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Jean-Michel d'Aron, Sohn von Alain d'Aron, Besitzer des Nobelgasthauses "Zum Weißen Falken" in Paris, wird 1769 geboren. Als Student muss er sich in der Brandnacht von Paris 1793 auf die Flucht begeben. Er hält sich in La Rochelle und Marseille auf, bevor er sich auf den Weg in die Okzitanischen Alpen begibt, um ein Gasthaus zu besichtigen, das zum Verkauf steht. Auf dem Weg macht er Bekanntschaft mit Don Luciano Varini, Anführer eines Verbrecherimperiums, das neben Schutzgelderpressung und Prostitution den Warenschmuggel in den Okzitanischen Alpen kontrolliert. Die Begegnung mit Don Luciano Varini wird für Jean-Michel d'Aron und seine Familie zur Bedrohung.
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Seitenzahl: 1253
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-400-5
ISBN e-book: 978-3-99130-401-2
Lektorat: Dr. Annette Debold
Umschlagfoto: Lightpoet | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Werner Luder
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Ihre Wege führten nach Okzitanien
Band 1 Don Lucianos Imperium
1. In Torino kehrt das piemontesische Königshaus mit seinem Hofstaat wieder ein
Am 20. Mai des Jahres 1814 zog, nach dem Untergang Napoleons, das piemontesische Königshaus mit seinem Hofstaat wieder in die Residenzstadt Turin ein. Die Bewohner von Turin staunten nicht schlecht, als der Hofstaat mit Prunk und Pracht in die Stadt kam. Die Gestalten glichen Mumien. Die Kostüme der Savoyer stammten aus dem vergangenen Jahrhundert. Der neue König von Sardinien-Piemont, Vittorio Emanuele I. stellte die alten Verhältnisse wieder her, als hätte es die Französische Revolution gar nie gegeben. Als Erstes schafften die zurückgekehrten Savoyer die Gleichstellung aller vor dem Gesetz ab und führten wieder feudale Rechte ein; kein Buch und keine Zeitung durften gedruckt werden ohne die Genehmigung einer kirchlichen Kommission. Wer eine Reise unternahm, brauchte ein Leumundszeugnis vom zuständigen Polizeipräsidenten. Die Post aus dem Ausland wurde strengstens kontrolliert, alle Beamten, die eine französische Schreibweise benutzten, wurden entlassen. Die Piemonteser standen nun wieder unter der Schutzmacht der Österreicher. Der Kleinstaat wurde zum Marionettenstaat. Fürst Metternich wurde der Berater, besser gesagt, der Verwalter des Piemont. Dass der Handel zwischen den Piemontesern und den Franzosen bei diesen Verhältnissen zum Erliegen kam, war nur verständlich. Das Königshaus Piemont unternahm alles, damit die Grenze zu Frankreich unter bester Kontrolle war. Der Reise- und Handelsverkehr zwischen dem Piemont und Frankreich wurde vollständig unterbrochen. Die Schließung der Landesgrenze hatte für die Bewohner der okzitanischen Bergtäler fatale Folgen. Die vielen Wagenführer, Kutscher und Säumer waren auf einen Schlag ohne Verdienst. In den Gasthäusern blieben nicht nur die Fremden aus, sondern auch die Einheimischen. Die Regierung stellte den Unterhalt der Handelswege ein. Was dazu führte, dass die Wegemacher ohne Arbeit waren. Die Baumeister und Kunstschmiede waren ebenfalls ohne Arbeit. Die Okzitanier mussten ihre Kunstarbeiten wieder in den weit entlegenen Städten verkaufen. Die Armut kehrte in die okzitanischen Bergtäler zurück. Es dauerte nicht lange, bis in den Bergtälern eine Auswanderung einsetzte. Die Zurückgebliebenen waren wiederum die alten und kranken Menschen. Das Landwirtschaftsland verwilderte, und auf den Alpweiden gab es sozusagen kein Vieh mehr. Die Zeit der Savoyer mit ihrer reaktionären Regierungsweise sollte noch bis zum Jahr 1859 dauern. Im Unabhängigkeitskrieg 1859, bei einer Doppelschlacht, Solferino und San Martino, am Gardasee, siegten die Piemonteser und Franzosen gegen die Österreicher. Im Jahr 1861 wurde das Königreich Italien ausgerufen. König wurde Vittorio Emanuele von Sardinien-Piemont. Turin wurde Hauptstadt von Italien, aber nur bis ins Jahr 1865, danach wurde Florenz Hauptstadt und kurze Zeit später Rom.
2. Die okzitanischen Handelswege
Im Laufe der Zeit entwickelten sich die Schmugglerpfade in den Okzitanischen Alpen zu passablen Handelswegen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bei den Fehden zwischen Habsburg und Frankreich, kam der Handels- und Reiseverkehr auf den okzitanischen Handelswegen zum Erliegen. Die Handelswege wurden nur noch von Schmugglern benutzt. Den Bewohnern der okzitanischen Bergtäler entgingen somit wichtige Einnahmequellen. Sie mussten allein aus den Erträgen der Landwirtschaft und ihrem Kunsthandwerk leben. Die Armut in den okzitanischen Bergtälern nahm deshalb rasant zu. Viele Bergbewohner, vor allem die jungen Männer, mussten auswandern, um in der Fremde Geld zu verdienen. Für die Zurückgebliebenen war das Leben sehr hart. Monsieur Tod kam ins Tal herein. Er marschierte talauf und talab. Er setzte sich an die Betten der schwer kranken Menschen. Ihm waren alle Menschen willkommen. Ob jung oder alt.
Im Jahr 1798, als Napoleon das Piemont besetzte, gab es für die Menschen am Okzitanischen Handelsweg wieder einen Lichtblick. Die Tal- und Bergbewohner gingen gemeinsam ans Werk. Sie setzten den vernachlässigten Handelsweg wieder instand. Es vergingen nur wenige Monate, bis der Weg durchgehend repariert war. Danach setzte bald der Handels- und Reiseverkehr erneut in vollem Umfang ein. Für die okzitanische Bevölkerung entstanden wieder Verdienstmöglichkeiten, indem sie den Reisenden die verschiedensten Dienstleistungen anbieten konnten. Am größten war die Nachfrage im Bereich der Verpflegung. Wer Speise und Trank sowie Nachtlager anbieten konnte, profitierte am meisten vom Verkehr auf den Handelswegen. Es waren vor allem die Warenagenten und -händler, welche das Geld für Speis und Trank ausgaben. Insbesondere für alkoholische Getränke, wie Wein und Branntwein. Die Wagenmacher und die Hufschmiede sowie die Sattler hatten aber auch einen ansehnlichen Verdienst. Denn es gab immer etwas zu reparieren. Sei es, einen Wagen instand zu setzen, ein Pferd zu beschlagen oder einen Sattel zu flicken.
Am Handelsweg entlang wurden Gasthäuser, Wagen- und Warenscheunen, Stallungen und Wohnhäuser gebaut. Da der Handelsweg wieder stark benutzt wurde, entstanden dementsprechend Wegschäden. Die größten Schäden am Handelsweg wurden aber durch Unwetter hervorgerufen. Und die waren reichlich an der Zahl. Somit überbrachte eine Delegation der Regierung in Paris ein Gesuch, mit der Bitte, die großen Kosten für den teuren Unterhalt des Handelsweges mitzufinanzieren. Ein halbes Jahr später entsprach die königliche Regierung dem Gesuch. Zur Überraschung der okzitanischen Bevölkerung erklärte sich die Regierung in Paris bereit, die ganzen Kosten für den Wegunterhalt zu übernehmen. Dies geschah nicht aus Liebe zu der okzitanischen Bevölkerung.
Der König interessierte sich kaum für die okzitanische Bevölkerung. Es war vielmehr Berechnung. Die französischen Truppen waren im Piemont stationiert. Also war man an einer direkten Landverbindung von Turin nach Marseille interessiert. Der Waffennachschub für die Schlachten musste sichergestellt sein. Der Entscheid aus Paris erfreute die okzitanische Bevölkerung. Nun waren sie eine der größten Ausgabequellen los. Zu erwähnen ist noch, dass der Handelsweg zuvor zum größten Teil im Frondienst unterhalten wurde.
In der Folge entstanden dank dem positiven Bescheid aus Paris neue Arbeitsplätze. Was ein weiteres Auswandern der jungen Leute etwas bremste. Natürlich zogen die jungen Menschen nicht nur aus, weil sie keine Arbeit fanden, auch weil das Leben in der Bergwelt karg und öde war. Zudem gab es immer mehr junge Menschen, die nach Marseille zogen, wo sie die Gelegenheit hatten, sich weiterzubilden. Oder ein Studium an der Marseiller Universität anzufangen.
Eine weitere lukrative Einnahmequelle stellte der Verkauf der verschiedensten Handwerks- und Kunstarbeiten dar. Dadurch, dass nun ein großer Teil der okzitanischen Erzeugnisse am Handelsweg verkauft werden konnte, wurde den Herstellern und Händlern der weite Weg in die Städte erspart. Der Verkehr auf den okzitanischen Handelswegen nahm kontinuierlich zu. Es kam die Zeit, da fehlte es an allen Enden an Arbeitskräften. Die Abwanderungen der jungen Leute, welche die Bergtäler in der Vergangenheit verlassen hatten, fehlten nun. Es fehlten vor allem Wagenführer und Säumer. Für diese schweren Arbeiten kamen nur junge, kräftige Männer infrage. Eben die Männer, welche die Bergtäler aus wirtschaftlichen und anderen Gründen verlassen hatten. Die Wagenführer mussten große Erfahrung mit dem Lenken von mehrspännigen, schweren Transportwagen in den Bergen haben. Diese Voraussetzungen erfüllten bloß wenige Männer. Und für den Warentransport über die Berge kamen nur junge Männer infrage, die mit den Bergen bestens vertraut waren. Der Warentransport über die Bergübergänge war mit etlichen Gefahren verbunden. Der Säumer kam überall dort zum Einsatz, wo die Handelswege nicht befahrbar waren. Neben dem Warentransport brauchte es ebenfalls Männer mit Bergerfahrung für den Personenverkehr. Die sogenannten Reisebegleiter, deren Aufgabe darin bestand, die Reisenden heil über die hohen Berge zu bringen. Natürlich waren sie auch für das Gepäck der Reisenden verantwortlich. Dazu verwendeten sie, je nach der Menge des Gepäckes, ein oder zwei Maultiere. Für die Reiseagenten war es alles andere als einfach, Männer für diese Aufgaben zu finden. Die meisten Männer, die Bergerfahrungen aufwiesen, waren gegenüber fremden Menschen nicht allzu gut gesinnt. Es kam noch hinzu, dass die okzitanischen Männer im Allgemeinen wortkarge, in sich gekehrte Menschen waren. Die Männer aus der okzitanischen Bergwelt eigneten sich somit nicht unbedingt als Reisebegleiter. Es fand sich aber gleichwohl eine Handvoll Okzitanier, die sich für diese Aufgabe instruieren ließen. Doch reichte dies nicht aus. Für die fehlenden Reiseführer mussten sich die Reiseagenten in der okzitanischen Bergwelt die Schuhe ablaufen. Obwohl sich die Männer bei ihnen zuhauf meldeten. Leider eigneten sich die meisten dieser Leute nicht, da sie keine oder nur geringe Bergerfahrungen aufwiesen. Nicht wenige von ihnen kamen aus der großen Hafenstadt Marseille. Die Männer nahmen lange, beschwerliche Märsche auf sich, um bei einem okzitanischen Reise- oder Warenagenten eine Anstellung zu bekommen. Doch war der weite Weg ins okzitanische Bergtal nicht für alle umsonst. Der eine oder andere hatte Glück, eine Anstellung zu erhalten. Von den Säumern und Reisebegleitern wurde vieles abverlangt. Sie mussten mit den Gefahren auf dem Weg über die hohen Bergübergänge vertraut sein. Sie mussten mit den Launen des Bergwetters vertraut sein. Ihnen musste bekannt sein, wie schnell sich der strahlend blaue Himmel in ein grauschwarzes Monster verwandeln konnte. Ihnen musste bekannt sein, wie rasch sich ein lauer Sommerwind in einen reißenden Sturm verwandeln konnte. Sie mussten wissen, wie man sich bei Unwettern in den Bergen verhielt. Ihnen musste bekannt sein, an welchen Stellen die Gefahr von Lawinen und Steinschlag bestand. Zudem musste ihnen bekannt sein, dass sich nach einem Unwetter der Regen in Schnee verwandeln konnte. Die Säumer und Reisebegleiter mussten den Weg finden, wenn er unter den Schneemassen begraben war. Es bestanden tatsächlich viele, harte Anforderungen an die Männer. Da war es nur verständlich, dass man die einheimischen Männer den Männern aus dem Flachland vorzog. Hinzu kam, dass die okzitanischen Einwohner zuverlässige und fleißige Leute waren.
Der Personen- und Reiseverkehr über die okzitanischen Bergübergänge verlief lange Zeit reibungslos. Die Warenhändler und Reiseagenten verdienten gutes Geld. Aber auch die Säumer und Reisebegleiter profitierten vom zunehmenden Reise- und Warenverkehr auf den okzitanischen Handelswegen. Die große Nachfrage nach ihnen erlaubte es, für ihre schweren und gefährlichen Arbeiten mehr Geld zu verlangen. Das missfiel den habgierigen Agenten. So kam es, dass einige der Agenten in Marseille und Umgebung Männer für den Warentransport und die Reisebegleitung über die Berge anheuerten. Männer, die absolut keine Bergerfahrung hatten. Den Agenten war bewusst, dass diese Männer den anspruchsvollen Aufgaben nicht gewachsen waren. Für sie zählte nur eines, das Anhäufen von Geld. Zudem vertrauten sie darauf, dass sich die erfahrenen Säumer und Reisebegleiter der unerfahrenen Männer annahmen. Was nicht der Fall war. Im Gegenteil. Es kam unter den Einheimischen und Fremden zu unliebsamen Auseinandersetzungen. Dadurch, dass immer mehr fremde Männer auf den okzitanischen Handelswegen eingesetzt wurden, kam es zu einem Zerfall der Löhne. Das Einkommen der okzitanischen Säumer und Reisebegleiter verkleinerte sich von Monat zu Monat. Die Einwohner der okzitanischen Täler hegten auf die auswärtigen Männer und auf die Agenten einen großen Groll. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen sogar Menschen ums Leben kamen. Die Gewalttaten in den okzitanischen Bergtälern nahmen dermaßen zu, dass die Landespolizei in Marseille Verstärkung anfordern musste.
Die Einwohner der okzitanischen Bergtäler versanken in Resignation. Der Traum von einem besseren Leben verblasste zusehends. Der Reise- und Warenverkehr wurde zu zwei Dritteln von auswärtigen Männern bestritten. Während in den Bergen die Unerfahrenheit und Unzuverlässigkeit der Männer aus dem Flachland zu schrecklichen Unfällen führte, saßen ihre Vorgänger zu Hause oder reisten umher, um eine neue Arbeit zu finden. Die gierigen Waren- und Reiseagenten erkannten zu spät, dass der Einsatz dieser unerfahrenen und zum Teil kriminell veranlagten Männer ihren Untergang herbeiführte. Sie erkannten zu spät, dass einige der Männer in Marseille zum organisierten Verbrechen gehörten. Diese Männer ließen sich nur aus einem Grund anheuern. Sie hatten es auf die Handelsware abgesehen. So kam es, dass die Warendiebstähle stark zunahmen. Die kriminellen Männer begründeten den Warenverlust dadurch, dass sie in den Bergen von Banditen überfallen wurden. Und es an ein Wunder grenze, dass sie von den Übeltätern nicht umgebracht wurden.
Hätten sich die Warenagenten Zeit und Mühe genommen, hätten sie schnell herausgefunden, dass die angeblich gestohlene Ware im Piemont auf dem Schwarzmarkt verhökert wurde. Aber diese Herren ließen sich nicht so tief herab, dass sie den weiten Weg über die Berge auf sich genommen hätten. Während sich Männer für sie in den Bergen schwertaten, saßen sie in den feudalen Schankstuben, wo sie sich stundenlang mit den Spielkarten vergnügten. Natürlich sorgten sie auch für ihr leibliches Wohl.
Es kam dann die Zeit, in der die Trabanten ihnen nacheiferten. Sie verbrachten die Zeit zwar nicht in den feudalen Schankstuben, sondern in den düsteren Spelunken, von denen es an den okzitanischen Handelswegen einige gab. Diese Männer machten sich kein Gewissen, was die liegengebliebene Handelsware oder die wartenden Reisenden anbelangte. Der einst so gute Ruf der okzitanischen Handelswege war dahin. Die viel gelobte Zuverlässigkeit der Säumer und der Reisebegleiter verwandelte sich in das Gegenteil. Die Unzuverlässigkeit sowie die kriminellen Machenschaften der Säumer und Reisebegleiter wurden beiderseits der Landesgrenzen bekannt. Vor allem waren es die Reisenden, welche die unzumutbaren Zustände, die auf den okzitanischen Handelswegen herrschten, in die Lande hinaustrugen. So kam es, dass der Reiseverkehr auf den Handelswegen beinahe zum Stillstand kam. Der starke Rückgang der Reisenden schadete den Schankhäusern und vielen anderen Dienstleistungsbetrieben. Wie etwa den Hufschmieden, Coiffeuren, Kleidergeschäften und vielen anderen.
Da die Reiseagenten auf eigene Rechnung arbeiteten, mussten sie sich wenigstens nicht vor Repressalien gegen sie fürchten. Sie machten sich einfach auf den Weg nach Marseille. Für diese Art Menschen gab es dort genügend Verdienstmöglichkeiten. Bei den Warenagenten sah es etwas anders aus. Diese waren Untergebene von meist großen Warenhändlern. Sie arbeiteten auf Provisionsbasis. Die Provision wurde ihnen dann ausbezahlt, wenn die Ware ihr Ziel erreicht hatte. Aber sie hafteten für die Ware, sobald sie sich auf den okzitanischen Handelswegen befand. Die meisten Warenagenten standen im Dienst skrupelloser Geschäftemacher aus Marseille. Da mussten die Warenagenten bestimmt mit Repressalien rechnen, wenn sie sich die Ware stehlen ließen oder sie in den Warenlagern liegen blieb. Und dies war oft der Fall. Die Warenlager häuften sich zusehends an. Die Warenagenten verloren die Kontrolle über den Säumern. Sie gaben sich intensiv dem Kartenspiel und anderen Vergnügungen hin, um das Gebaren der Säumer und Reiseführer zu durchschauen. Erst als sie Besuch von ihren Auftraggebern erhielten, gingen ihnen die Augen auf. Zwei Warenagenten bezahlten für ihre Versäumnisse mit dem Leben. Ihre Leichen wurden etwas oberhalb von Guillestre auf dem Grund der tiefen Combe du Queyras entdeckt. Ihre zerschmetterten Leiber lagen auf einer Geröllbank des Bergflusses Guil. Als bekannt wurde, dass die beiden Warenagenten mit zerschmetterten Leibern auf dem Grund der Combe du Queyras gefunden worden waren, ergriffen die restlichen Warenagenten bei Nacht und Nebel die Flucht.
Einige Tage später trafen sich in Guillestre sechs Männer, deren Visagen Bände sprachen. Es konnte sich bei den Männern nur um Mitglieder des organisierten Verbrechens aus Marseille handeln. Hinzu kam, dass der Warendiebstahl stetig zunahm. Die Landespolizei hatte nicht genug Leute, um all die Warenlager zu beschützen. Die Diebe wurden immer dreister. Sie gingen so weit, dass sie nachts ganze Wagenladungen in den Lagern entwendeten und sich auf den Weg in die am nächsten gelegene Stadt machten, wo sie ihr Diebesgut an Hehler verkauften. Aber einen großen Teil der Ware horteten sie in sicheren Verstecken, wie zum Beispiel in Felshöhlen. Wovon es in den Bergtälern genug gab. Das Desaster führte schlussendlich dazu, dass der eine oder andere Warenagent Todesdrohungen erhielt. Dies nicht nur von der Bevölkerung der Bergtäler, sondern auch von ihren Auftraggebern.
Schon bald trafen in den okzitanischen Bergtälern neue Waren- und Reiseagenten ein. Sie wurden vor allem von den großen Handelsbetrieben in Marseille unter Vertrag genommen. Diese Agenten brachten neuen Wind in die Täler. Alle einheimischen Männer, soweit sie sich noch in den Bergtälern befanden, wurden von den Agenten angeheuert. Die Agenten boten den Einheimischen das Doppelte von dem, was ihre Vorgänger bezahlten. Bis auf einige wurde das Angebot von Einheimischen dankbar angenommen. Die wenigen, die nicht zusagten, stellten an die Agenten Bedingungen. Sie verlangten, dass sämtliche Säumer und Reisebegleiter, welche den Anforderungen nicht entsprachen, umgehend entlassen werden müssten. Dem willigten die Agenten ein, da es so oder so ihr Ziel war, diese Männer zu entlassen. Es kam wieder Leben in die Täler. Die zum Bersten gefühlten Warenlager leerten sich nach und nach. Die Reisenden mussten nicht mehrere Tage in den Gasthäusern ausharren, bis sie einen Reisebegleiter fanden. In den okzitanischen Bergtälern zog der Frieden ein. Die Kriminalität nahm ab. Die Zahl der Reisenden nahm von Woche zu Woche zu. Die Zunahme des Reise- und Handelsverkehrs bewirkte, dass sich allerlei Geschäftemacher an den okzitanischen Handelswegen niederließen. Die meisten von ihnen waren Verkäufer von allerlei neuartigem Krimskrams. Ja sogar Bordellbetreiber und Zuhälter verschlug es in die okzitanischen Bergtäler. Die meisten von ihnen blieben aber nicht lange, da ihnen die Einheimischen deutlich zu verstehen gaben, dass sie nicht erwünscht waren. Die Bewohner der okzitanischen Bergtäler waren über den Zuzug der Fremden zwar nicht besonders glücklich. Anderseits brachten die Fremden Geld und schafften Arbeitsplätze. Dank dem regen Reiseverkehr konnten die Einheimischen einen großen Teil ihrer handwerklichen Erzeugnisse zu Hause verkaufen. Dies ersparte ihnen manch langen Marsch in die nächstgelegenen Städtchen.
Das okzitanische Kunsthandwerk war in den piemontesischen wie in den französischen Bergtälern von einer großen Vielfalt geprägt. Da gab es die Kunstschmiede, die weit und breit die schönsten Schmiedearbeiten herstellten. Auf ihren Ambossen entstanden die kunstvollsten Fenstergitter und Treppengeländer. Ja sogar Möbel, wie Tische, Stühle und Betten, schmiedeten sie. Dazu kamen die eisernen Kirchturmverzierungen und die wunderschönen Wirtshausschilder.
Neben dem eisernen Kunsthandwerk gab es das tönerne Kunsthandwerk. Die okzitanischen Tonarbeiten bezogen sich vor allem auf das Herstellen der bekannten Santons. Santons waren biblische Personen in Miniaturform. Der Begriff Santon stammt vom provenzalischen Wort Santon, was so viel wie „kleiner Heiliger“ heißt. Die Santons bestanden aus gebranntem und angemaltem Ton. Sie waren damals die Seele der Okzitanier. Diese wunderbaren Tonfiguren fehlten beinahe in keiner okzitanischen Weihnachtskrippe. Nun gab es neben den eisernen und tönernen Kunstwerken auch noch die Weberkunst der okzitanischen Frauen. In den einfachen Stuben der okzitanischen Familien wurden die schönen bunten Stoffe gewoben. Diese Stoffe wurden weit über Frankreich hinaus bekannt.
Dadurch, dass die Reisenden das okzitanische Kunsthandwerk kauften, wurde es in aller Herren Ländern bekannt. Bald kamen Warenhändler aus Marseille und anderen Städten in die Bergtäler, um ganze Wagenladungen zu ergattern. Die kunsthandwerklichen Erzeugnisse gelangten von Marseille aus über den Seeweg in die ganze Welt hinaus. In Paris war die okzitanische Kunst aus den Bergtälern sehr beliebt. Die Bekanntheit des okzitanischen Kunsthandwerkes führte dazu, dass immer mehr Menschen in die Bergtäler kamen. Die Reisenden schwärmten in ihrer Heimat von der Handwerkskunst der Okzitanier. Aber nicht nur das. Sie erzählten auch von der Schönheit der Berge und der Faszination, sie zu überqueren. Sie beschrieben das unbeschreibliche Gefühl, das einen ergriff, wenn man den höchsten Punkt des Weges erreicht hatte, von dem man bei guter Sicht in die weite Bergwelt hineinsehen konnte. In ein fremdes Land. In ein Land, in dem die Menschen anders lebten. Eine andere Kultur gepflegt wurde. Natürlich berichteten sie auch von ihren erlebten Abenteuern. Wobei sie oft etwas übertrieben. Da die Weitererzähler die Abenteuergeschichten ihrerseits auch noch ausschmückten, weckte dies bei vielen jungen Menschen die Abenteuerlust.
Die Reisenden auf den okzitanischen Handelswegen waren mit den verschiedensten Zielen und Missionen unterwegs. Doch die häufigsten Reiseziele waren die Städte Torino und Marseille. Unter den Reisenden befanden sich auch Leute, die allein wegen der faszinierenden Bergwelt die Hürde auf sich nahmen, die Pässe zu überqueren. Dies war für sie sehr lohnend. Denn die okzitanischen Handelswege verliefen durch einzigartige Landschaften. Die Route Piemont–Guillestre war eine besonders faszinierende Wegstrecke. Die Reise aus dem Piemont führte durch das wilde Valle Varaita, hinauf zum hochgelegenen Grenzübergang Col d’Agnel. Der Aufstieg zum Bergübergang, wo sich die Landesgrenze befand, war zwar eine anstrengende Arbeit. Doch einmal oben angelangt, wurde der Reisende mit einer herrlichen Sicht über die Alpen belohnt. Falls das Wetter es zuließ. Zudem konnte er sich an den spielenden Murmeltieren erfreuen. Der Abstieg nach dem kleinen Städtchen Château du Queyras führte die Reisenden durch das weit offene, friedliche Tal der Aiguille Sobald die imposante Burg von Château du Queyras in der Tiefe des Tales zu sehen war, wurde es den Reisenden warm ums Herz. Die Ankunft in Château du Queyras ließ sie dann alle Strapazen vergessen. Man konnte Durst und Hunger stillen. Sich frisch machen und sich darüber freuen, die Reise weitaus auf Pferdewagen fortsetzen zu können. Es gab auch Reisende, welche sich in Château du Queyras nach einem Nachtlager umsahen, da ihnen die Weiterreise zu anstrengend war. Es hing davon ab, zu welcher Tageszeit sie in Château du Queyras ankamen. Die Witterung spielte ebenfalls eine Rolle. Das Angebot der Nachtlager war zwar nicht überwältigend. Vor allem waren viele der Unterkünfte unsauber. Zudem befanden sich die Schlafgemächer meistens neben oder über den Stallungen. Somit waren die Gemächer mit dem Duft von Tierfäkalien erfüllt. Natürlich gab es an den okzitanischen Handelswegen auch angenehme Schlafgemächer. Ja sogar feudale Schlafgemächer. Nur waren diese den Reisenden der oberen Schicht vorbehalten. Eine Zeit lang war das Gasthaus zu den Drei Routen unterhalb von Château du Queyras bei den noblen Reisenden eine sehr gefragte Übernachtungsstätte. Später wurde das Gasthaus aber von ihnen gemieden, da die Trunksucht des Gastwirtes dazu führte, dass das Gasthaus nach und nach verkam. Es gab allerdings viele Reisende, die setzten die Reise fort, um im Städtchen Guillestre die Nacht zu verbringen. Dort war das Angebot der Nachtlager bedeutend größer als in Château du Queyras und Umgebung. Doch gab es Situationen, da in Château du Queyras für die Reisenden Endstation war. Dies war vor allem bei starkem Unwetter oder überraschendem Schneefall der Fall. Aber auch für Reisende, welche erst vor dem Einnachten in Château du Queyras eintrafen. Die Weiterreise durch das wilde Val Guil nach Guillestre war bei Dunkelheit zu gefährlich. Reisende, deren Weiterreise über den Col d’Izoard führte, waren gezwungen, die Nacht in Château du Queyras zu verbringen, da der Weg über den Col d’Izoard nach Briançon sehr anstrengend und weit war. Den Reisenden nach Guillestre stand das gefährlichste und zugleich faszinierendste Stück Weg bevor. Der Handelsweg führte unterhalb von Château du Queyras in die Wildnis des Val Guil. Im unteren Teil des Bergtales stieg der Weg an, wo er dann in schwindelerregender Höhe an den Felswänden der Combe du Queyras entlang verlief. Der Handelsweg über den Col d’Izoard nach Briançon war zwar nicht so abenteuerreich wie der Weg durch das wilde Val Guil. Dafür führte er durch schöne Landschaften. Ab Château du Queyras verlief er durch die sanfte Landschaft des Vallée d’Arvieux, hinauf zum Col d’Izoard. Der Aufstieg zum Col d’Izoard faszinierte durch den Anblick der schneeweißen Felsrücken, auf der anderen Seite des Col d’Izoard führte der Handelsweg durch eine imposante, wilde Landschaft, hinab nach Briançon. Briançon, das höchstgelegene Städtchen Europas, das sich am Ende des Val Durance befindet. Dort, wo der Fluss Durance oberhalb des Städtchens seinen Anfang hat. Auf der Route Château du Queyras–Briançon war der Waren- und Reiseverkehr weitaus geringer als auf der Hauptroute Torino–Col d’Agnel–Marseille. Der Col d’Agnel stellte die wichtigste Verbindung zum Ausland dar. Über diese Route wurden Jahr für Jahr große Mengen an Waren transportiert. Die Menge der transportierten Ware zwischen dem Piemont und Frankreich hielt sich ungefähr die Waage.
Beim Personenverkehr verhielt es sich anders. Es reisten bedeutend mehr Piemonteser nach Marseille als Franzosen nach Torino. Dies war zweifellos dem Hafen von Marseille zuzuschreiben. Marseille, die Weltstadt. Marseille, das Tor zur Welt. In Marseille konnte man die Schiffe besteigen und in die Welt hinausfahren. Es war aber keinesfalls so, dass all die Reisenden aus dem Piemont die Absicht hatten, in Marseille ein Schiff zu besteigen. Da im Hafen von Marseille ein großer Warenhandel stattfand, zog es Warenhändler und andere Geschäftemacher aus allen Himmelsrichtungen an. Da machten die Piemonteser keine Ausnahme.
Natürlich reisten nicht alle Piemonteser wegen des Handels nach Marseille. Schließlich bot die Weltstadt Vergnügungen aller Art an. Marseille war zum Beispiel bekannt für seine luxuriösen Bordelle. Allein diese Tatsache war für viele wohlhabende Piemonteser ein Grund, in die weit entfernte Stadt zu reisen, obwohl es in Torino mehr als genug Bordelle gab. In Marseille wurde aber diesbezüglich einiges mehr geboten. Was die Preise für die Liebesdienste anging, so waren diese je nach Etablissement verschieden. Im Großen und Ganzen waren die Liebesdienste in Marseille bedeutend tiefer als in Torino. Zudem wurden in den feudalen Bordellen von Marseille sehr junge, exotische Frauen, besser gesagt, Mädchen angeboten. Da einem Teil der Herren aus der Oberschicht Prostituierte nicht jung genug sein konnten, bevorzugten sie die Bordelle, in denen Kinder angeboten wurden. Sei es Mädchen oder Knaben. Ein anderer Teil aus der Oberschicht bevorzugte exotische Frauen und Mädchen. Frauen und Mädchen, die von brutalen Menschenhändlern in ihrer Heimat entführt wurden, um sie in den Schiffsbäuchen nach Marseille zu bringen. In Marseille florierte nicht nur der Schwarzmarkt mit Waren, sondern auch mit Menschen. Umso tragischer war es, dass die Bordellbesitzer mit den exotischen Frauen und Mädchen am meisten Geld machten. Dieser Umstand führte dazu, dass immer mehr Frauen und Mädchen aus den fernöstlichen Ländern nach Marseille entführt wurden. Da in den feudalen Bordellen der Adel, bestehend aus Richtern, Politikern und hohen Polizeioffizieren, verkehrte, mussten die Bordellbesitzer nicht mit Repressalien rechnen. Man stelle sich vor, wie den Frauen und Mädchen zumute war, als sie sich zum ersten Mal den alten, fetten, nach Schweiß riechenden Männern hingeben mussten. Natürlich gab es in Marseille nicht nur Bordelle für den Adel. Da gab es auch Bordelle für Männer, welche für ihr Geld hart arbeiten mussten. Wie zum Beispiel die Handwerker und die Seemänner. Neben den billigen Bordellen wurde der Liebesdienst überdies auf den Straßen, in den dunklen Gassen sowie in den verkommenen Schankstuben angeboten. Für die Zuhälter war das Gebiet im und um den Hafen das lukrativste. Da wo Schiffe vor Anker gehen, gehen meistens Seemänner von Bord. Männer, die während der langen Fahrt über die Weltmeere gegen ihre Enthaltsamkeit ankämpfen mussten. Diese Männer waren in puncto Frauen nicht wählerisch. Sie bezahlten meistens die erste Dirne, die ihnen über den Weg lief. Da sie auf ihren Schiffen nur wenig Geld ausgeben konnten, hatten sie genügend, um sich bei mehreren Dirnen abzureagieren.
Eine weitere Vergnügung in Marseille war das illegale Kartenspiel sowie illegale Wetten. Auch hier mischte die Obrigkeit kräftig mit. Die Kartenspiele und die Wetten fanden in den Hinterzimmern zweifelhafter Schankstuben und Privatgemächer statt. Dabei wurden Unsummen von Geld umgesetzt.
Es war aber nicht so, dass das Volk nur wegen des Vergnügens nach Marseille gereist wäre. Marseille war bekannt für eine hervorragende Küche. Es gab viele exklusive Speiselokale, deren Namen weit in die Lande bekannt waren. Manch vermögender Piemonteser reiste mit seiner Gattin oder Freunden allein wegen des guten Essens in die Weltstadt. Die Piemonteser genossen es, in den Speiselokalen zu essen, wo sich der Adel Frankreichs aufhielt. In den vorzüglichen Speiselokalen waren vor allem Leute aus dem Ersten und Zweiten Stand des Adels anzutreffen (Adel und Klerus).
Neben den kulinarischen Köstlichkeiten hatte Marseille eine reichhaltige Kunst anzubieten. Sei es die Architektur von imposanten Gebäuden oder das große Angebot an wunderschönen Malereien. Ebenfalls an Geschichtlichem fehlte es nicht.
Im Weiteren standen den Besuchern eine imposante Oper sowie eine beachtliche Anzahl von Theaterbühnen und Konzertsäle zur Verfügung. Marseilles Universität und Gymnasien bildeten einen weiteren Anziehungspunkt für Fremde. An der Universität von Marseille studierte erstaunlicherweise eine beachtliche Zahl Piemonteser. Obwohl die Universität von Torino einen ausgezeichneten Ruf genoss, zog es junge Männer nach Marseille, um dort zu studieren. Wahrscheinlich spielten da die Abenteuerlust sowie die Sehnsucht nach dem großen Meer eine gewichtige Rolle. Auch diese jungen Männer reisten über den Col d’Agnel nach Marseille.
Marseille war so oder so eine Reise wert. Marseille, das am Golf von Lyon, in einer Bucht des Mittelmeeres lag, war die wichtigste Handelsstadt Frankreichs. An keinem Ort war der Warenumschlag größer als im Marseiller Hafen. Aber in keinem Hafen Frankreichs, wenn nicht der ganzen Welt, war der Schwarzhandel so groß wie in Marseille. In den Bäuchen der Schiffe befanden sich große Mengen Waren, welche für die Schwarzhändler bestimmt waren. Die illegalen Ladungen bestanden aus exotischen Tieren, Pflanzen, Branntwein, Opium und anderen Gütern. Dazu gehörten die Frachten der Menschenhändler, welche aus verschleppten Frauen, Mädchen und Jungen bestanden. Eine Fracht, die hauptsächlich für die feudalen Bordelle bestimmt war. Wer den Ansprüchen der Bordellbesitzer nicht entsprach, wurde als Sklave an die Obrigkeit verkauft. Natürlich waren auch kriminelle Organisationen aus dem Piemont am Schwarzhandel und am Menschenhandel beteiligt. Die Piemonteser waren auf dem Marseiller Schwarzmarkt gern gesehene Kunden. Sie waren zahlungskräftig und zuverlässig. Die Piemonteser gehörten damals zur Elite der europäischen Schmuggler. Für die Sklaven, die vorwiegend aus südlichen Ländern stammten, war der Marsch über den Col d’Agnel, und dies bei Nacht, eine schreckliche Tortur.
3. Luciano Varini, Don Edoardo Varinis Erbe
Der Piemonteser Don Edoardo Varini (24.12.1720–25.8.1766) erschuf gemeinsam mit den okzitanischen Messieurs Sébastien Meunier und Bastien Delavallé ein weitreichendes Verbrecherimperium. Das Imperium beherrschte das Piemont und Okzitanien, bis und mit Paris. Seine Geschäftspartner, die Messieurs Sébastien Meunier und Bastien Delavallé, besaßen zusammen ein Drittel des Imperiums. Nach Don Edoardos gewaltsamem Tod trat sein Sohn Luciano, geboren am 15. August 1746, sein Erbe an. Im Frühjahr 1767 fasste Luciano Varini zu diesem Zweck den Entschluss, in die okzitanische Hafenstadt Marseille auszuwandern, obwohl ihn weder sein Vater noch die Messieurs Meunier und Delavallé als geeignet betrachteten. Sein Vater hielt ihn für einen Versager und Weichling. Dies war Sébastien Meunier und Bastien Delavallé bekannt. Dem jungen Luciano war bewusst, dass die beiden ihn niemals als obersten Anführer akzeptieren würden. Es war nicht nur wegen seines jungen Alters, sondern dass ihm jegliche Kenntnisse fehlten, um ein so großes, kriminelles Imperium zu führen. Er wäre gar nicht darauf gekommen, das Erbe seines Vaters, des gefürchteten Don Edoardo Varini, anzutreten, hätte er nicht im Nachlass seines Vaters unzählige, die Messieurs Meunier und Delavallé belastende Schriften gefunden. Diese Schriften hatte er in einem geheimen Raum des Kellergeschosses des Stadthauses entdeckt. Die Dokumente und Schriften hätten Sébastien Meunier und Bastien Delavallé auf die Guillotine gebracht. Vor allem war es ein großes Notizbuch, in dem sein Vater Hunderte Namen von hohen Polizeibeamten, Politikern, Anklägern, Richtern, Inhabern von Handelsfirmen und Waffenhändlern, Menschenhändlern und so weiter aufgeführt hatte. Aus den Dokumenten entnahm er mit Staunen, dass der Hauptsitz des Imperiums in Marseille war, obwohl sie auf einem Landgut im Piemont wohnten. Der Sitz des Imperiums befand sich in der Villa von Sébastien Meunier. Den beiden Geschäftspartnern seines Vaters blieb nichts anderes übrig, als ihn trotz seiner Unerfahrenheit und Jugend als Nachfolger des brutalen Don Edoardo Varini zu akzeptieren. Luciano Varini hatte ihnen beim Begräbnis seines Vaters auf dessen Landgut vom Notizbuch berichtet. Ihnen einige, für sie stark belastende Passagen daraus vorgelesen. Er teilte ihnen den Fund der Geschäftsunterlagen mit. Er wies sie darauf hin, dass das für sie belastende Notizbuch bei einem Advokaten deponiert sei. Falls ihm etwas zustoßen würde, ginge das Notizbuch an die Justizbehörde von Marseille.
Die Übernahme des Imperiums war nicht Luciano Varinis dringendstes Anliegen, nach Marseille auszuwandern. Er musste dem großen Schmerz durch den gewaltsamen Tod seines Liebhabers Viktor entfliehen. Zudem sehnte er sich nach dem Meer und den blonden Jünglingen in Marseille. Dies, obwohl er Hass auf strohblonde Jünglinge in sich trug.
Luciano Varini ging, was das kriminelle Imperium anbelangte, nicht unvorbereitet nach Marseille. Er befasste sich nächtelang mit den Geschäftsunterlagen seines Vaters, die ihm bewusst machten, welch großes, kriminelles Gebilde über Okzitanien und dem Piemont herzog. Der Warenschmuggel über die Landesgrenzen Frankreichs und des Piemont stand neben dem Menschenhandel, der Prostitution, den Erpressungen sowie dem Handel mit Opium und anderen Betäubungsmitteln im Vordergrund. Die Geduld, die Dokumente durchzulesen, hatte ihn in seiner Absicht, das Imperium anzuführen, gestärkt. Er kannte nun die Strukturen des mächtigen Imperiums. Er kannte die Namen der Anführer innerhalb des Imperiums und deren Aufgaben. Ihm war bekannt, dass Bastien Delavallé, Inhaber der größten Reederei Frankreichs, in den Bäuchen seiner Schiffe Waren, wie Rum und Opium, sowie Menschen aus Afrika nach Frankreich schmuggelte. Aber das Wissen allein reichte nicht. Es erforderte Kontakt zu den Anführern innerhalb des Imperiums. Aus dem Notizbuch entnahm er, dass sich die Anführer regelmäßig in Meuniers Villa in einem unterirdischen Raum trafen. Schon deswegen erforderte es, dass er in Marseille lebte. Als Kind genoss er es, wenn sich sein Vater in Marseille aufhielt, um seinen kriminellen Geschäften nachzugehen. Er konnte dann abends ins Bett gehen, ohne sich zu fürchten, dass sein Vater zu ihm ins Bett kam. Was die Geschäftspartner seines Vaters anging, Monsieur Sébastien Meunier und Monsieur Bastien Delavallé, so musste er sie ansprechen, wenn sie aufs Landgut kamen. Er mochte die zwei in seiner Kindheit nicht, obwohl sie ihn mit Geschenken überhäuften. Sie reisten jährlich zwei bis drei Mal von Marseille an, um mit seinem Vater über das kriminelle Imperium zu sprechen. Da gab es dann große Essen und Trinkgelage. Er hatte vor allem gegen Sébastien Meunier eine starke Abneigung. Meunier war ein groß gewachsener, schlanker Mann mit bösen Augen. Im Gegensatz zu Meunier war Bastien Delavallé ein kleiner, gedrungener Mann mit angenehmem Blick. Delavallé fand er nur manchmal angenehm. Von den beiden war Sébastien Meunier der Dominierende. Das bemerkte er schon als Kind. Vor allem zeigte es sich beim Begräbnis seines Vaters.
***
Am 21. Mai 1767 wanderte Luciano Varini im Alter von einundzwanzig Jahren nach Marseille aus. Am 26. Mai des Jahres 1767 erreichte er mit seinen sechs Begleitern die prachtvolle Residenz von Sébastien Meunier. Er war von dem imposanten Anwesen, das majestätisch hoch über dem Marseiller Hafen lag, beeindruckt. Zur Villa gehörte eine Pferdestallung mit Weide. Der Baustil der Stallung passte sich der Villa an. Der Blick auf das Mittelmeer war für ihn etwas völlig Neues. Seit früher Kindheit sehnte er sich nach dem Meer. Sébastien Meunier empfing ihn mit einer herzhaften Umarmung und begrüßte seine Begleiter, welche sich etwas abseits vom Hauseingang aufhielten. Monsieur Meunier bestand darauf, dass er und seine Männer seine Gäste sein sollte. „Luciano, deine Wohnung im Gasthaus Zum Krug an der Rue Lafayette ist möbliert. Die Mansardenkammern für deine Männer sind ebenfalls eingerichtet.“ Bastien Delavallé nahm desgleichen am Abendessen teil. Sie besprachen nach dem Essen, bei einem uralten Cognac, das Geschäftliche. Luciano und seine Männer verbrachten die Nacht in Sébastien Meuniers Villa.
Am folgenden Tag begleitete Sébastien Meunier sie zum Gasthaus Zum Krug, an der Rue Lafayette, das Sébastien Meunier in seinem Auftrag gekauft und renovieren lassen hatte. Bevor der große Umzug nach Marseille stattfand, reiste Luciano Varini in Begleitung von zwei Männern nach Marseille, um sich mit Sébastien Meunier und Bastien Delavallé zu treffen. Er informierte sich bei ihnen über das kriminelle Imperium, das sein Vater Don Edoardo Varini bis zu seinem Tod angeführt hatte. Er schaute sich mit seinen Männern die Stadt an, in der er sein neues Leben verbringen wollte. Auf der Wanderung durch die Stadt traf er auf das Gasthaus Zum Krug. Ein altes, vernachlässigtes Haus an der Rue Lafayette, im Zentrum von Marseille. Das Haus bestand aus dem Erdgeschoss und vier Geschossen darüber. Wobei eines davon das Dachgeschoss war, was an den vielen Lukarnen zu sehen war. Im Hinterhof gab es eine Pferdestallung für zwölf Pferde. Das Gasthaus gefiel ihm. Es war das richtige, um seine kriminellen Tätigkeiten zu vertuschen. Denn er kam nach Marseille, um die Stellung seines Vaters einzunehmen. Der oberste Anführer des Imperiums zu werden. Was bei seinem jugendlichen Alter nicht einfach sein würde. Er beauftragte Sébastien Meunier, das Gasthaus zu erwerben und es zu renovieren. Es bestand kein Zweifel, dass der Besitzer verkaufen würde. Denn wenn Meunier etwas begehrte, bekam er es. Auch wenn dabei Blut floss.
Nun stand Luciano Varini mit seinen Männern vor einem wunderbar renovierten Gasthaus, über dessen Eingang in großen Lettern Gasthaus zum Krug geschrieben stand. Der Name wurde auf die gelbe Fassade gemalt. Sébastien Meunier zeigte auf das Gasthaus. „Gefällt dir das Haus, Luciano? Du wirst staunen, wie feudal es im Innern ist.“ „Es gefällt mir ausgesprochen, Sébastien. Vielen Dank. Es ist nicht mit dem Landgut im Piemont zu vergleichen. Aber es wird mein neues Zuhause sein.“ „Das Landgut wirst du vermissen, Luciano.“ Als Erstes brachten sie die Pferde in die Stallung. Danach wurden sie von Sébastien Meunier durch das ganze Haus geführt. Das im Erdgeschoss befindliche Restaurant war mit großem Geschick restauriert worden. Es gab eine moderne Küche und einen Ausschank aus Eichenholz. Die darüberliegenden Gästekammern vom ersten bis zum vierten Obergeschoss wurden ebenfalls renoviert. Als sie das fünfte Obergeschoss erreichten, führte sie Sébastien Meunier in seine Wohnung. Luciano Varini war hingerissen von der wunderbar renovierten und möblierten Wohnung. „Sébastien, ich muss dir ein Lob aussprechen. Die Wohnung ist fantastisch.“ Er begab sich zu einem Fenster. Die Sicht auf den Hafen und das Mittelmeer ließ in ihm Sehnsucht nach der weiten Welt aufkommen. „Sébastien, die Sicht auf den Hafen erweckt in mir das Verlangen nach fernen Ländern. Hattest du Probleme beim Hauskauf?“ Sébastien seufzte. „Keine, die sich nicht lösen ließen. Der Besitzer weigerte sich anfangs. Doch als ich das Angebot erhöhte und eine Drohung aussprach, reichte mir Monsieur Baudin die Hand.“ „Sébastien, ich bin dir dankbar für alles.“ Luciano Varini durchquerte den großen Salon und betrat den Balkon, von wo er in die lebhafte Gasse hinabsehen konnte. Sébastien Meunier folgte ihm. „Der Balkon musste erneuert werden.“ „Sébastien, schauen wir uns die Kammern an. Wie viele Räume gibt es in der Wohnung?“ „Neben dem großen und dem kleinen Salon gibt es noch sechs Räume. Wollen wir uns nun das Dachgeschoss ansehen? Das Zuhause für deine Männer.“ Sie stiegen ins Dachgeschoss hinauf. Es gab dort acht Mansardenkammern. Luciano Varini wandte sich seinen Männern zu. „Männer, das ist euer Zuhause.“ Von den sechs Männern sprachen nur seine vier Leibwächter die französische Sprache. Die zwei Gehilfen, die ihn auf der Reise begleiteten, sprachen bloß die piemontesische Sprache. Die Gehilfen würden wieder ins Piemont auf sein Landgut, wo seine Mama und seine Schwester Luna lebten, zurückkehren. Die Männer waren sichtlich erfreut über ihre neue Unterkunft. Sébastien Meunier zeigte zu den vier Mansardenkammern, deren Fenster zum Meer gerichtet waren. „In den vier Kammern leben die Bediensteten vom Gasthaus, das nach wie vor von Clément Baudin geführt wird. Der Stallbursche ist in der hintersten Kammer untergebracht.“ Luciano Varini wunderte sich, dass Sébastien den Stallburschen extra erwähnte. Sébastien zeigte auf das Treppenhaus. „Gehen wir in die Schankstube, um den Gastwirt Clément Baudin und seine Frau zu begrüßen.“ Es war ausgemacht, dass Clément Baudin das Gasthaus zusammen mit seiner Frau weiterhin führen würde. Dass aber er, Luciano Varini, als Gastwirt und Besitzer auftreten würde. Dies zur Tarnung. Clément Baudin war ein großer, schlanker Mann, der Stärke ausdrückte. Luciano Varini fand ihn auf Anhieb sympathisch. Seine Frau war klein und etwas rundlich. Eine angenehme Person. Clément Baudin hatte zwei Tische zusammengeschoben und sie mit dem besten Geschirr, das er besaß, gedeckt. Das Essen war hervorragend. Der Wein ebenfalls. Nach dem Essen kehrten seine Männer zu Meuniers Villa zurück, um den Transportwagen, auf dem sich Luciano Varinis Vermögen und seine persönliche Habschaft befanden, zur Rue Lafayette zu fahren. Der Wagen musste entladen werden. Von seinen sechs Begleitern wussten nur seine vier Leibwächter, Livio Dalmasso, Baco Pellegrino, Bassiano Abenzio und Danilo Bosco, dass sich unter der Wagenbrücke ein Geheimfach befand. Darin lag ein Teil vom Vermögen seines Vaters, Don Edoardo. Der Hauptteil befand sich auf seinem Landgut, in einem unterirdischen Raum. Unter der Wagenbrücke war eine mit Eisen beschlagene Truhe aus Nussbaumholz angebracht. Er hatte Meunier beauftragt, im Keller des Gasthauses einen Geheimraum mit schwerer Eisentür einzubauen. Der Transportwagen wurde auf dem Hinterhof vom Gasthaus bis auf die Truhe entladen. Diese brachte er mit seinem Leibwächter um Mitternacht in den Geheimraum.
Anderntags begab sich Luciano Varini nach dem Frühstück zur Stallung, um nach dem Stallburschen zu sehen, den Sébastien extra erwähnt hatte. Am Vortag war er nur dem Stallmeister, einem alten, krummen Mann, begegnet. Jetzt traf er vor der Stallung auf den Stallburschen. Er war sofort hin und weg von dem Jungen mit seinen langen blonden Haaren und den blauen Augen. Der Junge glich seinem verstorbenen Liebhaber Viktor. Er schätzte ihn auf fünfundzwanzig Jahre. Luciano Varinis Verlangen nach blonden Knaben und Jungen war ausgeprägt. Er als Piemonteser hatte pechschwarze Haare. Was er zutiefst hasste. Es fiel ihm schwer, den Blick von dem Stallburschen wegzurichten. Luciano Varini ging auf den blonden Jungen zu und reichte ihm die Hand. „Mein Name ist Luciano Varini. Der Besitzer des Gasthauses. Du kannst Luciano zu mir sagen. Wie ist dein Name?“ Der junge Mann schien schüchtern zu sein. Seine Stimme war leise. „Mein Name ist Jeanpier, Monsieur Varini. Ich bin für Ihr Pferd zuständig. Welches ist Ihr Pferd? Ich werde es gleich satteln.“ „Ich sagte doch, dass du mich mit Luciano ansprechen kannst. Du musst mein Pferd nicht aus der Stallung holen. Ich bin gekommen, um dich zu begrüßen. Schließlich arbeitest du für mich.“
Ab der Begegnung suchte Luciano Varini ständig nach Gründen, dem bildhübschen Stallburschen zu begegnen. Einen Monat später lag Jeanpier bei ihm im Bett. Dank ihrer innigen Beziehung hellte sich seine Düsternis auf, die seit dem Tod von Viktor auf ihm lastete. Doch dies hielt nicht lange an. Jeanpier fand einen neuen Liebhaber. Wenigstens glaubte er es. Er brachte Jeanpiers angeblichen Liebhaber um. Von da an verfiel er wieder in die Düsternis. Er sah im Leben keinen Sinn. Zudem lasteten seine Gräueltaten, die er in seiner Heimat Piemont verübte, schwer auf ihm. Ihm war bewusst, dass er geisteskrank war. Nur ein Mensch, dessen Geist krank war, war imstande, so Grausames zu tun wie er. Er liebte und zugleich hasste er blonde Knaben und Jünglinge. Schuld daran trug sein Vater.
Luciano langweilte es in Marseille. Er war nur Pseudogastwirt. Die Arbeiten im Gasthaus wurden von den Baudins verrichtet. Er sehnte sich nach blonden Jünglingen. Die er dann im Hafen von Marseille fand. Er begab sich nachts auf Umwegen in den Hafen, um sich dort von käuflichen Jungen befriedigen zu lassen. Was seinen Hass auf blonde Jünglinge erneut aufleben ließ. Der Ursprung für den Hass lag in seiner Kindheit. Sein Vater Don Edoardo verging sich vom dritten bis zum vierzehnten Lebensjahr an ihm. Bis zum zwölften Lebensjahr ging er durch die Hölle. Doch kam der Tag, da er es anfing zu akzeptieren und noch mehr. Er bekam Gefallen daran. Es ging alles gut, bis zu dem Tag, wo sein Vater ihn nicht mehr begehrte. Und er es ihm unverblümt mitteilte, dass er nun blonde Knaben bevorzuge und er somit nicht mehr zu ihm ins Bett kommen werde. Das war das Schlimmste, was sein Vater ihm antun konnte. Abend für Abend blieb er in der Hoffnung, dass sein Vater zu ihm ins Bett kommen würde, die halbe Nacht wach. Anfangs erfüllte es ihn mit Wut. Danach kam der Hass. Hass gegen die blonden Knaben und Jünglinge. Aber auch gegen seinen Vater. Um sich an seinem Vater zu rächen, verübte er schreckliche Verbrechen, indem er blonde Knaben und Jünglinge auf grausame Weise umbrachte. Diese Verbrechen zogen sich während seiner frühen Jugend bis hin in die Studienzeit. Erst als er an der Torino-Universität im Hörsaal Viktor Gamba begegnete, änderte sich sein Leben. Er verliebte sich in Viktor. Viktor erwiderte die Liebe. Sie mussten große Vorsicht walten lassen, damit niemand, vor allem sein Vater, nicht dahinterkam. Viktor war seine erste und innigste Liebe. Nie hatte er einen Menschen mehr geliebt als Viktor. Sein Vater nahm ihm Viktor, indem er ihn töten ließ. Die Beziehung mit Jeanpier war von kurzer Dauer. Die Einsamkeit kehrte ein. Die Sehnsucht nach einem Liebhaber trieb ihn nachts in den Hafen, wo sich käufliche Knaben und Jünglinge aufhielten. Bereits beim ersten Treffen mit einem blonden Jüngling meldete sich der Hass gegen blonde Knaben und Jünglinge zurück. So fing er wieder mit dem Töten an. Er brachte im Hafen von Marseille mehrere blonde Jünglinge um. Die Spur führte zu ihm. Nur dank Sébastien Meuniers Beziehungen zum Justizministerium und zur Polizeiführung wurde er nicht in Ketten gelegt. Doch drohte der Polizeichef von Marseille Sébastien Meunier. Die bestochenen Beamten waren nicht mehr bereit, die Leichen der Jünglinge verschwinden zu lassen.
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Anfang des Jahres 1772 sprachen Sébastien Meunier und Bastien Delavallé so lange auf Luciano Varini ein, bis er sich bereit erklärte, Marseille zu verlassen. Sébastien Meunier schlug ihm vor, in den Okzitanischen Alpen, in Château du Queyras, die Handels- und Transportgesellschaft seines Vaters zu leiten. Daran, dass er der oberste Anführer des Imperiums war, sollte sich nichts ändern. In Château du Queyras ließ sein Vater Don Edoardo Varini ein großes Warenlagerhaus bauen. Im Lagerhaus befand sich die legale Ware, die vom Piemont nach Frankreich und umgekehrt mit den Säumern über den Col d’Agnel transportiert wurde. Unter dem Warenlagerhaus gab es ein großes Höhlenlabyrinth, in dem die Schmuggelware zwischengelagert wurde. Das Warenlagerhaus wie das Höhlenlabyrinth wurden von dem Spanier José Gonzalez unter der Aufsicht eines zum Imperium gehörenden Kaufmannes betrieben.
Don Edoardo Varini erwarb das Grundstück, unter dem sich das Höhlenlabyrinth befand, mit Berechnung. Die Höhlen wurden von der Bevölkerung gemieden, da sich in ihnen im Jahr 1732 ein schreckliches Verbrechen ereignete. Seit da würden immer wieder um Mitternacht Jenseitige auf dem Grundstück gesehen.
Neben der Lagerhalle ließ Don Edoardo ein mächtige Pferdestallung bauen. Im Weiteren ließ er das Gelände roden und ansäen, um Weideland für die Pferde zu erhalten.
Don Edoardo Varini ließ die Felskavernen unter dem Warenlagerhaus im Geheimen zu Warenlagern ausbauen. Die Männer brachte er von Marseille mit. Luciano Varini, der nun innerhalb vom Imperium Don Luciano genannt wurde, wusste über die geheimen Lager Bescheid. Er hatte alles aus den Unterlagen seines Vaters, die sich im Stadthaus in Torino in einem Geheimraum befanden. Ebenso wusste er, dass sein Vater José Gonzalez als einen der besten Männer für den Warenschmuggel in den Okzitanischen Alpen erachtete. Im Notizbuch seines Vaters stand, dass José Gonzalez für das Verschwinden von Leichen zuständig sei. Don Luciano stellte Sébastien Meunier und Bastien Delavallé die Bedingung, in den Okzitanischen Alpen, direkt am berühmten Handelsweg, ein großes, feudales Gasthaus bauen zu dürfen, das ihm zur Tarnung dienen würde. Im Grunde blieb Don Luciano keine Wahl. Er musste Marseille verlassen. Die Polizei wusste von seinem mörderischen Treiben nachts im Hafen von Marseille. Beim Gasthaus ging es ihm nicht darum, eine Menge Geld einzunehmen. Er wollte das Gasthaus, um Gesellschaft zu haben. Gesellschaft war ihm wichtig. Da der Handels- und Reiseverkehr auf dem Okzitanischen Handelsweg von Jahr zu Jahr zunahm, würde es ihm an Gesellschaft nicht fehlen. Der Handelsweg war die wichtigste Verbindung zwischen Marseille und dem Piemont. Er würde bei Guillestre ein Stück Land erwerben und darauf ein großes Gasthaus bauen lassen. Er besorgte sich von den Okzitanischen Alpen Landkarten. Und vom Städtchen Guillestre ließ er sich Pläne von bebaubaren Parzellen zusenden. Erst beim Betrachten einer Landkarte realisierte er, dass er sein neues Leben in Abgeschiedenheit, weit weg von Marseille, verbringen würde. Was zu den regelmäßigen Zusammenkünften der obersten Anführer in Meuniers Villa für ihn viele Reisen nach Marseille erfordern würde. Als oberster Anführer war seine Anwesenheit Pflicht. Die große Distanz zwischen Marseille und Guillestre würde zweifelsohne ein Nachteil sein. Wäre er nicht wieder in sein altes, grausames Leben verfallen, müsste er diese Bürde nicht tragen. Seine Umsiedlung in die Okzitanischen Alpen bedeutete nichts anderes als Verbannung. Meunier und Delavallé hielten seinen Umzug nach Guillestre für das Imperium wertvoll. Die ständige Zunahme beim Warenschmuggel zwischen Frankreich und dem Königreich Piemont überforderte die Organisation, die das Imperium zur Zeit seines Vaters in den Okzitanischen Alpen ins Leben rief. Es fehlte an Kontrolle. Es fehlte an neuen Anknüpfungen an Politiker und Beamte in den Alpen. Es erforderte einen Mann, der zur Bevölkerung Kontakt aufnahm, um Verbindungen zu schaffen. Einer, der die Befugnisse besaß, wichtige Männer zu kaufen. Meunier grunzte. „Don Luciano, es braucht dich in den Okzitanischen Alpen, wenn wir mit dem Warenschmuggel weiterhin erfolgreich sein möchten. Luca Capra, der der Organisation vorsteht, ist nicht der Mann, der Politiker und Beamte kaufen kann. Capras Aufgabe ist nicht, Beziehungen zu Behördenmitgliedern und zur Politik anzuknüpfen. Er ist verantwortlich für die sechzehn Schmugglergruppenanführer. Diplomatische Fähigkeiten besitzt er nicht.“ Sébastien Meunier berichtete ihm von Luca Capra. „Er ist ein brutaler Zeitgenosse. Geeignet dafür, die Anführer der Schmugglergruppen in der Hand zu haben. Er ist ein Mann, der dank seiner Brutalität gnadenlos durchgreifen kann. Sehr wertvoll für das reibungslose Befördern von Schmuggelware.“ Delavallé meinte, das Beste wäre, wenn er sich in Guillestre politisch engagieren würde. Für Don Luciano stand fest, Marseille zu verlassen. Er musste von der Stadt weg. Die nächtlichen Rundgänge im Hafen, bei denen er blonde, käufliche Jünglinge aus purem Hass umbrachte, mussten ein Ende haben. Zudem würde er nicht gehen, würde er in Ketten gelegt. Was er vermissen würde, war das Zusammensein mit seinen Freunden Pauline und Jean Chevalier. Er freundete sich in der Zeit, wo Jeanpier sein Liebhaber war, mit den beiden an. Sie betrieben in Marseille das Bistro Chez Jean. Sie waren die Einzigen, die Bescheid über seine Beziehung zu Jeanpier wussten. Ihre Freundschaft vertiefte sich, als er die beiden im Sommer 1769 auf sein Landgut, wo seine Mama und seine Schwester Luna lebten, einlud. Er sah die beiden vor sich, wie sie damals staunten, als sie das Tor zum Landgut durchfuhren. Seine Mama und seine Schwester Luna nahmen Pauline und Jean herzlich auf. Auf der Rückreise über den Col d’Agnel, hinunter nach Château du Queyras, erwähnte Pauline immer wieder, wie gerne sie in Château du Queyras leben würde. Da er bis ins Jahr 1772 seine Familie jährlich besuchte, kannte er die Dörfer und die Landschaft bestens.
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Am Montag, den 4. Mai 1773 begab sich Luciano Varini mit seinem Freund Bastiano bei Tagesanbruch auf den Weg nach Guillestre, um das Bauland für das neue Gasthaus zu kaufen. Da er im Plan der Landaufteilung von Guillestre erkannte, dass alles Land entlang vom Handelsweg der Kommune gehörte, nahm er bei der Anreise mit dem Bürgermeister Kontakt auf. Er stellte sich mit Luciano Varini vor und sagte ihm, dass er auf der Suche nach einem Grundstück sei. „Monsieur Varini, ich kannte Edoardo Varini, der oben in Château du Queyras und bei uns einen Warenhandel betrieb. Leider ist er verstorben. Sind Sie etwa sein Sohn? „Ja, das bin ich.“ Der Bürgermeister lachte. „Wie schön, dass Sie die Handelsgesellschaft Ihres Vaters weiterführen.“ Er begleitete sie persönlich bei der Suche nach einem geeigneten Stück Land. Als der Bürgermeister erfuhr, dass er ein großes, feudales Gasthaus bauen wolle, war er hocherfreut. „Monsieur Varini, Ihr Vorhaben freut mich. Ich hätte nie gedacht, dass Don Edoardos Sohn bei uns ein Gasthaus bauen würde. Monsieur Varini, haben Sie schon einen Mann, der das Gasthaus betreiben wird?“ „Monsieur Bürgermeister, ich betreibe das Gasthaus selbst.“ „Sie wollen hierherziehen, Monsieur Varini? Sind wir für Ihre Geschäfte, Sie wissen, was ich meine, nicht zu weit von Marseille entfernt?“ „Ich finde eure Landschaft reizend. Ein Leben in den Alpen fördert die Gesundheit.“ Der Bürgermeister wurde von zwei Männern begleitet, die Pflöcke und einen schweren Hammer mit sich trugen. „Monsieur Varini, am Okzitanischen Handelsweg gibt es kein anständiges Gasthaus. Das einzige, in dem die Leute die Nacht verbringen, ist das Gasthaus Zu den Drei Routen oben in Château du Queyras.“ „Monsieur Bürgermeister, das Gasthaus kenne ich. Ich verbrachte dort einige Nächte. Das Gasthaus war alt und ungepflegt. Ich möchte sagen, dass es unsauber war. Aber ich hatte ja keine Wahl. Es ist das einzige Gasthaus mit einigermaßen anständigen Schlafkammern. Der Besitzer war alt. Lebt er noch?“ Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Nein, der Mann ist gestorben. Das Gasthaus wurde von einer Frau aus Marseille gekauft.“ Luciano Varini dachte gleich an seine Freundin Pauline. Er lachte. „Ging doch ihr Traum in Erfüllung.“ Der Bürgermeister war überrascht. „Monsieur Varini, kennen Sie Pauline?“ „Ja, und ob ich die kenne! Ich war mit ihr und ihrem Mann befreundet. Ihr Mann starb recht jung an einer tückischen Krankheit.“ „Welch ein Zufall. Sie werden Pauline mit Ihrem geplanten Gasthaus keine Gäste wegnehmen. Bei ihr verkehren einfache Leute.“ Sie erreichten den Handelsweg. „Monsieur Varini, Sie müssen nun genau hinsehen. Das Land auf der rechten Seite vom Handelsweg gehört der Gemeinde Guillestre.“ Luciano Varini erkannte das geeignete Grundstück auf Anhieb. Die Nähe zum Städtchen und die dahinterliegende Schlucht, aus der das Rauschen vom Bergbach Guil zu hören war, waren ausschlaggebend für seine Wahl. Da er vom geplanten Gasthaus vermaßte Skizzen dabeihatte, war ihm bekannt, wie groß das Grundstück sein musste. Er war von der Lage des Grundstückes fasziniert. Der Bürgermeister forderte seine Begleiter auf, die Pflöcke nach seiner Angabe einzuschlagen. Nun zeigte sich doch ein Nachteil. Die Pflöcke ließen sich nur etwa zehn Zoll in die Erde schlagen. Der Bürgermeister senkte den Kopf. „Monsieur Varini, ich habe vergessen, dass man hier gleich auf Felsen kommt. Sie müssen mich entschuldigen.“ „Monsieur Bürgermeister, ich kaufe das Land. Der Fels für das Kellergeschoss muss gesprengt werden. Es ist alles machbar.“ Die Topografie des Grundstückes eignete sich ausgezeichnet für sein Vorhaben. Es gab ausreichend ebene Flächen, um einen prachtvollen Garten anzulegen. Er stellte sich Zierbrunnen mit aus Granitgestein gehauenen, runden Becken vor. Brunnen, an deren Becken aus weißem Marmor gehauene, nackte Jünglinge stehen würden. Luciano Varini hatte Bilder vom feudalen Gasthaus und dessen Parkanlage vor Augen. Er betrachtete das kleine Bächlein, das in geschwungenem Lauf plätschernd auf die Schlucht zulief. Das Bächlein würde neben dem Gasthaus entlanggeführt. Mit dem Wasser konnten die Springbrunnen versorgt werden. Er setzte sich auf einen Stein. Sein Freund Bastiano und der Bürgermeister suchten sich ebenfalls eine Sitzgelegenheit. „Monsieur Bürgermeister, das Grundstück eignet sich ausgezeichnet für mein Projekt.“ Dem Bürgermeister war die Freude anzusehen. Er wandte sich ihm zu. „Monsieur Varini, das wird in unserem Städtchen ein Gerede geben. Übrigens, mein Name ist Durand. Léon Durand. Es freut mich, dass Sie das passende Grundstück gefunden haben. Sénher Varini, der Geometer wird gleich zum Grundstück gehen, um es zu vermessen. Danach kann ich Ihnen den Preis mitteilen. Das Grundstück wird nicht teuer sein, da es sich außerhalb vom Städtchen befindet. Ich und meine Gemahlin würden uns freuen, wenn Sie unsere Gäste wären. Wir haben genügend Kammern. Meine Gemahlin ist eine ausgezeichnete Köchin. Sie wird zum Abendessen eine okzitanische Spezialität kochen.“
Luciano Varini war von der Größe des Hauses überrascht, in dem der Bürgermeister mit seiner Familie lebte. Es schien das feudalste Haus in der Region zu sein. Für einen Bürgermeister von einem so kleinen Städtchen wie Guillestre war das Haus zu groß und zu luxuriös. Es wunderte ihn nicht. Denn der Name Léon Durand stand im Notizbuch seines Vaters. Es standen noch andere Namen aus der Region im Notizbuch. Zum Beispiel Richter Morin, vom Gericht in Sisteron. Das Haus wurde indirekt vom Imperium finanziert. Léon Durand war mit seinem Vater Don Edoardo befreundet. Sein Vater besaß eine große Fertigkeit, Politiker und Beamte zu bestechen. Er verfügte über diplomatisches Geschick und eine Menge Geld. Léon Durand führte sie ins Haus. Bastiano stieß vor Verwunderung einen Pfiff aus. Das Innere des Hauses war exzellent. Die Möblierung war ein Vermögen wert. Sie wirkte aber dennoch nicht protzig. Durand stellte ihnen seine Gemahlin vor. Beim Abendessen, das ausgezeichnet war, beschrieb Luciano Varini den Anwesenden, anhand von Skizzen, wie das Nobelgasthaus und der dazugehörige Park gebaut werden sollten. Die Zuhörer waren begeistert. Vor allem Léon Durand. Er wies nochmals daraufhin, dass es in Guillestre und Umgebung kein anständiges Gasthaus gebe. „Sénher Varini, darf ich Ihnen für den Bau des Gasthauses unseren Baumeister René Bertrand empfehlen? René Bertrand leistet hervorragende Arbeit. Er ist äußerst zuverlässig. Ich lege für ihn die Hände ins Feuer. Sénher Varini, die Bevölkerung von Guillestre wird Sie willkommen heißen.“
Am nächsten Tag begaben sich Luciano Varini und Bastiano Lopez nach einem üppigen Frühstück auf den Weg nach Marseille. Wobei sie in Sisteron haltmachten, um den Architekten Gavin Roux, einen Freund von Sébastien Meunier, zu besuchen. Gavin Roux arbeitete für das Imperium. War jedoch kein Mitglied. Die Zusammenarbeit ging von Sébastien Meunier aus. Architekt Roux plante seine Villa. Er war unter anderem auf das Planen von Gasthäusern spezialisiert. Da Architekt Roux bekannt war, dass Luciano der Sohn von Don Edoardo war, wurden sie überschwänglich willkommen geheißen. Gavin Roux war ein groß gewachsener Mann, mit pechschwarzen Haaren, die zu einem Mittelscheitel gekämmt waren. Sein Körper enthielt kein Quäntchen Fett. Die Augen waren nahezu schwarz. Die Kleidung vornehm. Das Haus von Gavin Roux war groß. Luciano Varini erkannte beim Betrachten des Hauses gleich, dass Gavin Roux ein hervorragender Architekt war. Er wusste es bereits vom Betrachten Sébastien Meuniers Villa. Für ihn stand fest, dass Gavin Roux der Mann war, der sein Gasthaus planen würde. Er unterbreitete Gavin Roux seine Visionen anhand von vielen Skizzen. „Monsieur Varini, Sie haben mir die Arbeit weggenommen. Nach diesen perfekten Skizzen kann ich das Gasthaus planen, ohne dass wir ständig zusammensitzen müssen. Das erleichtert die Planung sehr.“ Architekt Roux bot ihnen an, bei ihm zu wohnen. „Wie ihr wisst, ist mein Haus groß. Es wäre das Beste, wenn ihr gleich für eine Woche bei mir wohnen würdet. So können wir alles Nötige besprechen.“ Luciano Varini schüttelte den Kopf. „Monsieur Roux, wir wollen Ihnen nicht zur Last fallen.“ „Was zur Last fallen? Es wäre für mich eine Ehre, den Sohn des berühmten Don Edoardo zu Gast zu haben.“ Luciano Varini sagte zu. „Aber nur für eine Woche. Der Bürgermeister beharrt darauf, dass wir zumindest eine Woche bei ihm wohnen.“
Mitte Mai 1773 fanden für die Planung die Vermessungsarbeiten auf dem Grundstück statt. Was aufwendig war, da die Topografie des Grundstücks verschiedene Höhen und Tiefen aufwies. Der Architekt war nicht begeistert über den felsigen Untergrund. Das Erstellen der Baupläne ging dank seinen Skizzen rasch vorwärts. Nun mussten die Ausführungspläne für den Baumeister und für den Zimmermann angefertigt werden. Ende Mai erschien Architekt Roux mit einem Stapel Bauplänen beim Bürgermeister. Dieser berief den Stadtrat ein. Die Räte waren begeistert von den Bauplänen. Am Morgen vor ihrer Abreise trug Frau Bürgermeister ein üppiges Frühstück auf. Der Bürgermeister fragte Luciano, ob er einen Namen für das neue Gasthaus habe. Er bejahte. „Es wird Gasthaus Zum Krug heißen.“ Sie bedankten sich bei Familie Durand. Am Tag zuvor wurden die Baumeisterarbeiten an René Bertrand übergeben. Der Bau würde von Architekt Roux’ Männern überwacht. Er vertraute Gavin Roux. Das Gasthaus konnte, bis auf die Inneneinrichtung, ohne sein Dabeisein gebaut werden.
Während sie durch das Val Durance ritten, erinnerte sich Luciano an Sébastien Meuniers Aussage, die er bei einer Zusammenkunft machte. Meunier hatte vor, das Gasthaus Zu den Drei Routen aus strategischen Gründen in den Besitz des Imperiums zu bringen. Er hatte da nicht gewusst, dass das Gasthaus Pauline Chevalier gehörte. Sébastien Meunier legte großen Wert auf den Kauf des Gasthauses. Es sollte zur Unterkunft für Schmuggler werden. Die Tatsache, dass Meunier das Gasthaus in seine Pläne einbezog, bereitete ihm nun Sorgen. Doch Meunier musste es gewusst haben, dass Pauline die neue Besitzerin war. Die beiden kannten sich gut. Das Bistro Jean gehörte Sébastien Meunier. Meunier wusste, dass er mit Pauline befreundet war. Und dennoch wollte er sie vertreiben. Das konnte er nicht zulassen. Er wusste, wie sich Pauline danach sehnte, ein Gasthaus in den Okzitanischen Alpen zu haben. Es würde nicht einfach sein, Meunier vom Kauf abzuhalten. Wenn sich Meunier etwas in den Kopf setzte, war es schwer, ihn umzustimmen. Er war zwar der oberste Anführer des Imperiums. Im Imperium gab es Regeln. Es wurde über wichtige Geschäfte abgestimmt. Sébastien stufte den Kauf des Gasthauses als wichtig ein.
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Es war am 9. Mai 1774, einem Montag, als Luciano Varini mit seinem Freund Bastiano Lopez in Guillestre eintraf. Auf dem Weg dahin besuchten sie Architekt Roux. Nach einem herrlichen Essen im Salon der Roux informierte Gavin Roux über den Stand der Arbeiten, und sie besprachen viele Details, bevor sie in Begleitung von Roux nach Guillestre weiterreisten. Sie waren alle drei bei den Durands zu Gast. Der Bürgermeister freute sich über ihr Kommen. Er flüsterte Luciano Varini zu: „Ich bin froh euch im Haus zu haben. Wenn wir Besuch haben, verbietet mir meine Frau den Wein nicht. Sie kann verdammt stur sein.“ Baumeister Bertrand kam schnaufend ins Haus gestürzt. Er schaute sich um. „Bitte entschuldigt mein Hereinplatzen. Ich müsste dringend die Latrine benutzen.“ Schon verschwand Bertrand um eine Ecke.