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Der neue Standalone-Psychothriller von Nr.-1-Bestsellerautor Andreas Winkelmann: Ein Mädchen verschwindet. Der Vater begeht einen verhängnisvollen Fehler. Und eine junge Frau weiß als Einzige, was damals geschah – doch auch sie ist spurlos verschwunden. Jonas war früher einmal Polizist. Bis er für das Verschwinden seiner Tochter einen Verdächtigen zur Rechenschaft zog. Franka ist Privatdetektivin mit einem Talent für digitale Spuren und auf der Suche nach einer Vermissten. Ihre Ermittlungen decken Verbindungen zu einem alten Fall auf – dem von Jonas' Tochter, die nie gefunden wurde. Frankas erster Verdächtiger: Jonas. Doch schon bald ermitteln die beiden zusammen. Denn die Vermisste scheint etwas darüber zu wissen, was damals wirklich geschah ...
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2025
Andreas Winkelmann
Thriller
Ein Mädchen verschwindet. Der Vater zieht einen Verdächtigen zur Rechenschaft. Und eine junge Frau weiß als Einzige, was geschah – doch auch sie ist spurlos verschwunden.
Jonas war früher einmal Polizist. Bis er für das Verschwinden seiner Tochter einen Verdächtigen zur Rechenschaft zog. Franka ist Privatdetektivin mit einem Talent für digitale Spuren und auf der Suche nach einer Vermissten. Ihre Ermittlungen decken Verbindungen zu einem alten Fall auf – dem von Jonas’ Tochter, die nie gefunden wurde. Frankas erster Verdächtiger: Jonas. Doch schon bald ermitteln die beiden zusammen. Denn die Vermisste scheint etwas darüber zu wissen, was damals wirklich geschah ...
Nr.-1-Bestseller-Autor Andreas Winkelmann in Bestform. Ein Thriller, in dem nichts ist, wie es scheint.
In seiner Kindheit und Jugend verschlang Andreas Winkelmann die unheimlichen Geschichten von John Sinclair und Stephen King. Dabei erwachte in ihm der unbändige Wunsch, selbst zu schreiben und andere Menschen in Angst zu versetzen. Heute zählen seine Thriller zu den härtesten und meistgelesenen im deutschsprachigen Raum. In seinen Büchern gelingt es ihm, seine Leserinnen und Leser von der ersten Zeile an in die Handlung hineinzuziehen, um sie dann gemeinsam mit seinen Figuren in ein düsteres Labyrinth zu stürzen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Die Geschichten sind stets nah an den Lebenswelten seines Publikums angesiedelt und werden in einer klaren, schnörkellosen Sprache erschreckend realistisch erzählt. Der Ort, an dem sie entstehen, könnte ein Schauplatz aus einem seiner Romane sein: der Dachboden eines vierhundert Jahre alten Hauses am Waldesrand in der Nähe von Bremen.
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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Christin Ullmann
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung Magdalena Russocka/Trevillion Images
ISBN 978-3-644-01830-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Ich lebe in der Dunkelheit. Nicht freiwillig, sondern notgedrungen. Ich verzichte auf Licht, auf Freude, auf Glück. Alles ist finster und bedrückend, die Schatten lang und tief, und sie führen ein Eigenleben.
Noch ist es nicht so weit, dass ich die Dunkelheit liebe, aber ich fühle, irgendwann wird es so kommen, denn Menschen lieben ihre Gewohnheiten, nicht ahnend, dass sie dem Leben seinen Wert nehmen. Jeden Tag breitet sich die Dunkelheit ein wenig mehr in mir aus, wie Krebs, der seine Metastasen auf die Reise schickt, den Körper zu erobern. Irgendwann werde ich vollkommen darin verschwinden, und dann werde ich unsichtbar sein für die anderen Menschen. Das macht mir Angst, und in meinen finstersten Nächten durchlebe ich deswegen unerträgliche Albträume. Vielleicht sind es aber auch keine Träume, sondern die Realität. Ich weiß es nicht. Ich denke, ich verliere die Fähigkeit, zwischen Träumen und Realität zu unterscheiden.
So wie jetzt gerade.
Hier im Wald, geschützt vor dem Licht des Mondes, ist es dunkel. Aber nicht dunkel genug, um die Schatten zu vertreiben. Sie sind überall, sie bewegen sich, und ich fürchte, sie haben Augen. Aber egal, was sie auch sehen, sie werden mich nicht verraten. Längst gehöre ich zu ihnen.
Die Person, der ich durch den Wald folge, bemerkt mich nicht. Ich könnte mich an sie heranschleichen, und wenn das Unheil dann über sie hereinbricht, käme es vollkommen überraschend.
Ich sehe sie tot vor mir liegen. Übel zugerichtet. Das ist es, was ich Tag um Tag sehe, und ich bekomme diese Bilder einfach nicht aus meinem Kopf. Ich weiß, es wird passieren, ich kann nichts dagegen tun, dennoch muss ich es versuchen, muss dagegen ankämpfen.
Die Person tut mir leid. Glaube ich. Ich habe bei anderen Menschen das beobachtet, was sie Mitleid nennen. Diese traurige Zugewandtheit, untermalt von egoistischer Freude darüber, nicht selbst bemitleidet werden zu müssen. Mitleid erscheint mir heuchlerisch, unehrlich, eigennützig. Das ist nicht unbedingt schlecht. Eigennutz ist Selbstschutz.
Diese Art von Schutz brauche ich mehr als alle anderen Menschen.
Ich darf nichts an mich heranlassen, vor allem nicht die Bilder, die ich heute Nacht sehen werde.
Tot.
Übel zugerichtet.
Der Blick gebrochen.
Getötet von einem Unsichtbaren.
Vor sieben Jahren
Verzweifelte Rufe hallten durch die Sommernacht. Von dem Lärm verwirrte Fledermäuse schwirrten hektisch über die Wiese, stürzten auf Jonas Waider zu und wichen im letzten Moment aus. Weit nach Mitternacht lag die Luft drückend warm auf dem Land, kein Windhauch kühlte, Shorts und Shirt klebten am Körper wie eine zweite Haut.
Jonas’ Hals schmerzte, seine Stimme war längst heiser vom Rufen, er musste sich anstrengen, um überhaupt noch einen Ton herauszubekommen.
Isabell, Isabell, Isabell …
Immer wieder rief er ihren Namen, stolperte über die Wiese durch die mondhelle Nacht, vorwärts, immer weiter, nicht aufgeben, irgendwo musste sie sein. Neben ihm, hinter ihm, vor ihm, überall riefen seine Nachbarn und Freunde nach Isabell, suchten sie in dem unzugänglichen Naturschutzgebiet, das an ihre Wohnsiedlung grenzte. Doch Isabell antwortete nicht. Kein «Hier bin ich» oder «Helft mir».
Isabell war verschwunden.
Wie konnte sie verschwunden sein?
Er hatte doch aufgepasst, alles dafür getan, damit seiner Familie nichts passierte. Schon immer getrieben von der Angst, Isabell oder Marie könne etwas zustoßen, hatte er es mit seiner Fürsorge und seinem Beschützerinstinkt sicher manchmal übertrieben. Aber wie hätte er anders handeln können, wenn er jeden Tag in seinem Beruf sah, wie die Welt wirklich war?
Jonas Waider blieb stehen und drehte sich im Kreis. Spürte Panik, Verzweiflung und das Bedürfnis, Gott um Hilfe zu bitten. Du musst professionell bleiben, sagte er sich, aber es nützte nichts. Denn hier ging es um seine Tochter, die er über alles liebte.
Unter die «Isabell»-Rufe mischte sich ein anderer.
Jemand rief seinen Namen.
Jonas änderte die Richtung. Hin zum Rufenden. Das Gras war knielang und dicht, Brennnesseln brannten an seinen nackten Unterschenkeln. Er trat in ein Kaninchenloch, strauchelte, stürzte, rappelte sich auf und sah eine Gestalt aus jenem dunklen Waldweg treten, aus dem er vor ein paar Minuten selbst gekommen war. Sie schwenkte eine Taschenlampe.
«Jonas, wo bist du?»
Er riss die Arme hoch. «Ich bin hier.»
Es war sein Kollege, Sven-Ole Reiter. Wieso kam er zurück? Er sollte doch in der anderen Richtung suchen, westlich des Abbruchs. Jonas hielt auf das hektisch tanzende Licht der Taschenlampe zu und erreichte am Rand der Wiese Sven-Ole, der sich auf den Oberschenkeln abstützte und nach Luft rang.
«Hast du sie gefunden?»
Sven-Ole schüttelte den Kopf.
Vom Schweiß angezogene Mücken umschwirrten ihn, er schlug nach ihnen, konnte sie aber nicht vertreiben. Sein aschblondes Haar lag wie angeklebt an seinem Kopf.
«Komm mit …», sagte er atemlos. «Die Jungs haben etwas gefunden. Das musst du dir ansehen.»
«Was? Was haben sie gefunden?»
Die Panik ließ Jonas laut werden.
«Komm mit, bitte.»
Sein Partner fuhr herum und stapfte in das schwarze Loch zurück, aus dem er gekommen war. Jonas, der größer war und längere Beine hatte, holte ihn rasch ein.
«Ist es Isabell?»
Sven-Ole schüttelte den Kopf, was alles bedeuten konnte. Ja, nein, vielleicht. Tot, verletzt, lebendig. Kleidung, Schuhe, ein Körperteil …
«Rede mit mir!», schrie Jonas und wollte ihn aufhalten, doch Sven-Ole ging zügig voran.
Während er seinem Partner folgte, wurde Jonas bewusst, wie rasant sich dieser normale Abend in einen Albtraum verwandelt hatte.
Um Punkt eins hätte Isabell zu Hause sein sollen, und seine Tochter hielt sich an Absprachen. Ein paar Minuten nach Mitternacht war Marie schlafen gegangen, doch Jonas war seiner Frau nicht ins Bett gefolgt, sondern ruhelos durch den Garten geschlendert. Er hätte die Sommernacht genießen und dem Zirpen der Grillen lauschen können, hatte sich aber auf die in der Ferne wummernde Musik konzentriert und sich vorgestellt, wie seine Kleine da drüben auf der Party in den Armen eines Jungen tanzte. Ihm war schwermütig ums Herz geworden, und er hatte sich gefragt, wo er all die Jahre gewesen war, in denen seine Tochter erwachsen geworden war. Seine Erinnerungen daran waren sporadisch, hier und dort ragten sie wie Leuchtfeuer aus dem einheitlichen Grau des Alltags. Er war drauf und dran gewesen, hinüberzugehen und Isabell abzuholen, wusste aber, wie peinlich das für eine Sechzehnjährige wäre.
Also hatte er auf sie gewartet, wenigstens das.
Ein Uhr war verstrichen.
Fünf Minuten später lief er abermals durch den Garten, ging vor bis zur Gartenpforte, nahm das Handy in die Hand und fragte sich, ob er überreagierte.
Um ein Uhr fünfzehn wählte er Isabells Handynummer, erreichte sie aber nicht. Dann rief er den Hausanschluss der Engelmanns an, bei denen die Party stattfand, doch auch dort nahm niemand ab.
Jonas hatte keine weitere Minute gewartet. Er hatte Marie schlafen lassen, das Haus verriegelt und war zu den Engelmanns aufgebrochen. Ihr Haus lag zu Fuß eine Viertelstunde entfernt. Auf dem Weg dorthin erwartete er bei jedem einzelnen Schritt, Isabell aus dem Dunkel auf sich zukommen zu sehen. Er würde nicht mit ihr schimpfen, sondern sie in den Arm nehmen und ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Das tat er nämlich viel zu selten, eigentlich nie, und diese Nacht war so gut wie jede andere, um endlich damit anzufangen.
Fünfzehn Minuten lang beschwor Jonas alle Wenns, die ihm einfielen.
Wenn sie gleich auftaucht, bleibe ich cool.
Wenn sie betrunken ist, verurteile ich sie nicht dafür.
Wenn ein Junge sie begleitet, bin ich freundlich zu ihm.
Doch sie tauchte nicht auf.
Die Party war noch im Gange, vierzig bis fünfzig junge Leute hielten sich in dem weitläufigen Garten der Engelmanns auf. Jonas sprach ein paar Leute an, erntete aber nur Schulterzucken und glasige, verständnislose Blicke. Schließlich lief ihm der Gastgeber, Torsten Engelmann, über den Weg. Sein achtzehnter Geburtstag war der Grund für die Party. Torsten war ein großer Schlaks mit Schlafzimmerblick und dem Aussehen eines jungen James Dean. Er taumelte unübersehbar, sein Gesicht war aschfahl, und er roch nach Erbrochenem. Jonas riss sich zusammen und ging in den Vernehmungsmodus, stellte Fragen, die er in seinem Job Dutzende Mal gestellt hatte. Brauchbare Angaben konnte Torsten jedoch nicht machen, verhaspelte sich dauernd, meinte, Isabell hier und dort gesehen zu haben, aber schon eine Weile nicht mehr.
Jonas machte sich auf die Suche nach Carina, Isabells bester Freundin. Er fand sie in der Doppelgarage der Engelmanns. Dort boten zwei ausgemusterte Sofas und auf dem Boden liegende Matratzen den Partygästen die Möglichkeit, sich auszuruhen. Auf Kisten und Backsteinen brannten Teelichter, es lief leise Musik, die Reste von Chips, Salzstangen und Erdnüssen lagen überall herum. Dazwischen Carina, zusammengerollt auf der kürzeren Couch. Ihre gefalteten Hände ruhten vor ihrem Gesicht, und für einen Moment dachte Jonas, sie würde am Daumen nuckeln wie ein Baby. Sie war verschwitzt, schmutzig und dünstete Alkohol aus. Jonas bekam sie nur mit Mühe wach. Offenbar hatte sie die vergangenen zwei Stunden in einer Art Koma verbracht und konnte sich an nichts erinnern. Wo Isabell war, wusste sie nicht.
In diesem Moment wurde Jonas klar, dass er Hilfe brauchte. Marie wollte er noch nicht wecken, sie würde nur in Panik geraten, also rief er seinen Freund und Partner Sven-Ole an. Der war sogar noch wach und keine Viertelstunde später vor Ort.
Seitdem waren anderthalb Stunden vergangen, und eines stand fest: Isabell ging nicht spazieren, lag nicht mit irgendeinem Jungen im Bett oder betrunken am Straßenrand auf dem Weg nach Hause.
Jonas rannte Seite an Seite mit Sven-Ole, bis er vor sich im Wald die Lichtlanzen einiger Taschenlampen entdeckte. Unstet zuckten sie umher, fanden sich aber immer wieder an einer bestimmten Stelle am Boden zusammen. Jonas’ Kehle war plötzlich staubtrocken, er bekam kaum noch Luft und wurde langsamer. Nein, er wollte nicht dorthin, wollte nicht sehen, was da am Boden lag. Doch seine Beine bewegten sich automatisch und folgten Sven-Ole, bis sie den Platz erreichten, an dem sich einige Männer versammelt hatten.
Grelles Licht blendete ihn. Die Männer flüsterten. Das ist Jonas Waider, der Vater, der Polizist, der arme Kerl, wie schrecklich. Alles Männerstimmen. Nachbarn, Freunde, Bekannte aus der Siedlung, auch sie waren noch wach gewesen in dieser heißen Freitagnacht.
Die Hand erhoben, um sich vor dem Licht zu schützen, näherte sich Jonas den Männern. Eine merkwürdige Truppe in kurzen Hosen, ärmellosen Shirts, Gummilatschen und Flipflops. Wochenendcoolness und Katastrophenstimmung reichten sich die Hand.
Am Boden lag keine Leiche, sondern ein schwarzer Rucksack mit einem silbernen Schlüsselanhänger am Griff, die silberne Kette zerrissen. Es fehlte der handgroße lilafarbene Stoffbär, der an der Kette befestigt gewesen war. Jonas hatte ihn seiner Tochter vor einigen Jahren auf einem Volksfest an einer Schießbude geschossen. Jonas war ein wenig theatralisch geworden, als er den Bären an der Gürtelschlaufe von Isabells Hose befestigt hatte. Das, meine Prinzessin, ist ab jetzt dein Schutzbär, der dir immer den richtigen Weg weisen wird. Eine Weile war er überall aufgetaucht, erst an ihrer Schultasche, dann am Sportbeutel, am Griff der Lampe in der Küche, schließlich am Innenspiegel im Auto, bevor er seinen neuen Platz am Griff dieses Rucksacks gefunden hatte. Einen Namen hatte er auch: TomTom. Darauf war Marie gekommen, wegen dieser Navigationsgeräte.
TomTom war verschwunden.
Genau wie seine Prinzessin.
«Das ist doch Isabells Rucksack, oder?», fragte Sven-Ole.
Jonas ging in die Hocke und wollte nach dem Rucksack greifen.
«Nicht», sagte Sven-Ole. «Wegen der Spuren.»
Die Spuren waren Jonas in diesem Moment scheißegal. Mit zwei Finger zog er den Rucksack zu sich her und öffnete vorsichtig den Reißverschluss.
Darin fand er die hochhackigen roten Pumps, die Isabell getragen hatte, als sie sich Marie und ihm in ihrem Partykleid präsentierte. Jonas konnte sie vor sich sehen, wie sie auf dem glatten Fliesenboden in der Küche Pirouetten drehte, die Arme in die Hüften gestellt, ein Strahlen im Gesicht. Das Kleid wallte auf, entblößte ihre braunen Beine, und sie sah nicht mehr aus wie sein kleines Mädchen, sondern wie eine erwachsene Frau. Sein erster Impuls war es gewesen, ihr zu untersagen, in diesem knappen Kleid zur Party zu gehen, und das schien Marie irgendwie gespürt zu haben, so wie sie immer spürte, was in ihm vorging. Sie hatte seine Hand gedrückt, etwas fester, als es nötig gewesen wäre. Er hatte die Warnung verstanden und den Mund gehalten.
«Und?», fragte Sven-Ole.
Alle starrten ihn an, warteten darauf, dass er etwas sagte, doch Jonas brachte keinen Ton hervor. Sein Hals war wie zugeschnürt.
«Jonas?»
Sven-Ole legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die Berührung löste die Blockade.
«Er gehört ihr.»
Heute
Wie ein Geist zog der Schatten über den Gehweg, glitt an der Mauer empor und erschien noch einen Moment auf der stuckverzierten weißen Fassade der Villa, bevor er verschwand. Franca Lichtenwalter legte den Kopf in den Nacken und beobachtete einen Bussard, der mit ausgebreiteten Schwingen über dem Park schwebte, der das Haus umgab. Geräuschlos verschwand er zwischen den hohen Baumkronen alter Eichen.
Franca hatte das Gefühl, von ihm dorthin gezogen zu werden, auf diese alte, protzige Villa zu und hinein in die Geschichte, die sich hinter der hohen Backsteinwand verbarg. Die Mauer reichte um das gesamte parkähnliche Grundstück, eine Trutzburg inmitten der Stadt.
Franca zog ihr Handy hervor und machte Fotos von dem Gebäude. Sie fotografierte viel, wenn es um einen Auftrag ging. Man konnte ja nie wissen, und die Erinnerung war oft trügerisch.
Dann steckte sie das Handy in die hintere Hosentasche und sah an sich hinab. Wie immer trug sie Bluejeans, Stiefel, Shirt und ihre heiß geliebte, speckige, schwarz-braune Lederjacke, die ihre Eltern ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Praktische Kleidung, wenn man Motorrad fuhr. Ihre Honda parkte am Straßenrand, der Motor kühlte klickend ab, die Sonne brach sich in dem verchromten Auspuffrohr. Franca wusste, dass ihre Kundin vermögend war, hatte sich aber bewusst gegen eine Verkleidung entschieden. In einem Kostüm oder Hosenanzug fühlte sie sich wie ein anderer Mensch. Kleider machen Leute, sagte man, aber sie machten keine authentischen Persönlichkeiten.
Entweder bekam sie den Auftrag so, wie sie war, oder eben nicht.
Franca trat vor und drückte auf die lächerlich große Klingel. Wie ein goldener Teller klebte sie an dem Torpfeiler, eine 360-Grad-Kamera darüber spähte die Einfahrt aus. Nur wenige Augenblicke später summte der elektrische Öffner. Franca schob die schmiedeeiserne Tür auf und betrat das Grundstück.
Die zweiflügelige Eingangstür lag im Schatten eines von Säulen gestützten Vorbaus. Darüber hing an einer schweren Kette ein Leuchter, der Franca an die übertrieben große Lampe am Weißen Haus in Washington erinnerte, die oft in den Medien zu sehen war.
Die gefliesten Stufen passten nicht ins Bild. Die Fugen waren vermoost, stellenweise platzte die Lasierung der Fliesen ab, eindringendes Schmutzwasser verfärbte sie gräulich. Franca hatte einen angeborenen Sinn für Details, und nachdem sie dieses entdeckt hatte, fand sie andere, die ebenfalls auf mangelnde Pflege hinwiesen. Kraut in den Beeten, abgestorbene Pflanzen, gelber Rasen. Die weiße Fassade rissig, an mehreren Stellen warf die Farbe Blasen, aus dem Stuck brachen Brocken heraus.
Die Haustür öffnete sich, bevor Franca klingeln konnte. Es kam keine Bedienstete zum Vorschein, wie sie erwartet hatte, sondern eine alte Frau mit schlohweißem, perfekt frisiertem Haar. Sie trug graue Kleidung, war groß, hielt sich aufrecht, beinahe schon übertrieben kerzengerade – dort, wo Franca herkam, nannte man diese Haltung einen Stock im Arsch haben – und strahlte eine Eleganz aus, der Patina nichts anhaben konnte.
«Frau Lichtenwalter, nehme ich an.»
«Frau Frieling, nehme ich an.»
Franca trat auf sie zu und streckte die Hand aus. Die alte Dame machte keine Anstalten, sie zu ergreifen und sich vorzustellen. Egal, Franca wusste, wen sie vor sich hatte. Im Internet gab es nicht viele Informationen, aber die wenigen hatte sie gefunden, unter anderem ein Foto der Frau, die nun vor ihr stand. Sie war seitdem gealtert. Auf eine unschöne, bittere Art und Weise.
«Kommen Sie bitte», sagte die Hausherrin, drehte sich um und verschwand in der Villa.
Franca folgte ihr.
Die Eingangshalle war beeindruckend, aber Franca hatte keine Zeit, Stil und Mobiliar eingehend zu betrachten. Frau Dr. Frieling eilte hindurch, stieß ihre Absätze in den Boden, und der Schall ihrer Schritte glich Maschinengewehrfeuer. Sie öffnete eine hohe Tür mit aufwendigen hölzernen Kassetten und führte Franca in einen weitläufigen Raum, eine Mischung aus Bibliothek und Büro.
«Nehmen Sie bitte Platz», befahl die Frieling und deutete auf eine lederne Sitzgruppe. Englische Stilmöbel, üppig, schwer und ohne Frage sauteuer.
«Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?»
Das Gesicht der alten Dame schien in Stein gemeißelt, keine erkennbare Mimik darin, die Lider senkten sich nur selten, an den Augen perlte das Licht ab.
«Nee, danke», sagte Franca und nahm Platz.
Ihre Lederjacke knarzte.
Gegenüber hing oberhalb eines gemauerten Kamins ein Gemälde. Das Porträt eines Mannes mit stechendem Blick, wenig Haar, übergroßen Ohren, hängenden Mundwinkeln und blauen Augen, die einem zu folgen schienen, wenn man sich durch den Raum bewegte.
«Mein Mann, Ludwig», erklärte die Frieling, die Francas Blick bemerkte. «Vor fast vier Jahren verstorben. Er leitete unser Bankhaus. Frieling und Neeringer.»
Auch diese Info hatte Franca im Vorfeld recherchiert. Sie kannte das Bankgebäude in der Innenstadt mit den goldfarbenen Lettern an der Sandsteinfassade. Nachfragen unterließ sie daher und brachte auch nicht ihr Bedauern über den Tod des Gatten zum Ausdruck. Dafür lag es zu lange zurück, und die alte Dame machte nicht den Eindruck, als erwarte sie derlei Floskeln. Aber eines war klar: Der Verstorbene hatte zu Lebzeiten die Geschicke der Familie gelenkt und tat es vielleicht auch nach seinem Tod noch.
Es konnte nicht schaden, das im Hinterkopf zu behalten.
Frau Dr. Frieling ließ sich auf der Kante eines Sessels nieder, presste die Beine zusammen und legte die Hände auf die Knie. Ihre Haltung drückte aus, dass sie gewillt war, für die Dauer des Gespräches den Stock im Arsch zu belassen. Franca stellte sich vor, wie die alte Dame zusammenfiel, sobald sie allein war. Wie sie sich mühsam durch die Gänge dieses viel zu großen Hauses schleppte, immer auf der Suche nach ihrem jugendlichen Ich, das ihr an der Seite des Patriarchen abhandengekommen war.
«Ich habe Sie kontaktiert, weil ich meine Enkelin vermisse», begann Frau Dr. Frieling das Gespräch.
«Wie alt ist Ihre Enkelin?»
«Silvia ist jetzt zweiundzwanzig.»
«Lebt sie hier bei Ihnen?»
«Nein. Sie lebt bei ihrer Mutter. Meiner Tochter Gerlinde.»
«Aber dort ist sie nicht?»
«Nein, dort ist sie nicht, sonst würde ich sie ja nicht vermissen.»
«Wann haben Sie Silvia zuletzt gesehen?»
«Vor einem Jahr.»
«Vor einem Jahr?», wiederholte Franca und schob die Augenbrauen in die Höhe. «Und so lange vermissen Sie sie auch?»
«Nein. Ich vermisse Silvia seit einem halben Jahr. Hören Sie …»
Zum ersten Mal brach die harte Fassade der alten Dame. Sie glättete eine Falte im grauen Rock, verkrampfte die Finger ineinander, rang um Fassung und Worte, ihr Blick zuckte kurz zu dem Porträt ihres Mannes hoch, bevor er sich am Teppich zu ihren Füßen festsaugte.
«Ich habe Sie und keine andere Agentur angerufen, weil mein Anwalt Sie als sehr diskret und erfolgreich empfohlen hat. Diskretion ist mir ausgesprochen wichtig. Nichts von dem, was hier besprochen wird oder Sie später herausfinden, darf an Dritte gelangen.»
«Natürlich nicht», sagte Franca. «Das ist für mich selbstverständlich.»
Sie sahen sich in die Augen, und Franca gelang ein Blick hinter die antrainierte Härte der Frieling. Dort fand sie Angst und Unsicherheit. Die alte Dame bewegte sich auf fremdem Terrain, wahrscheinlich hatte sie sich überwinden müssen, sich an eine Detektei zu wenden. Es musste ihr etwas an ihrer Enkelin liegen. Ein menschlicher Wesenszug in einer kalten, abgeschotteten Welt. Wie schön.
«Ich denke, ich kann Ihnen vertrauen», sagte die Frieling und senkte den Blick.
«Meine Tochter … Gerlinde … Wir haben kein gutes Verhältnis. Um ehrlich zu sein, haben wir gar keines. Seit dem Tod meines Mannes haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Sie verwehrt mir seit Jahren den Kontakt zu Silvia, ich wüsste nicht einmal, wie meine Enkelin jetzt aussieht, hätte ich nicht Fotos gemacht.»
«Sie haben Silvia fotografiert? Etwa heimlich?»
Die Frieling nickte.
«Sie ist neben Gerlinde meine einzig verbliebene Familie. Ich muss doch wissen, ob es ihr gut geht.»
«Und seit einem halben Jahr haben Sie keine Fotos mehr machen können, verstehe ich das richtig?»
«Ja. Alle Daten und Fakten habe ich für Sie in einem Memorandum zusammengefasst. Sie können es nach unserem Gespräch mitnehmen.»
«Haben Sie einen Verdacht, was mit Silvia geschehen sein könnte?»
Dr. Frieling ging einen Moment in sich.
«Meine Tochter ist ein schwacher Mensch», begann sie. «Sie trinkt, nimmt Drogen, und ständig wechselt sie die Männer. Ich befürchte, sie hat Silvia in diesen Sumpf hineingezogen. Meine größte Angst ist, dass sie ins Drogenmilieu gerutscht ist und auf der Straße lebt.»
«Gibt es denn Hinweise in diese Richtung?»
«Es ist nur eine Vermutung, aber … hören Sie, es ist mir unangenehm, und ich muss noch einmal auf Ihre Verschwiegenheit pochen. Silvia ist … sie war … nun, sie hatte Probleme und war einige Zeit in einer … Klinik.»
«Was für eine Klinik?»
«Eine psychiatrische Klinik.»
«Okay, und wie lange war sie dort?»
«Sechs Jahre. Seitdem sie fünfzehn war.»
«Wann wurde sie entlassen?»
«Das kann man so nicht sagen, es ist ja kein Gefängnis. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag war sie freiwillig in der Einrichtung. Vor einem Jahr hat sie dann entschieden, zu ihrer Mutter zurückzuziehen. Was ich für einen Fehler hielt.»
«Und zu dem Zeitpunkt haben Sie angefangen, Fotos von ihr zu machen?»
«Ich musste doch wissen, ob es ihr gut geht.»
«Ging es ihr gut?»
«Es sah so aus, ja. Und dann … dann ist sie plötzlich verschwunden.»
Frau Dr. Frieling schien alles gesagt zu haben, was sie sagen wollte. Ihre Lippen schlossen sich zu einem schmalen, blutleeren Spalt, damit kein weiteres kompromittierendes Wort mehr entweichen konnte.
«Haben Sie ein Foto von Silvia für mich?»
Dr. Frieling nickte und klappte die lederne Mappe auf, die vor ihr auf dem Tisch lag. Darin befanden sich außer dem Memorandum auch zwei Fotos. Sie nahm sie heraus und reichte Franca das erste.
«Da war sie fünfzehn.»
Das Foto zeigte aus einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern einige Mädchen und Jungen, die in einer Gruppe zusammen vor einem Schulgebäude standen. Im Hintergrund hielt ein junger Lehrer mit hinter dem Rücken verschränkten Armen Aufsicht. Ein Mädchen lehnte allein an einem Baum und hielt ein Buch in den Händen. Zwischen ihren Füßen lag ein schwarzer Rucksack. In dem Augenblick, als das Foto geschossen worden war, hatte sie nach oben geschaut. Ein hübsches, schmales, aber blasses Gesicht, dunkel geschminkte Augen, schwarzes Haar. Zudem war sie komplett schwarz gekleidet.
«Und das hier ist kurz nach ihrer Entlassung entstanden.»
Dr. Frieling reichte Franca das zweite Foto.
Zwischen diesen beiden Aufnahmen war Silvia Frieling rechnerisch um sechs Jahre gealtert, man sah es ihr jedoch nicht an. Ihr jugendlich unverbrauchtes Gesicht war immer noch umrahmt von langem schwarzen Haar, der Blick aus den dunklen Augen und die Körperhaltung schüchtern. Sie trug abermals schwarze Kleidung und stand vor einem Supermarkt. Im Hintergrund konnte Franca das Edeka-Zeichen mit dem Namen Burfeind darauf erkennen.
«Haben Sie Silvia angesprochen oder nur das Foto gemacht?», fragte Franca.
«Ich habe lediglich aus dem Wagen heraus fotografiert.»
«Warum? Sie hätten doch auch mit Ihrer Enkelin reden können.»
«Nun ja …», druckste Dr. Frieling herum. «Gerlinde war in der Nähe, ich wollte einen Streit auf offener Straße vermeiden.»
«Darf ich nach den Gründen für die schlechte Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter fragen?»
Wieder presste Dr. Frieling die Lippen zusammen.
«Hören Sie, ich möchte nur einen Beweis dafür, dass es Silvia gut geht. Am besten ein Foto, oder gern auch mehrere. Alles andere spielt keine Rolle.»
«Wenn ich Silvia finden soll, spielt es eventuell doch eine Rolle.»
«Legen Sie sich einfach auf die Lauer, das macht man doch so in Ihrem Gewerbe, nicht wahr?»
«Manchmal schon. Aber mit ein wenig mehr Informationen sind die Erfolgsaussichten höher.»
«Nun, mein Anwalt sagt, Sie seien etwas Besonderes.»
«Das freut mich zu hören.»
Franca seufzte. Sie würde aus der Frau nicht herausbekommen, warum die Familienverhältnisse derart zerrüttet waren. Nicht heute. Vielleicht sollte sie den Job einfach annehmen und es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen. Es war ja nicht so, dass sie sich die Aufträge aussuchen konnte.
«Darf ich das Memo haben?»
Franca streckte die Hand aus, und Dr. Frieling reichte ihr die Mappe, ließ sie aber nicht sofort los. Sie klammerte sich daran, als enthielte sie ihre allerletzte Hoffnung. In ihrem Blick loderte Panik auf.
«In unserer Familie ist vieles zerstört worden», sagte sie, und Franca hatte den Eindruck, sie vermied es bewusst, zu dem Porträt über dem Kamin zu schauen. «Silvia ist die Einzige, an der ich alles wiedergutmachen kann. Bitte, finden Sie sie. Finden Sie meine Enkeltochter.»
Dann gab sie die Mappe frei.
Vor sieben Jahren
«Wir finden Isabell, ich verspreche es dir.»
Maries Augen waren rot vom Weinen, in der Hand ballte sie ein Taschentuch, feucht von ihren Tränen.
Jonas konnte den Anblick seiner Frau kaum ertragen. Ihr Schmerz und ihre Angst machten ihn fertig. Weil er sie liebte und beschützen wollte und dieses Unglück doch nicht hatte verhindern können.
«Aber warum hat sie ihre Schuhe im Wald gelassen? Ich verstehe das nicht. Und wo ist TomTom?»
Diese Fragen stellte Marie ein ums andere Mal. Sie klammerte sich an den Rucksack mit Isabells Partyschuhen darin wie an einen Rettungsring, dabei war er im Gegenteil ein Betonklotz, der jede Hoffnung in die Tiefe riss. Weder hatte Isabell sich im Wald verlaufen und ihn dabei verloren, noch hatte sie ihn versehentlich dort liegen lassen. Jonas wusste genau, diese Varianten gingen Marie immer wieder durch den Kopf, dabei ignorierte sie die einzig logische Begründung, auch für die zerrissene Kette des Schlüsselanhängers, und Jonas hatte nicht den Mut, sie auszusprechen.
Er nahm die Hände seiner Frau, sie waren kalt. «Ich muss wieder los», sagte er. «Kann ich dich allein lassen?»
«Wo willst du hin?», fragte Marie. «Deine Kollegen haben doch schon alles abgesucht.»
«Nein, haben sie nicht, das können sie gar nicht. Ich weiß nicht, wo ich suchen soll, aber ich kann nicht hier sitzen und warten.»
Das war gelogen. Jonas wusste, wo er suchen sollte.
Den ganzen Vormittag hatte er draußen auf der Suche nach Isabell verbracht, bis ihn die Erschöpfung übermannte und zu einer Pause zwang. Er hätte ein paar Stunden schlafen müssen, doch daran war nicht zu denken. Denn seitdem Sven-Ole ihn gefragt hatte, ob er sich vorstellen könnte, wer Isabell etwas antun würde, wusste er es.
Noch hatte er mit niemandem darüber gesprochen, denn offiziell war er als Angehöriger an der Suche der Polizeikräfte nicht beteiligt. Aber es war zuallererst seine Aufgabe, dieser einen Sache nachzugehen.
Jonas stand auf und nahm die Autoschlüssel.
Marie folgte ihm zur Tür.
«Ich will mitkommen.»
«Das geht nicht. Jemand muss hier sein für den Fall, dass Isabell heimkommt.»
Jonas sah sie an, sah die Tränen auf ihren Augen, und er wusste, er sollte sie beruhigen, sie umarmen, doch ihm fehlte die Kraft dazu. Alles, was er hatte, brauchte er, um ihre Tochter zu finden.
«Bitte, warte hier, okay?»
Marie nickte.
Sie umarmten sich, dann trat Jonas ins grelle Sonnenlicht hinaus. Die drückende Wärme schlug ihm ins Gesicht. Gebückt ging er zum Wagen, der am Straßenrand parkte, startete den Motor und rollte vom Bordstein, ohne sich noch einmal zu seiner Frau umzudrehen. Ihren Schmerz konnte er nicht ertragen.
Es mochte ziellos wirken, wie Jonas durch die engen Straßen fuhr, war es aber nicht. Er traute sich nur nicht, sein Ziel direkt anzusteuern. Was würde dort passieren? Konnte er sich selbst vertrauen? Er wusste ja, wie er auf den Mann reagierte.
Er fuhr einen weiten Bogen am Waldrand entlang. Halb auf dem Grünstreifen geparkt standen dort fünf Mannschaftstransporter der Polizei. Die Beamten waren allesamt im Wald unterwegs und suchten nach Isabell.
Du hast als Vater versagt.
Der Gedanke tauchte plötzlich auf.
Genau das dachten die Menschen da draußen – und er selbst dachte es auch. Wenn ein Mann wie er seine Familie nicht zu schützen vermochte, dann konnte es niemand, dann verschwanden auf dieser Welt eben dauernd geliebte Menschen, und man hatte es hinzunehmen.
Nein, das würde er nicht zulassen. Jonas wusste, er hatte in seinem Leben viele Fehler gemacht, hatte sich mit seinen Eltern und seinem Bruder überworfen, aber als Vater durfte und konnte er nicht versagen. Isabell war verschwunden, aber noch war es nicht zu spät, noch konnte alles gut werden. Er durfte nur nicht länger mit den anderen durch den Wald rennen. Stattdessen musste er endlich diesen elenden Dreckskerl aufsuchen.
Jetzt. Auf dem kürzesten Weg.
Jonas bremste hart und setzte den Wagen rückwärts in einen abschüssigen Feldweg, wendete und wollte zurückfahren. Auf dem Gras drehten die Reifen durch, der Motor heulte auf, und er musste in den zweiten Gang schalten, um nicht stecken zu bleiben. Plötzlich schoss der Wagen nach vorn und rammte mit dem linken Kotflügel einen Mannschaftstransporter der Polizei. Jonas hielt nicht an. Ein Blechschaden, mehr nicht, davon durfte er sich jetzt nicht aufhalten lassen.
Er gab Gas.
Die Mittagshitze flirrte über dem Asphalt, als er in die Siedlung zurückkehrte. Das Haus stand am Ende der Straße, dahinter begann der Wald, der sich bis zum Haus der Engelmanns ausdehnte. Von hier aus kam man ungesehen zu Fuß dorthin.
Jonas ließ seinen Wagen fünfzig Meter vor seinem Ziel stehen und ging zu Fuß weiter.
Von Weitem sah er im Vorgarten des Hauses ein rotes Planschbecken leuchten. Die Gummiwülste waren merkwürdig verformt, so als laste großes Gewicht auf ihnen, und den Grund dafür erkannte Jonas schnell.
Lang ausgestreckt lag Bernd Vollstedt in dem viel zu kleinen Becken. Das Wasser reichte ihm bis knapp über den dicken Bauch. Den Oberkörper gegen den Beckenrand gelehnt, hingen beide Arme lässig über den Gummiwülsten. In der rechten Hand hielt er eine Bierflasche. Auf seiner Halbglatze spiegelte sich die Sonne, grauweißes Haar bedeckte seine Brust.
Vollstedt sah ihn kommen, rührte sich aber nicht.
Jonas senkte den Kopf und ging weiter, tat so, als wolle er in den Wald. Er hatte nicht damit gerechnet, den Mann vor dem Haus in dieser Position vorzufinden, und wusste nicht, was er tun sollte.
Als er auf Höhe des Planschbeckens war, hob Vollstedt die Bierflasche und sagte: «Viel Glück bei der Suche.»
Jonas blieb stehen. Zwei Sekunden verstrichen, ehe er sich dem Badenden zuwandte. Zwei Sekunden, in denen er sich dazu entschied, alles zu tun, was nötig war.
«Wie bitte?»
Vollstedt trank, setzte die Flasche ab, ließ sie wieder locker über den Rand des Beckens baumeln und schüttelte in einer verständnislos anmutenden Geste den kahlen Kopf.
«Sie vermissen doch jemanden, oder habe ich da etwas Falsches gehört?»
«Ich suche nach meiner Tochter», sagte Jonas.
«Tja, die Kinder … nichts als Ärger. Aber wem sage ich das.»
«Haben Sie Isabell gesehen?»
«Sicher. Hier, dort, überall, ist eine richtige Herumtreiberin, die Kleine.»
Jonas trat dicht an den Gartenzaun.
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Ich will gar nichts sagen.»
«Vollstedt … wenn Sie etwas wissen, dann …»
«Dann was?»
Jonas ballte die Hände zu Fäusten, in seinem Inneren loderte ein Feuer, und er spürte, dass ihm die Kraft fehlte, seine Wut in Schach zu halten.
«Ich will meine Tochter wiederhaben.»
«Tja, vielleicht haben Sie sich nicht gut genug um sie gekümmert, weil Sie sich ja unbedingt in meine Angelegenheiten einmischen mussten, Superbulle. Und jetzt ist es zu spät.»
Jonas verlor die Kontrolle über sich und sprang über den Gartenzaun. Vollstedt ließ die Bierflasche fallen und versuchte, sich in dem Pool aufzurichten, doch der Boden war zu rutschig, er kam nicht schnell genug hoch. Schon war Jonas bei ihm und nahm Vollstedts Kopf in den Schwitzkasten.
«Wo ist meine Tochter?», schrie er.
Vollstedt packte mit beiden Händen Jonas’ Unterarm und zerrte daran. Der Mann war kräftig, lange konnte Jonas der Gegenwehr nicht standhalten. Also lehnte er sich über ihn und drückte ihn hinunter. Vollstedt rutschte über den glatten blauen Boden des Planschbeckens, sein Kopf geriet unter die Wasseroberfläche. Jonas lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht auf den Mann, während Vollstedt zu zappeln begann. Seine nasse Haut war glitschig wie die eines Fisches, er entglitt Jonas, der wegen des fehlenden Widerstandes jetzt selbst kopfüber in das kleine Planschbecken stürzte. Mit dem Gesicht voran landete er zwischen Vollstedts Beinen, schluckte Wasser, kam hoch und kämpfte sich zur Seite. Vollstedt trat nach ihm, traf ihn mehrfach in die Rippen und am Kopf, und für einen Moment fürchtete Jonas, bewusstlos zu werden.
Plötzlich stand Vollstedt neben dem Becken, und Jonas lag darin. Der fassartige Oberkörper des Mannes pumpte unter heftigen Atemzügen, Wasser lief aus seiner engen Badehose zwischen seinen Beinen zu Boden, es sah aus, als würde er pinkeln. Jonas war von den Tritten gegen seinen Kopf benommen, bekam die leise ausgesprochenen Worte aber mit:
«Jetzt bekommst du, was du verdienst», sagte Vollstedt. «Hättest dich nicht einmischen sollen, Superbulle.»
Dann ging Vollstedt ein paar Schritte vom Planschbecken weg und zeigte auf Jonas.
«Helfen Sie mir. Dieser Verrückte will mich umbringen.»
Im nächsten Moment kamen zwei Beamte der Hundertschaft heran, deren Wagen Jonas vorhin gerammt hatte, und zogen ihn aus dem Wasser.
Heute
Das Zweifamilienhaus aus den Siebzigerjahren stand auf einem großen Grundstück in der Siedlung am Mallener Land außerhalb der Stadt. Mit dem Motorrad hatte Franca Lichtenwalter zwanzig Minuten gebraucht, eine akzeptable Zeit für Pendler. Die teuren Grundstücke hier im Speckgürtel konnten sich zunehmend nur noch solvente Käufer leisten, das sah man den neueren Häusern auch an, nicht aber diesem.
Ungepflegt war nicht der passende Ausdruck. Verwahrlost traf es besser. Der Garten glich einem Dschungel. Bäume und Büsche waren längst miteinander verwachsen und bildeten eine grüne, undurchdringliche Wand. An der Hauswand zur Straße hin rankte Efeu empor, umschloss die Haustür und die Fenster, nahm dem Haus alle Konturen und ließ es wie ein Geisterschloss erscheinen. Die dunklen Dachpfannen und die mit grauem Schiefer verkleideten Giebel schufen zusätzlich eine düstere Ausstrahlung.
An den Fenstern hingen blickdichte Gardinen.
Unter dem Carport parkte ein alter knallroter VW Polo.
Hier lebte Gerlinde Frieling.
Die familiäre Trennung zwischen Frau Frieling und ihrer Tochter war konsequent, dachte Franca. Liebe überwand diese Kluft nicht und Geld schon gleich gar nicht.
Was mochte vorgefallen sein zwischen Mutter und Tochter? Oder lag der Grund des Zerwürfnisses länger zurück? War der Vater schuld, dessen Porträt die Villa in der Stadt in ein Gruselkabinett verwandelte?
Franca hatte oft genug hinter die Fassaden scheinbar glücklicher Familien schauen dürfen und die tiefsten Abgründe entdeckt. Hier aber gab es nicht einmal eine Fassade. Der Krieg zwischen Mutter und Tochter wurde mit offenen Karten ausgetragen.
Die große Frage war: Was machte das mit der verschwundenen Silvia?
Franca stieg vom Motorrad, setzte den Helm ab, hängte ihn ans Lenkrad und fuhr durch ihr schulterlanges braunes Haar.
Auf der anderen Straßenseite bewegte sich eine Gardine. Franca ließ sich nicht anmerken, dass sie es gesehen hatte. Natürlich beobachteten die Nachbarn die Straße. Wo war das nicht so? Wenn man es geschickt anstellte und charmant war, erfuhr man von den Leuten fast alles. Mitunter war gerade das, was die Nachbarn nicht verrieten, sogar am aufschlussreichsten.
Franca schoss mit dem Handy ein paar Fotos vom Haus der Frielings. Dabei bemerkte sie ein kleines Fähnchen, das aus dem Efeu neben der Eingangstür ragte. Die blaue Farbe war verblichen, die Ränder ausgefranst, die goldenen Sternchen hatten ihre Leuchtkraft längst eingebüßt.
Die Europaflagge. An so einem Spukschloss?
Franca behielt die Fenster im Blick und ging auf die Eingangstür zu.
Weder gab es ein Namensschild noch eine Klingel. An ihrer statt ragten zwei dünne Kabel aus einem Loch in der Wand neben der Haustür. Dazwischen hatte eine Spinne ihr Netz gewoben. Abwartend lauerte sie in einer Fuge auf Beute. Franca konnte die Beinspitzen hervorlugen sehen, und es lief ihr kalt den Rücken hinab. Sie hasste Spinnen. Hasste alles, was sich hektisch auf vielen Beinchen bewegte.
Sie klopfte. Laut und für jeden im Haus vernehmlich. So lange, bis ihre Knöchel schmerzten und sich drinnen etwas tat.
Zunächst nahm sie leise Geräusche wahr. Eine Klospülung vielleicht, eine Tür, die zufiel, ein Scharren von schweren, müden Schritten.
«Wer ist da?», kam schließlich die Frage dicht hinter der Tür. Ohne Zweifel eine weibliche Stimme, wenngleich auch kratzig und tief.
«Mein Name ist Franca Lichtenwalter. Ich möchte mit Ihnen sprechen.»
«Worüber?»
«Könnten Sie bitte kurz die Tür öffnen?»
Darauf bekam sie keine Antwort. Auch erneutes Klopfen und Rufen führte zu keinerlei Reaktion.
Franca trat einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Hüften und blies die Wangen auf. Diese Frau schien eine Herausforderung zu sein. Aufgeben kam natürlich nicht infrage, sie hatte schon härtere Nüsse geknackt. Wie immer war es eine Frage des richtigen Werkzeugs.
Franca war nicht explizit des Grundstückes verwiesen worden, deshalb beschloss sie, etwas forscher vorzugehen. Sie wandte sich nach links und schlug sich durch das kniehohe Wildblumenfeld an die Nordseite des Hauses. Dort war es schattig und kühl, und die Büsche standen so dicht, dass ein Durchkommen auf den ersten Blick unmöglich erschien. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Franca aber so etwas wie einen Tunnel, den jemand in die Kirschlorbeerbäume, Koniferen und Rhododendren geschnitten hatte.
Sie bückte sich und trat hinein. Über ihr bildeten die Pflanzen ein dichtes Dach, nur wenig Licht drang hindurch. Sie entdeckte Schnittstellen an den dickeren Ästen, die noch nicht allzu alt waren. Es war schon eine merkwürdige Art, seinen Garten zu pflegen, wenn man ihn erst zuwuchern ließ und später mühsam Gänge hineinschnitt.
Diese natürliche Barriere war so lang wie das Haus, vielleicht sechs bis acht Meter. Am anderen Ende trat Franca wieder ins Freie. Das Grundstück war riesig und endete an einem Waldgebiet. Auch hier war der Rasen nicht geschnitten, waren die Beete nicht gepflegt, die Büsche nicht gestutzt. Aber es gab einen Pool. Franca schätzte ihn auf zehn mal vier Meter. Wasser war keines darin, stattdessen war er fast randvoll mit Laub, Ästen und Müll. Von oben war nicht zu erkennen, wie tief der Pool war und wie dick die Schicht aus Gartenabfällen. Ein morastiger, erdiger und lebendiger Geruch stieg daraus empor.
Franca wandte sich vom Pool ab und dem Haus zu. Genau wie vorn waren auch hier alle Fenster mit Gardinen behängt. Eine Ausnahme bildete die von einem Außenrollladen abgeschottete Terrassentür.
Das Haus war ein Bunker. Keine Chance, einen Blick hineinzuwerfen.
Außer vielleicht …
Franca fiel eine alte Holzleiter auf, die an einem Kirschbaum lehnte. Der Baum stand nicht weit vom Haus entfernt, wenn man die Leiter rüberkippte, reichte sie sicher an eines der beiden Fenster oben im Giebel. Das wäre schon ziemlich dreist, aber mit Zurückhaltung wurde man keine erfolgreiche Privatdetektivin.
An den Füßen der Leiter fiel Franca der frisch aufgewühlte Boden auf. Ganz so, als sei schon vor ihr jemand auf die Idee gekommen, über die Fenster einzusteigen.
Hatte es unlängst einen Einbruch gegeben?
Wenn ja, machte sie sich gerade äußerst verdächtig.
Franca überlegte noch, ob sie ihren Plan in die Tat umsetzen sollte, da ratterte und schepperte es plötzlich an der Terrassentür, und der Rollladen schnellte hoch.
Die Terrassentür flog auf.
«Was machen Sie da? Verschwinden Sie von meinem Grundstück!»
Endlich bekam sie Gerlinde Frieling zu sehen.
Die Frau war ähnlich groß wie ihre Mutter, vielleicht eins fünfundsiebzig, hatte dünnes dunkles Haar und ein Gesicht, das früher sicher einmal schön gewesen war. Jetzt war es aufgedunsen und teigig, und die geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen deuteten auf hohen Alkoholkonsum hin. Frau Frieling trug eine übergroße, ausgebeulte graue Jogginghose und ein fleckiges weißes Shirt. Sie war schätzungsweise vierzig Jahre alt.
«Frau Frieling?»
Franca ging mit einem Lächeln auf sie zu.
«Verpissen Sie sich!»
Okay, das war deutlich. Mit Zurückhaltung und Freundlichkeit kam sie hier nicht weit.
«Wenn wir gesprochen haben, vorher nicht», entgegnete Franca.
«Ich rufe die Bullen.»
«Nur zu. Ich warte hier so lange. Und wenn sie kommen, erzähle ich ihnen, dass Sie da drinnen drei Dutzend Katzen unter katastrophalen Umständen halten. Die Bullen werden sich dann auf jeden Fall Zutritt zu Ihrem Haus verschaffen. Ganz schön viel Ärger und Aufregung, um ein kurzes Gespräch zu vermeiden, meinen Sie nicht?»
Darüber schien Gerlinde Frieling nachzudenken. Franca setzte darauf, dass es der Frau unangenehm sein würde, jemanden in ihr Haus zu lassen, vor allem die Polizei. Bei anderen Gelegenheiten hatte diese Strategie wunderbar funktioniert.
«Was wollen Sie?», fragte die Frieling.
«Mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen. Silvia.»
«Ist nicht hier.»
«Und wo finde ich sie?»
«Keine Ahnung, ist ausgezogen, haben keinen Kontakt mehr.»
«Aber Sie sind doch ihre Mutter.»
«Und?»
Für einen Moment fehlten Franca die Worte. War dieser Frau das Schicksal ihres Kindes wirklich egal?
«Interessiert es Sie nicht, wie es Silvia geht?»
Gerlinde Frieling kniff die Augen zusammen.
«Schickt meine Mutter Sie?»
«Ihre Mutter macht sich Sorgen.»
«Hab ich’s doch gewusst. Sie kann es einfach nicht sein lassen.»
Neben der Terrassentür stand ein Besen mit groben roten Borsten und langem Stiel. Den schnappte sie sich, hielt ihn mit beiden Händen wie ein Schwert, kam auf Franca zu und holte zum Schlag aus.
«Runter von meinem Grundstück», schrie sie.
Franca war von dem plötzlichen Angriff überrascht. Sie wich zurück, stolperte über einen Maulwurfshügel und fiel auf den Hintern. Schon war die Frieling über ihr und schlug zu. Der Besen erwischte Franca heftig am Schienbein. Sie schrie auf.
«Verpiss dich!», keifte die Frieling.
Franca griff nach dem Besen, bekam ihn an den Borsten zu packen, doch die Frieling war kräftiger als gedacht und entriss ihn ihr. Augenblicklich holte sie zum nächsten Schlag aus, dem Franca nur entging, indem sie sich zur Seite rollte. Ein Stück weit entfernt kam sie hoch. Ihr rechtes Bein war wie betäubt von dem Schlag.
«Frau Frieling, seien Sie doch vernünftig!»
Aber die wollte nicht vernünftig sein. Mit hocherhobenem Besen ging sie abermals auf Franca los.
Ihr blieb nur der Rückzug.
Humpelnd lief sie auf den Tunnel in den Büschen zu und warf sich hinein. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Besen erneut auf sie niederfuhr.
«Bestellen Sie meiner Mutter einen schönen Gruß», keifte die Frau ihr hinterher. «Ich scheiße auf sie.»
Vor sieben Jahren
«Bernd Vollstedt steckt dahinter, ich weiß es.»
«Du denkst, du weißt es, aber das ist nicht das Gleiche. Jonas … hör zu, du bist an den Ermittlungen nicht beteiligt und musst damit aufhören. Lass uns unsere Arbeit machen. Wir finden Isabell. Ganz sicher.»
«Nein, ihr findet sie eben nicht. Meine Kleine ist seit drei Tagen verschwunden, und was habt ihr? Seit gestern geben sich die Partygäste hier die Klinke in die Hand, aber mich wollt ihr nicht reinlassen?»
Jonas hatte ruhig bleiben wollen, doch er schaffte es nicht. Sven-Ole hatte ihn in der Eingangshalle der Dienststelle abgefangen und ihm klargemacht, dass er ihn nicht hineinlassen würde.
«Wir vernehmen die jungen Leute», sagte Sven-Ole. «Du weißt, wie das läuft.»
Sven-Ole sah beschissen aus, übernächtigt, mit dunklen Ringen um die Augen, seine Kleidung roch nach Schweiß und Nikotin, sein aschfarbenes Haar war ungewaschen. Jonas wusste, sein Freund tat alles, um Isabell zu finden, und es tat ihm leid, ihn so angefahren zu haben.
«Ich will dabei sein», sagte er.
Sven-Ole schüttelte den Kopf. «Auf keinen Fall, und das hast du dir durch deine Aktion bei Vollstedt selbst zuzuschreiben. Ich kann da gar nichts machen, tut mir leid. Anordnung von ganz oben.»
«Bitte … sie ist meine Tochter … das könnt ihr nicht machen. Ich bitte dich, Mann», versuchte er es dennoch.
Sven-Ole schüttelte den Kopf. «Bitte, Jonas, geh nach Haus. Kümmere dich um Marie, sie braucht dich jetzt mehr als wir. Hier kannst du nicht helfen … vor allem nicht in deinem Zustand. Du bist ja gar nicht mehr du selbst.»
«Was ist mit Vollstedt?»
«Wir überprüfen ihn, aber bisher gibt es keine Beweise gegen ihn. Er hat sogar ein Alibi. Ebenso gut kann es jeder andere gewesen sein.»
«Es war aber nicht jeder andere, sondern dieser Mann.»
Jetzt wurde er doch wieder laut. Was blieb ihm anderes übrig? Niemand schien ihm zu glauben, was Vollstedt betraf. Dabei lag es doch auf der Hand. Der Mann hasste ihn, und nun hatte er sich auf die feigste Art und Weise gerächt. Ein wehrloses, unschuldiges Mädchen zu entführen, passte einfach zu diesem widerwärtigen Typen.
«Jonas … beruhig dich», sagte Sven-Ole. «Ich kümmere mich persönlich um Vollstedt, und du bist der Erste, der es erfährt, wenn ich etwas gegen ihn in der Hand habe. Aber noch habe ich nichts.»
«Versprichst du es mir?»
«Ich verspreche es dir.»
Jonas nickte, dann verließ er das Gebäude. Draußen schlug ihm schwülwarme Luft entgegen. Die Sonne brannte von einem milchig-blauen Himmel auf ihn nieder. Am Horizont türmten sich Gewitterwolken auf. Er lief geradewegs auf seinen Wagen zu und stieg ein. Für ein paar Sekunden wusste er nicht, was er tun sollte, dann packten ihn wieder die Wut und Verzweiflung, und er drosch mit Fäusten auf das Lenkrad ein, bis sie vor Schmerz pochten.
Erschöpft sackte er zusammen. Sein Blick ging zurück zu dem Gebäude, in dem er bis vor drei Tagen seinen Dienst verrichtet hatte.
Sie wollten ihn nicht dabeihaben. Kuntze, der Dienststellenleiter, hatte ihn gegen seinen Willen krankgeschrieben. Er sollte zu Hause bleiben, sich um Marie kümmern, die Hände in den Schoß legen und abwarten. Sie verlangten Unmögliches von ihm und wussten das auch.
Jonas verbrannte innerlich, und die Schmerzen trieben ihn in den Wahnsinn. Er schlief nicht, aß nicht, ruhte nicht. Er hielt nicht Maries Hände, nahm sie nicht in den Arm, betete nicht für Isabell. Sein ganzes Sein und Tun war darauf ausgerichtet, sie zu finden. Dabei pulsierte im Hintergrund ständig der Gedanke, dass ein Mann wusste, wo Isabell versteckt war.
Bernd Vollstedt.
Ein Mann, den niemand mochte, mit dem niemand verkehrte, der seine eigene Tochter und seine Frau in der Öffentlichkeit schlug, der soff und randalierte, aufbrausend und gemeingefährlich war. Jonas hatte damals den Fehler gemacht, ihn gegen sich aufzubringen. Hätte er einfach weggesehen, so wie alle anderen auch, dann wäre Isabell noch bei ihnen.
Mit schmerzenden Händen startete Jonas den Motor, legte den Gang ein und fuhr den Wagen vom Parkplatz der Dienststelle. Dabei sah er in den Rückspiegel, weil er hoffte, Sven-Ole würde ihm nacheilen, um ihn doch noch mit zur Dienstbesprechung zu nehmen, doch das geschah nicht.
Dafür sah er etwas anderes, was gar nicht da war: TomTom, den kleinen lila Bären, der eine Weile am Innenspiegel des Wagens gehangen hatte und der in der Nacht von Isabells Verschwinden vom Rucksack abgerissen worden war. Die Spurentechniker untersuchten gerade den Rucksack, und wenn sie irgendeine Faser oder ein Haar daran fanden, etwas, das sie zu Vollstedt führte, wäre es zu spät. Denn wo immer er Isabell versteckt hielt, war sie nun allein. Vollstedt konnte nicht ungesehen dorthin gelangen, denn seit dem Vorfall stand er unter Beobachtung. Isabell würde schlicht und ergreifend in ihrem Gefängnis verdursten. Das war es, was Jonas mit seiner Aktion erreicht hatte. Statt ihr zu helfen, hatte er seiner Kleinen geschadet.
Automatisch lenkte Jonas seinen Wagen Richtung Rotdornallee, wo Bernd Vollstedt lebte. Ein Streifenwagen parkte vor dem Haus. Billiger wäre es, Jonas einzusperren, statt Vollstedt rund um die Uhr bewachen zu lassen, und Jonas wusste, er sollte seinem Chef für diese Maßnahme dankbar sein, doch er war es nicht.
Die Männer im Streifenwagen entdeckten ihn sofort. Man kannte sich.
Einer stieg aus und trat neben den Wagen, um seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren. Er hatte Schweißflecken unter den Armen. Wahrscheinlich hassten sie ihn dafür, dass sie bei dieser Bruthitze stundenlang hier herumsitzen und einen Mann beschützen mussten, den sie nicht mochten.
Jonas wandte den Blick ab, er schaffte es nicht, seinem Kollegen in die Augen zu schauen. Langsam fuhr er an dem Streifenwagen vorbei, gab Gas und ließ eine Viertelstunde später den Wagen vor seinem eigenen Haus ausrollen. Friedlich lag es im Sonnenlicht, die Stauden im Vorgarten blühten in voller Pracht, alles erstrahlte in den schönsten Farben, gleichzeitig schien ein grauer Schleier über allem zu liegen. Die Rollläden waren heruntergelassen, das Leben ausgesperrt. Jonas’ Hände zitterten. Er blieb sitzen, starrte sein Haus an und fragte sich, ob darin je wieder Isabells Lachen erklingen würde. Hier war sie aufgewachsen, durch diese Räume hatte er sie getragen, als sie zahnte und sich überhaupt nicht beruhigen wollte. Jedes Weihnachten hatte sie hier erlebt, und Jonas erinnerte sich schmerzhaft daran, wie er mit einem Schlitten Spuren in den Schnee vorm Wohnzimmerfenster gezogen hatte, damit seine Kleine einen Beweis für die Existenz des Weihnachtsmannes hatte. Sie waren zusammen hinausgegangen in die Eiseskälte, um mit einer Kamera die Spuren zu sichern, und Isabell war mit großer Ernsthaftigkeit und gehörigem Respekt vorgegangen.