9,99 €
Die fantastische Dark-Academia-Sensation der Bestsellerautorin Lara Große Und wovor sollten wir uns noch fürchten, wenn wir Götter sind? Der Tag, an dem Olivia Dušková eines der begehrten Stipendien an der Arcane Academy erhält, ist der glücklichste ihres Lebens. Endlich kann sie die Arkanen Ebenen studieren – so, wie es nur an dieser exklusiven Hochschule in Schottland möglich ist – und ihr altes Leben in Prag hinter sich lassen. In einer Klasse mit den fünf talentiertesten Studierenden ihres Jahrgangs übt vor allem der ebenso intelligente wie gutaussehende Milo Sinclair eine große Faszination auf sie aus. Getrieben von ihrem Wunsch nach Anerkennung riskiert Olivia alles, um Teil ihrer elitären Gemeinschaft zu werden. Doch als die Gruppe, angestachelt von ihrem charismatischen Professor, einen gefährlichen Plan schmiedet, wird Olivia klar: Sie wollen heimlich auf die letzte der Arkanen Ebenen vordringen – ein Unterfangen, das an Wahnsinn grenzt. Die tiefen Ebenen sind aus gutem Grund verboten. Legenden zufolge wartet dort unten das ewige Leben … oder doch nur der Tod?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 801
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lara Große
LARA GROßE
Ausführliche Informationen über unsere Autorinnen und Autoren und ihre Bücher
www.leaf-verlag.de
1. Auflage 2025
Originalausgabe:
Copyright © 2025 by LEAF Verlag, Bücherbüchse OHG, Siebenbürger Straße 15a, 82538 Geretsried, Deutschland
Copyright © 2025 by Lara Große
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.
Textredaktion: Yvonne Lübben, Larissa Bendl
Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns, Francis Eden und Caroline Keller unter Verwendung von Illustrationen von Kateryna Vitkovska @vitkovskaya_art
Karte: Copyright © by Lara Große und LEAF Verlag
Satz: LEAF Verlag
ISBN 978-3-911244-33-6
Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte, deshalb befindet sich auf Seite 573 eine Contentwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
PROLOG
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
KAPITEL VIERZIG
EPILOG
DANKSAGUNG
Contentwarnung
Wir sind nur noch zu fünft.
Der Gedanke füllt meinen Kopf aus, klebt fest wie Sirup, so süß, dass der widerliche Geschmack bis auf meine Zunge sackt. Acht Monate lang waren wir zu sechst, und jetzt sind wir zu fünft. Wobei ich mir nicht mal sicher bin, ob wir überhaupt noch etwas sind.
Ich blinzle gegen das trockene Brennen in meinen Augen an – ich sollte weinen, oder? Warum weine ich nicht? – und starre wieder auf meine Hände. Sie zittern, und die Kette, die meine Handschellen verbindet, rasselt leise. Das Eisen schmiegt sich fast schon sanft an meine Haut, seine Kälte hingegen gräbt sich tief in meine Knochen und lähmt mich. Bloß meine Finger zucken, wollen sich selbstständig machen. Dabei ist längst alles Blut von ihnen abgeschrubbt. Ohne erscheinen sie mir fremdartig nackt. Schließlich war es mein eigenes Blut. Es hat gar keines gegeben, als wir …
Wir.
Das Wort gibt mir nicht mehr das gleiche Gefühl wie in den letzten Monaten. Jetzt fühlt es sich hohl an, leer und zerbrochen.
»Ms Dušková?«
Ich schaue hoch, rutsche auf meinem knarzenden Holzstuhl nach vorne. Von seinem erhöhten Platz am Kopfende des Saals starrt das achtköpfige Gremium der Society auf mich herab, im Zentrum Dekanin Mokoena, die mich mit beinahe unbeweglichem Ausdruck mustert. Allein die angespannten Falten rund um ihre Mund- und Augenwinkel verraten ihre Ungeduld. Ihre schwarze Robe und ihre dunkelbraune Haut verschmelzen beinahe mit der Holzvertäfelung an den Wänden, ihre kurzen weißen Haare leuchten dagegen wie ein Heiligenschein um ihren Kopf und geben ihr den Anschein eines Engels, der auf die Erde herabgestiegen ist, um über mich zu richten.
Ich schlucke, will den widerlich süßen Geschmack hinunterwürgen, doch es gelingt mir nicht. Fuck, was hat sie gesagt?
»Ja?« Die Silbe kommt als jämmerliches Krächzen über meine Lippen.
Die Augenbrauen der Dekanin heben sich kaum merklich. »Ms Dušková«, wiederholt sie, »möchten Sie sich zu der Anklage äußern?«
Mein Blick zuckt zu meinen Bewachern, die mich flankieren. Inquisitor Alvarez, der sonst mit einem Tausend-Watt-Lächeln im sonnengebräunten Gesicht herumläuft, stellt jetzt eine seltsame Miene zur Schau. Beinahe, als wäre ihm übel. Inquisitorin Carter hingegen mimt wie immer erfolgreich eine Marmorskulptur. Ob sie beide innerlich triumphieren? Eigentlich hätten sie jeden Grund dazu, nachdem wir wochenlang Katz und Maus gespielt haben. Trotzdem ist es absolut lächerlich, dass sie mir nicht von der Seite weichen. Mit den Handschellen kann ich ohnehin keine Zirkel zeichnen. Diese schnöden Stücke Metall verhindern, dass ich auch nur ein winziges bisschen Magie wirken kann. Dabei haben wir alle Macht des Universums in unseren Händen gehalten … wortwörtlich.
Ich denke an die anderen, die draußen vor dem Gerichtssaal warten. Was haben sie wohl auf die Fragen des Gremiums geantwortet? Es fällt mir noch immer schwer, zu glauben, dass es zu alldem hier kam wegen einer Tat, für die wir verantwortlich waren, und noch schwerer ist zu glauben, dass wir getan haben, was wir getan haben. Doch es war notwendig. Vielleicht nicht von Anfang an, aber am Ende. Am Ende ist es das gewesen. Notwendig.
Oder nicht?
Ich schließe die Augen, atme tief ein und stelle mir die frische Luft am Loch Dubh vor, das eisige Wasser um meine Beine, das Gelächter der anderen …
Mein Leben lang habe ich von einem Studium an der Arcane Academy geträumt, vielleicht sogar von einer Mitgliedschaft in der Society of Arcane Arts. Und jetzt ist alles vorbei.
Als ich ausatme und die Augen öffne, zeichnen sich die Spuren der Ungeduld deutlicher auf dem Gesicht der Dekanin ab, Risse in einer sorgfältig aufgesetzten Maske. Ihre nächsten Worte sind scharf wie Messerstiche und lassen mich zusammenzucken.
»Gestehen Sie den Mord? Ja oder nein?«
Nein.
Die Antwort liegt mir auf der Zunge, die Lüge will eilfertig über meine Lippen gleiten, doch in letzter Sekunde halte ich sie zurück. In meiner Kehle klumpt sich etwas zusammen, nimmt mir die Luft zum Atmen und weigert sich, zu einem Wort zu werden. Ein Ja, das schwer wie Blei meinen Hals verschließt. Wahrheiten besitzen mehr Gewicht als Lügen.
Einen Moment lang mustere ich das Gremium, dessen Mitglieder bis auf Mokoena völlige Fremde für mich sind, und ich frage mich, ob ich es diesen Menschen überhaupt erklären könnte.
Mir ist, als hätten wir diesen dunklen Ort gar nicht verlassen. Als müsste ich nur einen Blick über die Schulter werfen, um wieder den Abgrund zu sehen. Selbst in zehn Jahren wird das so sein, davon bin ich plötzlich überzeugt. Ich werde dieses Bild nie vergessen, den Abgrund, den dunklen Schrecken in den Augen (oder vielleicht hat sich auch mein eigener Schock in ihnen gespiegelt, ich weiß es nicht) und diesen einen Moment, in dem alles in der Schwebe hing.
Und obwohl ich noch immer dort festhänge, vermutlich mein Leben lang dort festhängen werde, wartet die Dekanin auf eine Antwort. Ja. Bloß diese eine Wahrheit muss ich hervorbringen, selbst ein Nicken würde genügen, aber ich bleibe stumm und starr, während ein neuer Gedanke von mir Besitz ergreift:
Vielleicht sind wir all die Zeit doch Ikarus gewesen.
Alle Absolvent*innen eines Arkanen Studiums sind automatisch zu den Aufnahmeprüfungen der Arcane Academy zugelassen. Die fünfzig Studierenden mit den besten Ergebnissen weltweit dürfen im Anschluss ihr fortführendes Studium an der Academy aufnehmen.
– Aus den Statuten der Society of Arcane Arts –
Acht Monate zuvor
Die Arcane Academy thronte so wachsam und wehrhaft auf dem Hügel über Laketown, als wären die Zinnen und Schießscharten noch immer bemannt. Glücklicherweise war das jedoch nicht der Fall, und so konnte ich in aller Ruhe den Anblick in mich aufnehmen, während ich am Fuß der Steinbrücke stand, die sich zu der gewaltigen Burg hinüberspannte.
Efeu überwucherte den grauen Stein, den Wind und Regen jahrhundertelang glatt geschmirgelt hatten. Sechs Türme erhoben sich in den grauen Himmel, wuchsen symmetrisch von innen nach außen in die Höhe. Dazwischen schmückten Zinnenkränze die Dächer, Lanzettfenster mit spitzen Bögen blickten auf mich herab.
Ich schob eine Hand in die Manteltasche und tastete nach dem Brief, um mich zu versichern, dass er noch da war. Meine Finger fuhren das Siegel nach, die beiden ineinander verschlungenen As, eines davon auf dem Kopf stehend (ich hatte es extra vorsichtig abgezogen, damit es intakt blieb).
»Ut supra, sic infra«, murmelte ich die Worte, die es umrundeten. Das Motto der Academy.
Obwohl mir ihr Anblick von Bildern vertraut war, hatte sie in Wirklichkeit eine eigenartige Wirkung auf mich – mein Herz pochte, meine Adern summten. Die Academy schien wilder, urtümlicher, wie ein schlafendes Monster aus Stein, das bloß darauf wartete, zu erwachen. Sie wirkte genauso aus der Zeit gefallen wie das kleine schottische Dorf hinter mir, das nur aus einem Marktplatz und einer Handvoll Steinhäuser bestand.
Ganze Nächte lang hatte ich jedes einzelne Bild in der bunt bedruckten Broschüre betrachtet, jener Broschüre, die zusammen mit dem formellen Brief aus schwerem Papier und dem geprägten Siegel zu Hause in unserer Wohnung in Prag eingetroffen war. Auch den Lageplan hatte ich auswendig gelernt, und so wusste ich, dass sich im Nordflügel, rechts von mir, die Unterkünfte befanden. Der Südflügel zu meiner Linken beherbergte hingegen die Vorlesungssäle und Seminarräume.
Mein Blick heftete sich wie von selbst auf den großen Südturm. Darin verbarg sich die berühmte Bibliothek mit der umfangreichsten Sammlung Arkaner Schriftzeichen der ganzen Welt. Ich hätte eine Hand geopfert, um diese Bibliothek einmal betreten zu dürfen. (Nun, stattdessen hatte es mich nur vier Jahre harten Studiums an der Prager Universität für Arkane Künste gekostet, um hierherzukommen.)
Mich überkam der Drang, mich zu kneifen, um sicherzustellen, dass dies kein Traum war. Ich, Olivia Dušková, durfte ab sofort die Arcane Academy besuchen. Meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen in Prag wären vermutlich die Augen aus dem Kopf gefallen, wenn ich zur Abschlusszeremonie gegangen und ihnen meine Einladung unter die Nase gehalten hätte. Aber das war ich nicht. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis verspürt, diese Menschen wiederzusehen. Soweit ich wusste, war ich die Einzige aus unserem Jahrgang, deren Testergebnisse für eine Aufnahme an der Academy ausgereicht hatten.
Das hier war meine Chance auf einen Neuanfang.
Dieser Gedanke weckte mich endlich aus meiner Starre und gab mir den Mut, den ersten Schritt zu machen. Sobald ich die Brücke betrat, riss der Wind an meinem Mantel und zerrte an meinen dunklen Locken, die sich ohnehin größtenteils aus dem Haargummi befreit hatten. Die Kälte brannte auf meinen Wangen, kroch meinen Nacken hinab und ließ mich erschaudern. Und verdammt, es war gerade erst Anfang Oktober. Auch in Prag konnte es im Winter kalt werden, doch hier in dieser rauen, windgepeitschten Landschaft kam mir die Kälte durchdringender vor. Mein Mantel war bereits das dickste Kleidungsstück, das ich besaß. Ihn aus meinem Koffer hervorzukramen, war meine erste Handlung gewesen, nachdem ich mit dem Flugzeug in Inverness gelandet war.
Natürlich hätte ich gegen die Kälte auch einen Zirkel wirken können – eine Kombination aus Arkanen Schriftzeichen, die, richtig angeordnet, die Realität verändern konnten. In einem gewissen Ausmaß zumindest. Es wäre also kein Problem gewesen, die kalte Luft um mich herum in warme zu verwandeln. Aber man wusste nie, wie die Menschen in der Öffentlichkeit auf Magie reagierten. Etwas theoretisch zu wissen und es praktisch mitzuerleben, sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe, wie Pa stets zu sagen pflegte. Seit der Gründung der Society of Arcane Arts im Jahr 1924 war die Existenz von Magie zwar allgemein bekannt, aber das hieß nicht, dass sie und die Menschen, die sie wirkten, auch überall akzeptiert wurden.
Obwohl ich mir wahrscheinlich trotzdem zu viele Gedanken gemacht hatte – immerhin hatte es am Flughafen einen riesigen Laden voller Academy-Merch gegeben. Die Touristen hatten sich quasi geprügelt, um mit ihren Taschen voll billigem Tand zur Kasse zu kommen. Da sollte man meinen, ein harmloser Zauber gegen die Kälte wäre zu verkraften … ich hatte mir das Experiment jedoch gespart. Im besten Fall wäre ich angegafft worden wie eine Attraktion im Zirkus, im schlimmsten Fall hätte irgendein Arschloch mich angemacht, ich hätte mich verteidigt, und die ganze Situation wäre eskaliert … nein danke.
Kurz darauf war ich eh in den beheizten Zug gestiegen, der mich von Inverness aus tiefer in die schottischen Highlands gebracht hatte, mitten durch malerische Landschaften aus Hügeln und Seen hindurch. Der Himmel wirkt näher hier, hatte ich gedacht, während ich aus dem Fenster gesehen hatte. Als müsste man nur die Hand ausstrecken, um die nebelgrauen Wolken zu berühren. Durch meine Kopfhörer war the lakes von Taylor Swift gedrungen, dessen Lyrics sich zusammen mit dem magischen Ausblick zu einem warmen Gefühl in meiner Brust vermischt hatten. So als würde ich tatsächlich hierhergehören.
Diese neuartige Empfindung flammte auch jetzt wieder in mir auf, genauso zögerlich und vorsichtig, wie meine Füße mich über die Steinbrücke trugen. Unter mir plätscherte der Bach und mündete zu meiner Rechten in einen See, den der Lageplan »Loch Dubh« genannt hatte. Die schwarze Oberfläche spiegelte auf der einen Seite die bunten Herbstbäume und auf der anderen die altertümlichen Häuser von Laketown.
Doch es dauerte nicht lange, bis etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich zog und mich auf halbem Weg über die Brücke stocken ließ. Der Riss, wurde mir klar. Das ist der Riss. Ich hätte das Gefühl eher erkennen müssen. Aber es war so viel stärker als sonst. Es summte in meinen Adern, vibrierte in meinen Knochen, und selbst in meinen Zähnen pulsierte es, als stünde ich direkt neben einem Presslufthammer. Bloß dass außer dem Wind und dem leisen Gluckern des Wassers nichts zu hören war.
Ich hob den Blick und suchte nach dem Anbau, der sich dem Lageplan zufolge auf der Rückseite der Academy befinden müsste. Doch von hier aus versperrten mir die Zinnen und Türme die Sicht. Trotzdem zog sich mein Magen vor Aufregung fest zusammen. Dieser Riss, den der Anbau beherbergte, war es, der die Arcane Academy einzigartig machte.
Die Emerald Stairway.
Nur die besten Studierenden – wie ich, erinnerte ich mich – bekamen die Möglichkeit, über die Stairway die tieferen Ebenen zu erforschen und sich zu wahren Expertinnen und Experten der Arkanen Künste ausbilden zu lassen. Die Prinzipien der Magie wurden an etwa zwei Dutzend Universitäten weltweit gelehrt, aber nur hier konnten wir zur Elite aufsteigen – und genau dort wollte ich hin.
Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, allein bei dem Gedanken, und ich spürte ein Lächeln, das an meinen Mundwinkeln zupfte.
»Eh, Miss!«
Ich zuckte zusammen und schrak aus meinen Tagträumen auf. Im Eingangsportal stand ein Mann, dürr und knorrig wie ein alter Baum, in schwarzer Uniform mit dem goldenen Logo der Academy auf der Brust. Mit missmutig verkniffenen Lippen zog er sich die Schiebermütze tiefer in die Stirn.
»Wolln’se dastehen und starren, oder komm’se rein?« Er sprach Englisch mit einem starken schottischen Akzent, und obwohl mein komplettes Studium in Prag auf Englisch gewesen war, hatte ich Schwierigkeiten, ihn zu verstehen.
Natürlich wäre ich eher gestorben, als das zuzugeben. Als ich an die Uni gekommen war, hatten die anderen mich wie eine Aussätzige behandelt, weil ich weder Latein noch Altgriechisch oder Altägyptisch fließend beherrscht hatte. Dabei war ich bloß nicht von Geburt an auf dieses Studium vorbereitet worden. Mittlerweile konnte ich die Sprachen alle ganz passabel lesen (und teilweise sprechen), was auch notwendig gewesen war, um die Unterrichtslektüren zu verstehen.
Entschlossen schob ich die negativen Gedanken beiseite und eilte unter dem griesgrämigen Blick des Pförtners das letzte Stück über die Brücke, wobei mein Koffer über das Pflaster hüpfte und meine lederne Umhängetasche bei jedem Schritt schmerzhaft gegen meinen Oberschenkel prallte. Mist, ich hatte eindeutig zu viele Bücher eingepackt. Keuchend stoppte ich vor dem Tor und wollte mir eine Begrüßung abringen, aber der Mann kam mir zuvor.
»Sie wissen, dass’se zu spät sind?«
Ach was. Das hatte ich gewusst, noch bevor ich in den Flieger gestiegen war. Es war die günstigste Verbindung gewesen.
»Tut mir leid«, sagte ich und zuckte beiläufig mit den Schultern. »Mein Chauffeur hat sich auf dem Weg hierher verfahren.« Während ich von dem winzigen Bahnhof zur Academy gelaufen war, hatte ich gleich mehrere schwarze Limousinen und Geländewagen entdeckt; auf dem Feld hinter den Häusern von Laketown hatte sogar ein Hubschrauber gestanden. Weit hergeholt war das also nicht.
Der Pförtner grunzte. »Einladung und Ausweis?«
Wortlos zog ich den Brief aus dem Mantel, kramte dann in dem Chaos meiner Tasche nach meinem Portemonnaie und reichte ihm auch den Ausweis.
»Olivia Dušková aus Prag«, murmelte er vor sich hin, während er ins Torhäuschen schlurfte und auf einem nagelneuen Computer herumtippte, der geradezu lächerlich fehl am Platz wirkte. »Ah, da ham wir’se ja.«
Ich beobachtete durch die offen stehende Tür, wie der Pförtner mich offensichtlich in eine Liste eintrug, bevor er sich dann wieder zu mir umdrehte. Er gab mir Brief und Ausweis zurück.
»Und nun beeiln’se sich lieber, Miss. Einfach geradeaus durch zur Halle.«
Ich bedankte mich artig, stopfte meine Papiere zurück in die Tasche, ergriff mit der anderen Hand meinen Koffer und lief los. Doch sobald ich durch das Tor trat, wurde ich schon wieder langsamer. Ich konnte einfach nicht anders, als die Architektur zu bewundern. Zinnenbewehrte Mauern umrahmten den Hof und mündeten in den beiden kleinsten der sechs Türme, die das Eingangsportal flankierten. Es hatte etwas Verwunschenes und zugleich Bedrohliches, dieses uralte Gemäuer, das vom Efeu zurückerobert wurde. Es hatte Jahrhunderte bezeugt und überstanden. Etwas, wovon jeder Mensch nur träumen konnte.
Ich schüttelte den Kopf und eilte weiter. Verdammt, ich musste damit aufhören, mich in meinen Gedanken zu verlieren. Hör auf, zu träumen, Kind, hatte Pa immer gesagt, als ich klein gewesen war. Steck deine Nase nicht immer in Bücher. Natürlich war das nie geschehen. Ich konnte fast ausschließlich in meiner Fantasie leben, wenn ich es darauf anlegte.
Heute jedoch war etwas anderes wichtiger, und so drückte ich eine Hand gegen den Messingknauf – nur um regelrecht ins Innere zu stolpern, weil die Türflügel erstaunlich leicht aufglitten.
Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. Im Vergleich zu draußen war die Luft warm, beinahe stickig, und es roch nach Kaminholz. Ich stand in der Mitte einer L-förmigen Eingangshalle, die links und rechts von mir je in einer breiten Treppe endete. Das Licht der Kronleuchter schimmerte warm wie Gold auf den reich verzierten Holzvertäfelungen an den Wänden und dem gerippten Deckengewölbe, das eindeutig gotische Einschläge erkennen ließ.
Stimmengewirr erfüllte die Luft und führte mich direkt auf eine weitere doppelflügelige Tür zu, hinter der sich eine Art Halle zu verbergen schien. Ich erspähte Leute in meinem Alter, die aufgeregt miteinander tuschelten.
Möglichst unauffällig ließ ich meinen Koffer neben einer Säule stehen, legte meinen Mantel und die Umhängetasche darauf ab und schob mich durch die Tür. Gespannt blickte ich mich um und entdeckte lange Tische und Bänke. Wenn ich den Plan richtig im Kopf hatte, dann musste das hier der Speisesaal sein.
Leise ließ ich mich auf einen freien Platz ganz hinten gleiten. Zum Glück schauten alle nach vorne zu der Bühne, auf der in diesem Moment eine Frau erschien. Tja, ich hatte wirklich ein Talent, immer ein bisschen zu früh oder zu spät zu kommen, ohne je komplett unpünktlich zu sein.
Als die Frau ans Mikrofon trat, erkannte ich sie. Dekanin Charlize Mokoena in Fleisch und Blut – auch sie war in der Broschüre abgebildet gewesen, adrett lächelnd und mit einem flotten Zitat neben ihrem Bild: »Kommen Sie, und schreiben Sie die Realität mit uns neu.« Sie war eine schlanke Frau Ende fünfzig mit dunkelbrauner Haut und kurzen weißen Haaren, und sie strahlte diese Art gütige Strenge aus, wie man sie von den weisen Mentoren aus jedem zweiten Film kannte.
Die Dekanin ließ ihren Blick über die Menge schweifen – mit den genau fünfzig Erstsemestern, die jedes Jahr zugelassen wurden, war der Saal nur sporadisch gefüllt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass selbst die Studierenden aller drei Jahrgänge plus die Lehrerschaft hier problemlos Platz finden würden.
Eine Bewegung im Augenwinkel ließ mich zu den zwei Mädchen blicken, die mir schräg gegenübersaßen, gerade die Köpfe zusammengesteckt hatten und kicherten. Plötzlich schwand das warme Gefühl, das die Academy in mir ausgelöst hatte, und wich einer klammen Kälte. Meine Finger machten sich selbstständig und zupften am Nagel meines linken Daumens herum, der sowieso schon eingerissen war. Ich mochte den Aufnahmetest gemeistert haben, aber ganz gleich, was ich vor einer Stunde im Zug noch gedacht hatte: In Prag hatte ich nie richtig dazugehört – warum sollte es hier anders sein?
Als hätte sie meine Bedenken gehört, räusperte sich die Dekanin in diesem Augenblick. »Willkommen an der Arcane Academy«, sagte sie in einem feierlichen Tonfall, der die Kälte in mir verdrängte und das Lächeln zurück auf meine Lippen brachte. »Zuerst möchte ich Ihnen meinen Glückwunsch aussprechen. Jedes Jahr nehmen mehrere Tausend Bewerberinnen und Bewerber von Arkanen Universitäten auf der ganzen Welt an unserem Test teil. Sie alle haben gelernt, durch Risse in die Schichten der Realität hinabzusteigen. Sie alle haben auf jenen Arkanen Ebenen Schriftzeichen gesammelt, und sie alle wissen, wie man diese zu Zirkeln zusammensetzt, um Magie zu wirken. Doch bloß die fünfzig Besten von Ihnen können hier bei uns an der Academy ihr Studium fortsetzen. Feiern Sie heute Abend. Sie können stolz auf sich sein.«
Das reichte, um Applaus aufbranden zu lassen, der von den Wänden widerhallte. Bevor ich entscheiden konnte, ob ich mich anschließen sollte, hob die Dekanin eine Hand und sorgte dadurch für Ruhe.
»Aber wenn Sie glauben, Sie wüssten, was Sie erwartet, muss ich Sie enttäuschen. Von nun an wird es nicht leichter, sondern nur schwieriger. Und damit meine ich nicht, dass fast die Hälfte von Ihnen durch die Prüfungen am Semesterende fallen wird.« In die Stimme der Dekanin schlich sich eine gewisse Härte. »Ich weiß, bisher waren Ihre Exkursionen auf die Ebenen ein gefährlicher Balanceakt. Risse gibt es überall, doch sie sind flüchtig, und kehren Sie nicht zurück, bevor sie sich schließen, sitzen Sie unten fest. Die Emerald Stairway hingegen ermöglicht Ihnen einen ständigen Zugang zu den Ebenen. Sie ist der einzige dauerhafte Riss auf der Welt.« Für einige Sekunden schwieg sie, und ihr Blick schien jeden von uns einzeln zu fixieren, bevor sie fortfuhr.
»Doch das bedeutet auch, dass Sie viel tiefer in das Geflecht der Realität eindringen werden als bisher. Wenn Sie sich geschickt anstellen, können Sie alle dreizehn der erlaubten Arkanen Ebenen erforschen und dort neue Schriftzeichen sammeln. Und lassen Sie mich eines klarstellen: Diese Ebenen werden Ihnen alles abverlangen, körperlich und mental. Wenn Sie nicht achtgeben, kehren Sie nicht nach oben zurück. Es ist drei Jahre her, dass wir zuletzt einen Studenten bei einer Expedition verloren haben, doch ob wir diese Zeitspanne verlängern können, liegt ganz allein bei Ihnen.«
In der wirkungsvollen Kunstpause herrschte nun betretenes Schweigen. Auch in meinem Magen vermengten sich Vorfreude und Nervosität – okay, vielleicht war es schlichte Furcht – zu einer übelkeiterregenden Mischung.
»Stellen Sie es sich vor wie in Dantes Inferno«, hatte mein Professor im ersten Semester an der Prager Uni gesagt. »Bloß dass Sie nicht durch die Kreise der Hölle in das Innerste der Erde hinabsteigen, sondern durch die Arkanen Ebenen in das Innerste der Realität. Und mit dieser Allegorie sollten Sie auch gewarnt sein, was Ihre Exkursionen auf diese Ebenen angeht.«
An diese Mahnung musste ich nun denken. Die normalen Universitäten beschränkten sich auf die obersten Ebenen, sozusagen auf den Vorhof und die ersten Kreise der Hölle, doch hier an der Academy würden wir dank der Emerald Stairway bis auf die tiefen Ebenen hinabsteigen. Bis ins Zentrum der Hölle und darüber hinaus.
»Neben den Vorlesungen und Seminaren wurden Sie alle einer Expeditionsklasse zugeteilt«, erklärte Mokoena, nachdem sie uns lange genug hatte schmoren lassen. »Sie werden alle Erkundungen gemeinsam unternehmen. Achten Sie aufeinander – das ist Ihre beste Chance, wenn Sie mir diesen kleinen Rat erlauben. Sollten Sie sich den Herausforderungen der Academy jedoch nicht gewachsen fühlen, können Sie natürlich jederzeit heimkehren.«
Heimkehren wohin? In die kleine Wohnung, die ich mir mit Pa teilte? Seit ich das Stipendium an der Prager Uni angenommen hatte, lebten wir nur nebeneinanderher. Er hielt nichts von den Arkanern und erst recht nicht von meinem Studium. Doch unsere Differenzen waren inzwischen zu stiller Distanz geworden und jeder von uns blieb in seiner eigenen Welt. Und ich war bloß in der Wohnung geblieben, weil ich mir keine eigene hatte leisten können.
»Danke für Ihre Aufmerksamkeit.« Mit diesem unzeremoniellen Ende ihrer Rede riss mich die Dekanin aus den Gedanken und verließ die Bühne.
Das Schweigen hielt für einige Sekunden, dann brach es wie Glas, und Lärm erhob sich. Alle redeten durcheinander, sodass ich nichts als Wortfetzen aufschnappte. Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch und knibbelte wieder an meinem Daumen herum. Zwei ältere Studentinnen mit Klemmbrettern in der Hand betraten unterdessen die Bühne, warteten jedoch vergeblich auf Ruhe.
»Na, das war mal eine beschissene Rede. Mokoena hat schon bessere gehalten.«
Die Stimme, die hinter mir ertönte, klang wie aus einem Hörbuch – tief und angenehm, ein wenig monoton vielleicht, mit einem hinreißenden britischen Akzent. Man wollte sich darin einwickeln wie in eine Wolldecke, die sanft über die Haut kratzt.
Ich blickte über die Schulter, um herauszufinden, wem diese Stimme gehörte. Hinter mir lehnte ein junger Mann in der geöffneten Tür. Ganz sicher war ich mir nicht, ob er mit mir gesprochen hatte, aber es war sonst niemand in direkter Nähe.
»Ach ja?«, murmelte ich deshalb, während ich Mr Hörbuch einer Musterung unterzog. Irgendwie passte er zu seiner Stimme. Hohe Wangenknochen dominierten sein schmales Gesicht, ein Eindruck, den die große runde Brille mit dünnem Messinggestell noch verstärkte. Hinter den Gläsern blickten Augen, grün wie Flaschenglas, an mir vorbei zur Bühne. Hellbraunes Haar, das sich nicht ganz entscheiden konnte, ob es gelockt sein wollte oder nicht, fiel ihm wirr in die Stirn. Und auch wenn die Brille es etwas kaschierte, waren die Ringe unter seinen Augen unübersehbar.
»Nein«, sagte er, und schon das einzelne Wort brachte etwas in mir zum Schmelzen. Ich hätte dieser Stimme stundenlang lauschen können, ganz gleich, über was er sprach. »Eigentlich sind alle ihre Reden beschissen.«
»Wieso das?«, fragte ich, damit er weitersprach, und drehte mich auf der Bank ein Stückchen weiter in seine Richtung, nur ein bisschen, um ihn besser ansehen zu können. Er war groß, bestimmt einen Kopf größer als ich, schlank gebaut, aber athletisch. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und unter dem dunkelgrünen Wollpullover ließ sich ein trainierter Oberkörper erahnen. Doch mein Blick blieb an seinem rechten Handgelenk hängen, wo sein Ärmel etwas hochgerutscht war. Etwas war dort auf seine blasse Haut geschrieben, so verschmiert, dass ich einen Kuli vermutete und kein Tattoo. Ein weißes Hemd unter dem Pullover, eine dunkelgraue Stoffhose und teure Oxford-Lederschuhe komplettierten sein Outfit. Dazu hatte er eine bunt gepunktete Fliege umgebunden, die an ihm seltsamerweise stylish und sexy wirkte.
»Na ja.« Er ließ die Arme hängen und zuckte mit den Schultern, verdrehte die Augen. »Sie predigt immer, wir sollen vorsichtig sein. Uns brav an die Regeln halten. Fleißig lernen und unsere Hausaufgaben machen.« Seine schöne Stimme klang spöttisch, und der scharfe Unterton sorgte dafür, dass sich die Härchen an meinen Armen aufstellten.
»Was ist verkehrt daran?«, fragte ich, tatsächlich neugierig auf die Antwort.
»Verkehrt?« Zum ersten Mal drehte er den Kopf und sah zu mir. Sein Blick war mir irgendwie unangenehm, so intensiv und durchdringend, wie er war. Ich musste sogar dem Drang widerstehen, an mir herunterzuschauen. Meine Locken waren vom Wind vermutlich völlig zerzaust. Ich trug eine weiße Spitzenbluse, die ich selbst genäht hatte, zu einer braunen Bundfaltenhose – beides musste nach dem Flug jedoch ziemlich zerknittert sein. Bei meinem Aufbruch hatte mir das Outfit gut gefallen, jetzt erschien es mir im Vergleich zu den Klamotten der anderen abgetragen. Ein höchst unwillkommenes Déjà-vu aus meiner Zeit an der Prager Uni. Zwischen Kleidern von Ralph Lauren und Burberry, Rolex-Uhren und Chanel-Taschen war ich mir von Anfang an fehl am Platz vorgekommen.
Als wäre ich … falsch.
Er sieht nur, was ich ihn sehen lasse, erinnerte ich mich und erwiderte seinen Blick offen, als hätte ich nichts zu verbergen, nichts, wofür ich mich schämen müsste.
Nach einem Moment zuckten seine Lippen, verzogen sich zu der Andeutung eines sarkastischen Lächelns. »Es ist verkehrt, Darling, weil es nicht darum gehen sollte, vorsichtig zu sein oder Regeln zu befolgen.«
»Sondern?«
Jetzt schien Ungeduld seine Stirn zu kräuseln. Als wäre die Antwort vollkommen offensichtlich. »Wir werden hier die Realität verformen. Wortwörtlich die tiefsten Schichten des Universums erforschen.« Seine Augen leuchteten auf. »Die Möglichkeiten sind endlos. Aber im Namen der Wissenschaft müssen wir auch Risiken eingehen. Wer dazu nicht bereit ist, der sollte gar nicht erst herkommen.«
Ich wusste, dass sein letzter Satz sich nicht auf mich persönlich bezog, trotzdem fühlte ich mich angegriffen, und Hitze schoss mir in die Wangen. Ich hatte jedes Recht, hier zu sein, jedes verdammte Recht. Das Stipendium hatte mich an die Uni in Prag gebracht; die Aufnahme an der Academy hatte ich mir dagegen selbst erarbeitet, mit jeder Nacht, die ich durchgelernt hatte, mit jedem Buch, das ich studiert, und jeder Ebene, die ich erforscht hatte. Im Prinzip konnten alle Menschen die Arkanen Künste erlernen, doch die Kinder der alteingesessenen Familien wurden ihr ganzes Leben lang mit teurem Privatunterricht auf dieses Studium vorbereitet. Dieses Privileg hatte ich nicht gehabt. Im Gegenteil. Wenn Ma mich beim Lernen erwischt hatte, war mir eine Standpauke sicher gewesen. Sie hatte nie verstanden, dass ich seit jenem Vorfall nicht mehr wirklich eine Wahl gehabt hatte. Oder sie hatte es bloß nicht wahrhaben wollen.
»Ich denke«, sagte ich und hielt meine Stimme bewusst locker, ließ nichts von meinen Gefühlen darin mitschwingen, »jeder, der hier ist, hat schon gezeigt, dass er zu diesen Risiken bereit ist.«
Er schüttelte den Kopf, schnalzte jetzt verächtlich. »Mindestens die Hälfte unserer Kommilitoninnen und Kommilitonen ist nur an der Academy, weil Mami und Papi es so wollten. Weil es sich gut im Lebenslauf macht, selbst wenn man nicht über das erste Semester hinauskommt.«
Ich schnaubte, lehnte mich zurück und stützte mich mit einer Hand auf der Bank ab, sodass ich mich ihm noch ein Stück weiter zuwenden konnte. »Und du nicht?« Ich wählte ebenfalls einen vorsichtig spöttelnden Ton, um zu testen, wie er darauf reagieren würde.
Er warf mir einen überheblichen Blick zu. »Natürlich nicht.«
»Dann sind deine Eltern also keine Mitglieder der Society?« Diese Frage war ein wenig ins Blaue geschossen, doch die Vermutung lag nahe. Seine Anwesenheit ließ mich zumindest annehmen, dass er ebenfalls ein Erstsemester war. Doch er hatte bereits mehrere Reden der Dekanin gehört – wo, wenn nicht auf den Versammlungen der Society?
Ganz kurz wirkte er überrascht, dann winkte er ab. »Schon. Meine Mums sind beide Mitglieder. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin.«
Das war interessant. Nur den besten Absolventinnen und Absolventen der Academy wurde ein Platz in der Society of Arcane Arts angeboten. Die Society überwachte den Einsatz Arkaner Magie auf der ganzen Welt, um Missbrauch zu verhindern, vertrat unsere Interessen in der Öffentlichkeit, schlichtete bei Streitigkeiten und hatte die Schirmherrschaft über alle Arkanen Institute inne. Wenn die Mütter dieses jungen Mannes also beide Mitglieder waren, gehörte er quasi zur Elite.
»Nein«, erwiderte ich, passte mich seinem Tonfall an und verstärkte den Spott diesmal, »du bist natürlich allein für die Forschung hier, nicht wegen des Ruhms.«
Es blitzte wieder auf, dieses Beinahe-Lächeln, das ein Kribbeln in meinem Magen verursachte. »Selbstverständlich.« Mit einer knappen Geste umfasste er vage den Raum. Erst jetzt bemerkte ich, dass viele der anderen aufgestanden waren und sich um die beiden älteren Studentinnen versammelt hatten. »Wenn es nach mir ginge, könnten wir uns diesen ganzen Zirkus sparen. Die Society sollte dich und all diese anderen Möchtegerns nach Hause schicken und sich auf ernsthafte Forschung beschränken, nicht darauf, neugierige Kinder wie Touristen auf die Ebenen zu führen.«
Perplex starrte ich ihn an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ich erwog, zu lachen und seine Worte als Scherz abzutun, doch dafür hatten sie zu scharf geklungen. Wie konnte er so offen aussprechen, was er dachte? Kümmerte ihn gar nicht, wie das rüberkam?
Bevor ich jedoch angemessen reagieren konnte, ließ er mich einfach stehen und marschierte aus dem Saal. Wäre ich mutiger, hätte ich ihm hinterhergerufen, dass er auch zu diesen »Kindern« gehörte. Oder ganz stumpf, dass er ein arrogantes Arschloch war. Aber so jemand war ich nicht. Noch nie gewesen. Ich war nur das seltsame Mädchen, das keine Freunde hatte, das nie richtig genug war und am liebsten allein auf einem Friedhof las. Letzteres hatte ich mir mit elf Jahren angewöhnt, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte. Ich hatte mich ihr so näher gefühlt, auch wenn sie die Wahl meiner Lektüre (Arkane Literatur) sicherlich missbilligt hätte.
Nun, jedenfalls sollte ich mich wahrscheinlich einfach freuen, dass dieser Kerl mich mit den anderen Studierenden in einen Topf geworfen hatte. Das war wenigstens etwas.
Ich schüttelte den Kopf, strich meine widerspenstigen Locken zurück und stand auf. Eine der Mentorinnen übergab mir meinen Stundenplan, zusammen mit einer übermäßig formellen Einladung zur Erstsemester-Party heute Abend, und ich erkundigte mich nach dem Weg zu meinem Zimmer.
»Ah«, sagte sie, lächelte breit und hakte etwas auf ihrem Klemmbrett ab. »Dann bist du die Nachzüglerin.«
»Ja, mein Chauffeur hat sich verfahren.«
»Das passiert den Besten.« Sie reichte mir einen Schlüssel. »Zimmer 315. Okay, in der Halle nimmst du die Nordtreppe, bis hoch ins dritte Stockwerk, den Flur geradeaus und dann … soll ich dich lieber bringen? Brauchst du Hilfe mit deinem Gepäck?«
»Nein, das geht schon.«
Sie zuckte mit den Achseln, erklärte den Weg zu Ende und wies mich darauf hin, dass es später noch eine Führung durch die Academy geben würde. Ich murmelte ein Dankeschön, stopfte den Stundenplan in meine Tasche und sammelte in der Halle Koffer, Umhängetasche und Mantel ein. Während ich die Nordtreppe hinaufstieg, lag mein Magen mir schwer im Bauch. Ich wünschte wirklich, die Academy könnte eine Heimat für mich sein. Doch sosehr der ganze Ort mir Hoffnung schenkte, von den anderen Studierenden konnte ich das nicht behaupten. Früher oder später würde ich wie immer allein dastehen.
Das Erste, worüber Sie sich Gedanken machen sollten, wenn Sie mit einem Zirkel beginnen, ist die Frage: Was wollen Sie erreichen?
– Aus »Grundlagen der Zirkeltheorie« von James Sinclair –
Ich saß auf dem Boden in der Mitte meines neuen Zimmers und betrachtete das Chaos, das ich um mich herum angerichtet hatte. Links von mir lagen meine gefalteten Klamotten, und der Haufen wirkte jämmerlich klein, wenn man bedachte, dass ich von nun an damit auskommen musste. Zu meiner Rechten stapelten sich meine Bücher – deren Anzahl wirkte wiederum viel zu hoch, angesichts der Tatsache, dass sie für die geringe Größe des Klamottenstapels verantwortlich waren. Aber ich bereute nichts.
Ganz oben thronte meine zerfledderte Ausgabe von Das Bildnis des Dorian Gray, die gefühlt nur von Notizen und Pagemarkern zusammengehalten wurde, sowie meine persönliche Schriftzeichen-Sammlung. Das kleine ledergebundene Bändchen war für die Reise in Zeitungspapier eingeschlagen gewesen, nun packte ich es vorsichtig aus. Dieses Buch war mein wertvollster Besitz – oder vielmehr sein Inhalt. Darin waren alle Arkanen Schriftzeichen gesammelt, die ich mir jemals bei meinen Expeditionen auf die Ebenen eingeprägt hatte. Für jeden Arkaner waren die eigenen Schriftzeichen – auch Runen genannt – der größte Schatz. Zwar gab es umfassende Sammlungen mit den Schriftzeichen der verschiedenen Ebenen, doch nur solche, die man auf den Ebenen persönlich gefunden und sich eingeprägt hatte, konnte man auch für Zirkel verwenden. Und je mehr Schriftzeichen, desto größer die Kombinationsmöglichkeiten und desto größer die Wirkung der Zirkel. Entsprechend brannte ich darauf, weitere Runen in meine persönliche Sammlung aufzunehmen und sie in das kleine Buch zu übertragen, in dem ich fein säuberlich jedes Schriftzeichen per Hand katalogisierte, trotz der Sicherungskopien. Es gab eine digitale Variante in der Cloud der Prager Uni sowie auf der Festplatte meines Laptops, der momentan unter den Büchern begraben war, und natürlich eine weitere auf meinem Tablet – alles Teil des Stipendiums, mein Pa hätte mir keinen einzigen Heller für diesen »technischen Schnickschnack« gegeben, schon gar nicht, wenn es fürs Studium war.
Ich rappelte mich auf und platzierte das Buch auf dem Schreibtisch. Der Tisch, genau wie Stuhl, Kommode, Schrank und Bett, bestand aus dunkel gemasertem Holz und war mit gedrechselten Beinen, goldenen Knäufen und Schnitzereien verziert, sodass er so alt wirkte wie das Gemäuer selbst. Das ganze Zimmer hatte ich von dem Moment an abgöttisch geliebt, in dem ich es betreten hatte. Es war nicht groß, und die weiße, glatt verputzte Wand auf der rechten Seite war offensichtlich nachträglich hochgezogen worden, um mehr Studierende unterbringen zu können, doch es strahlte eine Geborgenheit und Gemütlichkeit aus, die mich all meine Zweifel sofort vergessen ließen. Ganz zu schweigen von der kleinen Sitzbank, die in dem Erker vor dem Spitzbogenfenster untergebracht war. Ich träumte bereits davon, dort zu sitzen, heißen Tee zu schlürfen und zu lesen. Oder meinetwegen auch zu lernen, während ich ab und zu aus dem Fenster sah und den Wald nördlich der Academy und einen Teil des Loch Dubh bewunderte.
Ein Klopfen ließ mich zusammenschrecken und durchbrach meine Tagträume. Bevor ich den Mund öffnen konnte, schwang die Tür bereits einen Spaltbreit auf, und jemand schob den Kopf herein. »Hallo? Ich hoffe, ich störe nicht?«
Wieder hielt sich die junge Frau nicht damit auf, auf eine Antwort zu warten, sondern öffnete die Tür ganz und strahlte mich an. »Hi, ich bin Himari Kurosaki vom Tokyo Institute of Arcane Arts.«
Ich starrte sie an, während sie mich unverwandt weiter anlächelte. Sie war vielleicht ein paar Zentimeter kleiner als ich, ein karierter Rock, Kniestrümpfe und eine weiße Hemdbluse setzten ihre Kurven gut in Szene. Ihr schwarzes Haar war zu einem Bob mit geradem Pony geschnitten, und ihre dunklen Augen funkelten auf eine Weise, die mich sofort irritierte. Sie war eines dieser Mädchen, die jeder mochte, das sah ich auf den ersten Blick. Ganz im Gegensatz zu mir.
»Und du bist …«, setzte sie hinzu, als ich nichts erwiderte.
»Olivia«, sagte ich langsam. »Dušková.«
»Und woher kommst du?«
»Aus Prag.«
»Oh, wie cool! Da hätte ich mal fast ein Austauschsemester gemacht, aber dann war ich in London. Wusstest du, dass sie dort einen sehr gut erforschten Riss haben, der manchmal bis zur siebten Ebene reicht? War das erste Mal für mich.«
»Ja, das wusste ich.« Mir war ebenfalls ein Austauschplatz angeboten worden, doch das Stipendium hatte die Kosten nicht abgedeckt, deshalb hatte ich es nicht annehmen können.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass wir hier sind und wirklich die ganz tiefen Ebenen erforschen werden. Das wird so genial, ich kann es kaum erwarten. Warum packst du eigentlich erst jetzt aus?«
Der abrupte Themenwechsel erwischte mich kalt und machte mir erneut das Chaos um mich herum bewusst. Ich zuckte mit den Schultern, entschied mich gegen ein Augenrollen und für ein leicht verlegenes Lächeln. »Ach, mein Chauffeur hat sich auf dem Weg hierher verfahren«, wiederholte ich. »Und wir haben zweimal festgesteckt, weil eine Schafherde die Straße überqueren musste.« Manchmal war ich selbst erstaunt, wie leicht mir solche Lügen über die Lippen kamen. Und wahrscheinlich hätte ich ein schlechtes Gewissen haben sollen, doch ich tat das ja nicht, um Himari oder sonst wem zu schaden, sondern um mich selbst zu schützen. Die Engstirnigkeit der Arkaner sowie ihrer Gegner war schließlich nicht meine Schuld.
Himari lachte. »Hat dein Chauffeur auch deine restlichen Koffer verloren?«, fragte sie dann mit einem Blick auf meinen kläglichen Klamottenberg.
Innerlich verkrampfte ich, doch meine Miene blieb locker, während ich ihren Tonfall analysierte. Es hatte nur neckisch geklungen, keine Spur von Häme oder Misstrauen hatte darin mitgeschwungen. Sie glaubte mir. Ich hatte schon früh gelernt, dass man keinen Ärger bekam, weil man log. Man bekam Ärger, wenn man schlecht log.
»Ich brauche nicht viel«, gab ich also leichthin zurück.
Sie lächelte wieder. Das schien ihr liebster Gesichtsausdruck zu sein. »Na ja, falls dir mal was fehlt, kannst du dir gerne was leihen. Mein Zimmer ist gleich gegenüber auf dem Flur. Wir sind also Zimmernachbarinnen, sozusagen. Deswegen dachte ich, ich sag mal Hallo.«
»Das ist, ähm, sehr nett. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss noch fertig auspacken.« Demonstrativ begann ich damit, meine restlichen Bücher auf dem Schreibtisch und der Kommode zu verteilen, da es kein Regal gab. Ich wusste, dass ich besser dran war, wenn ich für mich blieb. Je näher ich jemanden an mich heranließ, desto fadenscheiniger würde meine Fassade werden. Ich war lieber allein, als erneut verspottet und missachtet zu werden.
Himari ignorierte den Wink, stattdessen kam sie ins Zimmer und reichte mir die Bücher an. »Hier, ich helfe dir.«
Anspannung kroch meinen Nacken hinauf, denn ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie in meine Privatsphäre eindrang und die unsichtbare Grenze übertrat, die ich gerade erst zog. Dennoch zwang ich mich zu einem kurzen Lächeln.
»Deine Bücher sind toll. Sie haben so viel Charme«, setzte Himari hinzu und reichte mir meine tschechische Ausgabe der klassischen griechischen Sagen mit handgezeichneten Tuscheillustrationen, die ich auf einem Flohmarkt ergattert hatte.
Diesmal lächelte ich ganz automatisch. »Danke.«
»Oh, was ist das hier?« Auf Antworten zu warten, war eindeutig nicht Himaris Stärke, denn sie schlug mein Herbarium auf, noch während sie sprach. Sie erwischte die Seite mit den Traubenhyazinthen und fuhr vorsichtig mit den Fingern über den Schriftzug aus schwarzer Tinte unter der gepressten lilafarbenen Blüte. »Muscari armeniacum«, las sie vor.
Ich nahm ihr das Album ab und platzierte es aufgeschlagen auf der Kommode. »Wenn wir in unserem Sommerhaus sind, sammle ich immer ein paar der Wildblumen, die dahinter auf der Wiese wachsen. Sie sehen hübsch aus, und man lernt ein paar Vokabeln.« Die letzten Worte unterstrich ich mit einem genervten Augenrollen und beobachtete Himaris Reaktion. Schluckte sie die Lüge? Wenn ich sie schon nicht loswurde, musste ich eben aufpassen, dass ich es diesmal richtig anstellte. Als ich an die Uni in Prag gekommen war, hatte ich gar nicht daran gedacht, meine Herkunft oder mein Stipendium geheim zu halten. Ich war es gewohnt gewesen, meine Arkanen Studien vor Familie, Freunden und Nachbarn zu verbergen, doch nicht andersherum. Ein Fehler, wie sich herausgestellt hatte.
In den vier Jahren an der Uni hatte ich nie dazugehört, war immer das arme Mädchen mit dem Stipendium gewesen. Immer eine von »ihnen«, nie eine von »uns«. Eine Weile lang hatten die anderen Studierenden es lustig gefunden, mir Geldscheine zuzuwerfen oder in die Tasche zu stecken. Als das langweilig geworden war, hatten sie sich darauf verlegt, mich zu ignorieren und die Nase zu rümpfen, wenn ich vorbeiging.
Diesen Fehler würde ich also kein zweites Mal begehen – die Wahrheit etwas zu verbiegen, erschien mir wie ein kleiner Preis für meinen Seelenfrieden. Zum Glück sprang Himari sofort auf meine Geschichte an. »Oh, wem sagst du das. Ich traue mich ja kaum, es laut auszusprechen, aber ich hasse Latein. Meine Eltern haben mich gezwungen, es zu lernen, seit ich vier Jahre alt war. Ganz schön unpraktisch, dass es bei den alten Römern so viele gute Arkaner gab.«
Ich schnaubte. »Dann hatte ich ja Glück. Meine Eltern haben mir erst mit sechs eine Tutorin besorgt. Eine ganz schreckliche Frau. Sie hatte diesen strengen Blick drauf, bei dem man sich unter dem Tisch verstecken wollte.« Ich verzog das Gesicht zu einer übertrieben strengen Miene, und Himari lachte quiekend auf. Perfekt.
»Oha, das klingt wirklich schrecklich.« Sie plapperte ein wenig über einen besonders nervigen Lehrer und darüber, wie ihr Bruder und sie immer vor ihm weggelaufen waren, während wir gemeinsam meine Kleider in den Schrank räumten (ich achtete darauf, dass sie die hübscheren Stücke in die Hände bekam). Als wir dann auch noch mein Bett mit der bereitgelegten Wäsche bezogen, merkte ich, wie sich meine Anspannung langsam löste. Himari war einfach zu überzeugen gewesen, ganz anders als Mr Hörbuch. Sie würde mir keine Probleme bereiten, da war ich mir relativ sicher.
Zumindest bis zu dem Moment, als sie plötzlich meine nächste Kostbarkeit in den Händen hielt und das Gesicht verzog. »Igitt, was ist denn das?«
Obwohl alles in mir dichtmachte, hob ich die Schultern und gab mich gleichgültig. »Ich mag sie«, sagte ich und ließ mir von ihr den Sammelkasten mit den präparierten Schmetterlingen reichen. Der Großteil meiner Sammlung lag in meinem Zimmer in Pas Wohnung, bloß diesen Kasten hatte ich mitgenommen. Darin befand sich mein Lieblingsexemplar, ein Hauhechel-Bläuling mit intensiv blauen Flügeln, gesäumt von einer hellen Fransenborte. Sein lateinischer Name lautete Polyommatus icarus, in Anspielung auf meine liebste griechische Sage, in der Dädalus und sein Sohn Ikarus sich aus Wachs und Federn Flügel bauten, um über das Meer zu fliegen. Doch Ikarus kam zu nah an die Sonne, das Wachs schmolz, und er stürzte ins Meer. Manchmal fragte ich mich, was er in diesem Moment gedacht, ob er geschrien oder gelacht hatte, ob das Hoch den Fall in die endlosen dunklen Tiefen des Meeres wert gewesen war.
Himari schüttelte sich unterdessen und wischte, anscheinend unbewusst, ihre Hände am Rock ab. »Wenn du meinst.« Dann wechselte sie abrupt das Thema, was eine weitere ihrer Vorlieben zu sein schien. »Willst du eigentlich heute Abend auf die Party gehen? Wenn du magst … also, wir könnten ja zusammen hingehen.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Beinahe entglitt mir der Sammelkasten. Sofort prickelte meine Haut, und meine Brust fühlte sich klamm an. Eigentlich konnte ich mir eine Million bessere Dinge vorstellen, als auf diese Party zu gehen. Dort würde es nur voll sein, voll und laut. »Ach, ich weiß noch nicht«, sagte ich so unbekümmert wie möglich und wandte mich von ihr ab, unter dem Vorwand, den Kasten auf der Kommode zu arrangieren, damit meine Miene nichts verraten konnte.
»Oh, bitte, du musst mitkommen!«, beharrte Himari. »Ich kenne dort doch sonst niemanden.«
Mich kennst du ja auch nicht, wollte ich sagen, sprach es aber nicht laut aus. »Das geht jedem so, das ist der Witz an der Sache«, erwiderte ich stattdessen und pflasterte mir ein aufmunterndes Lächeln ins Gesicht, bevor ich wieder zu ihr blickte.
Sie zog einen Schmollmund. »Ach komm schon, alle gehen hin. Willst du allein hier sitzen und lernen, während alle anderen feiern?«
Ich zögerte. Das stimmte, alle anderen Erstsemester würden dort sein. Und ich wollte diesmal nicht das seltsame Mädchen sein, ich hatte genug davon, mich fremd zu fühlen – wie eine Beobachterin hinter Glas, während alle anderen lebten. Die Academy sollte ein Neuanfang für mich sein. Ich musste es zumindest versuchen.
»Okay.« Ich schluckte und fand meinen leichten Tonfall wieder. »Dann komme ich eben mit.« Kapitulierend hob ich die Hände.
»Okay?« Himari quietschte und überrumpelte mich mit einer Umarmung, die ich steif über mich ergehen ließ. »Großartig! Du wirst es nicht bereuen.«
Ich seufzte und wusste jetzt schon, dass ich es sehr wohl bereuen würde.
***
Die Tür öffnete sich, und eine Welle von Lärm schlug uns entgegen. Der Gemeinschaftsraum war vollgestopft mit Leuten, die das gedämpfte Licht in bloße Silhouetten verwandelte. Manche tanzten, manche standen am Rand, redeten und tranken oder machten rum. Der Schein der Fackeln an den Wänden und des überdimensionalen Kamins auf der rechten Seite flackerte immer wieder über nackte Haut, glitzerte auf Party-Outfits und verfing sich in diversen Flüssigkeiten.
Unwillkürlich wanderte mein Blick zu Himari, deren dunkelgrüner Satin-Jumpsuit jetzt schwarz wirkte; ich trug ein weißes Leinenkleid, das ich selbst genäht und per Hand mit Blumen, Schmetterlingen und Libellen bestickt hatte. Und obwohl ich es liebte, zweifelte ich plötzlich an meiner Wahl. Ich hatte jedoch keine Zeit für Reue, denn Himari stieß etwas auf Japanisch hervor, das ich für einen Fluch hielt, und schleppte mich am Ellbogen mit ins Getümmel.
Meine Füße wehrten sich erst, doch dann gab ich nach und ließ mich mitziehen. Stickige, viel zu warme Luft verschluckte mich, Körper streiften meinen, Alkohol und Rauch bissen in meiner Nase. Musik füllte jeglichen Raum, der noch übrig war, die Bassnoten wie winzige Erdbeben, die den Boden zum Vibrieren brachten.
Ich hasste es, und gleichzeitig liebte ich es, die Anonymität, die durch das Dämmerlicht und den Rausch entstand, die erzwungene Wortlosigkeit, die Verkleidungen aus Mascara und samtenen Lippenstiften.
Ich blinzelte, als es wieder heller wurde, und merkte, dass Himari uns irgendwie in die kleine Küche gelotst hatte, die an den Gemeinschaftsraum anschloss. Hier konnte man sich tagsüber Tee und Kaffee kochen oder außerhalb der offiziellen Essenszeiten im Speisesaal einen Snack holen – so hatten es zumindest die Mentorinnen während der Führung erklärt. Sie hatten nur vergessen, zu erwähnen, was während einer Party geschah. Denn dann schien sich die Küche ins Lager für Spirituosen zu verwandeln. In der Ecke standen zwei Bierfässer, auf dem Küchentisch stapelten sich Pappbecher, und auf der Anrichte hatte jemand Flaschen mit Rum, Wodka und – natürlich – schottischem Whisky zu wagemutigen Pyramiden aufgetürmt.
»Was wollt ihr?«, brüllte uns ein breitschultriger Kerl entgegen, um die Musik zu übertönen.
Was Himari antwortete, hörte ich nicht, doch einen Moment später reichte sie einen Whisky Soda an mich weiter. Die Oberfläche meines Drinks zitterte und vibrierte im Takt der Beats, bis der Kerl ein paar Eiswürfel aus der Wanne im Spülbecken hineingleiten ließ.
Himaris Lippen bewegten sich, ich verstand weiterhin nichts, also lächelte ich nur, nickte und nippte an meinem Becher. Beim zweiten oder dritten Schluck stieg der Alkohol in meinen Kopf, wärmte meine Wangen und vertrieb das Engegefühl in meiner Brust.
Mein Drink spritzte über meine Finger, als Himari mich ohne Vorwarnung zurück in den dunklen Gemeinschaftsraum zerrte. Meine Gedanken wurden weggeschwemmt von dem Gelächter und Gebrüll der Leute, von den Körpern, die gegen meinen stießen, und dem Brennen des Whiskys auf meinen Lippen. Ich merkte gar nicht, wie ich Himari verlor, aber irgendwann war ich allein, ein Geist zwischen gesichtslosen Silhouetten. Es machte mir nichts aus, vielleicht war es mir sogar lieber so. Mit jedem Schluck drang die Musik tiefer in meine Knochen, und ich wurde mitgerissen von der Masse an Tänzern.
Für eine Stunde, oder vielleicht zwei, wanderte ich so durch den Gemeinschaftsraum, die Gemäldegalerie, die kurzerhand in die Party miteinbezogen worden war, und die angrenzenden Studierzimmer, in deren dunklen Ecken sich Körper eng aneinanderpressten. Das dämmrige Licht, die konstante Nähe und das Wogen der Leiber verbanden sich in meinem berauschten Zustand zu einem hypnotischen Rhythmus, der mich schwindelig und unwirklich fühlen ließ.
Als ich wieder in der Küche strandete, um mir meinen dritten oder vielleicht vierten Drink zu holen, taumelte ich in einen jungen Mann hinein. Ich versuchte, zu stoppen, doch meine Beine waren zu schwerfällig, und so landete ich direkt in seinen Armen. Seine Brust vibrierte, als er lachte, dann stellte er mich zurück auf die Füße.
»Hoppla, pass besser auf, wo du hinläufst«, sagte der Kerl und schenkte mir ein Tausend-Watt-Lächeln, das dafür sorgte, dass ich mich entspannte, mich irgendwie gut fühlte. Vielleicht lag das aber auch bloß am Alkohol in meinen Adern.
Ich nuschelte eine Entschuldigung, lehnte mich gegen die Anrichte und blinzelte. Der Typ war zweifelsohne gut aussehend, mit breiten Schultern, heller Haut und ordentlich zurückfrisierten goldblonden Haaren. In Kombination mit diesem Lächeln verdrehte er bestimmt scharenweise Mädchen den Kopf.
Oder Jungen, korrigierte ich mich, als mein Blick auf den kleinen blau-weiß-grünen Anstecker an seinem Hemd fiel. Die Gay Men‘s Pride Flag.
»So ist es einfacher«, erklärte der Typ achselzuckend. Offensichtlich hatte er gemerkt, wohin ich geschaut hatte. »Jeder weiß direkt, woran er ist. Das erspart einem Enttäuschungen und lässt mehr Zeit für … du weißt schon.« Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, und ich konnte nicht anders, als zu lachen.
»Das …« Ich musste meine Zunge sortieren. »… das klingt sehr vernünftig.«
»Ich treffe nur vernünftige Entscheidungen, musst du wissen.« Sein Lächeln wurde, wenn überhaupt möglich, eine Spur breiter. »Ich bin Oskar.«
»Olivia.«
»Noch ein Drink, Olivia?«, fragte er und nahm mir den Becher ab.
Als seine Finger meine streiften, war ich kurz irritiert, doch mein benebeltes Gehirn kam nicht direkt darauf, was nicht stimmte. Erst als ich sah, wie Oskar nach einer Flasche griff, mir mit zitternden Händen nachschenkte und dabei die Hälfte der goldbraunen Flüssigkeit über den Boden verteilte, da wurde es mir klar. Er trug dünne schwarze Lederhandschuhe. Drinnen. Wie seltsam.
Diesmal ignorierte Oskar mein unhöfliches Starren und drückte mir mit etwas zu viel Schwung meinen Becher zurück in die Hand. Ich nahm einen tiefen Schluck.
»Also, woher kommst du, Olivia?«, fragte er, und sein Versuch, Small Talk zu betreiben, ließ mich vermuten, dass er sich trotz seines unerschütterlichen Lächelns unwohl fühlte, wenn ich seine Hände ansah.
»Prag. Und du?«
»Oslo.«
»Ah, die Norheim University«, erwiderte ich, und nun geriet Oskars Lächeln kurz ins Wanken. Sofort wurde ich aufmerksam. Wieso störte ihn der bloße Name der Universität?
Er nahm einen großen Schluck aus seinem Becher, wahrscheinlich unbewusst, um seine Reaktion zu überspielen. »Genau«, sagte er dann. Ein bitterer Unterton begleitete seine Worte.
»Ich glaube, ich war noch nie in Oslo.« Ich ließ es klingen, als würde die Tatsache mich selbst erstaunen. »Wie ist es dort?«
Oskar winkte ab. »Ach, du weißt schon. Kalt und dunkel.« Er schüttelte sich und blickte sich um, wieder diese Spur von Bitterkeit um die Mundwinkel. »Also eigentlich so wie hier.«
Ich entschied, für den Moment nicht weiter nachzubohren, und schenkte ihm stattdessen ein Grinsen. »Ja, wirklich schade, dass die Academy nicht auf den Bahamas liegt«, scherzte ich, obwohl alles hier, angefangen von dem rauen Wind bis hin zur kargen Landschaft, irgendetwas tief in meiner Seele zum Klingen brachte und ich mir keinen schöneren Ort vorstellen konnte.
Oskar lachte schallend, vielleicht einen Tick zu laut für meinen müden Witz, aber das mochte am Alkohol liegen. »Da wäre ich sofort dabei. Wir sollten eine Petition starten. Vielleicht kann man die Stairway ja einfach …« Er machte seltsame unkoordinierte Handbewegungen, die wohl andeuten sollten, dass er den Riss einpackte. Oder zusammenquetschte? In meinem beduselten Zustand fand ich es jedenfalls viel zu komisch und kicherte in mich hinein. »Und dann verschiffen wir ihn nach …« Oskar unterbrach sich, sein Blick glitt an mir vorbei, und er hob einen Arm. »Saxa! Saxa, komm mal her.«
Ich drehte mich um, und aus dem funkelnden Weltraumdunkel jenseits der Küchentür trat eine Gestalt hervor. Sie sieht aus wie ein Engel, war mein erster Gedanke. Ein weißes Kleid umspielte ihre schlanke Gestalt, ihre goldblonden, glatten Haare umschmeichelten ihr hübsches Gesicht, und die Spitzen kitzelten ihr Kinn. Ich war sofort bezaubert von der anmutigen Art, wie sie sich bewegte, wie sie sanft lächelte, wie ihre Finger die glitzernde Clutch umfassten. Erst mit einiger Verzögerung, und weil mir zunehmend schwindeliger wurde, bemerkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.
Meine einzige ernsthafte Beziehung war mit einem Jungen gewesen, den ich während meines Studiums in dem Café kennengelernt hatte, in dem ich gekellnert hatte. Wir waren fast ein halbes Jahr zusammen gewesen, bis er zufällig die Uni-Bücher in meiner Tasche entdeckt und mich ohne viel Federlesens hinausgeworfen hatte (ich hatte ihm erzählt, ich studiere Biologie, weil ich befürchtete, die Wahrheit würde ihn abschrecken – womit ich am Ende auch recht behalten hatte). Aber diese Frau hier, sie erinnerte mich an das Mädchen, mit dem ich im Schulchor gesungen hatte. Hana. Nach den Proben hatten wir uns oft in dem kleinen Wäldchen hinter der Schule oder, bei schlechtem Wetter, in dem verlassenen Geräteschuppen versteckt und erforscht, wozu unsere Lippen noch gut waren. Wir hatten nie den Mut gefunden, zu unserer Beziehung (falls man es denn so nennen mochte) zu stehen. Irgendwann verlor das Ganze seinen Reiz, und wir hörten genauso plötzlich damit auf, wie wir begonnen hatten.
»Das ist meine Schwester«, sagte Oskar, als das Engelsmädchen vor uns stand, und riss mich aus meinen Erinnerungen.
»Zwillingsschwester«, korrigierte das Mädchen und lehnte sich so zu mir, dass ihr süßer Duft nach Vanille in meine Nase stieg. Ein Funkeln lag in ihren klaren blauen Augen, das ich nicht ganz zuordnen konnte. »Saxa Norheim.«
Die Silben verfingen sich in meinem Kopf, purzelten durcheinander, und ich brauchte einige Sekunden, um sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. »Norheim?«, wiederholte ich. Mein Blick glitt von Saxa zu Oskar, der gequält dreinschaute. »Die Norheims?«
Edmund Norheim war einer der Gründer der Society gewesen, hatte vor rund hundert Jahren die Arcane Academy eröffnet und war Gerüchten zufolge bis zur letzten der Arkanen Ebenen vorgedrungen. Die Universität in Oslo war nach ihm benannt, und die Norheims galten als eine der einflussreichsten Arkanen Familien auf der ganzen Welt.
Gelangweilt zuckte Saxa mit den Schultern. »Schon möglich.«
Nun ergab das diebische Glitzern in ihren Augen Sinn. Sie genoss meine Reaktion, ganz im Gegensatz zu Oskar.
Im nächsten Moment erinnerte mein Gehirn mich daran, dass ich mich selbst noch vorstellen musste, doch da trat eine weitere Person hinter Saxa durch die Tür, und ich erstarrte innerlich, musste darum kämpfen, meine Gesichtszüge glatt und ausdruckslos zu halten. Der Kerl schwankte, als er auf uns zukam, und Saxa lachte leise, während sie ihm einen Arm um die Taille schlang, um ihn zu stützen.
»Na, wen haben wir denn da?«, fragte er und schaute auf mich herab, ehe er sich gegen Saxa lehnte.
Selbst leicht lallend schickte mir seine schöne Stimme einen Schauer über den Rücken. Der Anblick der beiden, so nah beieinander, verursachte ein unangenehmes Gefühl in meiner Brust. Rasch nahm ich einen Schluck von meinem Drink.
»Das ist Olivia«, erklärte Oskar. »Und Olivia, das ist Milo Sinclair. Aus London, wie du dir sicherlich schon gedacht hast. Dieser schreckliche Akzent ist ja unüberhörbar.«
Schrecklich wäre das letzte Wort, was mir dafür eingefallen wäre, trotzdem nickte ich und lächelte. Die anderen begannen, sich zu unterhalten, und für ein paar Minuten fühlte ich mich wie das fünfte Rad am Wagen. Ich überlegte schon, mich unauffällig zurückzuziehen, doch meine Füße rührten sich nicht. Mein Blick klebte an Milo und Saxa, an ihrem Arm um seine Taille und ihrem Kopf, den sie zwischenzeitlich gegen seine Schulter lehnte. Zuerst bekam ich gar nicht mit, wie sie entschieden, nach draußen zu gehen, und Oskar musste mich zweimal fragen, ob ich mitkommen wollte. Ich zögerte. Vielleicht wäre dies die beste Gelegenheit, um mich endlich aus dem Staub zu machen und wieder in die anonyme Masse einzutauchen.
Doch Saxa durchkreuzte meine Pläne, indem sie sich von Milo löste und sich bei mir unterhakte. »Natürlich kommt sie mit«, sagte sie, und damit war es beschlossene Sache.
Oskar füllte noch einmal unsere Becher auf, und dann bahnten wir uns einen Weg nach draußen zum Innenhof. Der Gemeinschaftsraum lag im Erdgeschoss, und ich war bei meinen Runden vorhin schon am Ausgang vorbeigekommen, aber nicht hinausgegangen. Nun fand ich mich am Rande eines quadratischen Platzes wieder, der von Arkadengängen umgeben war. Zwischen den schwarzen Silhouetten der Burgdächer wölbte sich ein kleines Stück des dunkelblauen Nachthimmels, die Sterne wie feine Nadelstiche um den silbrigen Halbmond verteilt.
Ich spürte, dass Saxa meinem Blick folgte, und einen Moment standen wir einfach da, die Gesichter zum Himmel gewandt, stumm. Alle Geräusche wirkten gedämpft wie unter Wasser. Die Nachtluft war kalt, doch sie beruhigte meine erhitzte Haut und ließ mich Saxas warmen Körper an meiner Seite umso deutlicher wahrnehmen. Mir gefiel die Vertrautheit, die mit dieser Berührung einherging, als würden wir uns schon ewig kennen.
Dann rief Oskar uns, und wir folgten den beiden Jungs einige Meter weiter zu ein paar Stufen, die von dem Arkadengang runter zum eigentlichen Platz führten, und setzten uns auf die eisigen Flächen.
Ich stützte die Arme auf den Knien ab und beobachtete die neue Umgebung. Überall standen kleine Gruppen beisammen, redeten, rauchten und warteten darauf, dass ihre Ohren aufhörten, zu dröhnen – Letzteres erging zumindest mir so. In der Mitte des Innenhofs thronte ein Springbrunnen, das Wasser von innen beleuchtet. Auf seinem Rand saß eine junge Frau, die die langen Beine kokett übereinandergeschlagen hatte und mit vier Verehrern gleichzeitig flirtete. Das Licht des Brunnens zeichnete weiche Muster auf ihre dunkelbraune Haut und schimmerte auf ihrem kurzen, mit goldenen Pailletten besetzten Kleid. Ihre Füße steckten ebenfalls in goldenen High Heels, bei denen ich mich unwillkürlich fragte, wie sie damit unfallfrei über den Rasen gekommen war. Auf den schwarzen Locken, die ihren Kopf umrahmten, saß keck ein Barett, das im Grunde nicht wirklich zu ihrem Kleid passte, aber irgendwie trotzdem großartig aussah.
Der einsetzende Regen, der wie eisige Nadelsplitter aus dem Himmel fiel, unterbrach die Bemühungen der Männer, sie grölten und stöhnten genervt. Saxa rutschte eine Stufe höher, tiefer in den Schutz des Arkadengangs, und zog mich mit sich. Einer der Verehrer bot dem Mädchen in Gold sein Jackett an, doch es lachte nur, sprang vom Brunnenrand, landete gekonnt auf den High Heels und beruhigte die Männer mit einigen Gesten. Was sie sagte, konnte ich über die Entfernung nicht hören. Dafür sah ich sehr genau, wie sie die rechte Hand hob und begann, einen Zirkel zu zeichnen.
Ihre Fingerspitzen hinterließen leuchtende Linien in der Luft, wie verschwommene Langzeitbelichtungen, als sie ins Zentrum ihres Kreises eine Wasser-Rune setzte, diese mit Blei-Runen zur Verlangsamung umrahmte und mit einem Netz aus Hilfs- und Trennlinien den Radius festlegte. Sobald die letzte Linie an Ort und Stelle war, fühlte ich das vertraute Beben in der Luft, der Zirkel leuchtete auf, und ich wusste, was geschehen würde, bevor es geschah: Der Regen stoppte über unseren Köpfen, erstarrte in zwei Metern Höhe zu glänzenden Diamanten.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: