Shitstorm?«, fragt Narumi und zückt ebenfalls ihr Handy. In ihrer durchsichtigen Smartphonehülle stecken kleine dunkle Fotos. »Hey, Polaroids«, sage ich. »Mega, oder?« Narumi grinst unbekümmert wie ein Line-Sticker. Sie wechselt ihre Gesichtsausdrücke wie Emojis und spricht nur in knappen Sätzen. Bei ihr wirkt das nicht falsch oder aufgesetzt, vermutlich will sie sich selbst bloß so stark wie möglich vereinfachen. »Wie viele Fotos hast du gemacht?« »Zehn.« »Wow, krass, aber das heißt ja … zehntausend Yen?« »Wenn man den Wert bedenkt … oder?« »Günstig. Megagünstig.«

Die Underground-Boyband, auf die Narumi gerade steht, bietet ihren Fans den Service, nach Konzerten zusammen mit dem jeweiligen Idol bezahlte Polaroids zu machen. Auf den Fotos, die Narumi mir zeigt, hat sie ihre langen Haare zu einem hübschen Zopf geflochten. Auf manchen legt ihr Idol den Arm um sie, oder die beiden drücken ihre Wangen aneinander. Bis zum letzten Jahr war Narumi Fan einer bekannten Idol-Band, aber jetzt lautet ihr Motto: »Lieber unbekannt, aber mit Anfassen, als bekannt, aber ohne.« »Komm doch mal mit, Akari, es macht süchtig. Dein Idol erkennt dich, du kannst ihn Backstage treffen, und ihr könntet sogar zusammenkommen.«

Ich will Masaki gar nicht anfassen. Klar gehe ich auch zu Events, bei denen ich ihm die Hand schütteln darf, aber eigentlich will ich in der Masse der Fans verschwinden. Ich will zu einem Teil des Applauses, der Jubelrufe, der anonymen Danke-Kommentare unter einem seiner Posts werden.

»Als ich ihn umarmt habe, hat er mir das Haar aus dem Gesicht gestrichen, und erst dachte ich, es hätte sich was darin verfangen, aber dann«, Narumi senkt ihre Stimme, »meinte er, ich würde gut riechen.«

»Heftig«, sage ich mit Betonung auf dem E. »Ja, oder? Also für mich gibt’s kein Zurück.« Narumi steckt die Polaroids wieder in ihre Handyhülle. Der Sänger, von dem sie bis zum letzten Jahr geschwärmt hat, hat alles hingeschmissen, um im Ausland zu studieren. Nach der Pressemitteilung kam Narumi drei Tage lang nicht zur Schule.

»Versteh ich«, antworte ich. Der Schatten eines Strommasts wandert über unsere Gesichter. Narumi senkt abrupt den Kopf, als ob sie es bereut, so viel Freude zur Schau gestellt zu haben, und während sie auf die rosa Kniescheiben ihrer ausgestreckten Beine starrt, flüstert sie ernst: »Jedenfalls bist du total stark, Akari, dass du heute trotzdem zur Schule gehst. Echt stark, dass du noch gehst.«

»Hast du gerade ›echt stark, dass du noch gehst‹ gesagt?«

»Ja, wieso?«

»Erst habe ich ›echt stark, dass du noch lebst‹ verstanden.«

Narumi hustet, als hätte sie sich am Lachen verschluckt. »Das natürlich auch«, sagt sie.

»Das eigene Idol ist wirklich eine Sache von Leben und Tod«, sage ich.

Danke, dass du geboren wurdest; ich sterbe, wenn ich kein Konzertticket kriege; ich heirate ihn, wenn sich unsere Blicke treffen – Fans neigen zu Übertreibungen und Narumi und ich sind da keine Ausnahmen, aber diesmal meine ich es ernst. Ich finde es nicht richtig, nur verheiratet zu sein, wenn es gerade gut läuft, und so halte ich es auch mit meinem Dasein als Fan, also tippe ich: <Mein Idol bleibt mein Idol, in guten wie in schlechten Zeiten.> Die Bahn hält an, und das Zirpen der Zikaden wird lauter. Ich drücke auf Teilen. Von neben mir bekomme ich einen Like.

 

Ich habe vergessen, meinen Rucksack nach Masakis letztem Konzert auszuräumen. In der Schule kann ich nur den Kugelschreiber und die leeren Zettel zum Notieren meiner Eindrücke gebrauchen, also schaue ich in Klassisches Japanisch bei meiner Sitznachbarin ins Buch, leihe mir das Mathebuch aus und stehe im Schwimmunterricht am Beckenrand, weil ich natürlich auch keinen Badeanzug dabeihabe.

Beim Schwimmen ist mir das nie aufgefallen, aber vom Rand aus wirkt das Wasser, das über dem gefliesten Boden Wellen schlägt, irgendwie schleimig. Nicht Schmutz oder Sonnencreme, sondern etwas Abstrakteres, Fleischähnliches scheint sich darin aufzulösen. Wasser schwappt auf die Füße von uns Beobachterinnen. Die Zweite ist ein Mädchen aus der Nachbarklasse. Sie trägt über ihrer Sommeruniform eine dünne weiße Kapuzenjacke mit langen Ärmeln und steht ganz nah am Rand, wo sie wie ich Schwimmbretter verteilt. Jedes Mal, wenn Wasser auf ihre nackten Füße spritzt, sticht mir das krasse Weiß ihrer Haut in die Augen. Die nassschwarzen Badeanzüge und Badehosen, die aus dem Wasser kommen, sehen auch schleimig aus. Meine Mitschüler greifen nach dem silbernen Geländer oder stützen sich auf dem gelb geriffelten Beckenrand ab und erinnern mich an Seerobben, Delfine oder Killerwale, die bei einer Aquarium-Show ihre schweren Körper auf die Bühne hieven. Sie nehmen sich nacheinander ein Brett von den Stapeln, die wir ihnen entgegenhalten, und während sie sich bedanken, trieft Wasser von ihren Wangen und Oberarmen und hinterlässt auf den trockenen hellen Brettern dunkle Flecken. Mein Fleisch ist schwer. Meine Füße, die beim Auftreten Wasser hochspritzen lassen, meine sich jeden Monat häutende Gebärmutter, alles an meinem Körper fühlt sich schwer an. Gerade erklärt Kyoko, unsere mit Abstand jüngste Lehrerin, dass man die Arme im selben Rhythmus wie die Beine bewegen und die Oberschenkel anspannen müsse. »Nur mit den Füßen zu strampeln, wie es einige von euch tun, kostet viel zu viel Kraft.«

Wir haben auch Biologie bei Kyoko. Sie sagt Wörter wie Eierstöcke oder Schwellkörper so emotionslos, dass es zum Glück nicht peinlich wird, aber die Vorstellung, dass wir im Grunde dieselbe Funktion wie Tiere erfüllen, lastet trotzdem schwer auf mir.

So wie Bettwäsche zerknittert, nur weil jemand darin schläft und wieder aufwacht, hinterlässt das Leben bei einem Menschen Spuren, nur weil er zufällig lebt. Man muss die Gesichtsmuskeln heben, um sich zu unterhalten, sich waschen, weil der Körper Schmutz produziert, die Nägel schneiden, weil sie wachsen. Aber ich schaffe nicht einmal dieses absolute Minimum, selbst wenn ich meine ganze Kraft dafür aufbringe. Immer schlägt mein Körper viel zu früh einen anderen Weg als mein Wille ein.

Auf Empfehlung der Schulpsychologin habe ich mich einmal untersuchen lassen und zwei Diagnosen erhalten. Aber weil mir von den verschriebenen Medikamenten schlecht wurde, schwänzte ich meine Arzttermine, bis ich irgendwann gar keinen Antrieb mehr hatte, in die Klinik zu gehen. Dass diese Schwere in meinem Körper endlich einen Namen bekommen hatte, erleichterte mich anfangs, aber ich merke auch, wie sich ein Teil von mir seitdem noch mehr darauf stützt und daran festklammert. Ich kann der Schwere nur entkommen, wenn ich mich mit Masaki, mit meinem Idol, beschäftige.

Meine allererste Kindheitserinnerung ist eine grüne Gestalt, zu der ich von unten aufschaue. Der damals zwölfjährige Masaki spielte die Rolle des Peter Pan. Ich war vier Jahre alt. Mein Leben hat also sozusagen damit begonnen, dass mein Idol an einem Draht hängend über meinem Kopf schwebte.

Zu meinem Idol ist er allerdings erst viel später geworden, und zwar an dem Tag, als ich, kurz nach meinem Eintritt in die Highschool, das Training für das Sportfest im Mai schwänzte und stattdessen unter meiner dünnen Bettdecke lag, aus der beide Arme und Beine herausschauten. An meinen langen Zehennägeln haftete noch die Erschöpfung vom vielen Herumrennen. Das leise Geräusch eines Ballspiels in meinen Ohren. Mit jedem dumpfen Aufprall tauchte mein Bewusstsein knappe anderthalb Zentimeter weiter aus der Tiefe des Schlafs auf.

Ich hatte den Sportanzug, den ich zwei Tage zuvor in Vorbereitung auf das Training gewaschen hatte, nicht mehr finden können. Um sechs Uhr morgens hatte ich in Schuluniformbluse und Unterwäsche mein ganzes Zimmer abgesucht, doch der Anzug war nicht auffindbar, weshalb ich mich zurück in den Schlaf geflüchtet hatte, aus dem ich erst mittags wieder erwachte. Natürlich hatte sich nichts an meiner Situation geändert. Mein durchwühltes Zimmer glich dem Spülbecken in dem Lokal, in dem ich jobbte, es war nicht dagegen anzukommen.

Als ich die Dinge unter meinem Bett hervorzog, kam eine angestaubte grüne DVD zum Vorschein. Es war ein Mitschnitt des Peter-Pan-Theaterstücks, das ich als Kind besucht hatte. Ich schob die DVD in den Player und sah das farbenfrohe Intro. Ab und zu zogen Streifen über das Bild, die Disc schien also beschädigt zu sein.

Das Erste, was ich spürte, war Schmerz. Ein kurzes, dumpfes Stechen, das sich in meinen Körper bohrte und kurz darauf von einem Gefühl wie bei einem heftigen Stoß abgelöst wurde. Während der Junge auf dem Bildschirm seine Hände an den Fensterrahmen legte, heimlich ins Zimmer glitt und in seinen Stiefelchen durch den Raum schwebte, fraßen sich die Spitzen seiner Schuhe in mein Herz und stießen es mühelos in die Höhe. Ich kannte diesen Schmerz. Eigentlich hatte er sich damals in meinem ersten Highschool-Jahr schon so lange mit meinem Fleisch vertraut gemacht, dass er sich normalerweise versteckt hielt und nur manchmal wie eine plötzliche Erinnerung als Taubheitsgefühl bemerkbar machte. Doch in diesem Moment spürte ich ihn so stark wie eine Vierjährige, die hinfällt und als natürliche Reaktion in Tränen ausbricht. Es war, als strahlte der Schmerz in alle Richtungen aus, als gebe er meinem Körper die Empfindungen zurück. In dem körnigen Videobild ergossen sich Farbe und Licht, und die Welt wurde klarer und heller. Ein kleiner grüner Körper, der sanft an das Bett eines Mädchens schwebt und ihr kurz auf die Schulter klopft. Er schüttelt sie. Wach auf, ertönt seine glockenklare Stimme, und ich dachte, ja, das ist wirklich Peter Pan. Es ist derselbe Junge, der damals über meinem Kopf geschwebt ist.

Peter Pans Augen funkeln frech, während er seinen gesamten Rollentext laut herausschreit. Er betont alles gleich, rattert die Sätze herunter und macht übertriebene Gesten, aber während er Luft holt und angestrengt Laute von sich gibt, bringt er mich dazu, im selben Rhythmus ein- und wieder auszuatmen. Ich versuche, mit ihm zu verschmelzen. Wenn er rennt, spannen sich meine blassen, untrainierten Oberschenkel an. Wenn er weint, weil ein Hund seinen Schatten zu fassen bekommen hat, will ich ihn in meine Arme schließen, denn seine Traurigkeit ist auf mich übergesprungen. Mein erstarrtes Herz wird langsam weich, pumpt schwerfällig Blut in meinen Körper und lässt Hitze zirkulieren. Ich kann diese Hitze nirgendwohin abgeben, also sammelt sie sich in meinen geballten Fäusten und gekreuzten Oberschenkeln. Jedes Mal, wenn Peter Pan mit seinem kleinen Schwert herumfuchtelt, in die Enge getrieben wird oder ihn die Waffe seines Gegners streift, fühle ich mich, als legte mir jemand eine Klinge an die Organe. Als er dann den Kapitän über die Reling stößt und aufschaut, jagt mir sein eiskalter Blick, der gar nicht mehr kindlich wirkt, einen Schauder über den Rücken.

»Oha«, entfährt es mir. Heftig, wie grausam!, füge ich im Stillen hinzu. Ja, ein solcher Junge würde die Hand von Käpt’n Hook abtrennen und sie an ein Krokodil verfüttern, denke ich. »Heftig, wie grausam!« Diesmal sage ich es laut, weil außer mir sowieso niemand im Haus ist. »Ich will auch ins Nimmerland«, füge ich hinzu, ohne nachzudenken, und merke erst hinterher, wie ernst es mir damit ist.

»Ich will nicht erwachsen werden«, sagt Peter Pan mehrmals im Theaterstück. Er sagt es, als er zu seinem Abenteuer aufbricht, und als er zurückkommt, um Wendy und ihre Brüder nach Hause zu bringen. Während ich ihm zuhöre, scheint in meinem tiefsten Innern etwas zu zerplatzen.

Ich hatte diese Wortreihe schon oft gehört, ohne ihr Beachtung zu schenken, aber damals ordnete sie sich für mich neu. Ich will nicht erwachsen werden. Komm, wir gehen ins Nimmerland. Meine Nasenspitze wurde heiß. Ich hatte das Gefühl, der Satz gelte mir. Er hallte stumm in meiner Kehle wider, und auch meine Augenwinkel wurden heiß. Der rosarote Mund des Jungen schien meinem Hals dieselben Worte entlocken zu wollen, die er gerade sagte. Doch statt Worten kamen Tränen. Es war, als sagte mir jemand, ich dürfe mich elend fühlen, weil ich mit dieser erdrückenden Schwere erwachsen werden musste. Sein kleiner Körper ließ vor meinem inneren Auge Gestalten von Menschen erscheinen, die dasselbe durchmachten wie ich. Ich war mit ihm und mit vielen anderen, die hinter ihm standen, verbunden.

Peter Pan stampfte kräftig auf den Boden der Bühne, und als er dann in die Luft schwebte, rieselte Goldstaub aus seinen Händen. Ich weiß noch, wie ich nach dem Theaterstück selbst kräftig auf den Boden stampfte und auf und ab hüpfte. Das war in der Garage meiner Großeltern, wo im Sommer immer der stechende Geruch des Molchschwanzes, der überall wucherte, in der Luft hing. Ich hatte mir den goldenen »Feenstaub«, den ich als Andenken aus dem Theater-Shop bekommen hatte, über den ganzen Körper gestreut und war drei-, viermal in die Luft gesprungen. Bei jeder Landung entwich den Schuhen mit den quietschenden Sohlen, die ich als Kind immer tragen musste, Luft, sodass sie ein besonders lautes Geräusch von sich gaben. Ich glaubte nicht wirklich daran, dass ich fliegen konnte, aber der Abstand zwischen dem Quietschen wurde mit jedem Mal ein bisschen länger, und ein Teil von mir hoffte doch, irgendwann gar nichts mehr zu hören. Bis ich landete, war mein Körper leicht, und diese Leichtigkeit kehrte als Sechzehnjährige zu mir zurück, während ich in Bluse und Unterwäsche vor dem Fernseher saß.

Masaki Ueno. Auf der DVD