If only I had told her - Laura Nowlin - E-Book

If only I had told her E-Book

Laura Nowlin

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn ich ihr nur gesagt hätte, wie ich wirklich für sie fühle …

Autumn und Finn wachsen Tür an Tür auf, sind beste Freunde. Bis Finn sich eines Tages eingestehen muss, dass ihm Freundschaft nicht mehr genügt. Denn egal, was er versucht, er kann niemals vergessen, wie klug Autumn ist oder wie schön. Und auch nicht, wie eifersüchtig er wird, wenn er sie mit einem anderen sieht. Doch was, wenn Autumn anders empfindet? Was, wenn er im Begriff ist, alles zu zerstören? Und was, wenn das Schicksal ganz andere Pläne für die beiden hat?

Das Warten hat ein Ende: Finns und Autumns hochemotionale Liebesgeschichte endlich erzählt aus seiner Perspektive!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 469

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Laura Nowlin hat einen BA in Englisch mit dem Schwerpunkt Kreatives Schreiben der Missouri State University. Wenn sie nicht gerade über ihre Romane und Figuren nachdenkt, arbeitet sie in einer öffentlichen Bibliothek. Der perfekte Ort, um sich für ihre Bücher inspirieren zu lassen. Ihr Roman If he had been with me stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Auch in den USA ist der Titel ein Ausnahmeerfolg und führt die New-York-Times-Bestsellerliste seit über einem Jahr an. Laura Nowlin lebt mit ihrer Familie in St. Louis.

Außerdem von Laura Nowlin lieferbar:

If he had been with me. Roman

Laura Nowlin

If only I had told her

Roman

Aus dem Englischen von Bettina Hengesbach

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel If only I had told her bei Sourcebooks Fire.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen

Copyright © 2024 der Originalausgabe by Laura Nowlin

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München (nach einem Entwurf von Belle & Bird Design)

Umschlagmotiv: © Juan Moyano/Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31275-6V002

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen,

es könnte sein, dass einige Passagen des Buches euch persönlich nahegehen, wenn ihr ähnliche Erfahrungen macht oder gemacht habt. Aus diesem Grund findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung, die aufzeigt, um welche Inhalte es sich hierbei handelt.

Laura Nowlin und der Penguin Verlag

Dieses Buch ist der Erinnerung anAliksir Drago Jaan gewidmet.Und allen Eltern, deren Kinder in ihren Herzen weiterleben.

Anmerkung der Autorin

Im Winter 2009 fand mich mein Mann eines Tages weinend über meinem Second-Hand-IBM-ThinkPad. Er kniete sich in meinem »Büro« (ein großer Fenstersims in unserem winzigen Studio-Apartment, den ich zum Schreibtisch umfunktioniert hatte) vor mir hin, während ich ihm schluchzend verkündete: »Ich muss Finny jetzt in meinem Kopf sterben lassen!«

Als ich am ersten Entwurf zu Autumns Geschichte in If he had been with mearbeitete, entstand auch Finns Seite der Geschichte in mir, und ich konnte alles fühlen, was er dachte und ihn umtrieb. Ich hatte sogar anderthalb Seiten von Finns Geschichte geschrieben. Ich weinte also, weil mir bewusst geworden war, dass ich diese Seiten löschen musste. Damals hatte ich keine Agentur und keine Aussicht auf Veröffentlichung; ich konnte keinen weiteren Roman aus seiner Perspektive schreiben, wenn ich meine Energie eigentlich darauf verwenden sollte, den Roman zu überarbeiten, den ich aus Autumns Perspektive geschrieben hatte. Also trocknete ich meine Tränen und konzentrierte mich darauf, Autumns Geschichte so perfekt wie möglich zu machen. Finnys Stimme dagegen ließ ich verblassen. Ich ließ ihn wieder in mir sterben.

Über die Jahre haben nun so viele Leser*innen nach Finnys Perspektive gefragt, und jedes Mal war meine Antwort: »Es tut mir leid, er ist tot; ich kann ihn nicht wieder zurückholen.«

Und es stimmte. Es lag nicht in meiner Macht. Aber es lag in Gina Rogers’ Macht.

Ich hatte nicht vorgehabt, mir das Hörbuch anzuhören. Der Gedanke, meine Worte aus dem Mund einer anderen Person zu hören, machte mir Angst. Doch dann schickte mir Gina eine Nachricht, um sich zu erkundigen, ob ich mir ihre Version angehört hätte und ihr Feedback geben könnte – selbst wenn es negativ sei –, da sie ebenfalls eine Künstlerin sei, die nach Perfektion strebe. Von dieser Gesinnung und Hingabe für ihre Arbeit war ich so gerührt, dass ich beschloss, doch einmal reinzuhören.

In dem Moment, als ich Gina als Finn zu Autumn an der Bushaltestelle »Hey« sagen hörte, spürte ich, dass er in mir zum Leben erwachte. Noch bevor ich alles gehört hatte, war er wieder voll da, liebe*r Leser*in, und Finny war wütend auf mich. Nicht weil ich ihn getötet hatte – er verstand, dass es nötig war, um If he had been with me zu der Geschichte zu machen, die sie sein wollte –, aber er hatte ein paar Dinge loszuwerden und zu erklären. Da er auf so wundersame Weise wiederauferstanden war, schien mir seine Forderung angemessen, und so sah ich mich veranlasst, ihn endlich zu Wort kommen zu lassen.

Also verzeiht mir, dass ich einst geschworen habe, dieses Buch würde niemals erscheinen. Damals habe ich aus ganzem Künstlerinnenherz daran geglaubt.

Aber so spielt das Leben einfach manchmal, und das ist etwas Gutes.

Finn

Eins

Es ist schrecklich, neben Autumn zu schlafen. Sie redet, tritt, zieht mir die Decke weg und benutzt mich als Kissen. Die Geschichten, die ich erzählen könnte, wenn ich jemanden dafür hätte … Allerdings sind Autumn ihre nächtlichen Ausbrüche ungewohnt peinlich, und sie gehören zu ihren exzentrischen Eigenarten, über die sie keine Witze toleriert. Unsere Mütter haben ihre eigenen Geschichten über Autumns nächtliche Dramen zu erzählen, und der Blick, den sie ihnen dann jedes Mal zuwirft, genügt, um meine Erinnerungen an gewaltsame, unruhige Übernachtungen zu verschweigen.

Diesen Sommer habe ich herausgefunden, dass sie sich überhaupt nicht verändert hat.

Vor ein paar Tagen schlief sie ein, während ich noch Videospiele zockte. An einer bestimmten Stelle hatte ich endlich, endlich den zeitlich perfekt koordinierten Sprung geschafft, als sie ihren Arm auf meinen Schoß schwang, woraufhin der Typ auf dem Bildschirm in den Tod stürzte. Ich hob ihre Hand sanft von meinem Schoß und rutschte ein kleines Stück von ihr weg, jedoch nicht zu weit. Als sie aufwachte, erzählte ich ihr nichts davon; sie hätte nur vorgeschlagen, dass sie in Zukunft besser nach Hause geht, wenn sie müde wird, und ich würde lieber all meine Spiele hergeben, als eine Minute von dem zu verpassen, was zwischen uns passiert, seit Jamie mit ihr Schluss gemacht hat.

Deswegen habe ich mich gestern Abend auch zwischen Autumn und Jack gelegt. Es war klar, dass wir bei mir schlafen würden, und ich fand, dass es meine Pflicht war, mich als derjenige zur Verfügung zu stellen, der die Schläge und Tritte kassiert.

Ich muss zugeben: Ich hatte sogar darauf gehofft.

Das Erste, was mich weckte, waren ihre Finger, die an meinen Rippen zuckten.

Tante Claire hat recht. Autumn schnarcht mittlerweile. Als wir Kinder waren, war das noch nicht so, und ich hatte Autumn geglaubt, als sie wieder und wieder behauptete, dass ihre Mutter nur Witze mache.

Doch nun liegen wir hier in dem Zelt aus Decken, das ich für sie gebaut habe, ihr Kopf unter meiner Armbeuge. Sie liegt zusammengerollt zu einer kleinen Kugel auf der Seite und schnarcht, wenn auch nicht allzu laut. Ihr Atem kommt in heißen, kurzen Stößen.

Nachdem Jack gestern Abend eingeschlafen war, blieben sie und ich noch eine Weile wach. Autumn war kurz davor einzunicken, aber ich hatte sie noch nicht aufgeben wollen, also redete ich weiter, bis sie sagte: »Sei still, Finny. Ich muss mich aufs Fegen konzentrieren.«

Ich drehte ihr mein Gesicht zu und konnte trotz der Dunkelheit erkennen, dass ihre Augen geschlossen waren.

»Schläfst du?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein. Siehst du nicht, dass ich einen Besen in der Hand habe? Es ist so unordentlich hier.«

»Wo bist du?«, fragte ich.

»Ach, du weißt schon … in dem Zimmer … zwischen …«

»Zwischen was?«

»Hm?«

»Im Zimmer zwischen was, Autumn?«

»Fantasie und Realität. Hilf mir. Es ist so unordentlich.«

»Warum ist es unordentlich?«, fragte ich, aber sie antwortete nicht mehr.

Ich schlief genauso ein, wie ich jetzt immer noch liege – auf dem Rücken und zur Tagesdecke über uns hinaufstarrend. Ich erinnere mich, dass ich einen Arm über den Kopf gestreckt habe und am Rande bemerkte, dass sie zuckte und irgendetwas murmelte, vermutlich, dass sie den Raum zwischen dieser und der nächsten Welt fegen müsse. Wir berührten uns nicht, aber es fühlte sich an, als wären die Atome zwischen uns erwärmt von meiner Liebe zu ihr.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil sie mir ins Gesicht schlug. Ich schob ihre Hand weg und drehte ihr den Kopf zu. Sie war mir nahe, berührte mich aber nicht. Die Decke hielt sie mit einer Hand umkrallt, die Hand, die mich geschlagen hatte, ruhte zwischen uns. Ich zwang mich, wegzusehen und wieder einzuschlafen.

Aber jetzt …

Es ist himmlisch: Ihre Stirn ist an meine gedrückt, ihr Kopf liegt unter meinem Arm und meine Hand auf ihrer Schulter. Wir haben einander instinktiv gefunden. Selbst im Halbschlaf hätte ich das nie bewusst getan. Ich hätte nicht gewusst, ob sie einverstanden wäre. Das weiß ich jetzt auch nicht, aber ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen.

Mein Penis hat, basierend auf minimalen Beweisen, beschlossen, dass heute der beste Tag unseres Lebens ist. Ich verstehe seine Begeisterung, aber er überschätzt die Situation (traurigerweise) massiv.

Wenn ich mich bewege, wird Autumn aufwachen.

Wenn Autumn aufwacht, wird sie erkennen, welche Rückschlüsse mein Körper gezogen hat.

Das habe ich davon, mich in diese Lage begeben zu haben. Wieder einmal.

Nicht dass ich schon mal mit Autumn in genau dieser Lage gewesen wäre. Aber wie gesagt, die Geschichten, die ich erzählen könnte …

Die Toilettenspülung wird betätigt. Ich hatte mich nicht gefragt, wohin mein bester Freund verschwunden war.

Ich werde Jack nichts vormachen können. Er würde es diesmal auch nicht zulassen. Er wusste stets, dass ich selbst nach all den Jahren immer noch in Autumn verliebt bin, auch wenn ich meistens glücklich mit Sylvie bin. Er hat die gesamte Highschool-Zeit über so getan, als würde er es nicht mitbekommen, aber jetzt wird er nicht mehr zulassen, dass ich etwas vortäusche.

***

Vor zwei Wochen, nachdem wir diesen albernen Horrorfilm gesehen hatten, bei dem Autumn dreimal geschrien hatte, behaupteten beide – Jack und Autumn –, dass sie Spaß gehabt hätten. Sie sagten, sie könnten verstehen, warum ich die jeweils andere Person so sehr mochte, und dass wir es auf jeden Fall wiederholen könnten.

Autumn meinte es auch so. Das habe ich gespürt.

Es war nicht so, dass Jack es nicht auch ernst meinte. Er hat nur eine ganze Menge nicht ausgesprochen.

Ich weiß nicht, ob der gestrige Abend geholfen hat. Jack soll sehen, dass Autumn keine Blenderin ist, die sich für die Prinzessin hält, als die Alexis und Taylor sie gern darstellen.

Vielmehr ist es so, dass Autumn tatsächlich eine Prinzessin ist, aber von einem anderen Planeten. Sie ist der selbstbewussteste und unsicherste Mensch, den ich je getroffen habe.

Abgesehen von Sylvie natürlich.

Der Gedanke an Sylvie raubt meinem Penis die Illusion, dass ein Wunder geschehen wird, was meine Schuldgefühle noch verstärkt.

Jack würgt und spuckt. Die Toilettenspülung wird noch mal betätigt, dann läuft der Wasserhahn. Ich höre, dass er in die Küche geht, um sich ein Glas Wasser zu holen.

Ich versuche, mich daran zu erinnern, was Sylvie über ihre Flugzeiten gesagt hat. Sie muss mittlerweile in der Luft sein. Über den Ärmelkanal hinweg? Ich weiß es nicht. Ich stelle sie mir auf ihrem Platz vor, am Gang, so wie sie es bevorzugt. Ihr Discman liegt auf dem aufklappbaren Tisch, und ihr goldenes Haar fällt zurück, als sie den Kopf schieflegt, um zuzuhören.

Ich hoffe, dass diese Reise genau das war, was sie brauchte, und ihr tatsächlich geholfen hat, so wie ihr Therapeut es vorausgesagt hat.

Zuerst hatte ich Zweifel. Sylvie allein in Europa, ohne jemanden, der sie zügeln kann? Klar, sie war schon in Europa, spricht fließend Französisch und hat ein Mobiltelefon. Aber ich kann trotzdem nicht glauben, dass ihr Therapeut darauf beharrte, dass sie allein, ohne eine einzige Freundin oder ein Elternteil, auf die Highschool-Abschlussreise sollte, die er ihr verschrieben hatte.

Nun begreife ich, dass Dr. Giles den richtigen Riecher hatte. Sylvie ist in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern, wenn sie nicht versucht, andere Leute zu beeindrucken. Sylvie betrinkt sich, um Leute zu beeindrucken. Hätte sie niemand dazu angestiftet, hätte sie diese legendären Aktionen betrunken niemals gerissen.

Allein mit ihrem Rucksack und einer Landkarte, den Listen mit Hostels und Zugfahrplänen ist Sylvie über den Kontinent gereist. Sie geriet in eine brenzlige Situation, als ein paar Typen in Amsterdam versuchten, sie rumzukriegen, was sie erst zu spät begriff, aber sie hat sich in Sicherheit gebracht, und als sie mich anrief, war schon alles vorbei.

Ich hoffe, Sylvie merkt nun, wie fähig, schlau und unverwüstlich sie ist. Ich hoffe, sie fühlt sich aus ihren eigenen Gründen wohl in ihrer Haut, nicht wegen der Meinungen anderer Leute. Sylvie könnte alles sein, was sie will, wenn sie nur aufhört, sich darum zu kümmern, was die falschen Leute von ihr denken.

Ich bin einer von ihnen und hoffe, dass ich den Prozess, den dieser Sommer ins Rollen gebracht hat, nicht ruiniere.

***

Jack betritt das Zimmer. Ich schließe die Augen. Obwohl mein Penis weiterhin optimistisch ist, bleibt dies zumindest unter der Decke verborgen. Ich sollte mich bewegen, Autumn wecken, so tun, als wäre mein Arm nie um sie geschlungen gewesen, aber das kann ich noch nicht.

Ich höre, dass sich die Klappe des Deckenzelts bewegt. Jack seufzt. Er sagt das Gleiche, was er an dem Abend gesagt hat, als ich darauf vertraut habe, dass Sylvie nüchtern genug sein würde, um uns nach Hause zu fahren, und ihn am Ende betrunken angerufen habe, um ihn zu bitten, uns abzuholen.

»Damit hätten wir rechnen müssen«, murmelt er.

Er wirft die Decke ab und geht dann offenbar zur Couch, aber ich schenke ihm nicht viel Aufmerksamkeit.

Autumn wird nicht mehr lange schlafen. Sie zuckt gelegentlich und verzieht das Gesicht als Reaktion auf Dinge, die mir verborgen bleiben. Sie stößt einen leisen Laut aus – ein Laut, für den ich gern verantwortlich wäre, wenn sie wach wäre und einwilligen könnte. Bei dem Gedanken hebe ich meinen Arm und entferne mich von ihr.

Als sie die Stirn runzelt, weil die Wärme fort ist, halte ich inne und warte darauf, dass sie sich bewegt. Sie wimmert und rollt sich noch mehr zusammen.

Ich gestatte mir kurz den Luxus, ihr Gesicht zu betrachten.

Es ist unfair, wie schön Autumn ist. Das verschafft mir einen riesigen Nachteil. Ihr brillantes, witziges Gehirn genügt doch schon. Warum muss sie auch noch ein perfektes Gesicht haben?

Ich hatte nie eine Chance.

Nicht mal, bevor sie Brüste bekam.

Ich muss diesen Gedankengang unterbrechen.

Ich kann es genauso gut hinter mich bringen.

***

Am Ende der Couch tippt Jack auf seinem Handy herum. Er spricht nicht, ehe ich mich gesetzt habe.

»Finn, Mann …«

»Ich weiß«, erwidere ich.

Er klappt sein Telefon zu. »Nein. Du steckst viel zu tief in der Sache drin. Du hast keine Ahnung.«

»Doch, ich habe eine Ahnung.«

Er starrt mich an.

»Ich weiß, was ich tue.«

»Und das wäre? Und was ist mit ihr?« Jack deutet mit dem Kopf Richtung Zelt. Obwohl wir ohnehin schon leise sprechen, fängt er jetzt an zu flüstern. »Sie müsste schon die dümmste Frau der Welt sein, um nicht zu checken, dass du wahnsinnig in sie verliebt bist.«

»Sie ist nicht dumm. Sie weiß nur nicht, wie sehr ich …« Ich kann das Wort nicht aussprechen. »Sie mag. Sie denkt, es sei die alte Verknalltheit von früher.«

Er sieht mich eindringlich an, doch ich weiß nicht, was er von mir erwartet. Autumn flirtet nicht mit mir. Sie macht keine zweideutigen Witze oder mir falsche Hoffnung. Nicht wenn sie wach ist.

Ich selbst bin das Problem. Mein Herz ist verwirrt, wenn sie mich voller Zuneigung ansieht, was nur natürlich ist, wenn man unsere Vergangenheit bedenkt.

»Finn«, sagt Jack, »sieh es doch mal so. Ich bin nicht wie du. Ich bin in keiner Familie aufgewachsen, in der man über seine Gefühle spricht. Das ist schwer für mich, aber ich tue es trotzdem. Schon wieder.«

Schon wieder.

Es stimmt.

»Du bist ein guter Freund. Und danke. Aber sie braucht mich. Zwischen ihr und ihren Freundinnen ist es momentan merkwürdig.«

»Sie hat den ganzen Abend mit dir gelacht«, merkt Jack an, als wollte er mir jedes Wort einbläuen.

»Sie war betrunken, und außerdem ist sie …« Ich merke, was ich im Begriff bin zu sagen, aber es kommt mir über die Lippen, ehe ich es zurückhalten kann. »… wie Sylvie. Sie ist erschreckend gut darin, zu verbergen, wie sehr sie leidet.«

Jack ächzt und reibt sich das Gesicht. Er sagt etwas, das ich nicht richtig verstehe, aber es endet mit dem Wort »Typ«. Autumn gibt im Zelt einen Laut von sich, und wir beide halten den Atem an.

Stille.

»Da du Sylvie zur Sprache gebracht hast«, flüstert er. »Ja, ich beschwere mich über sie, aber sie ist auch meine Freundin, und ich …«

»Ich weiß. Ich werde …«

Autumn macht wieder ein Geräusch.

»Sie wird jeden Moment aufwachen«, erkläre ich ihm.

Jack seufzt. Er hat recht, was mich und Autumn betrifft, und er weiß, dass ich es weiß.

Jack und mir ist klar, was als Nächstes passieren wird. Autumn und ich werden nach Springfield gehen. Wir werden Freunde finden, diesmal vermutlich gemeinsame, aber irgendwann wird Autumn jemanden kennenlernen, den sie mag, jemanden, der das hat, was immer sie dazu gebracht hat, mit Jamie zusammenzukommen. Und ich werde am Boden zerstört sein. Ich werde vergessen sein. Jack und ich stehen uns so nahe, dass dies in gewisser Weise auch zu seinem Problem werden wird. Aber ich kann das, was ich mit Autumn habe, nicht aufgeben, und wenn sie tatsächlich diesen Typen kennenlernt, werde ich dafür sorgen, dass er sie unterstützt und nicht wie eine lästige, aber wertvolle Anschaffung betrachtet. Oder als Anhängsel. Oder als Trophäe.

»Fin-nah«, singt Jack. Er schnippt mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. »Hallo!«

»Sorry, ich habe …«

»Geträumt, so wie sie? Du bist in letzter Zeit so … So wie letzte Woche! Wie konntest du das Spiel verpassen?«

»Autumn und ich waren in der Mall.«

»Du verpasst nie ein Spiel der Strikers im Fernsehen«, gibt Jack zu bedenken.

Und das stimmt; ich habe mich über mich selbst geärgert, als mir eingefallen ist, dass das Spiel lief. St. Louis hat nur eine kleine eigene Liga, und meine Mission ist es, sie zu unterstützen. Aber Autumn hat davon geredet, dass die Mall wie ein vernachlässigter Garten sei, in dem einige Beete schneller verwelken als andere. Laut ihr ist das Gebiet rund um das Kino ein sonniger Ort mit genügend Regen. Als wir weitergingen, beschlossen wir, dass die Kioske Unkraut waren und die Kaufhäuser vernachlässigte kunstvoll beschnittene Bäume und Sträucher.

Mein Schulterzucken genügt Jack offenbar nicht. Er wartet darauf, dass ich mich erkläre. »Ich werde mit Sylvie Schluss machen, wenn sie morgen nach Hause kommt.«

»Hab ich mir gedacht.« Jacks Worte sind simpel. Aber in seinem Ton schwingt die Schuldzuweisung mit, die ich verdient habe. »Und dann?«

»O Gott!«, ächzt Autumn, als sie aus ihrer Höhle stürmt.

»Autumn«, sage ich unwillkürlich, als sie die Toilette neben der Küche ansteuert, die Jack eben verlassen hat.

Ich habe sie gewarnt, dass sie lieber auf den vierten Drink verzichten sollte. Es war ihre Entscheidung, aber trotzdem fühle ich mich verantwortlich. Außerdem hat Jack ihn gemixt, was bedeutet, es war vermutlich mehr Alkohol drin als in denen, die ich ihr gemacht hatte. Ich will gerade eine Bemerkung über Jacks Fähigkeiten als Barkeeper machen, als ich seinen Blick sehe und mir wieder einfällt, dass ich nicht die Oberhand habe. »Ich geh mal nach ihr sehen«, verkünde ich.

»Hab ich mir gedacht«, erwidert Jack erneut. »Und dann?«

»Dann hängen wir zusammen ab?« Ich versuche, leichtherzig zu klingen, als würde ich denken, dass sich seine Frage nur auf heute bezieht, aber ich kann weder ihm noch mir selbst etwas vormachen. Wir wissen beide, dass ich der eigentlichen Frage ausweiche: Wie werde ich den Rest meines Lebens verbringen, verliebt in Autumn Davis und ohne Hoffnung darauf, dass sie meine Gefühle erwidert?

Zwei

»Geh weg«, sagt Autumn, als ich anklopfe. Sie klingt, als würde sie sterben.

»Alles okay?« Ich weiß, was sie sagen wird.

»Ja. Geh weg.«

Autumn hasst es, verletzlich zu sein. Das hat sie von ihrer Mutter geerbt, obwohl sie sich nur allzu gern über Tante Claires Fassade des perfekten Vorstadtlebens beschwert.

»Okay.« Ich verspüre den Drang, vor der Tür zu warten, obwohl ich weiß, dass sie ihre Privatsphäre will. Ich drehe mich um und ignoriere die Geräusche auf der anderen Seite der Tür. Als ich mich vor ein paar Minuten nach ihr verzehrt habe, hätte ich mir lieber Sorgen über ihren Kater machen sollen.

Manchmal ist es, als würde Autumn meine schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein bringen. Bei ihr habe ich das Gefühl, wie die Typen zu sein, die ich hasse: die coolen Sportler, die in der Umkleide die unglaublichsten Dinge von sich geben. Seit ich nicht mehr zu den Jüngsten gehöre, habe ich versucht, mich in diese Gespräche einzumischen, aber oft hat mich das, was ich gehört hatte, so verblüfft, dass ich meine Chance, sie zu unterbrechen, verpasst habe. Über die Jahre ist es trotzdem ein paarmal vorgekommen, dass ich etwas von mir gegeben habe, ohne darüber nachzudenken, wenn irgendetwas besonders Vulgäres über Autumn gesagt wurde.

Dann war ich in der Lage, mich einzumischen, die anderen für ihre abartigen Beobachtungen zu tadeln, weil ich insgeheim ihrer Meinung war. Ich wollte das, was sie wollten, oder hatte ebenfalls gesehen, was sie beschrieben. Ihre Worte waren eine groteske Reflexion meiner eigenen Gedanken und Gefühle.

Nach unserem letzten Leichtathletikwettkampf in der zwölften Klasse kam ein Neuntklässler auf mich zu und meinte: »Rick hast du über andere Mädchen schon schlimmere Dinge sagen lassen.« Damit legte er offen, was für ein Heuchler ich war.

Ich grinste den armen Kerl spöttisch an. »Dann hätte ich besser aufpassen sollen. Ich bin ohnehin bald weg. Dann kannst du im nächsten Jahr die Rolle des galanten Retters übernehmen.« Ich schwang mir den Rucksack über die Schulter und marschierte davon. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen des Typen, aber er wird sich vermutlich noch eine Weile an Finn, das Arschloch, erinnern.

In der Highschool hatte Autumn nur Augen für Jamie. Sie wollte nicht, dass diese Sportwichser auf diese Art an sie dachten, und sie will ebenso wenig, dass ich auf diese Art an sie denke, weder damals noch heute. Das hat sie schon vor Jahren klargestellt. Ich verstehe, warum sie es klarstellen musste. Und es ist gut, dass sie es getan hat. Aber irgendwann, wenn wir uns mal darüber unterhalten, werde ich ihr sagen, dass sie mir wenigstens hätte mitteilen können, dass sie nicht genauso empfand. Sie hätte mich nicht so im Stich lassen müssen.

Das ist es vermutlich, was meine Mutter gestern meinte. Tante Claire feiert ihre Scheidung von Autumns Dad Tom bei einem Weinwochenende. Sie und Mom haben Autumn und mir Bargeld hinterlassen und überraschend wenige Anweisungen. Als Mom mich gestern zum Abschied umarmt hat, hat sie geflüstert. »Verdammt noch mal, Junge. Red endlich mit ihr.«

Und seitdem hängt es zwischen Autumn und mir in der Luft, dieses unvollständige Wissen übereinander. Sie weiß, dass ich mir wünsche, sie hätte andere Gefühle für mich. Sie muss wissen, dass es noch viel schlimmer ist, als sie denkt. Meine Liebe zu ihr kommt fast einer Religion gleich. Aber es ist in Ordnung, dass sie meine Gefühle nicht erwidert. Es geht mir gut. Ich komme damit klar. Wir können Freunde sein, so wie als Kinder. Ich war schon damals in sie verliebt, doch dieses Mal werde ich nicht ausflippen und versuchen, ihr irgendetwas zu beweisen. Als ich probiert habe, sie zu küssen, und sie meinen Kuss nicht erwidert hat, habe ich meine Lektion gelernt.

Aber meine Mutter täuscht sich, was das Timing betrifft. Es ist nicht das geeignete Wochenende für dieses Gespräch. Ich muss den heutigen Tag überstehen und morgen mit Sylvie Schluss machen. Danach werde ich vielleicht mit Autumn sprechen. Oder vielleicht sollte ich bis Weihnachten warten. Ich weiß nicht.

***

Wieder einmal habe ich meinen anderen besten Freund vergessen. Ich bin aus Gewohnheit in die Küche gekommen, um Toast zu machen, obwohl Autumn noch nie verkatert in meinem Haus war.

Jack erscheint im Türrahmen. Er beobachtet mich. »Machst du auch Zimt und Zucker drauf?«

»So mag Autumn ihren Toast, du Loser.« Jetzt raste ich schon wieder aus, statt mich meinen verdammten Gefühlen zu stellen wie ein Mann. Ich versuche, mehr wie ich selbst zu klingen. »Willst du auch was?«

»Klar.« Er nimmt gähnend Platz. Jack hat offenbar entschieden, es mir nicht übel zu nehmen. »Hat ihr GoodFellas gefallen?«

Ich lache. »Du bist ja schon eingeschlafen, kurz nachdem der Film angefangen hat. Und du hast so viel darüber erzählt, dass sie ihn nicht mehr hätte sehen müssen.«

»Das kann nicht stimmen«, erwidert Jack. »Dieser Film ist wie ein sorgfältig geplantes Kartenhaus …«

Obwohl er noch weiterredet, höre ich nicht mehr zu. Die Badezimmertür hat sich geöffnet.

Sie ist zurück.

Hinter mir höre ich, dass sie die Küche durchquert und sich an den Tisch setzt.

»Fühlst du dich besser?«, fragt Jack.

»Mehr oder weniger«, antwortet Autumn. Ihre Augen sind geschlossen, als ich mich umdrehe, und sie ist auf ihrem Stuhl zusammengesunken und hat das Kinn auf ihr angezogenes Knie gelegt.

Ich reiche Jack den ersten Teller mit Toast und wende mich ab, um mehr zu machen.

»Also, lass uns noch mal zum Ausgangsstoff zurückkehren: Wiseguy«, beginnt Jack. Er spricht andauernd von dem Film. Ich muss nicht zuhören, um zu wissen, was er sagt. Ich kann ihm zustimmen oder die richtige Antwort geben und mich dabei auf sie konzentrieren.

Ich bestreiche Autumns Toast mit Butter, so wie sie es mag, und sie schenkt mir ein schwaches dankbares Lächeln, das mein Herz zum Schmelzen bringt. Ich weiß nicht, was mich aufrecht hält.

Jack versucht mit seinem Scorsese-Monolog nur, mich vor mir selbst zu schützen, und ich bin ein fürchterlicher Freund.

Ihr Atem ist konzentriert und langsam. Sie kaut, schluckt und nimmt einen tiefen Atemzug. Kauen. Schlucken. Atmen. Es funktioniert. Sie entspannt sich. Ihre Augen sind immer noch geschlossen; ihre Wange liegt immer noch auf ihrem angewinkelten Knie.

»Ich glaube, dir würde der Stil des Romans gefallen – als Schriftstellerin«, merkt Jack an.

Autumn öffnet die Augen und sieht ihn blinzelnd an. Ich bin mir sicher, sie hat bei der Geschichtsstunde zum Thema Filme auch nicht zugehört.

»Warum fangen wir den Film nicht noch mal an? Dann können wir ihn alle sehen.« Jack wirft mir einen Blick zu, der mich daran erinnern soll, dass unsere Unterhaltung noch nicht vorbei ist.

Autumn zuckt mit den Schultern und isst ihren Toast auf.

***

Ich schenke dem Film keine Beachtung. Wir sitzen alle in einer Reihe auf der Couch. Das Zelt haben wir abgebaut. Die beiden anderen schauen den Film. Ich bin einfach nur hier, in ihrer Nähe. Es scheint, als hätte der Toast gegen die Übelkeit geholfen, mit der sie nach dem Aufwachen noch zu kämpfen hatte.

Wann ist sie aufgewacht? Worüber haben Jack und ich gerade gesprochen?

Als ich Jack gewarnt habe, dass sie jeden Moment aufwachen könnte, sprachen wir über …

Sylvie oder Fußball. Das ist es, was sie gehört haben könnte.

Ich habe Autumn ohnehin schon erzählt, dass ich mit Sylvie Schluss machen werde. Ich glaube nicht, dass ich etwas erwähnt habe, das den wahren Grund preisgeben könnte. Es ist eine Sache, in einer Beziehung mit Sylvie zu sein, obwohl ich in das Mädchen von nebenan verliebt bin; es würde allerdings zu weit gehen, wenn sie auch wieder meine beste Freundin werden würde.

»Sie ist einfach nicht die, mit der ich zusammen sein möchte«, sagte ich schließlich, als Autumn mich fragte, warum. Es war die Wahrheit, auch wenn ich dabei einiges ausgelassen hatte. Sie nickte, als würde sie es verstehen, und es war, als hätten wir beide mehr gesagt, als wir ausgesprochen haben, aber ich mache mir vermutlich etwas vor.

***

Mein bester Freund und meine beste Freundin sitzen zweieinhalb Stunden links und rechts von mir. Gestern Abend haben wir gelacht und Witze gemacht. Heute sind wir still. So oder so kommt es mir aber richtig vor, mit beiden gleichzeitig abzuhängen. Ich hoffe, dass sie im Herbst, wenn wir alle in Springfield sind, auch Freunde werden können. Nur Freunde natürlich.

Es ist ein alberner Gedanke, aber ich bleibe dabei: Ich muss sowohl mich als auch Jack davon überzeugen, dass ich bereit bin, Autumn loszulassen, wenn sie einen neuen Typen trifft.

***

»Hey Finn«, sagt Jack. »Komm mit und hol deine Fußballschuhe aus meinem Wagen.«

Er macht sich bereit zu gehen, und meine Fußballschuhe sind nicht in seinem Wagen. Sein Auto ist eine Müllhalde, in der ich niemals etwas zurücklassen würde, nicht mal meine Fußballschuhe.

»Alles klar.« Ich werfe Autumn einen Blick zu, ehe ich aufstehe.

Sie hat sich in eine Decke eingekuschelt, trinkt das Glas Wasser, das ich ihr gebracht habe, und isst noch eine Scheibe Toast. Wieder denke ich, wie unfair es ist, dass sie trotz Kater so wunderschön aussieht.

Ich begleite Jack zu seinem Auto, und als er sich mit dieser ganz bestimmten Miene zu mir umdreht, weiß ich, was er sagen wird. Ich öffne den Mund.

Er kommt mir zuvor. »Deine Geschichte ergibt keinen Sinn.«

Damit habe ich nicht gerechnet.

»Meine Geschichte?«

»Dass sie weiß, aber gleichzeitig auch nicht weiß, dass du in sie verliebt bist.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Im Grunde schon. Vielleicht seid ihr die zwei dümmsten Menschen der Welt, die aus irgendeinem Grund nicht erkennen, dass sie ineinander verliebt sind, aber ich tippe eher darauf, dass sie weiß, dass du sie liebst, aber mit dir spielt, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern.«

»Das ist nicht …«

Als er mir einen Blick zuwirft, halte ich inne.

»Mach morgen mit Sylvie Schluss. Ruf mich danach an. Denk darüber nach, was ich gesagt habe.«

»Na schön.« Ich zucke mit einer Schulter und schaue weg.

»Alles cool zwischen uns?«

Ich begegne erneut seinem Blick. »Ja.«

Er nickt und fährt.

Ich gehe wieder rein.

***

Ich frage mich, ob ich hätte so tun sollen, als würde ich nach oben gehen, um meine imaginären Fußballschuhe wegzubringen, bevor ich mich zu ihr auf die Couch gesetzt habe, aber sie scheint nichts zu bemerken.

»Hattest du Spaß?«, frage ich sie.

Sie lächelt schwach. »Du hattest recht, was den vierten Drink betrifft, und vielleicht auch, was Jacks Expertise als Barkeeper betrifft.«

»Ich hatte definitiv in beiden Punkten recht. Du siehst aber schon besser aus.«

Sie sieht umwerfend aus; wie immer.

»Der Toast hat geholfen. Danke.« Sie schenkt mir noch ein Lächeln, das mich mit Wärme erfüllt.

»Ist nur ein Trick, den ich mal gelernt habe.« Weil ich mich schon oft um Sylvie gekümmert habe. Das spreche ich nicht aus.

»Ich glaube, ich gehe nach Hause und dusche«, verkündet sie.

Ich bin überrascht und enttäuscht. Ich ertappe mich dabei, wie ich blinzele.

»Okay.« Vielleicht ist es so am besten. Ich muss meine Gedanken ordnen. Mir überlegen, was ich Sylvie morgen sagen werde.

Autumn reckt die Arme über dem Kopf und ächzt, bevor sie sich erhebt, und ich wünschte, ich könnte diesen Moment, wie so viele, jederzeit auf Knopfdruck noch einmal abspielen.

»Tschüs, Finny!«, ruft sie über die Schulter, während sie auf das Haus nebenan zusteuert.

Ich halte kurz inne und renne dann in mein Zimmer, um einen letzten Blick auf sie zu erhaschen, bevor sie reingeht, sie vielleicht noch einmal zu sehen, wenn sie ihr Zimmer betritt, da unsere Fenster einander gegenüberliegen.

Nicht dass ich versuchen würde, sie in unbekleidetem Zustand zu sehen. Glaubt mir, ich hatte meine Chancen, und einige Male war es sogar wirklich knapp, aber ich habe mich jedes Mal gezwungen, meine Vorhänge zuzuziehen, wenn sie vergessen hatte, ihre zu schließen. Heute zieht sie die Vorhänge allerdings direkt nach Betreten ihres Zimmers zu. Ich lasse meine geöffnet und lege mich aufs Bett. Ich sollte darüber nachdenken, was meine Mutter und Jack mir zu meiner Beziehung – meiner Freundschaft – mit Autumn geraten haben. Beide sind sich einig, dass ich es ihr gestehen muss.

Doch alles, woran ich denken kann, ist Autumn. Die Art, wie ihre braunen Augen leuchteten, als wir gestern das Zelt gebaut haben. Der Geruch ihres weichen Haars, als sie sich heute Morgen an mich kuschelte. Wie sie den Rücken durchdrückte, ehe sie von der Couch aufstand. Dass sie sich gerade auszieht, um zu duschen.

Ich denke intensiv über Autumn nach, aber nicht auf eine Art, die dazu beiträgt, dass ich mich besser fühle, weder jetzt noch auf lange Sicht.

Drei

Wenn ich zurückblicke, kann ich nicht mehr genau ausmachen, wann ich mich in Autumn Rose verliebt habe. Etwas, das ich schon für sie empfunden hatte, bevor ich lesen konnte, hatte sich zu etwas Spezifischerem entwickelt, während wir zusammen aufwuchsen. Wenn ich den Zeitpunkt wirklich benennen müsste, würde ich vermuten, dass mir schon vor der fünften Klasse bewusst war, dass ich in Autumn verliebt bin. Ich weiß nicht, ob ein Psychologe glauben würde, dass jemand, der so jung ist, verliebt sein kann. Ich weiß nur, dass ich es definitiv war und immer noch bin.

Ich war in sie verliebt, obwohl wir erst elf waren, sodass es natürlich erschien, dass wir nur befreundet waren, obwohl ich dies als temporären Zustand betrachtete. Wir unterhielten uns stets, als würden wir unser gesamtes Leben miteinander führen, so wie unsere Mütter; sicherlich würde sie irgendwann erkennen, dass wir heiraten sollten. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass sie sich genauso intensiv mit mir beschäftigte. Sie verstand nicht, warum unsere Mütter uns auf einmal verboten, im selben Bett zu schlafen. Ich dagegen schon. Wenn sich unsere Hände berührten, versuchte sie nicht, den Moment zu verlängern. Ich dagegen schon.

Diese ersten Jahre, in denen ich in sie verliebt war, waren schwer, aber ich hatte keine Ahnung, wie viel schwerer es noch werden würde.

***

Jack lernte ich am ersten Tag der Mittelschule kennen. Autumn und ich hatten keinen einzigen Kurs zusammen – zumindest war ich so weniger abgelenkt –, aber nicht zusammen Mittagspause zu haben, kam mir vor wie ein Witz. Die Schulverwaltung musste doch wissen, dass wir immer zusammen gewesen waren, dass wir dazu bestimmt waren, zusammen zu sein. Wenn ich mich in der Cafeteria umschaute, musste ich sie doch gewiss irgendwo entdecken.

Doch das tat ich nicht. Autumn aß während der ersten Mittagspause mit ihren neuen und meinen zukünftigen Freunden, was ich damals allerdings noch nicht wusste.

Als ich schließlich an einem fast leeren Tisch neben Jack Platz nahm, reagierte er, als hätte er schon auf mich gewartet. Wir hatten am Morgen Sport zusammen gehabt und mit ein paar anderen Typen einen Ball herumgekickt, als wir uns frei beschäftigen durften. Ich hatte mich allerdings nicht an den Tisch gesetzt, weil ich Jack wiedererkannt hatte, sondern einfach resigniert den ersten freien Platz angesteuert. Aber Jack erinnerte sich an mich. Er fragte, ob ich mir manchmal professionelle Fußballspiele anschaute. Ich sagte Ja, obwohl ich kein großes Interesse an dem Gespräch hatte und nicht richtig zuhörte, weil ich mich fragte, was Autumn wohl gerade tat.

Und dann besiegelte Jack unser Schicksal. »Paolo Maldini ist der Grund, weshalb ich Abwehrspieler geworden bin.«

Ich hob abrupt den Kopf und sah ihn zum ersten Mal an, wobei mir seine Sommersprossen und sein leicht rötliches Haar auffielen. »Für mich auch. Er ist mein …«

Und dann sagten wir gleichzeitig »Favorit«.

An den Rest des Gesprächs erinnere ich mich nicht mehr, aber wir waren Freunde.

Als wir am gleichen Abend mit unseren Müttern zusammen zu Abend aßen, erzählte Autumn von den Mädchen, mit denen sie die Mittagspause verbracht hatte, besonders von einer Alexis, und ich war froh, dass wir beide unseren ersten Lunch überstanden hatten.

In den ersten zwei Wochen glaubte ich, dass vielleicht alle recht gehabt hatten: Es wäre gut für uns, auch andere Freunde zu haben. Ich könnte Jack für die Mittagspausen und zum Fußballspielen haben und Autumn für alles andere. Sie würde diese Mädchen haben, um zusammen in die Mall zu fahren. All diese typischen Mädchendinge wurden immer wichtiger für sie, und für alles andere hätte sie immer noch mich, so wie immer.

Als sich meine Mom mit mir hinsetzte und mir erklärte, dass Autumn nach ihrem Geburtstagsdinner, an dem wir als Familie zusammen mit Onkel Tom, Autumns Vater, teilnehmen würden, Freundinnen für eine Übernachtungsparty eingeladen hatte und ich nicht dabei sein konnte, hatte ich Verständnis. Es machte mir nichts aus. Das Einzige, was mich verwirrte, war die Tatsache, dass meine Mom es mir erklärte statt Autumn.

Ich beschloss, dass es eine Zeitfrage war. Ich hatte ausschließlich Intensivkurse und Autumn nicht, nicht mal in Englisch. Sie hatte im Jahr zuvor eine Zwei minus in Englisch bekommen. Da sie alle notwendigen Bücher schon in der vierten Klasse gelesen hatte, konnte sie im Unterricht heimlich Stephen King lesen. Ihre Erörterungen über die Pflichtlektüre schrieb sie zu dem, woran sie sich nach zwei Jahren noch erinnerte. Ich fand es beeindruckend, dass sie unter diesen Umständen eine Zwei minus bekommen hatte.

Da wir nicht in den gleichen Kursen waren, unterschieden sich unsere Hausaufgaben. Es hätte nicht viel Sinn ergeben, sie zusammen zu machen, es sei denn, sie brauchte Hilfe in Mathe. Deshalb verbrachten wir abends weniger Zeit miteinander. Ich redete mir ein, Autumn hätte vorgehabt, es mir selbst zu erzählen, doch hätte keine Zeit gehabt.

Ich hatte den ganzen Monat mit Jack über Autumn gesprochen. Wie viel Spaß man mit ihr haben konnte, wie cool sie war, wie witzig, dass sie immer »Paolo« sagte und nicht fälschlich »Pablo«. (Nicht dass sie generell über Fußball sprach. Es war eher so, dass ich ihr wichtig genug war, um sich daran zu erinnern, was ich über Paolo Maldini erwähnt hatte.)

Zu meinem Geburtstag, eine Woche vor Autumns, kam Jack zusammen mit Mom, Tante Claire und Autumn mit ins Restaurant. (Tom ließ sich auf meinen Feiern nie blicken, und ich hätte ihn auch nicht dabeihaben wollen. Mein eigener Vater hatte die Nachricht geschickt, dass er einen weiteren Sparbrief in meinem Namen angelegt habe.) Ich freute mich darauf, dass sich Jack und Autumn kennenlernen würden.

Autumn lächelte ihn an, und seine Augen wurden groß. Er schüttelte sich, als wäre er gerade aus einem Pool gestiegen. Ich hatte von meiner Freundin Autumn geredet, aber ich hatte Jack nichts von ihrem Gesicht oder der neuen Form ihres Körpers erzählt.

»Hi«, begrüßte er sie, und dann verlief der Abend normal, so wie jede andere Geburtstagsfeier mit unseren Müttern und Autumn, nur dass Jack auch dabei war.

Erst später fiel mir auf, wie viel Zeit Autumn damit verbrachte, auf ihr neues Handy zu schauen, und wie distanziert höflich sie zu Jack war.

Unsere Mütter hatten behauptet, wir könnten keine Handys haben, bevor wir dreizehn sind, aber Autumn hatte ihres Anfang des Monats bekommen, weil sich ihr Dad mit dem Datum des Vertrags vertan hatte. Tom hatte es ihr trotzdem geschenkt, laut meiner Mutter, »ohne Claire vorher zu fragen, wie es in seinem Königreich üblich ist«. An jenem Abend, als ich mein erstes Handy bekam, erklärte ich Autumn, dass wir einander nun Nachrichten schreiben könnten, statt die Tasse am Seil zwischen unseren Fenstern zu verwenden. Sie lächelte, schien aber nicht vorzuhaben, mir auf die gleiche Weise zu schreiben, wie sie die ganze Woche ihren neuen Freundinnen geschrieben hatte.

Am Ende des Abends, als wir Jack zu Hause absetzten, sah er mich mitleidig an, während er aus dem Auto stieg. Ich glaube nicht, dass er es absichtlich tat, aber ich konnte es an seiner Miene ablesen. Er glaubte nicht, dass Autumn meine Freundin war – oder es jemals gewesen war. Die Tochter der besten Freundin meiner Mom, die oft bei uns war? Klar. Aber er dachte, ich hätte mir nur eingeredet, dass dieses heiße Mädchen eine Freundin von mir war.

Ich machte es mir zur Mission, ihm zu beweisen, dass es doch stimmte. In den nächsten zwei Monaten wurde Jack von Einladungen zu mir nach Hause überflutet, wo an den Wänden Bilder von Autumn und mir hingen, auf denen wir die Arme umeinandergelegt hatten, und wo meine Mom ihm eine Geschichte nach der anderen darüber erzählen konnte, welche Abenteuer Autumn und ich miteinander erlebt hatten.

Es gelang mir, ihm zu beweisen, dass Autumn und ich Freunde gewesen waren, aber nicht, ihm (oder ehrlich gesagt auch mir) zu beweisen, dass wir es immer noch waren.

Am letzten Schultag vor den Winterferien sagte Jack endlich etwas. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm gerade erzählt hatte, nur dass es um Autumn ging.

»Finn. Alter. Ich versteh’s ja. Ich würde Glassplitter essen, wenn ich dafür mit ihr beim Flaschendrehen rumknutschen könnte. Aber redet sie überhaupt noch mit dir?«

»Wir sind keine Typen, die zu Partys eingeladen werden, auf denen Flaschendrehen gespielt wird«, erwiderte ich.

»Und deshalb spricht sie nicht mehr mit dir.«

Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass sie sehr wohl gelegentlich mit mir sprach. »Wir werden in den Ferien wahrscheinlich zusammen abhängen.« Ich zuckte mit den Schultern.

Jack, der immer Nachsicht mit mir hatte, erzählte mir nicht, dass ich träumte.

Und am Ende war es auch kein Traum. Es passierte tatsächlich.

Autumn war aus ihrer Trance erwacht und nahm mich anscheinend wieder wahr. Die Erleichterung darüber war so stark, dass ich sie körperlich spüren konnte. In diesen zwei Wochen schlief ich besser als in den ganzen Monaten zuvor.

Ich war wieder im Spiel. Unsere Beziehung war immer noch nicht das, was ich mir wünschte, aber es war ein Anfang. Ich konnte meinen ersten Schritt planen.

Die Gespräche in den Umkleidekabinen waren zwar noch nicht so explizit wie später in der Highschool, aber ich hatte gehört, dass ein Achtklässler damit prahlte, einer Gruppe heißer Siebtklässlerinnen in der Mall gefolgt zu sein. Aus seiner Beschreibung konnte ich heraushören, dass Autumn unter ihnen gewesen war – Alexis nannte er namentlich –, und ich war schockiert, dass sie ihn angeblich angelächelt und ihm zugezwinkert hatten und dann in das schicke Unterwäschegeschäft gegangen waren, als sie gemerkt hatten, dass er ihnen folgte.

Zum ersten Mal hinterfragte ich, ob ich Autumn so gut kannte, wie ich glaubte, und stellte falsche Mutmaßungen darüber an, wie ihr Leben ohne mich aussah. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben. Später vermutete ich, dass Autumn in der neunten Klasse Alkohol trank und Sex hatte, was einer Mischung aus Gerüchten und Neid zuzuschreiben war.

Aber damals in der siebten Klasse dachte ich, ich hätte herausgefunden, auf was für Typen Autumn stand. Ich musste maskuliner sein, so wie die älteren Sportstars. Ich war ohnehin gut im Sport, aber ich würde noch besser werden. Ich hatte keinen richtigen Dad in meinem Leben, dem ich nacheifern konnte, aber ich konnte mehr über coole Typen lernen. Ich rechnete damit, dass es Monate, aber sicher nicht mehrere Jahre dauern würde, bis ich die Chance bekommen würde, Autumn zu beeindrucken.

Dann geschah ein Wunder. Autumn kam an jenem Weihnachten zu mir zurück. Wir waren wieder Freunde. Jeden Tag waren wir zusammen, unterhielten uns und lachten wie in alten Zeiten. Ich würde mir meine Chance nicht entgehen lassen, ihr zu zeigen, dass ich der sein konnte, den sie wollte.

In den Ferien schauten wir mit unseren Müttern Harry und Sally. Natürlich gefiel mir die romantische Komödie, in der sich zwei gute Freunde ineinander verliebten, und als Autumn »Das Ende war romantisch« zu Mom sagte, fasste ich einen Entschluss.

Silvester würde ich sie küssen. Ich würde ihr zeigen, dass ich draufgängerisch und männlich sein konnte. Mein Plan war, sie – nachdem wir nach draußen gerannt waren und unsere Küchentöpfe aneinandergeschlagen hatten, um das neue Jahr einzuläuten – in einer romantischen Geste zu packen und zu küssen. Ich nahm an, dass ich instinktiv wissen würde, wie man so was tat.

Um Mitternacht war ich so überschwänglich, dass ich mich fast verausgabte, indem ich jubelte und schrie, so wie Moms feste Freunde es manchmal getan hatten. Als ich merkte, dass ich meine Chance fast verpasst hatte, weil alle wieder reingingen, packte ich sie am Arm.

»Warte«, sagte ich. Reden hatte eigentlich nicht zum Plan gehört, aber es war bereits zwei Minuten nach Mitternacht.

»Was?«, fragte sie.

Ich hatte vorgehabt, sie in meine Arme zu ziehen und sie zu halten, aber ich hatte sie über dem Ellbogen erwischt, was nun genügen musste. Als ich mich vorbeugte, wurden ihre Augen groß.

Ihre Lippen waren genauso weich, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auch an dieser Stelle hatte ich damit gerechnet, dass sich mein romantischer Instinkt einschalten und mir verraten würde, wie ich sie auf die gleiche Art küssen könnte wie die Leute in Filmen. Aber ich gab ihr stattdessen einen Schmatzer, wie ich ihn schon auf viele Wangen gedrückt hatte, hauptsächlich die unserer Mütter.

Dennoch küsste ich sie. Mein Körper war erfüllt von Staunen und Hoffnung. Ich betrachtete ihr Gesicht, während ich mich von ihr löste, und wartete auf ihre Reaktion.

Sie war perplex. »Was tust du?«

Mein Fantasiebild war geplatzt. Dies war nicht meine Chance gewesen. Es war mein Test, und ich hatte ihn nicht bestanden. Sie hatte sich mir wieder geöffnet, und ich hatte versucht, mit ihr rumzumachen, als wäre ich ihr ebenbürtig. Ich hätte warten sollen. Ich hätte mehr herausfinden sollen. Ich hätte ihr Freund sein sollen, wenn sie während der Winter- und Sommerferien Zeit für mich hatte, und dann, wenn ich cooler und größer war und ihre Freundinnen mich mochten, hätte ich vielleicht, vielleicht die Chance gehabt, mit ihr zusammenzukommen.

Aber ich hatte alles ruiniert.

Sie war angewidert von mir. Das stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Ich wollte sie weiter festhalten, wollte unseren Körperkontakt nicht unterbrechen. Erst als sie versuchte, ihren Arm wegzuziehen, bemerkte ich, dass meine Hand schmerzte, weil ich sie so fest hielt.

Ich hatte nicht vorgehabt, ihr wehzutun.

Meine Mutter rief nach uns.

Autumn entzog sich mir und rannte; rannte von mir weg wie noch nie zuvor. Sie sah sich nicht um, winkte mich nicht herein.

Drinnen aßen wir zu viert Kuchen. Er war trocken in meinem Mund.

Als meine Mutter uns fragte, warum wir zwei so still seien, antworteten wir gleichzeitig: »Ich bin müde.« Erschrocken schauten wir einander an und wieder weg. Ich erhob keine Einwände, als sie kurze Zeit später nach Hause ging.

Erst beim Neujahrsbrunch bei ihren Eltern fielen mir die Abdrücke an ihrem Arm auf, und ich erkannte, wie schrecklich meine Aktion gewesen war. Ich hatte ihr wehgetan. Ich konnte mich selbst mit ihren Augen sehen, verzweifelt und habgierig, Mitleid erregend, ohne Mitleid verdient zu haben.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht von der Couch zu springen und ihr den Abstand zu gewähren, den sie gewiss von mir haben wollte.

***

In der Schule erkundigte sich Jack nach meinen Ferien. Er hatte währenddessen zweimal angerufen und gefragt, ob ich mich mit ihm treffen wolle. Beide Male hatte ich gesagt, dass ich mit Autumn verabredet war und wir auch für den nächsten Tag Pläne hatten. Als er fragte, lag Neugier – sogar Hoffnung – in seinen Augen, so als hätte ich gute Neuigkeiten zu Autumn.

Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich weinte nicht, weil ich dagegen ankämpfte, aber ich war nahe dran. Es war einer der schlimmsten Momente meines Lebens.

Wir waren in der Umkleide, kurz vor der zweiten Stunde. Jack schaute sich panisch um. Ich rechnete damit, dass er mich stehen lassen würde. Stattdessen lachte er laut und boxte mir gegen den Arm. »Ach ja?«, sagte er. »Lass uns draußen drüber sprechen.« Dann schob er mich hinaus.

Er kannte einen ruhigen Ort hinter den Müllcontainern. Andere kannten ihn offenbar auch, denn es lagen ein paar Zigarettenstummel und Bonbonpapiere auf der Erde. Er hörte mir die gesamte nächste Stunde zu. Ich offenbarte ihm alles und fühlte mich anschließend ein wenig besser.

Wir saßen zusammengedrängt, Schulter an Schulter, um uns vor der Kälte zu schützen.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gab ich zu. »Sie war meine beste Freundin.«

Jack zuckte mit den Schultern. »Ich hab auch keine beste Freundin.«

***

Danach ließ ich Autumn in Ruhe, bis zum Valentinstag.

Es gab diese Spendenaktion. Für zwei Dollar konnte man eine rote oder weiße Nelke kaufen und sie zusammen mit einer Karte an die Person seiner Wahl senden. Auf einem Banner stand: Weiße Nelken sind für Freunde! Was rote bedeuteten, durften wir uns selbst zusammenreimen. Ich schickte Autumn zwei Nelken – eine weiße und eine rote, eine mit meinem Namen, die andere unterschrieben mit: Dein heimlicher Verehrer. Ich hörte, wie sich unsere Mütter darüber unterhielten, dass Autumn insgesamt vier rote Nelken erhalten hatte, die alle gleich unterschrieben waren. Mir hatte niemand etwas geschickt.

Ende Februar kam Mom in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett. »Heeeeeey Schatz!« Für brenzlige Themen versuchte Mom immer, den Moment abzupassen, in dem ich aufhörte zu lesen und im Begriff war, das Licht auszuschalten.

»Was gibt’s?«

Sie seufzte und legte ihre Hand auf meinen Fuß.

»Du weißt ja, dass Claire und ich immer gehofft haben, dass du und Autumn Freunde werden würdet, aber wir würden euch niemals dazu zwingen.«

Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.

»Wenn ihr beide euch auseinandergelebt habt, haben wir Verständnis dafür, aber ich wollte wissen, ob es dir in Bezug auf deine Freundschaft mit Autumn gut geht. Du wirkst in letzter Zeit niedergeschlagen.«

Ich dachte, es wäre nur allzu offensichtlich, dass ich mich nach Autumn verzehrte. Der Gedanke, dass dies irgendjemandem entgehen konnte, erstaunte mich.

Wahrscheinlich wurde ich deshalb ungehalten. »Welche Freundschaft, Mom?« Damit widmete ich mich wieder meinem Buch.

Sie muss überrascht gewesen sein, denn als ich ein paar Sätze gelesen hatte, fuhr sie fort. »Manchmal machen Brüder und Schwestern Phasen durch, in denen sie keine Freunde sind, aber trotzdem lieben sie …«

Ich ließ mein Buch fallen und starrte sie erschrocken an.

Auf ihrem Gesicht zeichneten sich nacheinander unterschiedliche Emotionen ab, wie Folien auf einem Projektor: Überraschung, Belustigung, Freude und dann Traurigkeit. Tiefe Traurigkeit.

»Und manchmal«, sprach sie weiter, »machen sehr gute Freunde Phasen durch, in denen sie einander nicht nahestehen, und das ist in Ordnung. Sie sind sich trotzdem noch wichtig. Und vielleicht nähern sie sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder an oder werden zu mehr als Freunden. Vielleicht.«

Ich legte den Kopf schief, um ihr zu zeigen, dass ich zuhörte.

»Am besten ist es, wenn du dich auf das konzentrierst, was dir Selbstvertrauen gibt, zum Beispiel die Schule oder Fußball. Du hast deinen neuen Freund Jack. Du kannst dir sagen ›Autumn ist dort, wo sie momentan sein will, und das ist okay. Ich bin immer noch toll und werde da sein, wenn sie mich braucht.‹ Hmm?« Sie drückte meinen Fuß.

»Okay«, erwidere ich. »Ich hab dich zwar nicht um einen Ratschlag gebeten, aber trotzdem danke.« Ich zuckte mit den Schultern und ließ zu, dass sie mich umarmte.

Als sie gegangen war, schaltete ich mein Licht aus und dachte über ihren Rat nach.

Er ergab Sinn, denn er unterschied sich nicht allzu sehr von dem, was ich schon vorher gedacht hatte, obwohl ich übers Ziel hinausgeschossen war. Ich musste cooler werden. Fußball war die beste Methode, um männlicher zu wirken. Ich würde Autumn zeigen, dass ich kein Loser ohne Freunde war; Jack und ich würden es irgendwie schaffen, uns mit mehr Leuten anzufreunden.

Ich hatte meinen Vater zu diesem Zeitpunkt zweimal getroffen, und er war sehr groß. Der Kinderarzt hatte mir attestiert, dass ich auch groß werden würde, dass es nur eine Frage der Zeit wäre. Und Zeit war genau das, was ich brauchte, um eine bessere Version meiner selbst zu werden. In der Zeit, in der Autumn mir keine Beachtung schenkte, würde ich mich vollkommen verändern.

Also ignorierte ich den Schmerz, den ich jedes Mal spürte, wenn ich in ihrer Nähe war, und starrte sie aus dem Augenwinkel an wie ein Drogenabhängiger, der sich nach dem nächsten Schuss sehnt. Aber ich gab Autumn Zeit und Freiraum, und ich arbeitete an mir.

***

Am nächsten Valentinstag schickte ich Autumn anonym eine rote Nelke und Jack eine weiße Nelke mit einer Karte, auf der ich mit Paola unterschrieb.

Er schlug mich damit, als er sich in der Mittagspause neben mich setzte. »Danke«, sagte er, »aber glaub bloß nicht, dass ich mich deshalb von dir flachlegen lasse.«

»Ich hatte einfach Mitleid mit dir«, erwiderte ich.

Als das Mittagessen vorbei war, war der Tisch übersät mit den weißen Blüten der Blume, mit der wir einander geschlagen hatten. Die Typen, mit denen wir abhingen – eher für die Außenwirkung als für Gespräche –, waren genervt von uns, aber für zwei Dollar hatte ich wahrscheinlich noch nie so viel Spaß gehabt.

Vier

Mir auszumalen, dass ich eine vollkommen andere Nacht in dem Zelt mit Autumn hätte haben können, und dann über all meine Fehler nachzudenken, die uns voneinander ferngehalten haben, trägt nicht gerade zu meiner Stimmung bei. Mein Kopf tut weh. Ich bin noch erschöpfter, und die Schuldgefühle sind wieder da. Autumn will nicht, dass ich auf diese Art an sie denke. Ich muss mich besser kontrollieren.

Ich erhebe mich von meinem Bett und gehe ins Badezimmer, wobei ich mich nicht davon abhalten kann, aus dem Fenster zu ihren geschlossenen Vorhängen zu schauen. Ich ziehe mich aus und steige in die Dusche, wo ich das Wasser so heiß wie möglich stelle und unter dem Strahl stehen bleibe, bis ich es nicht mehr aushalten kann. Dann drehe ich schnell auf kalt.

Du bist hier, in diesem Moment, jetzt, sage ich mir, während das kalte Wasser auf meine erhitzte Haut prasselt.

Die Wahrheit ist, dass das, was du dir vorgestellt hast, niemals passieren wird, und das, woran du dich erinnerst, ist längst vorbei.

In diesem Moment ist Autumn eine Freundin.

Ruinier es nicht.

Aber mach dich darauf gefasst, dass sie dich wieder verlassen könnte.

Als ich zittere, stelle ich das Wasser auf lauwarm. Ich spüle die Fantasie von ihr und mir weg, und die Erinnerung von ihrem Kopf unter meinem Arm.

***

Mein Handy klingelt, als ich mir gerade neue Boxershorts anziehe. In der Annahme, dass es Autumn ist, gehe ich automatisch dran, ohne aufs Display zu schauen.

»Hey«, sage ich.

»Hi!«, erwidert Sylvie.

Mein Magen zieht sich zusammen.

»Oh. Hi. Wow. Wo bist du?«

»London. Ich habe einen langen Zwischenstopp vor meinem Flug nach New York, deshalb mache ich Sightseeing. Ich habe eine Menge geplant, also werde ich ziemlich beschäftigt sein. Ich wollte noch ein letztes Mal mit dir sprechen.«

Sie meint ein letztes Mal, bevor sie zurück in den Staaten ist, aber es ist, als meinte sie ein letztes Mal, bevor ich mit ihr Schluss mache, obwohl sie natürlich nichts davon ahnt.

»Ja«, erwidere ich. Es wird immer schwieriger, so zu tun, als würden wir nach Sylvies Rückkehr unsere Beziehung weiterführen.

»Und?«, fragt sie. »Freust du dich, mich morgen zu sehen?«

»Ja«, antworte ich erneut, und das ist vielleicht die größte Lüge, die ich je erzählt habe. »Wann landest du?«

»Um vier oder so … Du kommst zum Flughafen, oder?«

Das war mir nicht mal in den Sinn gekommen. Natürlich erwartet sie das. Aber ich will sie nicht vor ihren Eltern küssen und umarmen und ihr dann hinter verschlossenen Türen das Herz brechen.

Was soll ich sagen? »Wahrscheinlich. Ich gebe dir Bescheid.«

»Du weißt es noch nicht?« Ihre Stimme klingt misstrauisch und verletzt. Manchmal kommt es mir vor, als würde sie eins und eins zusammenzählen. Ich weiß nicht, ob es grausam ist oder nicht, sie Vermutungen anstellen zu lassen. Ist es besser für sie? Ich weiß nicht, wie ich das Grausamste auf die netteste Art tun kann.

»Sorry, ich …«

»Was hast du gestern Abend gemacht?«, fragt Sylvie, nun wieder fröhlich.

»Oh, Jack hat bei mir übernachtet.«

»Klingt super!« Sie erzählt mir von ihren Plänen für ihren zehnstündigen Aufenthalt in London, wozu auch eine Taxifahrt in ein nahe gelegenes idyllisches Dorf zählt, wo sie allein in einem Pub ein Bier trinken will, um anschließend am Ufer der Themse spazieren zu gehen und ein Taxi zurück nach Heathrow zu nehmen.

Das hat Sylvie während ihrer gesamten Reise getan: jede Stunde durchgeplant, um so viel wie möglich zu erleben. Es ist eine Eigenschaft, die ich an ihr liebe. Sie macht nie halbe Sachen, lässt sich nie eine Chance entgehen.

Das würde auch Autumn an Sylvie mögen. Sie weiß Leidenschaft zu schätzen. Wenn die beiden nicht so überzeugt davon wären, dass die jeweils andere sie hasst, hätten sie einen guten Einfluss aufeinander. In dem Moment, in dem Autumn den Flughafen verlassen würde, würde sie die Orientierung und ihren Reisepass verlieren und vielleicht beides nicht mehr wiederfinden.

Zu Beginn des Sommers, als ich noch nicht einschätzen konnte, wie er verlaufen würde, habe ich Sylvie erzählt, dass Jamie mit Autumn Schluss gemacht hat. Wir saßen auf der Veranda, bevor Sylvie zum Flughafen aufbrach. Hin und wieder erzählte ich ihr Dinge, die man einander über eine gemeinsame Bekannte erzählen würde. Das half mir, meine Geschichte von der platonischen Freundschaft zu Autumn aufrechtzuerhalten. Meine Lüge. Denn wenn ich niemals von dem anderen Mädchen sprechen würde, dessen Leben so oft mit meinem kollidierte, könnte Sylvie berechtigterweise Verdacht schöpfen.