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Crazy, sexy love
Ein Auslandsjahr in Schottland mit dem Ziel, das Leben (und die Jungs) zu genießen. Darauf freut sich Jordan. Ihre letzte Beziehung ist schon eine Ewigkeit her. Jordan will nicht mehr auf Mr. Right warten, sondern mit Mr. Right Now einfach und unkompliziert Spaß haben. Doch dann begegnen ihr gleich zwei Jungs, die sie dazu bringen, noch einmal über die Liebe nachzudenken. Wie weit würde Jordan für Mr. Right gehen?
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Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2017
© Amy Pine
A.J. Pine schreibt Geschichten, die ihren Leserinnen und Lesern das Herz brechen, aber keine Sorge – sie heilt die gebrochenen Herzen mit einem Happy End. Als Englischlehrerin und Bibliothekarin ist sie immer von Büchern umgeben. All ihre Favoriten haben eine Gemeinsamkeit: Liebe. Natürlich geht es in ihren Büchern auch darum. Wenn sie nicht gerade schreibt, liest sie natürlich. A.J. ist ein großer Fan von Online-Shopping – alles von Lebensmitteln bis hin zu Schuhen – und auch von Fernsehserien, wo sie ihre Liebe zu Vampiren, Superhelden und zu einem ganz bestimmten, brillanten, soziopathischen Detektiv auslebt. Mit ihrem Mann und ihren Kindern wohnt sie in einem Vorort von Chicago. Mehr zu cbj/cbt auch auf Instagram @hey_reader
(Anfang September)
»Es ist nicht schwer, ein Leben zu erzählen, aber verwirrend, es zu leben.«
E. M. Forster,
FAST KEIN MÄDCHEN weiß, dass sie durch eine zweijährige Abstinenz von Jungs ihre Jungfräulichkeit wiedererlangen kann. Von dieser faszinierenden Perle aus dem weiblichen Wissensschatz hatte ich keine Ahnung, bis Sam, meine Zimmergenossin aus dem Wohnheim und beste Freundin, sie großzügig an mich weitergab. Ich fand es gut und praktisch, ihre Beziehung ganz hautnah mitzuerleben, bis sie den Typen, den sie bald heiraten sollte, abservierte und mit Eddie, dem Barkeeper, schlief.
Die englische Landschaft rauscht draußen vor dem Zugfenster an mir vorbei. Tausende Meilen und ein Ozean mögen zwischen uns liegen, aber Sams Worte klingen mir noch immer in den Ohren. Ich hab gar nicht richtig gelebt, Brooks. Ich hab einfach nur funktioniert.
In der Highschool mochte ich es überhaupt nicht, wenn mich jemand mit dem Nachnamen ansprach, aber bei Sam macht es mir nichts aus. Bei ihr wäre sowieso jeder Widerstand zwecklos, denn sie setzt sich immer durch. Genau das mag ich so an ihr.
Wenn sie damals nicht gelebt hat, trotz eines traumhaften Liebsten an ihrer Seite, der sie auf Händen getragen hat, was soll ich dann erst sagen? Ich bin schon Jahre solo, seit das mit Logan auseinanderging, und das, obwohl ich durchaus Versuche unternommen habe, diesen Zustand zu ändern.
Schuld daran sind sicher die vielen Aufreißertypen, die sich alle in den Kopf gesetzt haben, an der University of Illinois zu studieren. Vielleicht sollte ich das mal wissenschaftlich untersuchen. Vermutlich ist es ein Phänomen, das mir eine Veröffentlichung in Fachzeitschriften bescheren würde. Etwas, mit dem ich mich in meinem Abschlussjahr beschäftigen könnte. Im Moment muss ich mich wohl mit einem weniger wissenschaftlichen Ansatz begnügen.
Ich ziehe Sams Abschiedsgeschenk aus der Tasche: ein Tagebuch mit ihrer Anweisung, keinesfalls die Sorte Jungs außen vor zu lassen, die eher Lust auf eine kurze, heiße Affäre als auf eine feste Beziehung haben. Eigentlich wollte ich immer so eine Beziehung, wie Sam sie hatte, aber warum hat sie das, worum ich sie beneidet habe, einfach so für einen One-Night-Stand weggeworfen? Dennoch vertraue ich ihr mehr als allen anderen, die ich kenne. Sie packt das Glück am Schopf und zerrt es in ihr Leben. Ich hingegen hoffe immer noch darauf, dass es mich von selbst findet, auch ohne mein Zutun.
Der Zug rast Richtung Norden und führt mich immer weiter weg von allem Vertrauten. Aber Sam begleitet mich, mit ihrer Widmung auf der ersten Seite des Tagebuchs.
»Meine kleine Brooks. Sieh mal einer an, du bist jetzt ganz erwachsen.« Ich kichere in mich hinein. »Betrachte dieses Jahr wie eine andere Wirklichkeit. Wie ein Paralleluniversum. Deinem Wesen nach hast du immer abgewartet, warst immer vorsichtig, auf Sicherheit bedacht. Dafür hast du in Schottland aber keine Zeit. Dort hast du nur Zeit, dein Leben zu genießen und es zu leben. Probier einfach mal aus, deine gewohnten Verhaltensmuster zu durchbrechen. Lebe ein wenig, Brooks. Könnte sein, dass dir das richtig gut gefällt.«
Ein Jahr Auszeit, ein fremdes Land, keine fesselnden Bindungen und die strenge Anweisung, meine wiedererlangte Jungfräulichkeit in Schottland zurückzulassen – das ist Sams Vorstellung von Leben, nicht meine. Zumindest noch nicht.
Aber ich könnte ja mal einen Versuch starten. Wann, wenn nicht jetzt. Okay, Sam. Dann versuche ich jetzt mal, meine gewohnten Verhaltensmuster zu durchbrechen. Warum nicht jetzt gleich, hier in diesem Zug?
In dem Bewusstsein, dass eine neunstündige Zugfahrt vor mir liegt, rutsche ich unruhig auf meinem Sitz herum. Ich fasse mir in den Nacken und taste nach etwas, das dort seit Kurzem fehlt: meine dunkelbraune Lockenmähne, die ich mir ziemlich radikal habe absäbeln lassen – angesichts des feuchtkalten Klimas in Schottland wohl eher eine suboptimale Idee. Die neue Frisur war eine wichtige symbolische Geste, sozusagen mein Resetknopf. Immer wenn ich über diese für mich so untypische Spontanaktion nachdenke, verstehe ich wieder, warum ich normalerweise lieber überlegt und planvoll handle. In diesem Klima hier sehne ich mich jetzt schon nach meinem Pferdeschwanz. Ich versuche, die widerspenstigen Strähnen hinters Ohr zu streichen, aber dafür sind sie nicht lang genug, sondern wellen sich an den Enden nach oben. Wenn irgendwer zufällig in meine Richtung sieht, bilde ich mir immer ein, dass über meinem Kopf die Leuchtschrift Ausländerin! Ausländerin! aufblinkt. Wie in einer dieser abgeschmackten Quizsendungen aus den Achtzigern.
Aber dann betrachte ich wieder mein Tagebuch und übe mich in positivem Denken – neuer Look, neues Ich.
Eigentlich lächerlich … aber sicher hat kein Mensch meinen wenig überzeugenden Anflug von Eitelkeit mitbekommen. Ich stehe von meinem Fensterplatz auf, denn die neun Stunden von London nach Aberdeen erfordern mehr Klo-Besuche, als mir lieb ist. Wie gut, dass neben mir der Platz am Gang noch frei ist. Oder eher – bis gerade eben noch frei war.
Zunächst sehe ich nur einen langen Rumpf, der Kopf und die Arme sind noch von der Gepäckablage über den Sitzen verdeckt. Aber es ist definitiv ein Er.
»Hey«, sagt der Rumpf, obgleich ich mittlerweile mehr sehe. Es ist ein junger Typ, der sich auf meinen Gangplatz sinken lässt. Ein zerzauster Wust dunkelblonder Locken fällt ihm in die Stirn, die Mundwinkel verziehen sich zu einem breiten Grinsen, und der Blick aus tiefbraunen Augen triff sich mit meinem. »Ich heiße Griffin.«
Seinem Akzent nach zu urteilen, stammt er ebenfalls aus den USA.
»Jordan.«
Er streckt mir ruhig und selbstsicher die Hand entgegen. Ich zögere – meine natürliche Reaktion auf jede Begegnung, zumal mit einem gut aussehenden Typen, der sich auf einer neunstündigen Zugreise neben mir parkt.
Ignoriere dieses gewohnte Verhaltensmuster, Brooks. Lass es einfach auf dich zukommen.
Na toll. Sam hat sich also in meinen Kopf und in mein Denken eingeschlichen.
Ich nehme seine Hand und schüttle sie – viel zu lang und zu heftig, so als hätte ich ihm gerade eine Schrottkarre verkauft, von der ich nie zu hoffen gewagt hatte, sie loszubekommen.
Er lässt ein kehliges Lachen hören und meine Verklemmtheit lässt spürbar nach. Hier geht es schließlich nur um ein bisschen Small Talk, Jordan. Reiß dich zusammen und sei ganz locker.
Ganz entspannt im Hier und Jetzt will ich die Situation genießen. Und einfach mal sehen, wohin sie uns führt – im Zweifelsfall eben nur ein paar Hundert Meilen weiter nach Norden.
Ich stimme in sein Lachen ein, und obwohl ich mein heftiges Händeschütteln jetzt einstelle, hält er meine Hand weiter fest.
Es ist nichts weiter als ein Händeschütteln, aber seine Berührung ruft mein altes Ich auf den Plan, das sich krampfhaft bemüht, das Undenkbare nicht eintreten zu lassen oder gegebenenfalls definitiv zu ignorieren: Verlangen.
Denn es ist leichter, nicht zu wollen, dass mich jemand so anlächelt, und mich nach der gesellschaftlich akzeptablen Zeitspanne für so ein Lächeln wieder einzuigeln. Die Berührung eines anderen zu genießen, ohne mich zu fragen, wohin sie führen wird – so funktioniere ich nicht.
Andererseits ist in diesem Auslandsjahr alles zeitlich befristet. Dieser Schottland-Aufenthalt ist für mich wie ein Ausflug in eine Märchenwelt, wie Cinderellas Fahrt in der von Mäusen gezogenen Kürbiskutsche zum Schloss des Märchenprinzen. Nächsten Mai ist der Zauber zu Ende und ich werde wieder in die Wirklichkeit zurückkehren. Da ich folglich keine Zeit zu verlieren habe, muss ich vielleicht auch meine Zurückhaltung zeitlich befristen.
Aber mit meinem Gang zur Toilette, damit kann ich schätzungsweise noch etwas warten.
»Welcher Bundesstaat?«, frage ich und mache es mir am Fenster bequem, genieße dabei aber den Anblick auf dem Sitz neben mir ein bisschen mehr als den auf die englische Landschaft.
»Minnesota. Und du?«
»Ah. Minnesohtcha, dontcha know?«
Mein Erschrecken über mich selbst zeigt sich in der Röte, die mir in die Wangen schießt, als ich es mit meinem wenig überzeugenden Nachahmungsversuch eines Minnesota-Akzents wieder mal übertreibe. Mein ganzes Wissen über diesen Bundesstaat beziehe ich aus der Krimi-Komödie Fargo – Blutiger Schnee. Die Figuren darin sprechen die dortige Mundart, aber ich kenne von dem Film nur den Trailer, denn ich hätte mir niemals die Szene mit der Hackschnitzelmaschine ansehen können.
Griffin nickt jedoch und lächelt wissend.
»Kaum stelle ich mich vor, werde ich schon auf ein Klischee reduziert, hm? So läuft das. Dontcha know?«
Vor Scham verstecke ich das Gesicht hinter den Händen und versinke fast in meinem Sitz, denn er redet überhaupt nicht mit diesem Akzent. Seine Stimme ist tief und irgendwie sexy, auf eine spielerische, ironische Art.
Er zieht mir die Hände vom Gesicht und zwingt mich, ihn anzusehen.
»Wie wär’s, wenn du mir erzählst, wo du herkommst, damit ich dann deinen typischen Akzent verhunzen kann?«
Ich verdrehe die Augen, aber seine Taktik funktioniert, weil ich wieder sprechen kann.
»Chicago. Aus einem Vorort, genauer gesagt.«
»Oh, yeah. Over by der. Da Chicaago Bulls.«
Wir lachen uns beide kaputt.
»Sind wir jetzt quitt?«, will er wissen, und ich nicke. »Also gut. Nächste Frage. Ist dein Ziel auch die Aberdeen University, wie bei den meisten unseres Alters hier in diesem Zug?«
Mein Lächeln wird breiter. »Deins etwa auch?«
»Aber ja.«
Und so geht es noch eine Weile weiter. Mit Griffin zu plaudern, fällt mir nicht schwer, aber als ich gerade anfange, mich zu entspannen und es zu genießen, fällt mir wieder ein, warum ich überhaupt erst von meinem Fensterplatz aufstehen wollte.
»Tut mir leid, aber würde es dir was ausmachen?« Ich versuche, ihm durch Gesten zu verdeutlichen, dass ich an ihm vorbeimöchte, will es aber nicht aussprechen. Er kapiert sofort, was ich meine. Danke. Endlich mal ein Mann, der eine Frau versteht, die mit den Händen spricht. Ich quetsche mich an ihm vorbei, wobei meine Kniekehlen an seinen Knien reiben, und als ich mich Richtung WC umdrehe, lächelt er.
»Du wirst dich doch nicht klammheimlich woanders hinsetzen und mich hier ganz allein zurücklassen, oder?«
Er flirtet eindeutig mit mir. Vielleicht verdiene ich mir ja auch mit einem Amerikaner die Wiederaufnahme in »den Klub«. Allerdings bin ich ins Vereinigte Königreich gekommen, um dort Land und Leutekennenzulernen. Doch nun bin ich hier, und das Blut schießt mir in die Wangen, während ich das Lächeln eines Jungen aus Minnesota erwidere. Aber Sam wäre stolz auf mich – so oder so.
»Ich gehe mich nur frisch machen. Oder schätzungsweise sollte ich jetzt richtiger sagen, ich muss aufs WC. Genau genommen muss ich mal für kleine Mädchen oder Pipi machen oder wie auch immer man hier dazu sagt.« Immer schön cool bleiben, auch wenn ich ihm jetzt sicher vier Mal verklickert hab, dass ich pinkeln muss. Inzwischen wird mir auch am Hals ganz heiß, und meine Verlegenheit zeigt sich zweifellos an den hektischen Flecken, die ich dort bei meinem blassen Teint immer bekomme, wenn ich rot werde. Leider lässt dieser verfluchte Londoner Himmel nicht zu, dass ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe sehen kann. Wissen die hier denn nicht, dass man als Frau dringend einen Spiegel braucht, wenn man neben einem süßen Typ sitzt? Ich hab echt eine Stinkwut auf diesen britischen Himmel. Und auf die Fensterscheibe.
Griffin spürt sicher den emotionalen Aufruhr meines inneren Monologs, denn er verzieht den Mund zu einem schelmischen Lächeln. Mach dich bloß vom Acker, Jordan. Er weiß jetzt, dass du wieder zurückkommst, und er weiß, dass du pinkeln musst. Also geh endlich. Und genau das tue ich.
Auf dem Rückweg gehe ich zunächst an unseren Plätzen vorbei, denn ich sehe ihn nicht dort sitzen, wo er sein sollte. Griffin ruft hinter mir her.
»Hey. Jordan.«
Er sitzt jetzt auf dem Fensterplatz und wegen der niedrigen Decke dort in einer ziemlich unbequemen Haltung. Auf dem Gangplatz sitzt eine zierliche Blondine. Als ich zurückgehe, schreibt besagte Blondine etwas auf Griffins Hand, dann steht sie auf.
»War schön, dich zu treffen«, sagt sie mit britischer Sprachmelodie.
Lächelnd schiebt sie sich an mir vorbei, ohne sich vorzustellen. Sollte ich sie jemals kennenlernen, würde sich mein Verdacht, dass sie eine blöde Zicke ist, sicher bestätigen.
»Hoffentlich ist dir das recht so mit dem Platztausch«, sagt er. »Ich dachte, du brauchst vielleicht einen leichteren Zugang zur Toilette als ich, zumal wir erst etwa ein Achtel unserer Zugfahrt hinter uns haben und bei dir schon die Schleusen geöffnet sind.«
Mannomann, der kann sich ja geschliffen ausdrücken.
»Sieht so aus, als bekämst du auch ziemlich leicht Anschluss«, entgegne ich etwas zu schnippisch, als dass es unbemerkt bleiben könnte.
Er zieht eine Braue hoch. »Ist es in unserer Beziehung nicht noch ein bisschen zu früh für Eifersucht?«
»Es existiert keine Beziehung.« Ich nehme seine Hand und drehe die Innenfläche zu mir. »Aber vielleicht ist Katie ja verfügbar.«
Er steht auf und klettert über mich hinweg in den Mittelgang. Dann greift er nach oben in die Gepäckablage und setzt sich mit einer Wasserflasche wieder auf seinen Platz zurück. Er zieht den Ausgießer heraus, spritzt ein paar Tropfen Wasser auf seine Hand und wischt Katies Name und die Handynummer ab. Ich sehe ihm die ganze Zeit mit offenem Mund zu.
»Warum hast du das gemacht?«
Griffin reißt mit übertrieben ungläubigem Staunen die Augen auf. »Hast du diese unzähligen Ziffern gesehen? Keine Ahnung, wie man so was eingeben soll. In mein Handy kann man wahrscheinlich gar nicht mehr als zehn Ziffern eintippen. Außerdem hab ich mich hierhin gesetzt, weil ich dich lächeln gesehen habe, und das hat mir gefallen. Kathys Lippen sind nichts gegen deine.«
»Katie«, korrigiere ich ihn, aber meine Mundwinkel wandern trotzdem spontan nach oben und strafen meine ärgerliche Miene Lügen. Er mag mein Lächeln.
»Egal, wie sie heißt«, erwidert er.
»Sagst du immer so frei heraus, was dir gefällt?« Ich finde das einerseits faszinierend, andererseits aber auch beängstigend.
»Ich sage, was ich meine. Damit liegt man nie falsch. Die meisten finden das charmant.«
Ich hebe seine Hand an, auf der man immer noch das verblasste Gekritzel erkennen kann. »Du sagst charmant dazu. Ich nenne so jemanden einen Aufreißer.«
Vielleicht liege ich mit meiner Theorie über Aufreißertypen in Illinois ja falsch. Aber schließlich gibt’s die überall.
Er schlägt sich in melodramatischem Protest auf die Brust.
»Obwohl ich ihre Nummer abgewischt habe. Das verletzt mich jetzt aber zutiefst.«
Es ist schwer, nicht in meine gewohnten Verhaltensmuster zu verfallen, wenn ich sehe, was ich immer sehe. Ich schiebe meine zwei Jahre Singledasein auf genau diese Prince Charmings, denn sie entpuppen sich meist als ziemliche Mistkerle mit Hintergedanken. Es ist schön und gut, zu sagen, ich amüsiere mich jetzt einfach mal. Und Griffin sieht wirklich so aus, als könnte man sich mit ihm amüsieren. Sich allerdings mit einem Typen einzulassen, der sich von wildfremden Frauen Telefonnummern auf die Hand schreiben lässt – nein, danke.
»Wie soll ich sonst dazu sagen? Ich nehme da kein Blatt vor den Mund.«
»Okay«, meint er. »Du glaubst mich also zu kennen? Wie wär’s dann damit? Auf der restlichen Zugfahrt kannst du mich fragen, was immer du willst, und ich werde dir ehrlich antworten. Wenn du dann in Schottland deine Meinung über mich immer noch nicht geändert hast, werde ich dir nicht widersprechen.«
Ich überlege und kratze dabei mit den Zähnen über die Unterlippe. Schließlich suche ich ja nicht nach mehr, als ein Typ wie er zu bieten hätte. Aber welchen Sinn sollte es haben, mich auf so was einzulassen? Wenn meine Einschätzung mich täuscht und wir uns aus irgendeinem Grund nun doch wahnsinnig ineinander verlieben, dann würden wir in den Staaten immer noch mehrere Stunden voneinander entfernt leben – ein ganzer Bundesstaat liegt zwischen uns. Sollte der Grund für meine erotische Trockenphase darin liegen, dass es einfach zu viele Typen wie Griffin gibt, dann könnte ja vielleicht genau so ein Typ auch die Lösung für mich sein. Vielleicht ist er die Lösung.
»Dann magst du also mein Lächeln, hm?«
Während ich das sage, versuche ich natürlich, ganz ernst dreinzublicken. Ich wende den Kopf zum Gang und unterdrücke das Lächeln, das sein Kompliment bei mir hervorgelockt hat. Komplimente konnte ich noch nie gut annehmen. Ich freue mich zwar, habe aber immer große Mühe, sie zu glauben, besonders wenn sie von jemand kommen, der so selbstsicher und geradeheraus ist wie Griffin.
Seine Schultern zucken vor unterdrücktem Lachen. »Da hab ich jetzt aber wirklich eine kniffligere Frage erwartet. Ja, Jordan. Ich mag dein Lächeln. Genauer gesagt, ich mag die Lippen, die dein Lächeln ausmachen.«
Der Versuch, nicht zu lächeln, ist schon sauschwer, aber meine Lippen zu verbergen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Also beiße ich mir wieder auf die Unterlippe.
»Und dieses Lächeln«, fügt er hinzu, »ist verdammt sexy.«
Das bringt mich wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück: »Du quatschst wie ein Aufreißertyp.«
»Und du verführst mich mit deinen sexy Lippen.«
Wir lachen beide und meine Schultern lockern sich. Trotz meiner vorgefassten Meinung ist das Zusammensein mit Griffin aus Minnesota ziemlich entspannt.
»Also gut«, sage ich. Bringen wir erst mal die ganzen langweiligen Fragen hinter uns. Dann können wir zu denen übergehen, die Spaß machen.«
Er rückt nah an mich heran und flüstert verschwörerisch: »Welches sind denn die Fragen, die Spaß machen?« Seine Worte duften nach Zimt.
Ich verdrehe die Augen und er lehnt sich mit bühnenreifem, wenn auch lächerlich aufgesetztem Schmollblick wieder zurück ans Fenster. »Ich hab dich doch nur zitiert, oder etwa nicht?«
Ich knuffe ihn gegen die Schulter. »Wie heißt du mit Nachnamen?«
»Reed. Und du?«
»Brooks.«
»Irgendwie verwandt mit Mel Brooks? Spaceballs ist für mich ein echter Klassiker.«
»Nein«, antworte ich. »Auch nicht mit Albert Brooks.«
Er runzelt die Stirn.
»Die Synchronstimme von Nemos Dad?«, helfe ich ihm auf die Sprünge, und da weiß er, wen ich meine. »Aber wir sind alle jüdischer Abstammung, also wer weiß, vielleicht sind wir’s doch?«
»Sprichst du Hebräisch?«, fragt er, und ich schüttle den Kopf.
»Hab ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr gesprochen. Mittlerweile kann ich besser Französisch, aber nicht viel besser. Wie sieht’s bei dir aus mit Fremdsprachen?«
»Nur ein bisschen Spanisch, Französisch und Deutsch.«
Ich lache und denke erst, er macht nur Spaß, aber Fehlanzeige. Beeindruckend.
»Was studierst du im Hauptfach?« Gähn. So eine einfallslose Frage. Aber dass er in drei Fremdsprachen bewandert ist, hat meine Neugier geweckt. Außerdem müssen wir die Fakten abhaken, damit wir zu dem übergehen können, was Spaß macht – falls ich überhaupt noch weiß, wie man Spaß buchstabiert.
»Amerikanische Geschichte und Politikwissenschaft. Und du?«
»Englische Literatur. Ist doch ein guter Grund, um ein Jahr hier zu verbringen, nicht?« Hmm. Also unsere Studiengebiete sind schon mal unterschiedlich. Aber warum zum Teufel ist er überhaupt hier, wenn er im Hauptfach Amerikanische Geschichte belegt hat? Ach ja. Das kann ich ihn ja als Nächstes fragen.
»Was willst du später mal damit machen, Politiker werden?«
Er lacht. »Hilfe, nein! Die Frage hätte von meinem Dad stammen können. Und was willst du später mal mit Englischer Literatur machen? Lehrerin werden?«
»Hilfe, diese Frage hätten meine Mom und mein Dad stellen können.« Das ist nämlich die Schlüsselfrage, auf die meine Eltern liebend gern eine Antwort von mir hätten. »Das weiß ich noch nicht«, sage ich daher. »Ich mag Geschichten und tauche gern eine Zeit lang in fremde Welten ein. Fand ich spannender als Fachbücher. Bisher dachte ich immer irgendwie, dass man mit einem Literaturstudium gar nichts anderes werden kann als Lehrer.«
»Aha. Einen bestimmten Berufsweg einschlagen, weil es keine Alternativen dazu gibt. Hab mir sagen lassen, dass so was richtig glücklich macht.«
Ich senke den Blick auf meine Hände und inspiziere ein abstehendes Stückchen Nagelhaut, statt mich zu verteidigen, denn Griffin hat recht. Er kennt mich noch nicht mal so lange, wie eine Folge Friends dauert, und hat schon etwas über mich herausgefunden, das ich mir selbst nicht eingestehen möchte.
»Hey«, sagt er und streckt seine Hand nach meiner aus. »War nur ein Scherz. Ich hab ja selbst noch keine genauen Vorstellungen davon, was ich später mal machen will.«
Ich blicke auf, erleichtert, die Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenken zu können.
»Und warum bist du dann hier? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du im schottischen Aberdeen viele Seminare für Amerikanische Geschichte findest.«
»Nein, aber für die Wahlfächer«, erwidert er. »In den Hauptfächern hab ich schon doppelt so viele Scheine, wie ich eigentlich brauche. Die konnte ich mir durch meine AP-Kurse an der Highschool anrechnen lassen. Jetzt muss ich im Abschlussjahr nur noch ein paar Seminare machen. Das heißt, ich kann hier in Aberdeen alles belegen, was mir Spaß macht.«
Ich muss schlucken, weil ich plötzlich einen ganz trockenen Mund habe. Wir studieren zwar nicht das Gleiche, aber er muss ziemlich gut sein, wenn er schon fast die Scheine für zwei Hauptfächer zusammen hat. Und dann ist da außerdem noch sein wahnsinnig süßes Lächeln – ein nicht zu unterschätzender Ausgleich für unterschiedliche Studiengebiete.
Er mustert mich mit leisem Schmunzeln, und ich will gerade das verlegene Schweigen füllen, doch er kommt mir zuvor.
»Ich bin an der Reihe. Du gerätst wohl immer wieder mal ins Grübeln?«
Ich hatte gedacht, er würde es nicht mitbekommen.
»Merkt man das?«
Er nickt.
»Sagst du wirklich immer, was du gerade denkst?«
Er nickt wieder.
»Immer?«, frage ich nach.
»Immer«, erwidert er. »Ich bin mit drei älteren Schwestern aufgewachsen, Jen, Megan und Natalie. Kein Blatt vor den Mund zu nehmen, war die einzige Möglichkeit, hin und wieder mal zu Wort zu kommen. Und es zeigt große Wirkung, wenn man geradeheraus sagt, was man denkt.«
Ja, zum Beispiel kann man seinem Umfeld damit ganz schön auf die Nerven gehen.
»Schwestern, aha? Ich wette, du hast eine Menge von ihnen gelernt.«
Er verschränkt die Arme und lehnt den Kopf ans Fenster. »Manchmal zu viel. Wenn ich das eine oder andere davon wieder verlernen könnte …« Er stockt ein paar Sekunden. »Aber vieles musste ich auch selbst lernen.« Er wackelt mit den Brauen. »Zum Beispiel Dinge, die Spaß machen.«
Ich muss schon wieder trocken schlucken. Kommt denn hier keiner mit einem Getränkewagen oder so was durch den Zug? Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, bin ich drauf und dran, ihn zu fragen, ob er nicht auch so einen Mordsdurst hat. Aber ihm versagt nie die Stimme und auch sein Blick weicht mir nicht aus. Ich verfluche Sam und die Macht ihrer Einflüsterungen.
Ich räuspere mich, fest entschlossen, nicht alles, was er sagt, für bare Münze zu nehmen und nicht zuzulassen, dass er sich mir gegenüber noch weiter in so rosigem Licht darstellt.
»Ach nee! So einfach war es also, der Jüngste von vier Geschwistern und der einzige Junge zu sein? Vom Mutterschoß bist du also schnurstracks in die Rolle des Don Juan geschlüpft?« Ich verschränke die Arme und halte seinem Blick stand. Er soll bei seinen Antworten näher an der Realität bleiben. Sonst funktioniert unser Spiel nämlich nicht.
»Hab ich was von einfach gesagt?« Sein Tonfall ändert sich und ist jetzt frei von ironischen Anspielungen. Etwas Wehmütiges, fast Trauriges tritt an die Stelle seiner Nonchalance. Am liebsten würde ich meine Bemerkung zurücknehmen und ihm sagen, dass ich das nur so zum Scherz gesagt hab, denn ich brauche, nein, ich will im Moment ja eigentlich gar keine realitätsnahen Antworten. Meine gewohnten Verhaltensmuster bewusst über Bord zu werfen, ist das glatte Gegenteil von Realitätsnähe.
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich wollte nichts über dich oder deine Familie andeuten.«
Er schüttelt den Kopf. »Du hast nichts Falsches gesagt. Ich meinte vorhin damit, dass sie mir eine Menge beigebracht haben, auch wenn ich lieber einiges davon nicht erfahren hätte. Meine jüngste Schwester, Nat, war in der Oberstufe der Highschool, als ich aufs College kam. Ich hab mitbekommen, wie sie sich verliebt und ihr diese Liebe wenig später fast das Herz gebrochen hat. Das Übliche eben. Und ich wusste, dass der Typ ein Mistkerl war. Wenn man selbst einer ist, erkennt man seinesgleichen.«
Ich lege ihm die Hand auf den Arm. »Du bist kein Mistkerl.«
»Nein?« Er zieht den Arm weg, fährt sich durch seine zerzausten Locken und weicht meinem Blick aus. »Meine Schwestern nennen mich einen Serienmonogamisten. Ich betrüge meine Freundinnen nicht. Das hab ich nie getan. Nur jeweils ein Mädchen zur selben Zeit, aber ich suche eben nichts Dauerhaftes. Für einen heißen Flirt bin ich immer zu haben, aber alles, was über einen Monat oder zwei hinausgeht … da wird es kompliziert.« Er sieht mich wieder an. »Also vielleicht bin ich doch ein Mistkerl, aber ich hab noch nie versucht, das zu verbergen.«
Verdammt. Ein Aufreißer mit Herz.
»Ist man nicht einsam, wenn man nie eine langfristige Beziehung hat?«
Sein ansteckendes Lächeln blitzt wieder auf. »Da hast du eine falsche Vorstellung. Man ist praktisch nie einsam, wenn man nie allein ist. Und außerdem – wenn du keine Beziehung hast, schleppst du auch nicht dauernd irgendwelche ungelösten Probleme mit dir rum. Das funktioniert.«
»Für den Moment«, sage ich, aber ich will das Thema nicht weiter vertiefen, denn ich weiß nicht, worauf er hinauswill. Logan und ich hatten eine langfristige Beziehung. Zumindest erschien mir das so, aber mehr als einmal – selbst wenn er direkt neben mir war – fühlte ich mich so einsam wie noch nie zuvor. Und mit der Zeit kam ich darauf: Was auch immer ich eigentlich gesucht hatte, ich hatte es nicht gefunden. Seit der Beziehung mit Logan war ich immer weiter auf der Suche gewesen, und zwar wahrscheinlich nach etwas, das es gar nicht gibt.
»Nur das Jetzt zählt.« Griffin zuckt mit den Schultern, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, nach seinem Motto zu leben. Für jeden. »Hey, was schaust du denn so kritisch?«
»Katie war genau jetzt für dich bereit«, spiele ich ihm den Ball zurück. »Es gibt jede Menge Mädchen, die dir liebend gern geben würden, was du willst – sie schreiben dir sogar ihre Handynummern auf die Handfläche. Ich gehöre allerdings nicht zu denen …«
Ich verkneife es mir, den Satz zu beenden und ihm eine Analyse von Jordan-bevor-sie-nach-Schottland-aufbrach zu servieren.
»Du gehörst nicht zu denen«, sagt er, »und genau das gefällt mir an dir. Du würdest nie einfach einem Typen deine Telefonnummer auf die Hand schreiben.«
Ich lege den Kopf in den Nacken und lache. »Obgleich ich schon reichlich Gelegenheiten dazu hatte. Wenn ich dir erzählen würde, wie viele Typen mir schon ihre Hand und einen Stift entgegengestreckt und um meine Kontaktdaten gebettelt haben…«
»Nein.« Griffin schüttelt den Kopf. »So was tut bei dir keiner. Und willst du wissen, warum?«
Erst glaube ich, er will mich auf den Arm nehmen, aber er hält meinem Blick stand. Seine Mundwinkel verziehen sich nicht. Und ich höre auf zu lachen, voll gespannter Erwartung.
»Weil sie wissen, dass du Nein sagen würdest.«
Ich rutsche unruhig auf meinem Sitz herum. Wenn ich doch nur ein Stück weiter von ihm wegrücken könnte.
»Du bist keine Kathy.«
»Katie«, korrigiere ich ihn wieder.
»Wie auch immer«, sagt er. »Du bist eher der Typ für feste Beziehungen. Das seh ich dir an der Nasenspitze an.«
»Was meinst du damit, das siehst du mir an? Vielleicht bin ich eine Katie, wie sie im Buche steht. Vielleicht bin ich eine, die ganz im Jetzt lebt.« Aber die Worte gehen mir nicht leicht über die Zunge. Ich will, dass sie wahr werden, dass dieses Jahr so wird, wie ich es mir vorstelle – ein Raum, um mich neu zu erfinden und mich von den Fesseln zu befreien, die ich mir viel zu lange selbst angelegt habe.
Ich wage kaum zu atmen. Was würde ich jetzt dafür geben, wenn ich Sam eine Nachricht schreiben und sie fragen könnte, welchen Zauber sie angewandt hat, damit dieser Typ meinen Weg kreuzt. »Da ist er ja«, würde sie sagen. »Mr Right Now. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«
Doch statt das Eisen zu schmieden, entscheide ich mich für Distanz. Ich brauche eine Pause.
»Ich glaub, ich geh mal wieder aufs Klo.« Und schon stehe ich auf dem Gang.
Griffin zieht sein Handy hervor und streckt es mir hin.
»Gibst du mir deine … wie hast du es genannt … deine Kontaktdaten?«, fragt er.
Das ist meine Chance. Ihm meine Nummer zu geben und damit zu beweisen, dass ich durchaus eine Katie sein kann. Dass ich ganz spontan im Hier und Jetzt Spaß haben kann und auf das Morgen pfeife. Ich will ihm zeigen, dass ich mich von ihm nicht in eine Schublade stecken lasse. Meine Hand zuckt und ich will sie schon nach dem Handy ausstrecken. Doch dann verschränke ich stattdessen die Arme. Ich schaffe nicht mal diese kleine Geste, um den Wandel einzuläuten.
Er zuckt mit den Schultern, kramt seine Ohrhörerstöpsel aus der Hosentasche und steckt sie in sein Handy. »Falls ich schlafe, wenn du zurückkommst, dann weck mich ruhig mit deiner Telefonnummer auf meiner Hand oder mit deinen Lippen oder mit was auch immer.«
Ich beuge mich vor und knuffe ihn diesmal heftig gegen die Schulter und seine einzige Reaktion ist ein kurzes Auflachen. Dann schließt er die Augen und kuschelt sich ans Fenster.
Wer weiß, vielleicht mache ich’s ja sogar.
FÜR DEN WEG zum WC lasse ich mir Zeit. Die Bezeichnung Wasser-Closett ist wirklich angemessen für dieses Kabuff, denn es enthält kaum mehr als die besagte Schüssel sowie ein Waschbecken im Puppenhaus-Maßstab. Ich muss hier meine Optionen überdenken. Zum einen habe ich einen total süßen Jungen kennengelernt und er flirtet mit mir.
Zum andern kenne ich keine Menschenseele in Aberdeen … abgesehen von diesem süßen Jungen. Der Süße ist Amerikaner, hat Humor, schöne Zähne – und Mädchen, die ihm schon bei der ersten Begegnung ohne Zögern ihre Handynummer überlassen. Das hört sich doch alles schon ganz gut an.
Und so stehe ich also draußen vor dem WC und müsste dringend rein, aber am Türschloss steht Besetzt. Glücklicherweise höre ich drinnen schon den kläglichen Beweis dafür, dass es ein Waschbecken gibt. Die Warterei scheint sich also in Grenzen zu halten. Als das Schloss mit einem Klick aufgeht, schlingert der Zug gerade so stark, dass jemand von drinnen heraustaumelt und mich gegen die Verbindungstür zum Abteil drückt.
Mein Gesicht liegt an seinem Hals, und obwohl er gerade aus dieser winzigen Toilettenkabine herauskommt, riecht er gut. Wirklich gut. Irgendwie so gut wie eine Wiese mit frisch gemähtem Gras oder wie Wäsche frisch aus dem Trockner.
Er richtet sich auf und seine Hände stützen sich rechts und links neben mir an der Tür ab. »Sorry«, stößt er mit einem leichten Lächeln und einem unverkennbaren Midwestern-Akzent hervor. Also noch ein Amerikaner. »Vermutlich Turbulenzen.« Seine Stimme ist tief und leicht heiser und ich kann sein Lächeln buchstäblich heraushören. Als ich aufblicke, spüre ich so etwas wie Schmetterlinge im Bauch und möchte am liebsten hinter der WC-Tür verschwinden. Blitzblaue Augen schauen mich an und ich sehe mich ganz verwirrt darin gespiegelt. Ich sollte jetzt etwas sagen, oder? Ich sollte aufhören, ihn anzustarren, und etwas sagen.
Ein nervöses Lachen entschlüpft mir. »Ich dachte, das gibt es nur in Flugzeugen.«
Sein braunes Haar ist so lang, dass es sich an den Schläfen und über den Ohren wellt. Ich kann mich gerade noch zurückhalten, mit den Händen hindurchzufahren, und schelte mich insgeheim für diesen Impuls. Irgendwas stimmt nicht mit mir.
Er lächelt und zuckt mit den Schultern. »Freie Bahn für dich«, sagt er und tritt zur Seite. »Vorsicht beim Aussteigen.« Er blickt zu mir zurück und nickt mit einem zögerlichen Lächeln zur Tür hin.
Ich gewinne meine Fassung wieder und schaffe eine witzige Bemerkung: »Ich werde drauf achten.« Vielleicht entscheide ich mich aber auch dafür, das gar nicht witzig zu finden.
Eilig verschwinde ich in der Kabine, die gerade groß genug für meinen Körper ist, und verriegle die Tür. Mein Atem beruhigt sich und mein Magen stellt sein Flattern ein. Was zum Teufel war das denn?
Als ich aus der Toilette komme, befolge ich seinen Rat: Vorsicht beim Aussteigen. Zu meiner großen Überraschung ist der Toilettentyp noch da und untersucht die Abteiltür, indem er mit den Fingern am Türspalt entlangfährt.
»Da haben wir’s«, sagt er mit Denkerfalte zwischen den Brauen. »Die Tür klemmt irgendwie.«
Er hält den Blick gesenkt und weicht meinem aus.
Ich sollte ihm antworten, aber ich kann im Moment nur daran denken, dass sich mein Magen beim Klang seiner Stimme schon wieder zusammenzieht.
»Hey.« Er redet weiter. »Hast du mich gehört?« Er hebt den Kopf und sieht mich an und dabei bemerke ich die nackte Panik in seinem Blick.
»Alles okay bei dir?«, frage ich und gewinne irgendwie meine Fassung zurück. Seine Augen bitten um irgendetwas und ich möchte ihm helfen. Aber ich weiß nicht, wie.
Ich fasse nach dem Griff der Schiebetür und versuche, sie zu öffnen, nur um sicherzugehen, dass er recht hat. Sie bewegt sich nicht.
Als hätte sich Gott oder das Universum oder L. Ron Hubbard gegen mich verschworen, ruckelt der Zug wieder und wirft mich geradewegs wieder gegen den Toilettentypen.
Im Ernst?
Meine Hände spreizen sich über seine harte Brust, die ich unter seinem dünnen T-Shirt spüren kann. Sein Herzschlag pulsiert gegen meine Handflächen und ich will die Verbindung nicht abbrechen. Doch es wäre seltsam und ein wenig verrückt, es nicht zu tun.
Jetzt komm schon, Jordan. Reiß dich zusammen.
Er packt mich an den Schultern und ich hole keuchend Luft. Doch er schiebt mich von sich, sodass ich das Gleichgewicht wiederfinde, mich aufrichte und mich gegen die geschlossene Toilettentür lehne. Er lässt mich ebenso schnell wieder los, wie er mich gepackt hat, aber meine Schultern bewahren die Erinnerung an seine Berührung.
Was auch immer da in seinen Augen aufgeblitzt war, es verflüchtigt sich langsam.
»Du bist eine gute Ablenkung«, sagt er, und ein leises Lächeln erhellt sein Gesicht.
»Ablenkung?«, frage ich.
»Tut mir leid. Hab ich das laut gesagt?« Er kratzt sich am Hinterkopf. »Ich frag dich wohl besser nach deinem Namen, wenn wir uns weiter so in die Arme laufen.« Ebenso wie sein Lächeln ist auch seine Stimme zögerlich und seine Bemerkung klingt eher wie eine Frage. Er wirft einen Blick durch die Tür, die uns gefangen hält, dann sieht er wieder mich an, als erwarte er jeden Moment, von jemandem befreit zu werden.
»War das ein unbeabsichtigtes Wortspiel?«, frage ich.
»Eigentlich«, erwidert er, »war das Wortspiel vollkommen beabsichtigt. Ich heiße Noah.« Sein Gesicht entspannt sich, was mich ebenfalls beruhigt.
»Und ich Jordan«, entgegne ich, und meine nervösen Hände lassen mein Shirt los. »Jordan Brooks.«
Nach meinem Familiennamen hatte er zwar nicht gefragt, aber Sprechpausen mit nutzlosen Informationen zu füllen, ist anscheinend eines meiner vielen Talente.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Jordan Brooks.« Das Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus und seine Verlegenheit verwandelt sich in Selbstvertrauen.
»Was machen wir jetzt?«, frage ich.
Er lässt sich an der Tür, die unsere Zwangslage verursacht, zu Boden gleiten und streckt die Beine aus, die bis fast an die Toilettenwand reichen. Da mir nichts anderes übrig bleibt, setze ich mich neben ihn und tue dasselbe.
»Wir müssen wohl einfach warten.« Er sieht sich in dem kleinen Vorraum um. »Eigentlich gar nicht so eng hier.«
Wie er das sagt, klingt es, als wollte er sich selbst davon überzeugen, denn der Raum ist verdammt eng – gerade groß genug für zwei Leute, die nebeneinanderstehen.
Er lehnt sich zurück und stößt sein Knie gegen meins, wie es vielleicht ein großer Bruder tun würde. Nur habe ich leider keinen großen Bruder, und Noahs Knie an meinem löst keine schwesterlichen Gefühle in mir aus, sondern eine Welle der Erregung.
Er greift in seine Gesäßtasche und zieht ein kleines Paperback heraus.
»Sag bloß«, staune ich, nachdem ich einen Blick auf den Umschlag geworfen habe. »Hast du immer eine Ausgabe von Der große Gatsby in der Tasche?«
Er schlägt das Buch auf und tut so, als würde er lesen, aber dass ihm die Röte in die Wangen steigt, kann er nicht verbergen. Noah wendet sich mir zu, seine blauen Augen blicken über die von Dr. T. J. Eckleburg hinweg, und obwohl sein übriges Gesicht verdeckt ist, kann ich erkennen, dass er lächelt. Er senkt das Buch.
»Mach mir bloß keinen Vorwurf daraus, dass ich immer darauf gefasst bin, neben einer öffentlichen Toilette auf alles vorbereitet zu sein. Du ärgerst dich ja nur, dass du nicht selbst daran gedacht hast.«
Ich schaue ihn mir genau an und versuche herauszufinden, was für ein Mensch er ist. Er kichert leise, und dieses Geräusch erfüllt den winzigen Raum, in dem wir sitzen. Noch vor ein paar Minuten hatte er ausgesehen, als wäre er lieber woanders, und jetzt sitzen wir Knie an Knie, als wollten wir uns gleich aus Fitzgeralds Roman vorlesen.
»Ich stehe kurz vor dem Abschluss meines Anglistikstudiums. Im nächsten Jahr unterrichte ich schon an meiner alten Highschool, und das hier«, er hält das Buch hoch, »gehört zum Unterrichtsstoff, den ich vorbereiten muss.« Er blättert durch das Buch, redet aber weiter. »Außerdem ist es einfach angenehm, in einer ungemütlichen Situation etwas Vertrautes dabeizuhaben.«
Ich stoße mein Knie gegen seins. »Ist das hier etwa eine ungemütliche Situation?« Woher kommt bloß meine plötzliche Unbekümmertheit? Eigentlich sollte ich mich ja ungemütlich fühlen neben diesem seltsamen Typen, der mir Herzklopfen verursacht. Stattdessen nimmt meine Nervosität immer weiter ab, je länger wir reden.
Ich ziehe ihm Fitzgeralds Meisterwerk aus der Hand und sehe mir das zerlesene Stück an. Die Seiten haben Eselsohren und sind vollgekritzelt mit Anmerkungen und Unterstreichungen. Ich lese ein paar der handgeschriebenen Notizen, aus denen klar hervorgeht, wie leidenschaftlich er den Roman analysiert hat und wie gut er die Figuren kennt.
»Das ist doch nicht das Exemplar von jemandem, der nur Unterrichtsmaterial für nächstes Jahr vorbereitet. Du liebst dieses Buch.«
Ein Lächeln erhellt sein ganzes Gesicht und ich schmelze einfach dahin. Nicht nur, weil es so schön ist, sondern auch wegen dem, durch das es hervorgerufen wurde – ein Buch.
»Da hast du mich erwischt.«
Was mach ich jetzt, Sam? Was mach ich bloß mit einem Typen, der mich anstrahlt, weil ich bemerkt habe, wie sehr er ein Buch liebt?
Mir fällt nichts Besseres ein, als mit den eigenen Pfunden zu wuchern: »So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.« Zwar ist britische Literatur meine Leidenschaft, aber The Great Gatsby zu lesen, war schon etwas ganz Besonderes für mich gewesen, und ich bin auch ein totaler Fan von Auswendiglernen und Zitaten aus meinen Lieblingsbüchern.
»Ich bin beeindruckt«, sagt Noah, und damit scheint seine ganze Anspannung verflogen zu sein. Er schaut mir in die Augen und sein Lächeln blitzt aus seinem Blick hervor. Nun bin ich es, die wegsehen will … gar nicht wegen unserer verpatzten Kennenlern-Situation, sondern weil ich einfach überwältigt bin. Aber ich kann nicht. Ich sitze in der Falle.
»Das ist das einzige Buch, das ich noch von der Highschool her kenne, das einzige, über das ich weinen musste. Diese letzte Zeile, die Vergeblichkeit all der Dinge, die Gatsby unternommen hat, um die Frau zu erobern, die er liebt! Er konnte seiner Herkunft einfach nicht entrinnen, dem einfachen Jungen, der er war, als er Daisy zum ersten Mal begegnet ist. Was er versucht hat, war lächerlich, verrückt und trotzdem – einfachfantastisch. Aber es hat alles zu nichts geführt.«
Meine Stimme bricht bei der Erinnerung daran, wie tief mich das Ende des Buchs beim ersten Lesen beeindruckt hatte – als mir klar wurde, dass es im Leben nicht immer zum Happy End reicht, ganz gleich, wie sehr man sich bemüht.
Sein Blick verändert sich ein wenig, dann zieht Noah mir das Buch aus der Hand und legt es auf den Boden zwischen uns. Seine Hand berührt meine Wange, und bevor ich noch begreife, was er vorhat, spüre ich seine Lippen an meinen. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich mir das nur einbilde, weil mir so was sonst nie passiert. Jungs bitten mich nie, ihnen meine Telefonnummer auf die Hand zu schreiben, und auf keinen Fall küssen sie mich, nur wenige Minuten nachdem sie mich kennengelernt haben. Aber der Zug rauscht weiter ruhig auf den Schienen dahin, also ist seine Handfläche an meinem Gesicht auch nicht das Ergebnis von Turbulenzen. Ich sitze ganz starr da, unfähig, seinen Kuss zu erwidern, aber genauso außerstande, mich zurückzuziehen. Gedanken an Griffin, an ein traumhaftes Jahr, lösen sich in diesem Moment auf. Zum ersten Mal glaube ich daran. Es kommt nur auf das Jetzt an. Und jetzt, in diesem Moment, liegen Noahs Lippen auf meinen.
Der erste Kuss war ein Anfragen, doch nun besitzt er eine Sicherheit, die seine ursprüngliche Zurückhaltung Lügen straft. Und dieser Duft – der Grund, warum ich mich bei unserem ersten Zusammenstoß am liebsten weiter an seine Brust geschmiegt hätte – verwirrt mich vollkommen. Mein Erschrecken ebbt ab, alles an mir schmilzt dahin, während ich mich in einem ganz sanften, süßen Kuss gegen ihn sinken lasse. Dieser Kuss ist die Antwort. Ich denke an Daisy und Gatsby vor Beginn des Buchs, wie sie sich gefühlt haben mochten, als sie noch gehofft haben, und ich koste das Aroma ihrer Hoffnung. Meine Hände finden den Weg zu seinem Haarschopf, durch den ich gleich beim ersten Mal hatte streichen wollen, als Noah aus der Toilettentür gestolpert war.
In einer fließenden Bewegung kommen wir beide auf die Knie. Er nimmt zärtlich meine Unterlippe zwischen die Zähne und ich öffne meinen Mund und lade ihn ein. Es gibt nur einen Gedanken in meinem Kopf: Mehr. Was immer das ist, ich will mehr davon.
Unsere Zungen zucken und tänzeln. Meine Hände fahren über seinen Nacken hinunter zu seinen harten, sehnigen Schultern. Seine Hände finden die nackte Stelle an meinem Rücken, wo das T-Shirt nach oben gerutscht ist.
Er atmet schwer, zieht mich an sich und löscht alle Distanz zwischen uns aus.
»Ich wollte schon immer mal was total Verrücktes tun.« Unsere Lippen lösen sich gerade so weit, dass er sprechen kann, und ich atme seine Worte ein, denn es sind auch meine. Und ganz gleich, wie winzig dieser Raum auch ist, ich wünschte, er wäre noch kleiner, damit wir uns noch näher kämen.
»Du bist verrückt«, stoße ich atemlos vor Verlangen hervor, und ich weiß nicht mehr, wer ich bin, denn ich bindieseFrau, die einen Fremden umschlingt, nur wegen eines Buchs. Nein, vor allem wegen der Bedeutung des Buchs für ihn und wie tief es auch mich berührt hat, als ich es zum ersten Mal las. Ich will nicht gegen den Strom ankämpfen und lasse mich hinwegtragen. Ich lasse mich von ihm hinwegtragen, als seine warmen Hände an meinem Körper hinauffahren, mich im Nacken kitzeln und dann an meinen Wangen zu liegen kommen.
»Mehr«, flüstere ich, und seine lächelnden Lippen senken sich in einem sanften Kuss auf meine. Aber das reicht mir nicht, also streichle ich mit der Zungenspitze über seine Unterlippe, spüre die Süße und versuche, mir die Erinnerung an diesen Augenblick mit all meinen Sinnen tief einzuprägen. Er summt und stöhnt leise an meinen Lippen, und alle meine fünf Sinne wissen es – dass ich noch nie so geküsst worden bin. Die Lippen werden drängender, denn uns beiden ist klar, dass unsere Zeit begrenzt ist. Ganz gleich, ob sich die Tür im nächsten Moment öffnet oder nicht, irgendwann erreichen wir unser Reiseziel. Dann wird er seiner Wege gehen und ich meiner. Uns gehört nur das Jetzt, also küsse ich ihn fordernder, halte den Atem an und hoffe auf das, was Gatsby und Daisy nie hatten: ein unendliches Jetzt, einen einzigen Augenblick, der sich grenzenlos ausdehnt.
Aber das Universum hat andere Pläne mit uns. Zuerst hören wir ein saugendes Geräusch, dann das Rauschen der sich öffnenden Tür.
Noah und ich fahren auseinander, als ein vorpubertärer Junge fast über seine Füße stolpert. Bei unserem Anblick verdreht er die Augen. Normalerweise wäre ich jetzt schrecklich verlegen, doch nun hämmert mir der Puls unter der Haut und mein Innerstes fühlt sich an wie ausgehöhlt vor Enttäuschung über den Verlust. Dieser Augenblick musste ja vorübergehen, aber doch nicht so, nicht ohne Vorwarnung und nicht zum Vergnügen einer frechen Rotznase.
»Sorry für die Unterbrechung«, sagt der Bengel und grinst schief. Er geht in die Toilette, schließt übertrieben langsam die Tür und beäugt uns dabei die ganze Zeit neugierig.
»He, mach die Tür zu«, sage ich.
Zwei Klicks später ist die Tür endlich zu, und die Besetzt-Anzeige beweist, dass abgeschlossen wurde.
Noah steht auf und versucht sich an der Abteiltür. Sie lässt sich ganz leicht öffnen.
Als ich wieder stehe, bin ich vollkommen erfüllt vom Wunsch, das zu Ende zu bringen, was wir begonnen hatten, selbst dabei mitzuwirken, wie dieser Kuss enden wird.
»Was war das?«, frage ich und schnappe nach Luft.
Er richtet den Blick auf mich, die blauen Augen dunkel und aufmerksam. »War das einfach fantastisch?«, fragt er, ebenfalls noch atemlos. Damit nimmt er meine Worte von vorhin wieder auf und das Gefühl des Ausgehöhltseins in mir lässt ein wenig nach. An der Macht der Worte anderer habe ich nie gezweifelt. Deshalb studiere ich ja auch Literatur. Doch meine eigenen Worte haben mich noch nie so beeindruckt, bis Noah sie mir gegenüber zitiert.
»Hm …« Scheint so, als sei ich in Gedanken viel schlagfertiger als beim Sprechen.
»Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Hm?«, fragt er, so als hätte ich über einen vor Kurzem gesehenen Film gesprochen.
»Na ja«, sage ich und taste mit den Fingern über meine vom Küssen geschwollenen Lippen. »Verrückt bist du auf jeden Fall.« Ich sage ihm nicht, dass es fantastisch war. Fantastisch ist ein viel zu banales Wort für das, was geschehen ist. Das sage ich ihm aber auch nicht.
»Dann verbuche ich das als Erfolg.«
Er schiebt die Tür ganz auf und lässt mir den Vortritt. Von hier aus kann ich Griffin sehen, der ans Fenster gelehnt schläft, also wandert mein Blick weiter zum nächsten Abteil, an dem ich ein Schild mit der Aufschrift Buffet lese.
»Na dann, wir sehen uns sicher später noch mal.« Ich habe keine Ahnung, wie wir uns nach alldem anständig voneinander verabschieden könnten. »Ich gehe in den nächsten Wagen weiter und hole mir was zu essen.«
»Das ist mein Wagen«, sagt Noah. »Ich sitze am hinteren Ende.« Einen Moment lang wird sein Lächeln unsicher und seine frühere Zurückhaltung scheint durch. Aber kaum habe ich das bemerkt, erlangt er auch schon wieder sein Selbstvertrauen. »Kann ich mit dir gehen?«
»Äh, klar.«
Er hält mir die Tür auf. »Danke«, sagt er, als ich hindurchgehe.
Fragend sehe ich ihn an, und er erklärt, noch bevor ich den Mund aufmachen kann: »Dass du da drin mit mir gesprochen und mich von ganz anderen Gedanken abgelenkt hast.«
Ich verstehe nicht, was er damit meint, aber er scheint sich auch nicht über mich lustig zu machen. Sein ernster Blick verrät, dass er einen inneren Kampf austrägt.
»Was war denn da? Ich meine, alles okay mit dir?« Ich hatte die Panik in seinem Blick gesehen, als mir klar wurde, dass wir eingeschlossen waren, aber die hatte sich bei unserem Kuss aufgelöst.
»Ach, nicht der Rede wert.« Er schiebt die Hände in die Hosentaschen und wippt auf den Fersen. »Ich weiß auch nicht – danke auf jeden Fall.«
Ich muss lächeln. Wenn ich ihm da irgendwie bei etwas geholfen habe, umso besser.
»Gern geschehen.«
Ich gehe am schlafenden Griffin vorbei und durch die leicht zu öffnende Tür am anderen Ende in den leeren Bufett-Wagen, in dem ein kleiner, älterer Mann bedient.
»Was darf’s denn sein, Luv?« Ich schwöre, mit einem englischen Akzent klingt alles viel besser.
»Das da und eine Flasche Wasser«, sage ich, lege eine Fünf-Pfund-Note auf den Tresen und halte eine Packung Chips hoch.
»Meine Lieblings-Chips«, sagt Noah.
»Meine auch.«
»Hier, Ihr Wechselgeld, Miss«, sagt der Mann hinter dem Tresen. Ich versuche, die Handvoll Münzen entgegenzunehmen, ohne dabei das Wasser oder die Chips fallen zu lassen. Es gelingt mir nur zum Teil, denn eine Zehn-Pence-Münze rollt den Gang hinunter.
»Ach, egal«, sage ich und versuche, cool zu wirken. »Ich muss mich erst mal neu sortieren.« Ich lege alles, was mir praktisch aus der Hand quillt, auf den Tresen ab und stopfe mein übriges Wechselgeld in die Tasche.
Noah geht weiter den Gang hinunter. Sieht aus, als ginge er auf seinen Sitzplatz zu, ohne sich von mir zu verabschieden.
Ich drehe mich in Richtung meines Wagens und versuche einen halbwegs anständigen Rückzug.
»Hey, Brooks!«, höre ich und drehe mich wieder um. »Fang!«
Noah geht den halben Gang entlang mit etwas Kleinem in den Fingern. Meine Zehn-Pence-Münze. Er wirft sie mir zu und sie landet direkt auf meiner Handfläche.
»Und das ist jetzt alles? Kein Abschied?«, neckt er mich.
Er kommt weiter auf mich zu. Ich blicke über die Schulter zurück und sehe Griffin durch die aufgehende Schiebetür. Er ist wach und sucht den Gang ab, wahrscheinlich nach mir.
»Ich muss jetzt zurück an meinen Platz.« Die Hitze steigt mir in die Wangen, ausgelöst durch Noahs Nähe.
Er steckt die Hände in die Hosentaschen und beobachtet mein Gesicht.
»Hoffentlich bin ich dir vorhin nicht zu nahe getreten – dort hinten, meine ich.« Sein fragender Blick tritt an die Stelle der Verwegenheit, die er vorher an den Tag gelegt hatte.
»Nein«, sage ich. »Ich glaube zwar immer noch, dass du verrückt bist, aber es war … fantastisch.«
Sein schönes Lächeln grüßt mich, als er sich zu mir herunterbeugt und mit seinen weichen Lippen sanft über meine fährt.
»Das bist du auch, Brooks.«
»Ich gehe jetzt.«
Er sieht aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann durchbricht das Klingeln eines Handys die Spannung. Es ist seins und er zieht es aus der Tasche. Die Leichtigkeit zwischen uns löst sich prompt auf, als er einen Blick auf das Display wirft.
»Entschuldige. Die Nachricht muss ich beantworten.«
Sein Blick wird düster, und er schüttelt den Kopf, nicht über mich, sondern über sich selbst. Aber ich erfasse seine Situation sofort. Was passiert ist zwischen dem Moment, als er aus der Toilette stolperte, und jetzt – es hätte nicht passieren dürfen.
»Auf Wiedersehen, Noah.« Meine Stimme zittert und ich bekomme nicht mal mehr ein besänftigendes Lächeln hin.
Das Buch, der Kuss. Das schien alles so richtig zu sein. Ein klares Zeichen dafür, dass es natürlich alles grottenfalsch war.
Ich gehe auf die Tür zu und hindurch, ohne mich noch einmal umzudrehen.
…
Griffin sucht meinen Blick, als ich auf ihn zugehe. Seine Schultern entspannen sich und er heißt mich mit einem Grinsen willkommen.
»Wie lang war ich weggetaucht?«, fragt er mit Schlafzimmerblick.
»Eine halbe Stunde vielleicht.«
Ich lasse mich neben ihm auf den Sitz fallen und habe keine Lust, über die Zeitspanne meiner Abwesenheit zu sprechen, weil ich selbst noch verarbeiten muss, was ich da in den letzten dreißig Minuten erlebt habe.
Ich reiße die Packung mit Salt-and-Vinegar-Chips auf und biete Griffin welche an.
»Nee, danke.« Er hält die Hände im Protest hoch. »Ich kann diese Sorte nicht ausstehen.«
»Da entgeht dir was«, antworte ich und stecke mir einen Chip in den Mund.
Aber etwas zu essen, trägt nicht dazu bei, den Knoten in meinem Magen aufzulösen. Griffin hatte ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass er mich gern küssen würde, aber er hatte sich zurückgehalten und nichts dergleichen unternommen. Noah und ich hingegen reden ein paar Minuten über Den großen Gatsby, und schon knutschen wir so heftig, dass der vorpubertäre Bengel ganz neidisch wird. Alles an Griffin sagt mir, dass man ihm nicht trauen kann, andererseits bin ich mir aber auch sicher, dass er sich nach einem Kuss keine Selbstvorwürfe über sein Verhalten machen würde. Noah dagegen hatte auf sein Handy geblickt und konnte danach gar nicht schnell genug abhauen. Lächerlich und verrückt – anders konnte man das alles nicht nennen.
Doch durch den scharfen Essiggeruch meiner Lieblings-Chips kann ich noch immer seine Süße schmecken, den frischen Frühlingsduft riechen.
Paralleluniversum ein Punkt, Jordan null Punkte. Höchste Zeit, sich von Griffin eine Scheibe abzuschneiden und der Geradlinigkeit gegenüber meinem inneren Monolog den Vorzug zu geben. Ich werde doch nicht mein Jahr mit Herumraten verplempern. Wahrscheinlich ist eben doch nur das Jetzt wichtig.
»Gib mir mal dein Handy«, sage ich, und er reicht es mir ohne Fragen herüber. Ich tippe meine Kontaktdaten ein und gebe es ihm zurück. Er zieht eine Braue hoch, sagt aber nichts.
Ich sehe ihn mir lange an und richte den Blick dann auf den Rücken des Sitzes vor mir.
Hallo, Mr Right Now.
LONDON KENNE ICH ganz gut und liebe es schon seit damals, als wir zum ersten Mal die entfernten Verwandten meines Vaters besucht haben. Aber in diesen Zug hier zu steigen, der mich von London nach Schottland, vom Bekannten ins Unbekannte und zu Unbekannten bringen sollte, war eigentlich das Schwerste, was ich je unternommen hatte. Und jetzt ist da dieser Typ, der zufällig auch noch dahin gehen will, wo ich hingehe. Und der ist, an meine Schulter gelehnt, eingedöst.
Der Duft von Griffins Haar steigt mir unwillkürlich in die Nase. Seine sandfarbenen Locken sind nämlich dicht unter meinem Gesicht und mit einer kleinen Kopfbewegung könnte ich direkt an ihnen schnuppern. Aber was mache ich, wenn er es merkt? Was soll’s! Schließlich liegt sein Kopf ja an meiner Schulter. Ich will mich gerade ein Stückchen zu ihm hinunterbeugen, da erhasche ich den Blick eines kleinen Mädchens am Gang gegenüber. Sie ist vielleicht gerade mal sechs und malt auf ihrem Schoß ein Bilderbuch aus. Ein unschuldiges Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus und ich lächle zurück. Als sie den Augenkontakt abbricht, versenke ich kurz meine Nase in Griffins Schopf, mache einen schnellen Atemzug und drehe den Kopf wieder dem Fenster zu. Griffin hat von allem nichts mitbekommen … bis die Kinderstimme zu ihm durchdringt: »Mummy, warum riecht die Frau an den Haaren von dem Mann?«
Schei…benkleister!
Nicht alles hört sich mit britischem Akzent besser an.
Ich spüre, wie mir die heiße Röte vom Hals ins Gesicht steigt. Wäre ich eine Cartoon-Figur, würden mir jetzt Dampfwölkchen vom Kopf aufsteigen. Das Gewicht löst sich von meiner Schulter und stattdessen fühle ich die Last von Griffins Blick. Ich schaue weiter geradeaus und tue so, als würde ich es nicht bemerken. Griffin, der still vor sich hin lacht, legt seine Hand leicht an meine Schulter und dreht mich zu sich. So kann er sich an meiner Verlegenheit weiden, während ich mich als unbewegliche, knallrote Statue präsentiere.
Im Fenster gespiegelt sehe ich, wie Griffin dramatisch den Kopf schüttelt, wie in einer Shampoo-Werbung. O Gott!
»Meiner luxuriösen Lockenpracht kann eigentlich kaum jemand widerstehen. Mach dir keine Sorgen. Du konntest einfach nicht anders.«
Ah ja. Mach dich nur lustig über mich.« Er fasst mir wieder an die Schulter, aber diese Statue bleibt unbeweglich.
»Jetzt krieg dich ein, Jordan. Das ist doch nett. Du bist nett.«
Er versucht, mich zu beschwichtigen, aber bei seinen Worten sinke ich innerlich in mich zusammen. Ich war schon immer die Nette. Im Prinzip ist das ja okay, aber irgendwie riecht das nach »ein nettes Mädel und ein prima Kumpel«, und genauso freundschaftlich haben sich die Beziehungen mit den Typen in meinem Leben gestaltet. Ich war nie gut darin, diese Freundschaftshürde zu überspringen, außer einmal kurz, vor zwei Jahren, und selbst Logan hat mich immer nur süß gefunden. Das hat mir damals zwar nichts ausgemacht, aber irgendwie geht diesem Adjektiv doch die nötige Leidenschaft ab. Als wir zum ersten Mal miteinander im Bett waren, nannte er mich zwar schön, aber seine Wortwahl stand wohl eher unter dem Einfluss ganz anderer Faktoren.
Griffin nutzt meine kleine Schwäche und dreht mich zu sich, sodass ich ihn ansehen muss, aber nun verbirgt ein Schmollen meine Verlegenheit.
»Was ist? Was hab ich denn gesagt?«
»Nichts. Lass nur. Blöder Mädchenkram.«
Denn das war es: blöder Mädchenkram.
Er beugt sich zu mir, und ich erstarre wieder und denke an den Toilette-Typen, der das auch gemacht hat.
Seine Lippen streichen über mein Ohr und mein Körper erbebt. An meinen Kurzhaarschnitt muss ich mich erst gewöhnen.
»Eigentlich …« Seine Stimme ist nun ganz leise, kaum lauter als sein Atem. »Eigentlich finde ich das sexy.«
Ein kurzer, scharfer Atemzug, kaum ausreichend, um genügend Sauerstoff aus der Luft im Abteil aufzunehmen, mehr kann ich darauf nicht antworten. Seine Lippen streifen meine Wange, vielleicht nur zufällig, als er den Kopf zurückzieht. Bin das wirklich ich? Bei Sam kann ich mir gut vorstellen, dass sie in einem Zug auf ein Dutzend toller Kerle trifft, die sie auch noch küssen wollen, aber doch nicht bei mir! Und nun sitze ich hier mit einem Typen, dem mein Lächeln gefällt.
Dennoch – wenn ich die Augen schließe und mich an das wonnige Gefühl erinnere, dann sind es nicht seine Lippen, die ich sehe.
»Apfel«, sage ich schließlich. Es ist das einzige Wort, das mein Hirn im Sauerstoffentzug durch den winzigen Raum zwischen uns hervorstoßen kann.
Er neigt überrascht den Kopf zur Seite und grinst dann.
»Mein Shampoo. Stimmt. Ich benutze dasselbe wie meine Schwestern. Sie haben praktisch bestimmt, was so im Bad herumstand, und dann habe ich mich an das Shampoo gewöhnt.«
Ich klopfe mir mental auf die Schulter und bin stolz auf mich, weil ich den Aufreißer in Verlegenheit bringen konnte.
»Ich mag es«, sage ich. »Das Shampoo. Ich mag Äpfel. Der Duft passt zu dir.« Ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich damit sagen will, und bete insgeheim, dass er nicht nachfragt.
Tut er auch nicht. Stattdessen setzt er sich wieder richtig in seinen Sitz zurück und blickt nach vorn. Ich tue das Gleiche.
»Wie spät ist es?«, fragt er.
Ich greife in meine Tasche, um auf dem Handy nachzusehen. »Fast zwanzig nach sechs. Nur noch zwei Stunden bis Aberdeen.«
»Ich werde das nächste Semester dort an die Uni gehen.« Er stößt es hervor wie etwas, das er schon lange sagen wollte, und nur nicht die richtigen Worte dazu fand. »Ein Semester Seminare in den Wahlfächern, dann ein Jahr Herumreisen.«
»Ein ganzes Jahr? Kommst du da nicht in Schwierigkeiten mit deinen Prüfungen?«
Er lehnt sich ans Fenster. »Meine Eltern haben mir ein Ticket mit offenem Rückflugdatum gekauft. Ich kann nach Minnesota zurückgehen, wann immer ich will. Vorläufig jedenfalls. Mein Vater kann an meiner Uni ein paar Strippen ziehen. Gegen eine kleine Spende an den Freundeskreis ehemaliger Schüler friert die Uni meine Unterlagen zwei Semester lang ein, wenn ich mich dafür entscheide, nach dem Auslandssemester nicht gleich zurückzukehren.«
Seine Worte klingen kurz und knapp, mit einem irritierten Unterton.
»Klingt, als ob du das auswendig gelernt hättest.«
Er stößt einen Atemzug hervor. »Ist es wohl auch. Ich kann es auch nicht anders ausdrücken, als es in dem Schreiben der Universität steht. Egal, wie ich es sage, du wirst immer das Gleiche denken.«
»Was denn? Dass du Glück hast, weil du dich noch nicht so bald festlegen musst? Dass dich deine Eltern netterweise nicht drängen, schnell etwas zu entscheiden, das dann jahrzehntelang dein Leben bestimmt?«