If he had been with me - Laura Nowlin - E-Book
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If he had been with me E-Book

Laura Nowlin

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Beschreibung

»Right person, wrong time. Mich hat schon ewig kein Buch mehr so berührt.
Eine herzzerreißende Second-Chance- und Friends-to-Lovers-Romance <3


Auf einer regennassen Straße soll sich Finns und Autumns Schicksal für immer entscheiden. In dem Moment, als das Auto von der Fahrbahn abkommt. Doch eigentlich beginnt Autumns und Finns Geschichte viel früher: Schon ihre Mütter sind beste Freundinnen und so wachsen sie Tür an Tür auf, verbringen jede freie Minute gemeinsam, kennen den anderen besser als sich selbst. Bis aus ihrer Freundschaft etwas anderes wird. Nur kann Autumn sich diese tiefen Gefühle nicht eingestehen. Stattdessen versucht sie, Finn zu vergessen. Doch wie soll sie das schaffen, wenn ihr Herz so verräterisch schlägt, sobald sich ihre Blicke treffen? Und wie soll sie das schaffen, wenn niemand jemals Finns Platz in ihrem Herzen einnehmen kann?

Alles beginnt mit einer Freundschaft. Doch wie wird ihre Geschichte enden?

Fesselnd und herzzerreißend. If he had been with me ist perfekt für Leser*innen von:

•Zeitgenössischen Liebesromanen für Teenager
•Unwiderstehlichen und fesselnden Romanen
•Komplexen emotionalen YA-Geschichten
•TikTok Büchern
•Jenny Han, Colleen Hoover und Dustin Thao

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Seitenzahl: 414

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LAURANOWLIN hat einen BA in Englisch mit dem Schwerpunkt Kreatives Schreiben von der Missouri State University. Wenn sie nicht gerade über ihre Romane und Figuren nachdenkt, arbeitet sie in einer öffentlichen Bibliothek. Der perfekte Ort, um sich für ihre Bücher inspirieren zu lassen. Sie lebt mit ihrer Familie in St. Louis.

Laura Nowlin

if he had been with me

Roman

Aus dem Englischen von Juliane Zaubitzer

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel If he had been with me bei Sourcebooks Fire.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2013 der Originalausgabe by Laura Nowlin

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Carla Felgentreff

Umschlaggestaltung: Favoritbuero (nach einem Entwurf von Belle & Bird Design)

Umschlagabbildungen: © Helena Gonzalez M./Arcangel

Autorinnenfoto: © Nicky Wilmas

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN 978-3-641-31274-9V001

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen,

es könnte sein, dass einige Passagen des Buches euch persönlich nahegehen, wenn ihr ähnliche Erfahrungen macht oder gemacht habt. Aus diesem Grund findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung, die aufzeigt, um welche Inhalte es sich hierbei handelt.

Laura Nowlin und der Penguin Verlag

Für meinen Mann RobertOhne dich hätte ich nicht gewusst, wie man über wahre Liebe schreibt.

eins

An jenem Abend im August war ich nicht mit Finny zusammen, doch meine Fantasie hat mir die Szene so ins Gehirn gebrannt, dass es sich anfühlt wie eine Erinnerung.

Natürlich regnete es, und er glitt mit seiner Freundin Sylvie Whitehouse in dem roten Wagen durch die Nacht, den sein Vater ihm zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. In wenigen Wochen würde Finny neunzehn sein.

Sie hatten Streit. Keiner sagt, worüber sie gestritten haben. Die Leute meinen, es sei nicht wichtig für die Geschichte. Was sie nicht wissen, ist, dass es noch eine andere Geschichte gibt. Die Geschichte hinter und zwischen den offensichtlichen Fakten. Was sie nicht wissen, ist, dass der Grund für den Streit entscheidend für meine Geschichte ist.

Ich sehe es vor mir – die regennasse Straße und die blinkenden Lichter von Krankenwagen und Polizeiautos, die das Dunkel der Nacht durchschneiden und die Vorbeifahrenden warnen: Hier ist ein Unglück passiert, bitte fahren Sie langsam. Ich sehe Sylvie, die seitlich auf der Rückbank des Polizeiautos sitzt und mit den Füßen auf den nassen Asphalt trommelt, während sie spricht. Ich kann sie nicht hören, aber ich sehe, dass Sylvie ihnen den Grund für den Streit sagt, und ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß. Wäre er mit mir zusammen gewesen, wäre alles anders.

Ich kann die beiden vor dem Unfall im Auto sehen – den strömenden Regen, die Welt und der Asphalt nass und glatt, wie eingeölt für ihre Ankunft. Sie gleiten durch die Nacht, bedauerlicherweise zusammen, und sie streiten. Finny runzelt die Stirn. Er ist abgelenkt. Er denkt nicht an den Regen oder das Auto oder die nasse Straße. Er denkt an den Streit mit Sylvie. Er denkt an den Grund für den Streit, und plötzlich schert der Wagen nach rechts aus und reißt Finny aus seinen Gedanken. Ich stelle mir vor, dass Sylvie schreit, und dann steuert er gegen und zieht das Lenkrad zu weit nach links.

Finny ist angeschnallt. Ihn trifft keine Schuld. Aber Sylvie ist es nicht. Beim Aufprall fliegt sie durch die Windschutzscheibe in die Nacht, erleidet jedoch wie durch ein Wunder nur kleine Schnittwunden an den Armen und im Gesicht. Das ist zwar die Wahrheit, aber schwer vorstellbar, so schwer, dass es nicht einmal mir gelingt. Ich kann nur den Moment danach sehen, den Moment, in dem sie schwerelos durch die Luft schwebt, in Zeitlupe mit den Armen rudert, ihr Haar, ein bisschen blutig und jetzt nass vom Regen, flatternd wie das einer Meerjungfrau, ihr Mund zum runden O eines Angstschreis verzogen, umgeben von der perfekten Silhouette der dunklen, nassen Nacht.

Plötzlich ist Sylvie wieder auf der Erde. Sie klatscht auf den Asphalt und ist bewusstlos.

Zusammengesackt liegt sie auf der Straße. Finny ist unverletzt. Er atmet schwer und starrt schockiert in die Nacht. Das ist sein Moment der Schwerelosigkeit. Sein Kopf ist leer. Er fühlt nichts, er denkt nichts; er existiert nur, perfekt und unversehrt. Er hört nicht mal den Regen.

Bleib sitzen, flüstere ich ihm zu. Bleib im Auto. Verweile in diesem Moment. Aber das tut er natürlich nie.

zwei

Phineas Smith ist Tante Angelinas Sohn. Tante Angelina ist gar nicht meine Tante, sondern die Freundin meiner Mutter aus Kindertagen, ihre immer noch beste Freundin – und Nachbarin. Unsere Mütter waren in jenem Frühjahr und Sommer vor langer Zeit gemeinsam schwanger. Meine Mutter, so wie es sich gehört, seit über einem Jahr mit ihrer Highschool-Liebe verheiratet, das Haus mit eingezäuntem Garten voller Fotos von der Hochzeit. Mein Vater war – ist – nie da, wegen seiner Arbeit, doch das störte meine Mutter nicht; sie hatte ja Angelina. Angelina war von ihrem Liebhaber schwanger. Der war verheiratet und reich und viel zu alt für sie. Außerdem weigerte er sich zu glauben, dass das Kind von ihm war. Erst ein gerichtlich angeordneter Gentest wenige Wochen nach Phineas’ Geburt bewegte seinen Vater dazu, sich angemessen zu verhalten, Tante Angelina das Haus neben meiner Mutter zu kaufen und nach jedem monatlichen Scheck für die nächsten dreißig Tage so zu tun, als würden sie und das Baby nicht existieren.

Meine Mutter arbeitete nicht, und Tante Angelina unterrichtete Kunst an der Vogt Elementary gegenüber von ihrer Wohnung. Im Sommer ihrer Schwangerschaft ging Tante Angelina – den dicken, schweren Bauch voran – immer von ihrer Wohnung in der Church Street zu unserem großen viktorianischen Haus in der Elizabeth Street, und die beiden saßen den ganzen Tag auf der Veranda hinter dem Haus, die Füße auf dem Geländer. Sie tranken Limonade oder Eistee und gingen höchstens rein, um nachmittags I Love Lucy zu sehen. Sie setzten sich extra eng nebeneinander, damit Finny und ich uns gegenseitig treten konnten, wie Zwillinge.

Sie schmiedeten große Pläne für uns in jenem Sommer.

Phineas wurde zuerst geboren, am 21. September. Ich kam eine Woche später zur Welt, als würde ich seine Tritte vermissen. Im September sagen die Leute immer, der Herbst sei ihre liebste Jahreszeit. In keinem anderen Monat des Jahres sagen sie das. Die Leute vergessen, dass der September eigentlich ein Sommermonat ist, besonders in St. Louis. Die Blätter an den Bäumen sind noch grün, und das Wetter ist schön, und dennoch hängen die Leute Strohpuppen an ihre Türen. Wenn sich Ende Oktober tatsächlich die Blätter verfärben und das Wetter umschlägt, haben sie längst genug vom Herbst und warten auf Weihnachten. Sie halten nie inne; sie fragen sich nie, ob sie nicht schon alles haben.

Meine Mutter hat mich Autumn genannt. Die Leute sagen »Oh, wie hübsch«, und dann scheint ihnen der Name zu entgleiten, bevor ihnen bewusst wird, was alles in dem Wort mitschwingt – Rottöne, Veränderung und Tod.

Phineas hat meinen Namen noch vor mir verstanden. Mein Name hatte, was seinem fehlte, Assoziationen, Bedeutung, Geschichte. Seine Enttäuschung, als wir in der vierten Klasse unsere Namen nachschlugen, überraschte mich. Jedes Buch schrieb seinem Namen eine andere Bedeutung zu, einen anderen Ursprung: Schlange, Nubier, Orakel, Hebräer, Araber, unbekannt. Mein Name bedeutete genau das, was er war; da gab es nichts zu entdecken. Ich fand, ein Name unbekannter Herkunft und Bedeutung konnte nicht enttäuschen. Damals verstand ich nicht, dass sich ein Junge ohne richtigen Vater nach Herkunft und Bedeutung sehnt.

Es gab so vieles, was ich über die Jahre nicht an ihm verstand, aber natürlich, natürlich, natürlich, natürlich ergibt jetzt alles einen Sinn.

Wir wuchsen in Ferguson auf: eine Kleinstadt im Speckgürtel von St. Louis mit alten viktorianischen Häusern, alten Backsteinkirchen und einer malerischen Innenstadt, deren Läden seit Generationen denselben Familien gehörten. Es war vermutlich eine glückliche Kindheit.

Ich war ein Sonderling und hatte außer Finny keine Freunde. Er hätte Freunde haben können, wenn er gewollt hätte; er war sportlich, und an ihm war überhaupt nichts sonderbar. Er war süß und schüchtern, und alle mochten ihn. Die Mädchen waren in ihn verknallt. Die Jungs wählten ihn im Sportunterricht als Erstes in ihr Team. Die Lehrer nahmen ihn dran, wenn sie die richtige Antwort hören wollten.

Ich interessierte mich für die Hexenprozesse von Salem. Ich las im Unterricht Bücher unter dem Tisch und weigerte mich, die untere linke Ecke meiner Brote zu essen. Ich hielt Schnabeltiere für eine Verschwörung der Regierung. Ich konnte weder ein Rad schlagen noch irgendeinen Ball schießen, schlagen oder werfen. In der dritten Klasse erklärte ich mich zur Feministin.

Bei der Berufsorientierungswoche in der fünften Klasse verkündete ich im Unterricht, mein Berufswunsch sei es, nach New York zu ziehen, schwarze Rollkragenpullover zu tragen und den ganzen Tag in Cafés zu sitzen, tiefschürfende Gedanken zu denken und Geschichten zu erfinden.

Mrs Morgansen stutzte kurz, dann schrieb sie Schriftstellerin unter mein lächelndes Polaroidfoto und befestigte es neben den zukünftigen Lehrern und Footballstars an der Wand. Ich glaube, sie war froh, etwas für mich gefunden zu haben, aber manchmal frage ich mich, ob sie sich genauso viel Mühe mit mir gegeben hätte, wenn ich ein hässlicher Sonderling gewesen wäre.

Solange ich denken kann, sagten die Leute, ich sei hübsch, Erwachsene öfter als Gleichaltrige. Sie erzählten es mir, wenn wir uns begegneten; sie raunten es einander zu, wenn sie dachten, ich könnte sie nicht hören. Es wurde eine Tatsache, die ich über mich wusste, wie dass mein zweiter Vorname Rose ist oder dass ich Linkshänderin bin: Ich war hübsch.

Nicht dass es mir etwas gebracht hätte. Die Erwachsenen schienen das zwar zu glauben, doch in meiner Kindheit erfreuten sie sich mehr an meiner Schönheit als ich selbst.

Für die anderen Kinder war meine hervorstechendste Eigenschaft eine andere Tatsache, die ich über mich wusste: Ich war irgendwie seltsam.

Das war keine Absicht, und ich hasste es, so gesehen zu werden. Es war eher, als würde mir die Fähigkeit fehlen, zu erkennen, ob etwas, das ich sagte oder tat, sonderbar war, und so war ich quasi darin gefangen, ich selbst zu sein. Hübsch zu sein, war in meinen Augen ein schwacher Trost.

Finny stand zu mir; er beschimpfte jeden, der es wagte, mich zu ärgern, fuhr jedem über den Mund, der sich über mich lustig machte, und wählte immer mich als Erste in sein Team.

Alle wussten, dass ich zu Finny gehörte, dass wir zusammengehörten. Unsere Mitschüler akzeptierten uns als Kuriosität, und meistens ließen sie mich in Ruhe. Und ich war glücklich, ich hatte ja Finny.

Wir waren selten getrennt. In der Pause saß ich auf dem Hügel und las, während Finny auf dem Feld davor mit den Jungs Kickball spielte. Wir waren bei jeder Gruppenarbeit ein Team. Wir gingen zusammen von der Schule nach Hause und zogen an Halloween gemeinsam von Tür zu Tür. Wir erledigten unsere Hausaufgaben nebeneinander am Küchentisch. Da mein Vater so oft weg war, luden unsere Mütter sich oft gegenseitig zum Abendessen ein. Ganze Wochen verstrichen, in denen Finny und ich nur getrennt waren, wenn wir in unseren Betten schliefen, und selbst dann schliefen wir in dem Bewusstsein ein, dass der andere nicht weit war.

In meinen Kindheitserinnerungen ist immer zuerst Sommer. Ich sehe das tanzende Licht und grüne Blätter. Finny und ich verstecken uns im Gebüsch oder auf Bäumen. Im Herbst sind unsere Geburtstage und der gemeinsame Schulweg und goldenes Licht. Er und seine Mutter feiern mit uns zusammen Weihnachten. Mein Vater tritt in Erscheinung. Sein Vater schickt ein ebenso teures wie unerfindliches Geschenk. Ein Chemiekasten. Golfschläger. Finny zuckt die Schultern und legt es beiseite. Der Winter ist weiß, kalte Hände, tief in den Taschen vergraben. Finny rettet mich, wenn andere Kinder Schneebälle nach mir werfen. Wir fahren Schlitten oder bleiben drinnen. Der Frühling ist ein Gemälde in Hellgrün, und ich sehe Finny von der Zuschauertribüne beim Fußballspielen zu.

In meinem Kopf bezeichne ich diese Zeit als Davor.

drei

Die Schultasche über der Schulter gehe ich zur Bushaltestelle. Ein paar Kids warten schon, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Ich senke den Blick. Meine Stiefel sind mit silberner Sprühfarbe lackiert. Mein Haar und meine Fingernägel sind schwarz. Ich stelle mich ganz an den Rand. Keiner sagt etwas.

Unsere Bushaltestelle liegt oben auf dem Berg in der Darst Road. Früher sind Finny und ich hier mit unseren Fahrrädern runtergesaust. Ich hatte immer Angst. Finny nie.

Ich betrachte die anderen Kids, während ich so tue, als würde ich sie nicht sehen. Wir sind sieben. Manche kenne ich noch von der Mittelschule oder sogar von der Grundschule.

Es ist mein erster Tag an der Highschool.

Ich senke den Blick wieder und studiere den zerfledderten Saum meines schwarzen Kleids. Ich habe die Spitze vor einer Woche mit der Nagelschere abgeschnitten. Meine Mutter sagt, ich kann anziehen, was ich will, solange meine Noten so bleiben. Aber sie weiß auch noch nicht, dass ich dieses Jahr nicht mehr zu den beliebten Mädchen gehöre.

Am letzten Schultag waren Sasha und ich in der Drogerie und haben eine Stunde lang Haarfarben ausgesucht. Wegen meines Namens wollte sie meine Haare unbedingt rot färben. Ich fand das bekloppt, sagte aber nichts. Seit wir neulich aus der Clique geflogen sind, ist Sasha meine einzige Freundin.

»Hey«, sagt jemand. Alle sehen auf. Finny steht jetzt neben uns, groß, blond und adrett wie aus dem Katalog. Alle wenden den Blick wieder ab.

»Hey«, höre ich die Stimme eines Mädchens sagen. Sie steht irgendwo hinter mir, und ich kann sie nicht sehen.

Ich hätte Finnys Gruß erwidern sollen, aber ich bin gerade zu aufgeregt zum Sprechen.

Gestern waren wir zum letzten Mal in diesem Sommer zum Barbecue bei ihm. Während unsere Mütter grillten, saß ich auf der Veranda und sah zu, wie Finny einen Fußball gegen den Zaun kickte. Ich dachte an eine Kurzgeschichte, die ich am Tag zuvor angefangen hatte, mein erster Versuch eines Schauerromans. Ich plante ein sehr tragisches Ende und malte mir genüsslich die Schicksalsschläge aus, die meiner Heldin widerfahren würden. Als wir ins Haus geschickt wurden, um die Teller zu holen, sprach er mich an.

»Warum hast du deine Haare gefärbt?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. Wenn mich jemand gefragt hätte, warum Finny und ich keine Freunde mehr waren, hätte ich gesagt, es war ein Versehen.

Unsere Mütter hätten gesagt, dass wir uns in den letzten Jahren auseinanderentwickelt hatten. Keine Ahnung, was Finny gesagt hätte.

In der Grundschule wurden wir als Kuriosität akzeptiert. In der Mittelschule fanden die anderen unsere Freundschaft seltsam, und anfangs mussten wir uns erklären, doch dann sahen wir uns kaum noch und es gab immer weniger, was die Leute hätten seltsam finden können.

Durch irgendeinen komischen Zufall wurde meine Schrägheit akzeptabel, und im ersten Halbjahr der siebten Klasse gehörte ich zu den beliebten Mädchen. Wir nannten uns die Clique. Jeden Tag aßen wir zusammen Mittag und gingen danach auf die Toilette, um uns die Haare zu bürsten. Jede Woche lackierten wir uns die Nägel in derselben Farbe. Wir hatten heimliche Spitznamen und Freundschaftsbändchen. Ich war es nicht gewohnt, bewundert oder beneidet zu werden oder Freundinnen zu haben, und obwohl mir Finny Davor immer genug gewesen war, saugte ich es auf, als wäre ich seit Jahren am Verdursten gewesen.

Finny schloss sich einer Gruppe Jungs an, die ein bisschen nerdig war, und wenn wir uns in der Schule begegneten, winkte ich ihm zu. Er winkte immer zurück.

Wir hatten sowohl unterschiedliche Kurse als auch unterschiedliche Hausaufgaben, und ich sah ihn immer seltener. Zu den beliebten Mädchen zu gehören, nahm viel Zeit in Anspruch. Nach der Schule sollte ich bei ihnen vorbeikommen, und wir sahen Filme, während wir uns gegenseitig die Haare machten. An den Wochenenden gingen wir shoppen.

Wenn ich Finny doch einmal sah, hatten wir kaum noch Gesprächsthemen. Jedes Schweigen war ein weiterer Stein in der Mauer, die zwischen uns hochgezogen wurde.

Irgendwie waren wir keine Freunde mehr.

Es war keine bewusste Entscheidung. Nicht wirklich.

Ich blicke auf meinen silbernen Stiefel und die zerfledderte Spitze, als der Bus kommt. Alle treten vor, die Köpfe gesenkt. Schweigend steigen wir in den Bus, wo alle reden. Obwohl es keinen Grund für die Befürchtung gibt, Sasha könnte nicht da sein, bin ich erleichtert, als ich sie in der Mitte des Busses sitzen sehe. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt und dicken dunklen Eyeliner.

»Hey«, sage ich, als ich mich neben sie setze und die Schultasche auf meinen Schoß stelle.

»Hey«, sagt sie. Da ich mich weigere, meine Haare rot zu färben, hat sie stattdessen ihre bunt gefärbt. Wir lächeln uns an. Unsere Transformation ist perfekt. Gewissermaßen.

Ich kann genau sagen, warum Sasha und ich nicht mehr mit Alexis Myers oder irgendeinem der anderen Mädchen befreundet sind.

Ich hatte mich nicht bei den Cheerleadern beworben.

Ich hatte es vorgehabt. Ich wollte Cheerleaderin sein. Ich wollte beliebt sein und mit einem Fußballspieler ausgehen – was an der McClure High statt American Football angesagt ist – und alles, was nötig war, um in der Clique zu bleiben. Doch es scheiterte daran, dass ich es nicht schaffte, mir eine eigene Choreografie fürs Vortanzen auszudenken. Und das war’s.

Alexis und Taylor und Victoria hatten es alle ins Cheerleader-Team geschafft, nur Sasha nicht. Wir wurden zwar nicht offiziell verbannt, doch beim Mittagessen redeten sie über nichts anderes als das Cheerleader-Training und die älteren Mädchen im Team, die sooo nett wirkten.

Am letzten Schultag kamen Alexis, Taylor und Victoria alle mit geflochtenen Zöpfen zur Schule. Sie hatten uns nichts davon gesagt. Normalerweise trugen wir immer alle am selben Tag Zöpfe. Als wir sie beim Mittagessen fragten, warum sie uns nicht Bescheid gesagt hatten, sahen sie sich nur an und kicherten. Ich vermute, dass sie endlich die Wahrheit erkannt hatten, die ich ihnen verschwiegen hatte: Ich war ein hübsches Mädchen, aber ich war kein beliebtes Mädchen. Ich war anders. Ich war irgendwie komisch. Deshalb gab ich es auf und beschloss, wieder das seltsame Mädchen zu sein, und Sasha machte mit.

Im Bus beugt Sasha sich zu mir und sagt: »Du siehst cool aus.«

»Du auch«, sage ich und drehe mich wieder nach vorn. Ein Mädchen in blauroter Uniform kommt den Gang entlang. Ihr blonder Pferdeschwanz schwingt hin und her. Es versetzt mir immer noch einen Stich, wenn ich sehe, dass sie sich neben Finny setzt. Am Ende des Monats werden sie zusammen sein, und meine Mutter wird mir erzählen, dass Finny Sylvie Whitehouse auf dem Schulgelände kennengelernt hat, als er beim Fußball- und sie beim Cheerleader-Training war.

»Was glaubst du, werden die Leute sagen?«, fragt Sasha.

Fast hätte ich erwidert, sie soll nicht so uncool sein.

»Keine Ahnung«, sage ich.

vier

Die ersten paar Tage essen Sasha und ich noch allein auf der von mir so getauften Treppe ins Nirgendwo. Die Zementstufen führen vom Schulhof zu einer verwilderten Wiese hinunter.

Alexis und die anderen tragen ihre Uniformen und grinsen jedes Mal, wenn sie uns sehen, als wäre unser neuer Look gegen sie gerichtet. Ein neues Mädchen, Sylvie von der St. John’s Catholic School, sitzt an ihrem Tisch. Fast alle Neuntklässler kommen von derselben öffentlichen Schule, doch es sind auch ein paar katholische Kids dazwischen, deren Eltern sich die privaten Highschools nicht leisten können. Diese Kids sind seit dem Kindergarten mit denselben Leuten zur Schule gegangen und fühlen sich in den Weiten der McClure High verloren. In den ersten, heiklen Tagen versuchen noch alle, ihren Platz zu finden, dann rutschen sie in neue Allianzen, und es bildet sich ein Muster, das für den Rest des Jahres, vielleicht sogar bis ans Ende der Schulzeit Bestand haben wird.

Sasha hat ein Mädchen von der St. John’s kennengelernt, das ein Kreuz und einen Totenkopf an einer Kette trägt. Sie haben zusammen Sport und beschnüffeln sich ein paar Tage, bevor Sasha das Mädchen einlädt, mit uns zu essen. Ihr Name ist Brooke, und sie bringt ihren Freund Noah und ihren Cousin Jamie mit. Am nächsten Tag kommen noch mehr Leute dazu – Soundsos Freund, jemand aus jemandes Klasse. Bald sind wir eine ganze Gruppe auf der Treppe ins Nirgendwo. Einige verziehen sich nach ein paar Tagen wieder und schließen sich anderen Gruppen an, einige bleiben. Am Ende der zweiten Woche ist auf der Treppe ins Nirgendwo ein Freundeskreis entstanden.

Wir sind vier Mädchen und drei Jungs. Brooke und Noah sind schon zusammen und unzertrennlich. Sie sehen sich sogar ähnlich – braunes Haar und Sommersprossen und Lachfältchen um die Augen.

Bleiben Sasha, Angie und ich für Jamie und Alex. Angie, blond und ein bisschen pummelig, ist noch in einen Typen von ihrer alten Schule verknallt. Alex hat schöne Augen, aber er ist klein und ein bisschen verpeilt. Ich sehe Sasha an der Nasenspitze an, dass sie ebenfalls ein Auge auf Jamie geworfen hat.

Schon als ich Jamies Gesicht zum ersten Mal sah, hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Er hat grüne Augen mit unglaublich langen Wimpern. Sein Haar ist dunkel, ein bisschen lockig und sehr zerzaust. Er ist groß, dünn und blass.

Jamie ist lebhaft und lustig, und er grinst viel. Er erinnert mich an Puck in Ein Sommernachtstraum. Jamie stiftet die anderen Jungs zu Dummheiten an, und die Mädchen lehnen sich zurück und sehen von der Treppe aus kichernd zu. Sie spielen auf der Wiese Fußball mit Brookes Schuh, werfen zerknülltes Papier in offene Klassenzimmerfenster und äffen den A-cappella-Schulchor nach. Jamie wirft lachend den Kopf zurück, wenn seine Pläne aufgehen. Ich beobachte ihn und muss unwillkürlich an Peter Pan denken, der zu Wendy sagt, er müsse einfach krähen.

Sasha und ich versuchen jede auf ihre Weise, Jamies Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sasha neckt ihn und macht auf niedlich. Ich bin abwechselnd schüchtern und kokett. Sie läuft die Stufen runter und macht bei den Jungsspielen mit. Ich lächle über seine Witze und mache ihm schöne Augen. Sasha hält ihm die Hand zum Abschlagen hin. Ich juble ihm von der Treppe aus zu. Es ist eine Schlacht, aber wir tun uns nicht gegenseitig weh. Sasha und ich wissen, wenn es vorbei ist, müssen wir noch Freundinnen sein.

Allmählich und gleichzeitig plötzlich, denn es passiert innerhalb weniger Tage, überhole ich Sasha. Ein paar Pausen kämpft sie tapfer weiter, doch es wird immer offensichtlicher, dass Jamie sich für mich entschieden hat. Er setzt sich auf der Treppe neben mich. Er überlässt mir den Rest seiner Pommes. Er kitzelt mich. Er lächelt mir zu, während er mit den Jungs Schuh-Ball spielt, und mir wird flau im Magen. Jamie. Jamie. James. Jamie.

Eines Montagnachmittags nimmt Jamie auf der Treppe ins Nirgendwo wie selbstverständlich meine Hand, und alle tun so, als wäre das ganz normal. Ich halte seine Hand und sehe auf die Betonstufen, um nicht zu grinsen oder meine Gefühle zu verraten. Innerlich fühlt es sich an, als würde ich zittern; nach außen bleibe ich so cool wie er. Natürlich sind wir zusammen, natürlich. Natürlich.

An jenem Tag beobachten Alexis und die anderen mich interessiert, als ich im Flur mit Jamie an ihnen vorbeigehe, dann wenden sie sich ab, als wäre nichts gewesen. Aber sie müssen es gesehen haben. Niemand kann bestreiten, dass er gut aussieht. Jamie ist ein dunkelhaariger Adonis, ein Gothic-Prinz. Und jetzt gehört er mir.

fünf

Jamie will mehr, und ich sage ihm, dass ich noch nicht so weit bin. Wir sind seit der dritten Schulwoche zusammen, aber es ist erst Anfang November, und ich bin überrascht, dass wir diese Diskussion so schnell führen. Vor ein paar Tagen hat er am Telefon gesagt, dass er mich liebt, und als ich jetzt neben ihm liege und an die Decke starre, frage ich mich, ob er es deshalb gesagt hat.

»Na schön«, sagt er und nimmt meine Hand.

Wir sind beide angezogen und tragen die exzentrische Uniform, die sich in unserer Gruppe etabliert hat. Wir sind keine Gruftis oder Hipster, nur unkonventionell. Die Mädchen färben sich die Haare, und die Jungs bemühen sich, so auszusehen, als wären sie gerade erst aus dem Bett gefallen. Wir tragen alle Stiefel und kauen Fingernägel. Ich weiß, wir sind nur auf andere Weise angepasst, aber das würde ich nie laut sagen. Was unsere Gruppe zusammenschweißt, ist das Gefühl, anders zu sein – und deshalb irgendwie besser – als die »normalen« Kids an der Schule. Vor allem besser als die beliebten Kids.

Seit ich tatsächlich auf der Highschool bin, habe ich gar nicht mehr das Bedürfnis, eines dieser Mädchen mit Pferdeschwanz und Faltenrock zu sein. Ich bin froh, dass ich endlich ich selbst sein darf, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Bei meinen neuen Freunden ist Schrägsein etwas Gutes, solange man auf dieselbe Weise schräg ist wie sie.

»Euer Haus ist echt schräg«, sagt Jamie.

Es ist das erste Mal, dass er unser Haus von innen sieht. Meine Eltern sind auf dem Herbstfest im Büro meines Vaters. Am Tag meiner Geburtstagsparty war Jamie krank, und Mom hat es noch nicht geschafft, mich zu überreden, ihn zum Essen einzuladen.

»Was meinst du?«, frage ich.

»Alles ist so perfekt«, sagt er. »Sogar dein Zimmer.«

Es ist kein Kompliment. Ich sehe mich um, betrachte die lavendelfarbenen Wände und weißen Korbmöbel.

Ich zucke die Schultern.

»Meine Mom hat es eingerichtet«, sage ich, was halb gelogen ist. Sie hat den Rest des Hauses eingerichtet, und es ist perfekt, so wie sie. Alles ist aufeinander abgestimmt, alles passt zusammen. Es könnte in einer Design-Zeitschrift abgebildet sein, meine Mutter am Küchentisch mit einer Vase weißer Tulpen, alles tipptopp, während sie so tut, als würde sie die Zeitung lesen. Mein Zimmer haben wir zusammen gemacht. In der Zeitschrift würde ich eine Cheerleader-Uniform tragen. Ich würde lächeln.

»Du solltest wenigstens ein paar Poster aufhängen«, sagt Jamie. Ich rolle mich auf die Seite und lege den Kopf an seine Schulter. Ich finde, er entspricht dem klassischen Schönheitsideal, groß und dunkel. Er will sich die Augenbraue piercen, und ich habe versucht, es ihm auszureden.

»Ja, vielleicht mache ich das«, sage ich. Ich mag Jamie wirklich, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich ihn liebe. Er ist witzig und originell, und er ist unser Anführer. Solange ich mit ihm zusammen bin, kann ich nie ausgeschlossen werden.

Er legt seine Hand an meinen Hinterkopf und fährt mit den Fingern in mein Haar. »Ich liebe dich, Autumn«, sagt er. Unten schlägt eine Tür. Wir setzen uns beide auf. »Ist deine Mom zu Hause?«, fragt er. Ich soll eigentlich nicht allein mit Jamie im Haus sein, vor allem, weil meine Eltern ihn noch nicht kennen. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, mich dazu zu überreden.

Ich sehe auf die Uhr und schüttle den Kopf. »Wahrscheinlich Finny«, sage ich.

»Dein Ernst?«, fragt er.

»Ja«, sage ich. Ich habe Jamie von meiner schmutzigen Vergangenheit erzählt, von Popularität und Pferdeschwänzen. Ich habe es erzählt, als wäre ich entronnen. Als wäre ich um ein Haar eine von denen geworden. Er weiß auch, dass meine Mom und Finnys Mom beste Freundinnen sind. Dass wir zusammen gespielt haben, als wir klein waren. Auf meiner Kommode stand ein altes Foto von Finny und mir, das unseren Bruch irgendwie überlebt hat. Seit fast zwei Jahren spreche ich nur mit Finny, wenn es sich nicht vermeiden lässt, doch mir ist nie in den Sinn gekommen, das Foto von uns wegzuräumen – bis heute, als Jamie meinte, er würde vorbeikommen. Ich versteckte es in der obersten Schublade unter den Socken.

Alle wissen, wer Finny ist, nur dass sie ihn nicht so nennen. Alle in der Schule nennen ihn Finn. Er ist der einzige Neuntklässler, der es ins Fußballteam geschafft hat. Er und einige seiner ehemals nerdigen Freunde sind in die Clique aufgenommen worden, aber sie nennen sich nicht mehr so. Seiner Clique einen Namen zu geben, ist inzwischen out. Schon komisch, dass ich diese Mädchen vor nur wenigen Monaten als meine besten Freundinnen betrachtet habe, und noch komischer, dass Finny sich mit ihnen angefreundet hat.

Es ließ sich nur knapp vermeiden, dass wir einander zu unseren Geburtstagen einladen mussten. In der Mittelschule wäre das nicht so schlimm gewesen, abgesehen davon, dass bei mir nur Mädchen kamen und bei ihm nur Jungs. Unsere Mütter lagen uns in den Ohren, denn sie verstanden nicht, dass Phineas und mich weit mehr trennt als Entfremdung. Wir bewegen uns auf völlig verschiedenen Existenzebenen, und eine Vermischung würde eine Verschiebung der Realität bewirken, die die ganze Struktur des Universums durcheinanderbringt. Finny war jetzt beliebt. Ich war eine Außenseiterin, die sich mit anderen Außenseitern verbündet hatte.

Sie sprachen nicht mit uns beiden gemeinsam darüber. Meine Mutter versuchte, mir gut zuzureden, und als ich sagte, es sei absolut unmöglich, ihn einzuladen, seufzte sie: »Was ist dieses Jahr nur mit euch beiden los?« Deshalb wusste ich, dass er dieselbe Diskussion mit Tante Angelina führte.

»Was hat Finn Smith bei euch im Haus zu suchen?«, fragt Jamie.

»Wahrscheinlich holt er nur was«, sage ich.

»Was denn zum Beispiel?«, fragt er. Ich zucke die Schultern. Keine Ahnung, wie ich das erklären soll. »Lass uns nachsehen«, sagt er. Ich protestiere nicht, obwohl mir das Herz in die Hose rutscht.

Jamie bleibt im Flur stehen, während ich in die Küche gehe. Finny hockt vor dem offenen Kühlschrank, sodass ich seinen blonden Schopf nicht sehen kann.

»Hi«, sage ich.

Er sieht mich über die Schulter an. Bis zur Mittelschule waren wir immer gleich groß. Irgendwann hatte er einen Wachstumsschub, und jetzt ist er eins dreiundachtzig. Es ist komisch, ihn zu mir aufblicken zu sehen.

»Oh, hi«, sagt er beim Aufstehen und dreht sich zu mir um. Er wird ein bisschen rot. »Tut mir leid, die Tür zum Garten war nicht abgeschlossen, aber ich dachte, es ist niemand zu Hause.«

»Ich bin nicht mitgegangen«, sage ich.

»Oh«, sagt er. »Habt ihr Eier?«

»Äh, ja.« Ich durchquere den Raum und öffne den Kühlschrank wieder. Finny geht einen Schritt zur Seite, um mir Platz zu machen. Bevor ich mich bücke, sehe ich seinen Blick zur Tür wandern, und ich weiß, er hat Jamie im Flur entdeckt. »Wie viele brauchst du?«, frage ich.

»Keine Ahnung«, sagt er. »Mom hat nur gesagt, ich soll nachsehen, ob ihr Eier habt.« Ich stehe auf und gebe ihm den ganzen Karton. »Danke«, sagt er.

»Kein Problem«, sage ich.

»Bis dann«, sagt Finny.

»Ciao.« Ich bleibe stehe und lausche, wie er die Stufen in den Garten runterpoltert, bevor ich wieder in den Flur gehe.

»Wow«, sagt Jamie. »Ihr beide kennt euch.«

»Hab ich dir doch erzählt«, sage ich.

»Ja, aber das war echt schräg«, sagt er. Ich zucke erneut die Schultern und gehe zurück zur Treppe. »Macht er das oft?«

»Er wohnt nebenan«, sage ich.

»Ja, aber … schon gut.« Wir sagen nichts mehr, bis wir wieder in meinem Zimmer sind. Ich lege mich auf meine geblümte Tagesdecke, und er rutscht neben mich. Wir küssen uns lange, und nach einer Weile schiebe ich seine Hände weg, und wir liegend schweigend nebeneinander. Ich frage mich, ob es sich so anfühlt, verliebt zu sein. Ich habe meine Zweifel. Plötzlich bricht Jamie die Stille. »Es ist fast, als müsstest du eigentlich eine von ihnen sein«, sagt er. »Aber irgendwie bist du das nicht.«

»Was meinst du?«, frage ich.

»Keine Ahnung«, sagt er. »Dein Zimmer und er.«

»Tja, bin ich aber nicht«, sage ich und fange wieder an, ihn zu küssen. Ich küsse ihn, damit er nicht weiter darüber nachdenkt. Im Zimmer ist es still, bis auf unseren Atem.

Aber ich denke darüber nach. Ich stelle mir vor, wie ich Finny zusammen mit Tante Angelina vom Fußballtraining abhole. Ich stelle mir vor, wie die Cheerleader mich fragen, ob er mein Freund ist. Ich stelle mir vor, wie ich am ersten Schultag neben Finny im Bus sitze.

Es hätte auch anders kommen können, wird mir bewusst, während Jamie anfängt, sich an mir zu reiben. Er hätte mir längst gesagt, dass er mich liebt, aber er hätte noch keinen Sex gewollt. Noch nicht.

Ich kann all das sehen, als wäre es schon passiert, als wäre es so passiert. Ich weiß, es stimmt bis ins kleinste Detail, denn trotz allem, was passiert ist, kenne ich Finny, und ich weiß, was passiert wäre.

»Ich liebe dich«, sage ich zu Jamie.

sechs

Die Puppe weint schon wieder.

»Ich werde niemals Sex haben«, sagt Sasha. Sie kniet zwischen den Kleiderständern und hebt die Puppe aus der Babytrage. Die Verkäuferin, die neben der Kasse Kleidungsstücke zusammenlegt, sieht zu uns rüber. Sasha schiebt das Hemdchen der Puppe hoch und steckt den Schlüssel, der an einem Band um ihr Handgelenk baumelt, in den Rücken des Babys. Es weint weiter.

»Genau das wollen sie erreichen«, sage ich laut, um das Gebrüll zu übertönen. Ich sehe mich nach der Verkäuferin um. »Ich glaube, sie denkt, es ist echt«, sage ich.

Wenige Augenblicke später verebbt das Weinen. Sasha hält das Baby immer noch mit dem Schlüssel im Rücken über dem Arm. Wenn sie ihn rauszieht, bevor zwei Minuten um sind, fängt es wieder an zu weinen, und wenn der Computerchip in der Puppe verzeichnet, dass sie es ignoriert hat, fällt Sasha bei dem Projekt durch und bekommt in Familienwissenschaft eine schlechte Note.

Sasha sieht zur Verkäuferin und zuckt die Schultern. »Tja, es funktioniert«, sagt sie. »Ich werde niemals Sex haben.«

»Weiß Alex das schon?«, frage ich. Ich wende mich wieder der Kleiderstange zu.

»Ich werde es ihm eröffnen, falls sie im Kino anfängt zu schreien«, sagt Sasha, und ich lächle. Wir treffen uns später mit den Jungs. Es war ein gutes Schulhalbjahr. Ich mag unsere neuen Freunde und meine neuen Klamotten. Weihnachten werde ich nur Einsen und Zweien nach Hause bringen, und es ist abgemacht, dass Mom nichts gegen meine Klamotten sagen darf, solange meine Noten nicht schlechter werden.

Ich greife nach einem schwarzen Korsett mit breiten Spitzenträgern. Sasha zieht die Augenbrauen hoch.

»Das könnte man zu einer Strickjacke tragen«, sage ich. Sie lacht, aber ich meine es ernst. Mir gefällt die Idee, sexy und spießig zu kombinieren. Ich gehe zur Verkäuferin. »Ich würde das gern anprobieren«, sage ich. Sie sieht mich an und nickt, dann huscht ihr Blick flüchtig zu Sasha, die die Puppe wieder festschnallt. Ich folge ihr zu den Umkleidekabinen und sehe zu, wie sie die Tür aufschließt. »Danke«, sage ich.

»Wie alt seid ihr beide?«, fragt sie, immer noch mit dem Rücken zu mir.

»Fünfzehn«, sage ich, obwohl Sashas Geburtstag erst im März ist.

»Hmm«, sagt sie und wendet sich zum Gehen. Einerseits hasse ich diese Frau, andererseits möchte ich sie am Ärmel packen und ihr sagen, dass ich eigentlich ein anständiges Mädchen bin.

»Es ist eine Puppe«, sage ich.

Sie dreht sich zu mir um. »Was?«

»Es ist eine Puppe. Ein Schulprojekt«, sage ich.

Sie sieht mich mit schmalen Augen an und geht.

Eine Stunde später, in einem Billigschmuckladen, wo Sasha nach einer Kette für ihre kleine Schwester sucht, entdecke ich die Tiara. Sie ist silbern mit Strass, wie die bei der Wahl der Homecoming Queen vor zwei Monaten. Wir haben über diesen Brauch gelacht und die Augen verdreht, aber in Wahrheit wollte ich auch eine Krone, nur nicht das, was sie symbolisiert. Ich nehme sie und stecke sie mir ins Haar. Ich bewundere meinen Kopf, drehe ihn im Spiegel hin und her, dann trete ich zurück, um die Wirkung mit Jeans und T-Shirt zu begutachten. Gefällt mir.

»Was hast du damit vor?«, fragt Sasha von hinten, als ich an der Kasse stehe.

»Tragen«, sage ich, »jeden Tag.«

»Hallo, Euer Hoheit«, sagt Jamie, als wir uns später vor dem Kino in der Mall treffen. Ich freue mich, dass es ihm gefällt. Ich nehme seine Hand, und er gibt mir einen Begrüßungskuss.

Während des Films fängt die Puppe wieder an zu weinen, und Sasha und ich wechseln einen Blick und lachen. Wir müssen so lachen, dass ich sie nach draußen begleite, wo sie den Schlüssel in die Puppe steckt. Lachend stehen wir vor dem Kinosaal, sie mit ihrer Puppe und ich mit meiner Tiara, und die Leute sehen uns schief an.

Es war eine schöne Zeit, das erste Halbjahr. Es war die Art Glücksgefühl, die einem vorgaukelt, es müsse noch viel mehr davon geben, vielleicht sogar genug für immer.

sieben

»Warum trägst du diese Tiara?«, fragt Finny. So wie er mich gefragt hat, warum ich meine Haare färbe, doch aus irgendeinem Grund bin ich diesmal genervt.

»Weil es mir gefällt«, sage ich. Es ist Heiligabend, und wir decken den Tisch im Esszimmer mit dem Hochzeitsgeschirr meiner Mutter. Mein Vater trinkt vor dem Weihnachtbaum Scotch. Unsere Mütter sind in der Küche.

»Okay, sorry«, sagt er. Ich sehe ihn an. Er trägt einen roten Pullover, der bei jedem anderen albern aussehen würde. Er sieht darin jedoch aus, als würde er eine Privatschule an der Ostküste besuchen und den Sommer über rudern oder so. Er geht um den Tisch und legt an jeden Platz eine Serviette. Ich folge ihm mit dem Besteck.

»Tut mir leid«, sage ich.

»Schon gut«, sagt Finny. Es ist schwer, ihn wütend zu machen.

»Es ist nur, weil ich das auch ständig in der Schule gefragt werde.«

»Warum trägst du sie dann?«

»Weil es mir gefällt«, sage ich, doch diesmal lächle ich, und er lacht.

Beim Essen lassen uns unsere Mütter je ein halbes Glas Wein trinken. Ich freue mich heimlich, wie eine Erwachsene behandelt zu werden, und der Wein macht mich müde. Mein Vater redet lange mit Finny darüber, dass er der einzige Neuntklässler in der Schulmannschaft ist. Er wirkt froh, dass er wenigstens mit einem von uns ein Gesprächsthema hat, als wären Finny und ich austauschbar, als hätte er uns beiden gegenüber dieselbe moralische Verpflichtung. Es ist nachvollziehbar, warum er so denkt, weil er nur an Feiertagen länger zu Hause ist, und Finny und Tante Angelina sind dann immer da. Vielleicht hält er Tante Angelina für seine Zweitfrau.

Mom und Tante Angelina reden über jedes Weihnachten, an das sie sich erinnern, und vergleichen es mit diesem Weihnachten. Das tun sie jedes Jahr. Jedes Jahr ist es das beste Weihnachten aller Zeiten.

Ich wünschte, ich könnte immer glauben, dass es das beste Weihnachten aller Zeiten ist, doch ich weiß, wann das beste Weihnachten war. Es war das, als wir zwölf waren, unser letztes Weihnachten in der Grundschule.

In jenem Jahr schneite es in der Nacht vor Heiligabend. Ich hatte einen neuen Wintermantel und passende Handschuhe zu meinem Schal. Finny und ich gingen zum Bach runter und stampften Löcher in das Eis über dem flachen Wasser. Unsere Mütter kochten uns heißen Kakao, und wir spielten Monopoly, bis mein Dad vom Büro nach Hause kam. Und nichts zählte, außer dass Weihnachten war.

Seit damals hat es Weihnachten nie wieder geschneit, und mit jedem Jahr gab es mehr andere Dinge, die zählten, und es hat sich immer weniger wie Weihnachten angefühlt.

Jamie verbringt Weihnachten bei seiner Großmutter in Wisconsin, und ich genieße es, ihn zu vermissen. Ein dumpfer Schmerz, dem ich mich hingebe.

Jamie, denke ich, Jamie, Jamie, James, und erinnere mich an seine Zunge in meinem Mund. Es gefällt mir nicht so sehr, wie ich dachte, aber ich gewöhne mich daran. Ich sage ihm jetzt ständig, dass ich ihn liebe, und er hat nicht mehr von Sex gesprochen. Zu Weihnachten hat er mir ein neues Tagebuch geschenkt, und obwohl das alte noch nicht voll ist, fange ich es Silvester an. Bis dahin ist er zurück, und wir verbringen den Jahreswechsel zusammen. Jamie, Jamie, James.

»Autumn«, sagt mein Vater, »bist du dieses Jahr die Zuckerfee?« Am Tisch herrscht Schweigen, während ich versuche zu verstehen, was er meint. Dann sehe ich, wie meine Mutter sich auf die Lippen beißt, und mir wird klar, dass er von meiner Tiara spricht. Ihm ist nicht aufgefallen, dass ich sie schon seit drei Wochen trage.

Ich atme tief durch. »Ja«, sage ich. »Ich wollte das Abendessen etwas festlicher gestalten.«

Er lächelt mich an und isst selbstzufrieden ein Stück Schinken. Meine Mutter sagt etwas zu Finny, und langsam kommt das Gespräch am Tisch wieder in Gang. Nach einigen Minuten entschuldige ich mich und gehe auf mein Zimmer.

Ich habe ein paar Poster gekauft: Jimi Hendrix auf der Bühne mit Gitarre, die ertrinkende Ophelia, die in den Himmel sieht, ein Schwarz-Weiß-Foto von einem Baum ohne Blätter. Mir gefällt die Wirkung, die sie auf das lavendel-weiße Zimmer haben, wie das Korsett mit der Strickjacke, wie meine Tiara mit zerfetzten Jeans. Doch ich sehe die Poster nicht an. Ich lege mich aufs Bett und sehe an die Decke.

Als jemand an die Tür klopft, stelle ich mich schlafend. Einen Augenblick später öffnet sich die Tür trotzdem, und Finny steckt den Kopf rein.

»Hey«, sagt er. »Ich soll dir sagen, dass wir mit dem Essen fertig sind.«

»Okay«, sage ich, ohne mich zu rühren. Ich warte, dass er geht. Doch das tut er nicht; er bleibt stehen, als müsste ich irgendetwas tun. Ich tue nichts. Ich sehe an die Decke, bis er wieder spricht.

»Echt scheiße, dass es ihm nicht aufgefallen ist«, sagt Finny.

»Wenigstens ist mein Vater Weihnachten da«, sage ich. Sein Gesichtsausdruck ändert sich nur für einen kurzen Augenblick. Dann ist es, als hätte sich eine Tür wieder geschlossen.

»So hab ich es nicht gemeint«, sage ich.

»Schon gut«, sagt er. »Unten warten alle.«

Als er gegangen ist, bleibe ich noch ein bisschen liegen. Ich stelle mir vor, wie ich Finny erzähle, dass es mir nichts ausmacht, und dass es wehtut, und dass es mir eigentlich egal ist, aber ich wünschte, meinem Dad wäre es das nicht. Ich male mir aus, wie Finny mich plötzlich in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut ist, und er sagt, dass man widersprüchliche Gefühle für einen Menschen haben darf. Wir gehen nach unten, und er hält meine Hand, während wir zusammen auf dem Sofa Ist das Leben nicht schön? anschauen. Als er und Tante Angelina gehen, gibt er mir auf der Veranda einen Gutenachtkuss, und wir sehen, dass es anfängt zu schneien.

Ich schwinge meine Beine über die Bettkante, wische mir die Augen und gehe nach unten.

acht

Die Party findet bei mir statt, weil unser Haus groß ist und damit meine Eltern Jamie kennenlernen können, bevor sie auf die Silvesterparty in Dads Büro gehen.

Jamie hat einen guten Eindruck hinterlassen. Er hat meinen Eltern die Hand geschüttelt, ihnen in die Augen gesehen, und er stank nicht nach Rauch. Dad war zufrieden. Mom schien erfreut; ich glaube, vor allem, weil Jamie so gut aussieht und sie nun sicher sein kann, dass ich in der Schule nicht als uncool gelte.

Sasha, Brooke und Angie übernachten bei mir. Alex’ Mom holt die Jungs nach Mitternacht ab. Bis dahin sind wir allein. Brooke hat eine Flasche Champagner von der Party ihrer Eltern mitgehen lassen. Sie ist in ihren Schlafsack eingewickelt, und uns wird erst zu spät einfallen, dass es besser gewesen wäre, die Flasche kalt zu stellen.

Wir essen Pizza und sehen einen Film. Der Film ist mau. Die Jungs reißen Witze, und jeder versucht derjenige zu sein, der die Mädchen am meisten zum Lachen bringt. Jamie gewinnt natürlich. Ich lehne mich auf dem Ledersofa zurück und fühle mich wie eine Prinzgemahlin.

Danach sitzen wir rum und unterhalten uns, und jetzt versuchen alle, witzig zu sein. Hauptsächlich reden wir über die anderen Kids an der Schule. Irgendwann kommt das Gespräch auf Sex, wie alle Gespräche irgendwann, wie ich inzwischen weiß. Keiner von uns hatte schon Sex, aber wir sind noch so jung, dass es nicht peinlich ist; es ist einfach eine Tatsache und nur eine Frage der Zeit. Wir necken uns gegenseitig und tauschen Geschichten darüber aus, wer es in der Schule wann mit wem getan hat. Wir lachen und bewerfen uns mit Kissen. Sex ist etwas, worüber man Witze macht. Eher geht um Mitternacht die Welt unter, als dass wir Sex haben.

Mitternacht. Ich bin wegen des Kusses mit Jamie so aufgeregt, als wäre es unser erster. Ich wurde erst einmal um Mitternacht geküsst, und ich kann es kaum erwarten, dass dieser Kuss jenen ersetzt, ein Kuss, an den ich mich für immer erinnern werde.

Um viertel nach elf durchstöbern wir die Küche nach Töpfen und Pfannen. Um viertel vor zwölf stehen wir an der Haustür und fragen Jamie alle dreißig Sekunden nach der Zeit. Aus irgendeinem Grund haben wir beschlossen, dass sein Handy am verlässlichsten ist.

Und dann verstreicht der Moment, wie immer, und während ich noch damit hadere, dass ich mich wieder nicht anders fühle als einen Augenblick zuvor, renne ich mit den anderen über den Rasen, schlage meinen Topf und blicke in die Sterne und auf das illegale Feuerwerk, das unsere Nachbarn zünden. Wir kreischen, als hätten wir wundervolle Neuigkeiten erfahren. Wir schreien Frohes neues Jahr in den Himmel. Wir schreien, als würde die demonstrative Freude all unsere Ängste vertreiben, als wüssten wir schon jetzt, dass uns dieses Jahr nichts Schlimmes widerfährt, und wären deshalb so glücklich.

»Jamie, komm her und küss mich!«, rufe ich. Ich werfe meinen Topf und den Kochlöffel ins Gras und strecke ihm die Arme entgegen. Er kommt breitbeinig auf mich zu und packt mich an der Hüfte. Die anderen schlagen auf ihre Töpfe. Es ist ein guter Kuss, genau wie all unsere Küsse. Die anderen lassen ihre Töpfe fallen und küssen sich ebenfalls. Ich hebe meinen Topf und den Kochlöffel wieder auf, und in der relativen Stille, bevor wir wieder anfangen, Krach zu machen, merke ich, dass wir nicht allein sind.

Keine zehn Meter entfernt schlagen Finny und Sylvie und Alexis und Jack und die anderen ihre Töpfe und lachen in den Himmel. Unsere Blicke begegnen sich, und Finny sieht in beide Richtungen, bevor er mir verstohlen winkt. Ich winke zurück, meine Hand auf Hüfthöhe, aus Angst, seine Freunde könnten denken, ich winke ihnen. Genau in diesem Moment scheint jeder die anderen zu bemerken, denn sofort befinden wir uns in einem Wettstreit, den niemals jemand zugeben würde. Wir haben mehr Spaß als die. Wir lieben einander mehr. Wir sind lauter. Wir haben mehr, worauf wir uns dieses Jahr freuen können als die. Wir kreischen und schreien und küssen uns noch ein bisschen. Die Jungs machen ihre A-cappella-Imitation, und wir strecken die Arme aus und drehen uns um uns selbst.

Und natürlich haben wir so viel Spaß, dass wir die anderen gar nicht bemerken.

Dann tut Jamie etwas, das wieder mal zeigt, warum er unser Anführer ist.

»Zeit für Champagner!«, schreit er, und unser Grölen ertränkt die Straße in Euphorie. Wir rennen lachend ins Haus, bevor sie zurückschlagen können. Wir haben coolere Dinge zu tun, als draußen auf Töpfen rumzuschlagen.

Wir trinken den warmen Champagner aus Wassergläsern und tun, als würde uns das nichts ausmachen.

Zum ersten Mal in unserem Leben beschwipst, fordern wir einander zum Küssen heraus. Brooke und Angie küssen sich. Ich küsse Noah. Sasha küsst Jamie. Und dann beschließen wir, dass jeder von uns alle anderen küssen muss, um unsere ewige Freundschaft zu besiegeln. Kichernd kommen wir zusammen. Hab ich dich geküsst? Haben wir uns schon geküsst? Oh mein Gott, ich habe Alex zweimal geküsst.

Danach waschen wir alle Gläser zweimal ab. Jamie und die Jungs übernehmen es, die Flasche in der Einfahrt zu zerschmettern und die Scherben aufzufegen. Als sie wieder reinkommen, essen wir in der Küche alle ein Pfefferminz. In Vorbereitung des nahenden Abschieds stehen die Pärchen zusammen und halten Händchen. Wir Mädchen legen müde seufzend unsere Köpfe an die Schultern der Jungs, die nachsichtig lächeln. Angie sitzt am Küchentisch und erträgt es mit Fassung, wie immer.

»Hey, hat Finn Smith uns gewunken?«, fragt Noah.

Brooke öffnet die Augen und hebt den Kopf. »Ja, das hab ich auch gesehen«, sagt sie.

»Wahrscheinlich hat er Autumn gemeint«, sagt Sasha.

»Warum?«, fragen Angie und Noah gleichzeitig.

»Sie waren mal so was wie beste Freunde«, sagt Sasha. Alle sehen mich an.

»Er wohnt nebenan«, sage ich. »Unsere Moms sind Freundinnen. Beste Freundinnen.«

»Sie feiern Thanksgiving und Weihnachten zusammen«, sagt Sasha.

»Jedes Jahr.«

»Oh mein Gott, das ist schräg«, sagt Brooke.

»Wir sind wie Cousin und Cousine«, sage ich. »Wenn Jamie beliebt wäre, würdest du ihn trotzdem noch sehen müssen, oder, Brooke?«

»Ich?«, sagt Jamie. Alle lachen.

»Trotzdem schräg«, sagt Sasha. »In der Mittelschule habt ihr euch noch manchmal getroffen, oder? Ich meine, eigentlich könntet ihr noch befreundet sein, auch …«

»Hey, ich bin nicht diejenige, die sich bei den Cheerleadern beworben hat«, sage ich, um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken.

»Du hast was?«, fragt Alex, als hätte sie ihn betrogen.

Sasha fleht um Gnade, macht ihre Jugend geltend, ihre Unerfahrenheit, ihre Naivität. »Ich wusste nicht, was ich tue«, sagt sie händeringend.

Wir hören uns an, was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hat, und nachdem sie melodramatisch genug war, erklärt Jamie, dass ihr vergeben wird, und es umarmen sie gerade alle, als Alex’ Mom an die Tür klopft und die Jungs abholt.

Das Thema unserer Vergangenheit wird für den Rest des Abends fallen gelassen. Wir rollen unsere Schlafsäcke aus und machen es uns auf dem Wohnzimmerboden gemütlich. Jetzt geht es um unsere Jungs und darum, welches der beliebten Mädchen am arrogantesten ist. Wir können uns nicht einigen, jede wählt ihre gefühlte Kontrahentin.

»Sylvie sieht immer so eingebildet aus«, sage ich. »Ich hasse das.«

»Aber Victoria starrt mich immer so an«, sagt Angie. »Ich meine, im Ernst. Ungefähr so.« Wir lachen alle über ihre Grimasse, die eher an Popeye erinnert als an Victoria. Vor allem Sasha und ich, weil wir Victorias Blick schon immer lustig fanden, selbst als sie noch unsere Freundin war.

Meine Eltern kommen nach Hause, bevor wir eingeschlafen sind. Sie streiten sich und versuchen, leise zu sein, und die anderen Mädchen tun so, als würden sie es nicht mitkriegen. Einige Minuten später höre ich meinen Vater nach oben gehen.

Kurz danach steckt meine Mutter den Kopf ins Wohnzimmer. »Habt ihr ein schönes Silvester gehabt?«, fragt sie aufgekratzt.

Alle Mädchen nicken und sagen: »Ja, Ma’am.«

Sie sieht mich an. »Du auch, Süße?«, fragt sie.