Ihr hängt alle mit drin - Marion Stoll - E-Book

Ihr hängt alle mit drin E-Book

Marion Stoll

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

In dem auf einer wahren Begebenheit basierenden Kriminalroman geht es um Jugendgewalt und um die Beantwortung der Frage, wie und warum Heranwachsende zu potenziellen Tätern werden können. Chancenlos geboren, gedemütigt aufgewachsen, von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, angespült, offener Jugendstrafvollzug. Sie träumen von einem besseren Leben im Süden. Eine fixe Idee? Nein. In den Köpfen der Brüder Markus und Ben existiert dieser Plan. Sie müssen nur noch den richtigen Zeitpunkt für den Absprung erwischen. Sie haben zwei Tage Hafturlaub. Sämtlicher gesellschaftlicher Schmähungen und Kränkungen überdrüssig, rauben sie ein Auto. Gemeinsam mit ihrer Freundin Mathilda brechen sie nach Spanien auf. Was zunächst wie ein Befreiungsschlag aussieht, wird für die Gruppe zu einer Unternehmung mit nicht kalkulierbaren Risiken.

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Marion Stoll, Gerd Stoll

Ihr hängt alle mit drin

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Zehn Monate später

Impressum neobooks

Erster Tag

1. Kapitel

Schreie hallen durch die Nacht. Ausgelöst von schmerzenden, nicht heilenden Wunden. Gleich werden sie kommen. Ich darf mich nicht bewegen. Ich schlafe tief und fest. Eine Tür springt auf. Musik und lautes Gegröle tönen von weit her. Der Geruch von Zigaretten, Alkohol und Schweiß füllt den Raum. Angewidert von ihren Stimmen, ziehe ich die Decke über meinen Kopf. Warum sind sie immer so laut? Ihre Schuhsohlen schlürfen über den kalten Laminatboden. Schritte nähern sich meinem Bett. Stimmen. Schon wieder ihre ewig streitenden Stimmen. Schranktüren klappern. Schubladen werden aufgezogen.

„Verdammt! Wo hat der Bengel die Kohle gebunkert?“

Ben schläft. Sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Schreie. Höre nicht auf sie! Schlafe tief und fest, Ben! Die Schreie und das Weinen wollen nicht verstummen. Sandra! Sandra, bitte hör auf zu weinen! Sie tun dir weh.

„Stell endlich das Geplärr ab! Das macht einen ja kirre im Kopf.“

Ich stelle mich tot. Ich bin tot. Die Schreie werden immer leiser, so als würden sie von einer Haube abgedeckt.

„Was machst du da?“

Das Weinen ist kaum noch zu hören, bald ist es nur noch ein ersticktes Wimmern. Die Schritte entfernen sich.

„Verdammt, was machst du?“

Das Weinen verstummt.

„Ich sorge für Ruhe. Hast du doch gesagt.“

Die Schritte kommen wieder näher. Ich bin schon tot. Ich atme nicht mehr, kriege keine Luft, ersticke gleich.

„Markus! Markus!“

Ich höre eine Stimme. Ich ersticke. Lasst mich in Ruhe!

„Markus!“

Bitte helft mir! Hilfe! Neeiiin.

„Markus, wach auf! Markus! Hey, Markus!“

Die Rufe kommen von Ben, der vor dem Toilettentopf steht und seinen Morgenurin mit kräftigem Strahl in die Porzellanschüssel schickt. Markus öffnet die Augen. Er versucht sich zu orientieren, blickt auf die Metallfederung des Bettes über seinem Kopf und dann an die Wand zwischen den Etagenbetten, von der ihn eine nackte Frau mit großen Brüsten anlächelt. Sie sitzt mit gespreizten Beinen in der Hocke und scheint ihn geradezu in sich aufzusaugen.

Er hatte schon wieder diesen grässlichen Traum. Es war jene Nacht, in der seine kleine Schwester gestorben ist. Erstickt? Niemand wusste etwas. Todesursache: plötzlicher Kindstod. Ende. Aus. Und er war dabei. Er hatte geschwiegen. Aus lauter Angst. Er war sieben, oder vielleicht schon acht oder neun. Aber das war für ihn im Nachhinein kein Grund, es tatenlos geschehen zu lassen. Und es war erst recht kein Grund, zu schweigen. Zeitlebens würde er sich Vorwürfe machen, weil er sich mitschuldig fühlt, an dem Tod seiner Schwester.

Markus richtet sich auf, und er muss aufpassen, dass er nicht mit dem Kopf am oberen Bettrahmen anstößt. Er setzt sich auf die Bettkante und streicht seine langen Haare zusammen. Obwohl er erst siebzehn ist, wirkt er erwachsen, eher wie Mitte zwanzig.

Ben betätigt die Toilettenspülung und geht zum Waschbecken. Schmunzelnd beobachtet Markus die Katzenwäsche seines jüngeren Bruders.

Ein Königreich für ein bisschen Gras. Er könnte einen Joint gebrauchen. Ganz dringend. Seine Hand sucht tastend den Fußboden ab und findet eine angebrochene Schachtel Lucky Strike. Geübt entlockt er der Packung eine Zigarette und zündet sie an. Ein tiefer Lungenzug umnebelt seine Gedanken. Kräftig stößt Markus den Rauch aus, so als wolle er sich die Seele aus dem Leib blasen.

Ein lautes Schließgeräusch unterbricht die morgendliche Ruhe. Niemals werden sie sich daran gewöhnen können. Es ist die Sicherheitsverrieglung ihrer Zellentür, mit deren morgendlichen Öffnung beginnt der durchgetaktete Gefängnisalltag, der mit der Schließung um 19.00 Uhr endet.

Morgen ist es endlich soweit, dann dürfen sie diese Zelle für zwei Tage verlassen. Und dann gibt es ausreichend Dope. Das hatte Mathilda versprochen.

Ben hängt das Handtuch an den Haken und fängt mit seinem morgendlichen Training an. Mit der rechten Hand umfasst er ein Stuhlbein und stemmt den Stuhl einhändig zur Decke und zurück.

Markus drückt seine Zigarette durch die Öffnung einer Cola-Dose. Er schüttelt sie kurz, um sicher zu gehen, dass die Glut der Zigarette durch die in der Dose verbliebene Flüssigkeit erlischt.

„So ist richtig, Ben. Immer schön dran bleiben. Machst du nix, hast du in spätestens vier Wochen statt Muckis Wackelpudding in den Armen.“

Das Lob seines Bruders spornt Ben an. Mit gleichmäßigen Bewegungen stemmt er den Stuhl von seiner Brust weg und wieder zurück.

An gut zwei Dutzend Werkbänken bearbeiten Männer in schwerer Schutzkleidung mit Schweißbrennern, Feilen, Sägen und Schmiedehämmern ihre Werkstücke aus Industriestahl oder rohem Eisen.

Wir sehen einem Arbeiter über die Schulter. Funkensprühend hinterlässt der glühende Strahl seines Schweißbrenners eine holprige Naht auf einer Metallplatte mit angesetztem Rohrstück. Der Mann dreht den Regler an seinem Arbeitsgerät und der Schweißbrenner erlischt. Ein dunkles Kopfhauben-Visier klappt nach oben und wir blicken in das schweißnasse Gesicht von Markus. Seine schulterlangen, dunkelblonden Haare kleben wie angekleistert an seinem Gesicht. Markus gibt sich lethargisch, nimmt sein Werkstück auf und betrachtet es lustlos.

Ernst Grüning, ein friedvoller Mann Mitte sechzig, tritt mit ebenfalls hochgeklapptem Visier heran und begutachtet Markus' Arbeit. Er nimmt das Werkstück entgegen und prüft es von allen Seiten. „Das ist keine Verbesserung, Markus. Hier!“ Grüning zeigt auf die Schweißnaht. „Siehste? Da zu viel und da zu wenig. Nimmste zwei neue Bleche, Rohr drauf, heften, und dann zeigst es mir noch mal!“

Markus verfügt über einen etwas angestaubten Sprachschatz und glorifiziert den Freiheitskämpfer William Wallace, besitzt aber nicht ansatzweise die Besonnenheit seines Kinohelden. Heute muss er sich zusammenreißen. Unbedingt. Er nickt gleichgültig. Aus ein Meter neunzig Höhe sieht er auf seinen um einen Kopf kleineren Gruppenleiter herab. „Alles klar, Chef. Ich steh mehr so auf Schwerter, wissen Sie? Das hier“, dabei zeigt er auf sein Werkstück, „ist nicht so meins.“

Markus versucht seinen Ärger zu verbergen, was ihm nicht gelingt. Missmutig wirft er die Arbeit eines ganzen Tages auf einen Haufen Metallschrott. Er sieht zu seinem Bruder Ben rüber, der am Nachbartisch ein Metallstück mit einer Feile bearbeitet.

Der untersetzte Ben mit pubertärem Narbengesicht ist mit seinen sechzehn Jahren der klassische Mitläufer, dazu verunsichert durch einen Sprachfehler, der sich in Drucksituationen verstärkt. Er sieht Markus grinsend an.

„Was gibt’s zu lachen, Schröder?“, erkundigt sich Grüning bei Ben. Der Gruppenleiter ist stolz auf seine Werkstatt, die innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern der Justizvollzugsanstalt einen exzellenten Ruf genießt. Und er ist stolz auf seine Jungs, wie er seine Schützlinge gerne nennt. Deshalb pflegt er entgegen der Anstaltsregeln den väterlichen Umgangston. Schallend klatscht er in die Hände. „Na, dann lasst mal gut sein für heute. Feierabend!“

Sie haben ihre Körper in Form gehalten, das sticht sofort ins Auge. Noch tropfnass von der abendlichen Körperreinigung kommen Markus und Ben aus der Dusche. Die Badelaken haben sie um ihre Hüften gewickelt und sehen damit aus wie die Bewohner einer Südseeinsel.

Auf dem Weg zu ihrer Zelle kämpfen sie sich durch den dicht bevölkerten Flur. Hie und da beobachten sie die üblichen Neckereien unter den überwiegend jugendlichen Mithäftlingen, die sich mit ihren Badetüchern schlagen oder sich gegenseitig in den Schritt fassen und dabei ausgelassen lachen. Markus und Ben kümmern sich nicht um derartige Albernheiten und wirken fast wie Sonderlinge.

Die Brüder haben die blauen Einheitsjeans und graue Muskelshirts angezogen.

An einem winzigen Spiegel unternimmt Ben den Versuch, seine widerspenstigen Haare in Form zu bringen.

Markus schlägt seine Mähne mehrmals nach vorne aus, um den Trocknungsprozess zu beschleunigen. Anschließend frisiert er die Haare mit einer Drahtbürste zu einem Seitenscheitel.

Ben sieht auf seine klobige Taucheruhr. „Oh, sch... schon Abendessenszeit.“

Hinter einem aufgebauten Tisch mit Verpflegung für die Abendmahlzeit thront der für die Essensausgabe eingeteilte Kemal auf einem dreibeinigen Hocker.

Markus begutachtet das dürftige Angebot, das aus mehreren Sorten Brot, Wurstaufschnitt und Schnittkäse, in Stücke zerteilte Schlangengurke, unreifen Tomaten und einem nicht gerade appetitlich aussehenden Klumpen Mett besteht. Nachdenklich tastet er seine muskulösen Oberarme ab und wirkt wenig entschlossen.

Ben hat seine Auswahl schnell getroffen. Wahllos packt er sich seinen Teller mit Brot, Wurst und Käse voll.

Kemal zeigt Markus grinsend seine Zahnlücken.

Einige Jungen bleiben neugierig stehen, als erwarten sie, dass in den nächsten Sekunden ein Schaukampf zwischen den beiden Dauerstreithähnen beginnt.

Kemal ist siebzehn und spricht lupenreines Kiezdeutsch. „Oh, Susi! Hast dein Haare schön gemacht. Los, du Penner! Willst übernachten? Ha? Hab isch Wichtiges vor. Mach schon!“ Lustlos klatscht er eine Kelle Schweinemett auf einen Teller, den er Markus unter die Nase hält. „Hier hastu Mett.“

Markus verzieht gelangweilt den Mund. Warum überschätzt der Türke seine Kräfte, fragt er sich. Denn im Grunde genommen hätten fünf Kemals zusammen nicht die geringste Chance gegen ihn und Ben. „Mach keinen Stunk, Kemal!“

Kemal streckt die Hand mit dem Teller aus und berührt Markus' Brustkorb. „Kaviar ist heute alle. Wallah, ihr fresst doch rohes Fleisch von stinkenden Schweinen. Nimm was du willst und verpiss dich endlich!“

Ben geht einen Schritt auf Kemal zu. „Was willst du Kameltreiber?“

Markus starrt Kemal kalt an und hält Ben zurück.

Am Ende des Ganges sieht Kemal einen Gefängnismitarbeiter, der, weil die Situation zu eskalieren droht, um die Ecke verschwindet. Typisch, sagt sich Kemal. Immer schön weggucken, wenn es brenzlig wird. Jetzt wendet er sich Ben zu. „Guck mal, guck mal, der kleine Ben. Ey, Lan, Alter. Fühlst dich stark mit dein große Bruder, was?“

Markus bleibt seelenruhig. Für diese Witzfigur würde er seinen Urlaub nicht aufs Spiel setzen. „Glaub, ich muss mal mit dir Schlitten fahren“, sagt Markus gepresst.

Kemal sieht sich nach allen Seiten um. „Pah! Ohne Schnee? Siehst du so Schnee oder so? Isch seh kein Schnee.“

Markus grinst Kemal breit an und angelt, ohne ihn aus den Augen zu lassen, ein paar Brotscheiben vom Tisch. „Wenn ich in drei Tagen wieder zurück bin, ist hier alles zugeschneit.“

Kemal guckt verwirrt, dann geht ihm endlich ein Licht auf. „Ah, machst du so Urlaub? Besorgst du’s den Bräuten mit dein klein Schwanz? Häh? Schiebst für mich so ein Gruß mit rein?“ Er hat die Lacher auf seiner Seite.

Markus hindert Ben erneut daran, eine unbedachte Handlung zu begehen. Ganz souverän und mit einem süffisanten Grinsen entgegnet Markus: „Eigentlich mach ich so was ja nicht. Aber bei deiner Fatma werd ich mal 'ne Ausnahme machen.“

Kemal springen fast die Augen aus dem Kopf. Nur mit Mühe behält er die Kontrolle und winkt zwei seiner Kumpane heran, die Markus daraufhin in die Zange nehmen. Dann sagt er: „Du rührst meine Fatma nicht an, Lan. Du nich. Kapiert? Hab isch noch Blutspendentermin frei. Ischschwör, Alter, hau isch dir so ein ganze Liter aus dein Nase. Was?“

Markus zeigt sich unbeeindruckt, deutet nach rechts und links auf Kemals Komplizen. „Kannst du das auch ohne diese beiden Affen hier?“

Kemal gibt seinen Leuten ein Zeichen, die Markus daraufhin loslassen.

Markus wendet sich ab. Doch dann dreht er sich noch einmal um, zieht die Lippen hoch wie ein irrer Ackergaul und deutet mit dem Zeigefinger auf seine Frontzähne. „Ach, Kemal ... Putz mal deine Zähne! Morgen ist Pferderennen.“

Den muss Kemal erst mal verarbeiten. Nachdenklich tastet er mit den Fingern seine weit auseinander stehenden Schneidezähne ab.

Markus geht mit Ben die Treppen zu den Zellen hoch. Hinter ihrem Rücken vernehmen sie Kemals Stimme.

„Der war gut, Alter. Wallah, echt stark, Mann. Muss mir merken.“

Ohne sich umzudrehen hebt Markus die Hand zum Gruß.

Vergitterte Fenster, ein Etagenbett, Pin-up-Girls und ein Braveheart-Plakat an der Wand. Auf der Mattscheibe des Mini-Fernsehers läuft die x-hundertste Folge irgendeiner Soap.

Markus und Ben nehmen, an einem Tisch hockend, schweigsam ihre Abendmahlzeit ein. Morgen haben sie Heimaturlaub, zwei Tage lang, von Mittwochmorgen bis Donnerstagabend. Wie sich das anhört: Heimaturlaub. Dabei wissen sie gar nicht, wo ihre Heimat genau liegt. Sie kommen aus zerrütteten Verhältnissen, hatte der Richter immer wieder hervorgehoben, der sie schließlich wegen schwerer Körperverletzung in drei Fällen, diverser Diebstähle, Drogen- und Waffenbesitzes zu zweieinhalb Jahren Jugendhaftstrafe verurteilt hat. Davon haben sie drei Monate abgesessen, die ihnen unendlich lange vorgekommen sind, so als habe man ihnen ihre ganze Jugend weggenommen. Sie sehnen sich nach Freiheit, und wenn es nur diese lächerlichen zwei Tage sind.

Zu ihrem alten Herrn müssen sie fahren. Lächerlich! So sind halt die Vorschriften bei Minderjährigen.

Scheiß drauf. Wenn sie ihre Strafe hier abgesessen haben, sind sie volljährig. Dann kann ihnen niemand mehr vorschreiben, wo sie sich zu melden haben. Sie werden ein neues Leben beginnen. Mit 'ner geliehenen Karre runter in den Süden brausen und die düsteren Erinnerungen ablegen wie ein zerschlissenes Kleidungsstück. Der richtige Zeitpunkt für den Absprung, der wird sich schon noch ergeben.

Zweiter Tag

2. Kapitel

Nacheinander verlöschen die künstlichen Lichter einer Kleinstadt nahe der niederländischen Grenze. Ein Zeitungsbote verrichtet seine Arbeit in der erwachenden Stadt, über die sich die Sonne hinter einer dichten Wolkendecke versteckt hält.

Vor der Haustür eines Mehrfamilienhauses zieht er eine Zeitung aus der Satteltasche seines Fahrrades und stopft sie in einen der Briefkästen. Irgendein Vollpfosten hat hier seinen Liebeskummer ausgelebt und in einem nicht mehr ganz zeitgemäßen Graffiti festgehalten.

LOVE IS PAIN steht in blauer Farbe an der Wand über den Briefkästen. Daneben hat der Verfasser des Textes ein Herz mit einem Pfeil mittendurch gemalt.

Die Haustür öffnet sich und heraus tritt ein hünenhafter Mann. Der Zeitungsausträger schüttelt verständnislos den Kopf, denn der in Lederhosen, Cowboystiefeln und Fransenwildlederjacke gekleidete Mann könnte mühelos als Komparse in einem Western mitwirken.

Kurt Schröder hat die Vierzig schon überschritten. Nach seiner gescheiterten Ehe lebt er nun solo. Und das soll vorerst so bleiben, denn sein Beruf als Fernfahrer ist der Killer jeder festen Beziehung. Grußlos lässt er den Zeitungsboten stehen. Seine Aufmerksamkeit gilt einzig und allein seinem aufwendig lackierten Truck, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt.

Das Fahrerhaus mit seiner langen Motorhaube glänzt in metallic schwarz und seitlich angedeutetem Feuerschweif. Silberne Auspuffrohre ragen an beiden Seiten hinter den Türen bis über das Dach der Fahrerkabine hinaus. Und dann kommt der Clou: Eine Prärielandschaft mit Kakteen und den typischen Felsformationen des Monument Valley zieht sich über die gesamte Länge des Anhängers, perfekt ausgeführt in Airbrush-Technik.

Kurt überquert die Straße und steigt in den Wagen. Das Dröhnen des anspringenden Motors durchreißt die Stille des Morgens. Rußwolken schießen aus den seitlichen Auspuffrohren. Der Truck fährt ruckelnd an und bald sind nur noch seine Rücklichter verschwommen in der Ferne zu erkennen.

Etwa zur selben Zeit sucht ein im Sechziger-Jahre-Look gekleidetes Mädchen mit Pferdeschwanz und exakt geschnittenem Pony an der Zufahrt einer Autobahn eine Mitfahrgelegenheit. Sie trägt Schlaghosen mit Blumenmuster, einen selbst gestrickten Norweger-Pullover, der ihr im Laufe der Zeit ein paar Nummern zu groß geworden ist, und cognacfarbene Wildlederboots. Ihren hellbeigen Trenchcoat hat sie, genauso wie ihren Rucksack, über die Schulter geworfen.

Unsicher, als wäre es verboten, hält sie den vorbeifahrenden Autos den ausgestreckten Daumen entgegen. Niemand hält an. Lara beginnt langsam zu resignieren.

Die achtzehnjährige Lara ist nicht auf einem altersgerechten Entwicklungsstand, sieht jünger aus. Meist ist sie nur körperlich anwesend, während ihr Geist in einem Paralleluniversum unterwegs zu sein scheint. Sie sieht die Welt aus der Perspektive eines Kindes, in der alles gut und niemand schlecht ist. Wer sie näher kennt, würde sagen, sie sei schizophren, doch diese Bezeichnung würde nicht exakt zu ihrem geistigen und seelischen Zustand passen.

Heute hat sie ihren Rucksack gepackt und ist zum ersten Mal alleine unterwegs. Angst hat sie keine, und auf den Gedanken, dass ihre Eltern sich Sorgen machen, kommt sie erst gar nicht. Sie ist ein bisschen hilflos hier draußen. Wie man das mit dem Daumen macht, das hat sie mal in einem Roadmovie gesehen. In dem Film waren es zwei Hippie-Frauen, die auf diese Weise quer durch Alaska gereist sind.

Ein schwarzer Golf mit dunkel abgetönten Scheiben rauscht an Lara vorbei. Enttäuscht lässt sie die Hand fallen. Sie nimmt ihren Rucksack auf und geht unentschlossen weiter. Dann sieht sie zuerst die Bremslichter des Golfs und als Nächstes das Rückfahrlicht des Wagens aufleuchten. Das zurücksetzende Auto kommt auf Laras Höhe zum Stehen. Die Beifahrertür springt auf. Eine Frau mit heller Haut und weißgrauen Haaren beugt sich über den Beifahrersitz und sagt etwas, das von dem Krach eines vorbeidonnernden Tankwagens verschluckt wird. Lara fackelt nicht lange und steigt kurzentschlossen ins Auto.

3. Kapitel

Werner Hartmann befindet sich auf seiner morgendlichen Runde, zu der vorrangig das Entriegeln der Zellentüren gehört. Der hochgewachsene Justizvollzugsbeamte ist Mitte dreißig. Seinen Job erledigt er mit viel Fingerspitzengefühl. Er ist einer der wenigen Mitarbeiter, die von den jugendlichen Inhaftierten respektiert und nicht gehasst werden.

Hartmann betritt eine Zelle und blickt auf Markus und Ben, die sich augenreibend auf ihren Pritschen rekeln. Markus richtet sich schlaftrunken auf.

„Wollen Sie Ihren Urlaub hier drinnen verbringen?“, fragt Hartmann frotzelnd und probiert ein Grinsen. Dann tut er so, als will er die Tür wieder verriegeln. „Auch gut. Erspart uns unnötigen Ärger.“

„Ey, was soll das denn werden? Natürlich nicht“, meint Markus.

Der Wärter lächelt kameradschaftlich. „Spätestens morgen Abend, pünktlich um 18 Uhr, will ich Sie wieder hier sehen! Keine Minute später, kapiert? Dass Sie mir ja keinen Bockmist da draußen machen! Kleidung und Handys gibt es im Untergeschoss, Zimmer 7.“

Ein Linienbus hält vor einer Reihe alter Bergmannshäuser, deren graue Fassaden irgendwann einmal weiß gewesen waren. Sie stammen aus den Zeiten, in denen in dieser Gegend jede Familie von der Arbeit im Kohlebergbau leben konnte. Heute wird so gut wie keine Kohle mehr gefördert und die Orte wirken, als sei die Zeit stehengeblieben.

Markus und Ben steigen mit leichtem Gepäck aus dem Bus und steuern, da ein feiner Nieselregen einsetzt, auf ein zerfallenes landwirtschaftliches Gebäude zu. Unter einem Dachüberstand finden Sie Schutz vor der Nässe. Markus stellt seine Sporttasche ab und zieht die Kapuze seines altmodischen Armee-Parkas über den Kopf. Ben klappt den Kragen seiner verwitterten Lederjacke hoch. Sie versuchen sich zu orientieren, wirken entspannt und unternehmungsbereit. Es ist noch früher Morgen. Markus zückt sein Handy und wählt eine Nummer. Er wartet eine Weile. Dann spricht er in das Mobilteil. „Mathilda?“

Durch den Spalt einer Wohnzimmertür fällt Licht auf die mit Jacken und Mänteln überfrachtete Flurgarderobe.

Wir befinden uns in der Wohnung einer am Rande der Gesellschaft lebenden Familie. Das Stöhnen eines beim Liebesspiel beschäftigten Paares vermischt sich mit dem Ton des Fernsehers.

Die Geräusche dringen bis ins Badezimmer, in dem sich ein hageres, bleiches Mädchen vor dem Spiegel schminkt, während sie dabei telefoniert. „Du, Markus, hier könnt ihr nicht herkommen.“ Mathilda drückt ihr Smartphone dichter ans Ohr und hört eine Weile zu. Dann: „Natürlich hab ich den Stoff. Am besten wir treffen uns im Park. Ich komme in einer Stunde dort hin. Ihr wartet da auf mich! Klaro?“ Sie beendet das Gespräch mit einem Tastendruck und widmet sich wieder ihrer Kosmetik.

Wie lange hat sie auf diesen Tag gewartet. Für Markus und Ben, da würde sie durchs Feuer gehen. Und jetzt, wo die beiden ihre Hilfe benötigen, ist sie zur Stelle. Auf sie ist Verlass. Genauso wie sie sich in all den Jahren, die sie sich nun kennen, auf Markus und Ben verlassen konnte. Die sie beschützt haben, wenn die Liebhaber ihrer Mutter ihr zu nahe gekommen sind. Die ihr ein Alibi gegeben haben, als die Polizei sie um ein Haar wegen eines Ladeneinbruches überführt hatte. Oder sie haben die Schuld auf sich genommen, als die Ermittler sie wegen unerlaubten Drogenbesitzes verknacken wollten. Sie haben es getan, damit sie weiterhin auf ihre kleine Schwester aufpassen konnte, war ihre Begründung.

Der viel zu dunkle Lidschatten lässt ihr von pechschwarzen Haaren eingerahmtes Gesicht gespenstisch erscheinen und sie wesentlich älter aussehen, als sie in Wirklichkeit ist. Sie ist achtzehn. Geprägt durch ihr soziales Umfeld hat sich Mathilda zu einer kalten, gefühllosen Hexe entwickelt. Ihre Welt wird von der Farbe Schwarz dominiert; Begriffe wie Geborgenheit, Harmonie oder Liebe finden dort keinen Platz. Ausnahmen macht sie lediglich bei ihrer kleinen Schwester Sarah sowie ihren einzigen Freunden Markus und Ben.

Sie zieht ihre Lippen übertrieben mit einem roten Lippenstift nach, den sie anschließend in ihre Handtasche wirft. Dann geht sie aus dem Badezimmer.

Im Korridor stellt sie einen prall gefüllten Rucksack ab und betritt das Wohnzimmer, das einer zoologischen Tierhandlung ähnelt. Katzenbäume, Tierkäfige für Wellensittich und Hamster, ein Aquarium, und zwischen überquellenden Wäschekörben eine Serie von Futter- und Trinknäpfen.

Mittendrin sitzt die fünfjährige Sarah auf dem Fußboden und spielt apathisch summend mit ihrer Puppe.

Mathilda sieht die Hinteransicht ihrer Mutter Petra, die auf dem Sofa kniet und unter ihrem fülligen Körper mit hochgerutschtem Kittelkleid den schmächtigen Tobi begräbt.

Tobi ist gerade mal zwanzig und sieht mit seinen eingefallenen Wangen nicht sonderlich gesund aus.

Petra kann Mathilda nicht sehen, dafür Tobi, der Mathilda mit seinen Kifferaugen ansieht und ungeniert weitermacht. „Was willst du? Mitmachen, oder was?“

Mathilda beugt sich zu Sarah herunter und streichelt sanft über ihren Hinterkopf. Sarahs Summen wird von Tobis Stimme übertönt.

Petra hält in der Bewegung inne und sieht Tobi strafend an. „Ey, was soll das?“, meckert sie und verfällt augenblicklich wieder in ihren reitenden Rhythmus.

Mathilda nimmt Tobis Provokation gelassen zur Kenntnis. Wie gerne würde sie ihrer kleinen Schwester helfen, ihr eine bessere Kindheit ermöglichen, in normalen familiären Verhältnissen. Sie hat Angst um Sarah. Ihre Mutter, die diese Bezeichnung nicht verdient, ist eine gefräßige, sexbesessene Schlampe, die für ein paar Kröten ihre Seele verkauft und vermutlich auch Sarahs Körper. Davon ist über kurz oder lang auszugehen. Es hat da in der Vergangenheit schon gewisse Andeutungen gegeben und irgendwann würde Petra wieder die letzten Grenzen überschreiten, so wie sie es mit ihr gemacht hatte. Und genau das war es, als Markus meinte, sie solle gut auf ihre Schwester aufpassen.

Sarah liebkost ihre Puppe.

„Mach 's gut, kleine Maus.“ Mathildas Stimme klingt traurig und sanftmütig. „Ich hol dich hier raus. Ich versprechs dir.“

Tobi macht auffordernde Handbewegungen. „Na, komm schon, Mathilda! Ich beiße nicht.“

Petra dreht verwirrt ihren wild zerzausten Kopf. Erst jetzt sieht sie Mathilda. „Hast du 'n Knall, oder was? Mach dich vom Acker hier!“

Mathilda richtet sich auf. Ohne sich um ihre Mutter zu kümmern, deutet sie mit dem Zeigefinger auf Tobi. „Hey, hör mal zu, du Fotzencasanova! Pass lieber auf, dass du nicht ins Gras beißt! Oder fickst du mit Gummi?“

Petra steigt von Tobi ab und richtet ihr Kleid. „Und du lässt gefälligst meine Tochter zufrieden! Hast du kapiert, Tobi?“

Tobi vergeht jegliche Lust und klingt verwirrt. „Wie? Was?“

„Ohne. Hab ichs mir doch gedacht“, resümiert Mathilda und zeigt Tobi den Mittelfinger. „Dann mach mal morgen gleich 'nen Aids-Test ... und am besten auch dein Testament.“

Petra reißt der Geduldsfaden. „Mathilda, zum Teufel. Raus hier, jetzt!“

Angewidert formen sich Mathildas Lippen zu einem Strich. Sie geht aus dem Zimmer, reißt ihre Jacke von der Garderobe, schnappt sich ihren Rucksack und öffnet die Wohnungstür. Aus dem Wohnzimmer hört sie Tobis und Petras Diskussion.

„Was hat sie damit gemeint, Petra?“

„Ach, leck mich doch am Arsch! Mathilda! Mathilda!“

Mathilda wirft einen letzten Blick auf die erbärmliche Behausung und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

4. Kapitel

Dunkle Wolken trüben den Himmel. Sie haben eine Parkbank am Rande des Waldes in Beschlag genommen.

Markus sitzt auf der Banklehne. Er massiert seine rechte Hand, an der er ständig einen aus der Mode gekommenen Autofahrerhandschuh trägt. Tief in sich gekehrt sucht er den Horizont ab, so als halte er Ausschau nach einem fernen Land.

Ben und die etwa gleichaltrigen Brüder Michael und Tim hören dem Aufschneider Ronny zu, der mit seinem Klappmesser spielt, das Bens Interesse weckt. „Z... z... zeig mal her!“

Ronny wirft Ben das zusammengeklappte Messer zu, das dieser gekonnt mit einer Hand auffängt. Während Ben die Klappfunktion des Messers ausprobiert, fährt ein schwarzer Geländewagen auf den Parkplatz.

Ronny gestikuliert mit den Händen. „Was wollt ich noch sagen? Ach so, ja. Also, ich komm vom Pommes-Stand bei Karstadt, er kommt mir entgegen. Ich sag: Alter, was liegt an? Er grinst blöd und haut mir so, zack, eine rein.“ Ronny schüttelt den Kopf. „Nee, nee.“

Markus interessiert sich mehr für den Geländewagen. Er mag diese Autos vom Prinzip her nicht. Sie sehen aus, als wären sie für einen Kriegseinsatz im Amazonasgebiet konzipiert. Und rein theoretisch würde so ein Fahrzeug die Strapazen überstehen. Benötigt werden diese Kutschen lediglich für den sonntäglichen Brötcheneinkauf beim Back Shop um die Ecke.

Ein älteres Ehepaar in gehobener Freizeitkleidung und mit gesunder andalusischer Überwinterungsbräune klettert mit ihrem Yorkshire-Terrier aus dem Wagen.

Ben ist mit all seinen Sinnen bei seinen Kumpanen und nimmt Ronnys Faden auf. „Ha... hast du ihm gezeigt, wo der Ha... Hammer hängt?“