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Diesen Urlaub haben David und Stefan dringend nötig. Acht Tage Marokko, von Marrakesch in die Wüste – um dort den einzigartigen Nachthimmel zu sehen. Doch die Reise steht schon vor Beginn unter keinem guten Stern. Einen Tag vor dem Abflug geht ein Video von der Ermordung zweier Däninnen im Touristenort Imhil viral. Stefan will den Flug stornieren. Aber David, der sich von den Bildern auf seltsame Weise angezogen fühlt, überredet ihn, die Reise anzutreten. In Marokko bleibt die Stimmung angespannt. Sie sind sich uneinig, ob sie ihre Beziehung hier offen zeigen sollen, und ihr Fahrer Kalifa erscheint ihnen von Tag zu Tag rätselhafter. Als er David und Stefan im Hohen Atlas auf der Straße sitzen lässt, wandern sie wohl oder übel zum nächstgelegenen Ort: ausgerechnet nach Imhil ... Andreas Jungwirth führt uns in seinem Reiseroman versiert und zielsicher auf die abseitigen, unbetretenen Pfade – zu einer Beziehung, zur Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und schließlich über die Grenzen des Erwartbaren.
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2022
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ANDREAS JUNGWIRTH
ROMAN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
David stand nackt vor dem Spiegel und betrachtete sich, als wäre er ein Fremder.
Was es zu sehen gab?
Den geraden Mund. Die Unterlippe etwas voller als die Oberlippe. Einen schlanken Hals. Unter dem Kehlkopf die verblasste Narbe einer Schilddrüsenoperation, da war er Ende zwanzig gewesen. Schultern, die, wie oft bei großen Menschen, leicht nach vorne fielen. Graue Haarbüschel, darin versteckte Brustwarzen, klein und fest. Fettpolster da und dort. Der Nabel tief im Bauch. Ein passabler Schwanz. Kräftige Oberschenkel. Für seine Größe überraschend kleine Füße. Insgesamt Durchschnitt. Kein Grund, sich für irgendetwas zu schämen, nicht in seinem Alter.
Als Fünfzehnjähriger war er ein schneller und wendiger Schwimmer gewesen. Hätte er konsequent trainiert, dachte David, während er sich weiter von oben bis unten musterte, hätte er es tatsächlich zu etwas bringen können. Jedenfalls war das die Ansicht seines Sportlehrers gewesen. Aber weshalb dieses Bedauern? – Verpasste sportliche Erfolge ließen sich dreißig Jahre später ohnehin nicht mehr nachholen. Und in seiner Jugend? Damals hatte es ihm an Ehrgeiz gefehlt. Wozu sich täglich schinden? Jeden Tag mehrere Stunden im Wasser. Sicher nicht!
David hob seinen Kopf und blickte in die Augen seines Spiegelbildes. Sie changierten zwischen Grau und Grün. Bei ihrer ersten Begegnung vor einem Jahr hatte Stefan behauptet, Davids Augen würden im Zwielicht der Dämmerung leuchten. Unsinn. Keines Menschen Augen leuchten in der Dämmerung. Das war beiden klar gewesen. Stefan hatte in diesem Moment auf Biegen und Brechen etwas Bemerkenswertes sagen wollen – um David zu beglücken und sich selbst zu überzeugen.
Er schob seine Schultern weiter nach vorne, formte einen Buckel, dann drückte er die Arme langsam nach hinten und machte ein Hohlkreuz. Ein Wirbel knackte, und der junge Fernsehmoderator, der sich entlang eines politischen Skandals profiliert und seit Kurzem die Nachrichten im Hauptabendprogramm übernommen hatte, sprach das Wort Marokko aus.
Marokko. Ein heißer Abend Anfang Juli. Die letzte Premierenfeier der Saison. Plötzlich war jemand an der Theaterbar neben ihm gestanden, jemand, der ganz offensichtlich Davids Nähe gesucht hatte. Meist waren es junge Bühnenbildner, die sich auf diese Weise an ihn heranspielten, wie zufällig, weil sie sich von einer Bekanntschaft mit ihm auf irgendeine Weise einen Vorteil erhofften. Eine Erwartung, die David in der Regel enttäuschte. Fehlende Möglichkeiten oder fehlender Wille oder beides. Dieser aber war in Davids Alter gewesen. Er hatte David damit beeindrucken wollen, dass er alle afrikanischen Länder bereist hatte, soweit das für Reisende in den vergangenen Jahren eben möglich gewesen war, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen, ohne aus dem Nichts überfallen oder durch einen fingierten Unfall aufgehalten und dann ausgeraubt zu werden oder was man eben sonst alles so hörte oder las. Und wie viele Länder sind das?, hatte David wissen wollen, um die Sache abzukürzen. Gar nicht so wenige, hatte der Typ erklärt, aber keine genaue Anzahl genannt. Und David hatte nicht nachgefragt. Und worüber sie sonst noch gesprochen hatten – vergessen. Auch irgendein spezieller Grund, warum der Typ auf ihn zugekommen war, fiel David nicht mehr ein. Vielleicht hatte sich dieser Grund auch gar nicht offenbart.
Warum nicht Land für Land eines Kontinents abhaken?, hatte David noch in derselben Nacht Stefan am Telefon vorgeschlagen. Sich von Marokko aus nach Süden vorarbeiten. Nein, Scherz beiseite: Fünf Stunden Flug stehen in einem guten Verhältnis zu den acht Tagen, die wir Zeit haben. David waren die Romane von Paul Bowles eingefallen. Also Tanger. Stefan war einverstanden gewesen. Wenn du unbedingt nach Marokko willst. Ich will nicht unbedingt nach Marokko. Aber da hatte Stefan sich bereits für Marrakesch entschieden. Von dort aus wollte er in die Wüste. Susanne sagt, das sei zwar total touristisch, hatte Stefan gemeint, aber die unkomplizierteste Art, den Himmel über der Wüste zu sehen – Stefan hatte offenbar auch Paul Bowles gelesen.
Gelesen nicht, den Film gesehen.
Immerhin. Also Marrakesch.
Gegen Susanne war nicht anzukommen. Das war David schon während ihrer ersten gemeinsamen Nacht klar geworden.
Nachdem Marokko in der Nachrichtensendung bereits zum dritten, vielleicht auch schon zum vierten Mal gefallen war, wollte David es nun doch genauer wissen. Er trat aus der Unterhose, die an seinen Knöcheln hing, verhedderte sich und wäre auf dem Weg ins Wohnzimmer fast gestürzt.
Bisher sei unklar, wer für die Tat verantwortlich ist. Auch könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, las der Moderator mit einem etwas zu starren Blick auf den Teleprompter vor, ob es ein terroristischer Anschlag gewesen sei oder eine abscheuliche Bluttat. Punkt. Nächstes Thema. Ein Bericht über die gleichzeitig in Norddeutschland, Rumänien und Süditalien auftretende Schweinepest.
David klappte seinen Laptop auf, öffnete die Seite einer Boulevardzeitung, die in der Regel Infos früher brachte als das Fernsehen und sich außerdem nicht scheute, Klarnamen zu nennen und Fotos von Opfern und Tätern ohne schwarzen Balken vor dem Gesicht zu zeigen. Die Topmeldung hieß denn auch: Zwei Touristinnen im Atlas enthauptet. Noch nichts Genaueres, keine Details, nur der Hinweis, dass im Netz ein Video kursierte, kein Bekennervideo, sondern eines, das den Hergang der Tat zeigte. Unter dem Hinweis war ein Screenshot, auf dem man in Grau- und Brauntönen eine unscharfe Gebirgslandschaft erkennen konnte. Ich sollte das nicht tun, dachte David noch, aber schon hatte er den dazugehörigen Link angeklickt. Ein Stoppschild ploppte auf – die Seite war bereits geblockt. Er klickte den Link mehrmals kurz hintereinander an. Das Stoppschild blinkte mehrfach kurz hintereinander. Stopp! Stopp! Stopp! Warum willst du dir das überhaupt ansehen? Warum willst du das in dein Leben lassen? Aber David scrollte über die Werbebanner hinweg, las Lesermeinungen, las Beschwerden darüber, dass man das Video nicht mehr sehen konnte, las Klagen über Zensur. Manche gaben Hinweise, wo möglicherweise ein funktionierender Link eingebettet sein könnte. Bald wirkte das Geschrei der anderen ansteckend. Ein Suchspiel im Netz. David verfing sich darin. Es war ihm, als wäre er Teil einer blitzschnell anwachsenden Community und als bestünde eine berechtigte Chance, gemeinsam eine alles beherrschende und die Allgemeinheit hinters Licht führende Macht auszutricksen. Ein neuer Post schob sich herein. Ein Link. Ohne weiteren Kommentar. Das Posting stammte von jemandem, der sich don’t-ignore nannte.
David glaubte nicht an so eine Verschwörung, aber: Why should I ignore it, maybe I can use it for something?
Fäden, als hätte jemand Regen gefilmt. Geflatter, wie von aufgescheuchtem Geflügel. Lichtpunkte sausen herum. Könnten auch gehetzte Leuchtkäfer sein. Das Weiß aufgerissener Augen. Vier Augen. Zwei Gesichter. Schon verlässt die Kamera sie wieder. Ein Knistern. Als würde etwas brennen. Oder zerreißen. Oder es hat nichts mit dem zu tun, was sich da abspielt. Ab Sekunde dreiunddreißig Schreie. Männerschreie. David hätte Schreie von Frauen erwartet. Dass diejenigen schreien, die sterben. Nicht die, die morden. Das Töten passiert im Dunkeln. Schnitt. Plötzlich Stille. Plötzlich Tag. Zwei Körper liegen im Licht, im Sonnenlicht. Die Kamera tastet sie ab. Die Füße. Die Beine. Bauch. Brust. Verrutschtes und verschmutztes Zeug. Sportzeug. Die Arme angelegt, die Beine an den Knöcheln überkreuzt. Nicht von selbst. Sie sind angelegt worden, sind überkreuzt worden. Eine der beiden Frauen hat nur einen Schuh an. David dachte, vielleicht haben die Mörder ja aus Spaß die Köpfe der beiden Mädchen vertauscht, und die liegen jetzt über den falschen Rümpfen. Aber dazu hätten die beiden wirklich enthauptet werden müssen. Enthauptet, hieß es. Unter einer Enthauptung ist aber, wenn man es genau nimmt, eine vollkommene Abtrennung des Schädels zu verstehen, dachte David. Die hier haben vermutlich bloß aufgeschlitzte Kehlen. Plötzlich wird mit einer schnellen Bewegung die Kamera gegen die Sonne gedreht. Der Bildschirm von Licht ausgegossen. Black. Schluss. Aus.
Die Bilder erloschen. Die Aufnahme hat exakt eine Minute und siebenundvierzig Sekunden gedauert. Mit zugeschnürter Kehle starrte David auf das schwarze Display. Dass das wirklich geschehen war. Dass das kein Schauspiel war. Dass jemand so was tut. Dass jemand das dann auch noch filmt. Dass das jemand ins Netz gestellt hat, weil Mann oder Frau wollte, dass andere das sehen. Ob diese Bilder, je öfter man sie sieht, je mehr Details man entdeckt, je länger man darüber nachdenkt – als Ermittlungsbeamter beispielsweise –, würden diese Bilder immer harmloser, immer unechter oder immer authentischer, immer erschreckender wirken. Unwillkürlich schüttelte David den Kopf, atmete tief durch. Aus der vierzehnten Etage konnte er durch die bodentiefen Fenster über den Stadtrand hinaus bis zu den Weinbergen in der Abendsonne sehen. Ein Vogelschwarm zog vorüber wie ein einziger sich ständig verformender schwarzer Körper – keines der Tiere brach aus oder ging verloren. Der Vogelschwarm kehrte nach einer Weile wieder zurück, verschwand abermals.
Wäre in diesem Moment nicht ein Schlüssel in der Wohnungstür umgedreht worden, hätte David erstens erfahren, wie es mit dem Vogelschwarm weitergegangen, ob er erneut wiedergekommen oder für immer verschwunden wäre, und zweitens hätte er – davon war auszugehen – das Video noch einmal abgespielt, neue Details entdeckt und dann besser einschätzen können, ob ihm die Bilder immer abstoßender oder immer gewöhnlicher, vielleicht sogar außergewöhnlich vorgekommen wären.
Seit er das Geräusch des Schlüssels gehört hatte, bedrängte ihn der Gedanke: Wenn Stefan von den Morden erfahren hat, steht jetzt alles auf dem Spiel – mehr als nur diese Reise. Und eines schien ihm sicher: Es lag alleine an ihm, die Gefahr abzuwenden. Rasch klappte David den Laptop zu und machte ein nichtssagendes Gesicht.
Stefan trug den dunkelblauen Anzug, den er mit David gemeinsam gekauft hatte. Da hatten sie sich gerade seit zwei Wochen gedatet und waren zum ersten Mal gemeinsam in der Stadt unterwegs gewesen. Ich verlasse mich ganz auf meinen Kostümbildner, hatte Stefan verkündet. Bühne, nicht Kostüm, hatte David in der ersten Zeit immer wieder sagen müssen, bis Stefan es endlich begriffen hatte.
Das Hemd unter Stefans Sakko spannte um die Brust.
Er ging dreimal die Woche zum Training.
Die Krawatte hing lose um Stefans Hals.
Wenn ich das heute unter Dach und Fach bringe, dann bin ich einen Schritt weiter und kann beruhigt wegfahren – damit hatte er sich am Morgen verabschiedet.
Jetzt ließ Stefan sich neben ihm aufs Sofa fallen. Müde sah er aus, erschöpft, desillusioniert. War sein Vorhaben schiefgegangen? Waren Stefans Karrierepläne ins Stocken geraten?
Du hast nichts an, stellte Stefan plötzlich fest, nachdem er schon eine Weile neben David saß. Er legte seine Rechte in Davids Nacken und forderte eine ehrliche Antwort, keine Ausflüchte, gib es wenigstens zu, wenn du dir – er zögerte. Stefan scheute sich zu sagen, was er eigentlich hatte sagen wollen.
Was? Wenn ich mir einen abgewichst habe, oder was?
Stefan verdrehte die Augen.
Ich habe gearbeitet, entgegnete David lachend.
Er hatte ein paar Bühnenbildentwürfe für eine Inszenierung zu Papier gebracht und sie alle wieder verworfen. Und in drei Monaten war bereits Premiere des Stückes eines jungen Autors, in dem es keine Figuren und keine Dialoge gab. Eine Textfläche. David hatte ziellos herumgesucht, so wie es der Text, Davids Meinung nach, auch tat. Zweimal hatte er mit Xaver telefoniert.
Mach halt einen Raum, in dem alles möglich ist, hatte Xaver schließlich vorgeschlagen.
Dann nimm eine leere Bühne, und wenn du eine Dekoration brauchst, lass die Scheinwerferbrücke herunterfahren, und die Schauspieler turnen wie Affen darauf herum, hatte David entgegnet. Die Idee ist zwar nicht von mir, aber das fällt in der Provinz niemandem auf.
Schließlich hatte Xaver zugegeben, dass er den Text zwar auch nicht wirklich kapierte, aber immerhin hatte er das Gefühl, dass er etwas Bedeutendes las, mehr noch, etwas, das alle Theaterleute ständig suchen und so selten finden, etwas Relevantes.
Vielleicht spielt der Autor aber auch nur mit dieser Erwartung, vielleicht verarscht er uns alle, hatte David vermutet.
Aber wenn er alle verarscht, kann er auch was, war Xaver überzeugt. Außerdem erkenne ich eine gewisse Poesie darin.
Eine Poesie? Echt jetzt?
Der Autor schien in harte Wörter verliebt, immer wieder benutzte er Fäkalwörter. Damit provoziert man heutzutage doch niemanden mehr. Aber vielleicht ja doch – Menschen, die zwanzig Jahre jünger waren als sie, die mit Fernsehserien aufgewachsen waren, in denen jede Brust und jeder Schwanz geflissentlich verdeckt wurde? However. Auf jeden Fall wäre es unvernünftig, die Produktion des Stückes eines Autors abzusagen, dem gerade eine große Zukunft prophezeit wurde. Das wusste Xaver genauso gut wie David, auch wenn sie nicht darüber sprachen. Nach dem zweiten Telefonat war David noch ratloser gewesen als zuvor, ratlos und deprimiert. Er hatte lange und heiß duschen wollen. Er hatte sich ausgezogen, vor dem großen Spiegel die Unterhose bis zu den Knöcheln hinuntergetreten. Er hatte einem entblößten Sechsundvierzigjährigen gegenübergestanden, der immer davon ausgegangen war, in diesem Alter über Theater in Provinzstädten hinaus zu sein. Aber den Sprung an die großen Häuser und in die Feuilletons überregionaler Zeitungen hatten weder Xaver noch er geschafft. Er hatte einem entblößten Sechsundvierzigjährigen gegenübergestanden, der immer davon ausgegangen war, in diesem Alter längst einen fixen Lebensgefährten zu haben. Schon bevor er zum ersten Mal verliebt gewesen war, mit fünfzehn, hatte David sich nach einem Mann gesehnt, mit dem er das ganze Leben verbringen konnte. Aber nichts hatte viel länger gehalten als ein Jahr, maximal eineinhalb Jahre. Im besten Fall hatte es im Schweigen geendet. Viel öfter aber im Streit. David hatte die Männer von sich gestoßen, weg, nur weg – und dann, wieder alleine, hatte er sich kaum noch daran erinnern können, warum er nicht mehr mit ihnen hatte sein wollen, und er war unglücklich gewesen, so alleine, und hatte sich ein neues Opfer gesucht –
Wo willst du denn hin?, fragte Stefan, als David mit Schwung vom Sofa aufstand.
Mich anziehen – und die Wanderschuhe putzen, war das Erstbeste, das ihm einfiel, und er fügte überflüssigerweise hinzu: In dieser Reihenfolge.
Die Wanderschuhe mussten mit. Für die geplante Wüstenwanderung. Die Übernachtung in einem Camp, wie Susanne es empfohlen hatte.
Lass die blöden Schuhe, verlangte Stefan. Bleib da. Ich muss mit dir reden. Stefan sprach es an, ohne es auszusprechen: Hast du gehört?
Gehört heißt – Stefan hat das Video nicht gesehen?
Es war im Atlas. Um in die Wüste zu kommen, überqueren wir den Atlas.
Der Atlas ist groß.
Warum in ein Land fahren, wo so was passiert?, tastete Stefan sich weiter vor.
David stöhnte etwas theatralisch. Bitte nicht! Du weißt, ich kann nur während der probenfreien Zeit. Sie war in diesem Jahr mit den Herbstferien zusammengefallen, und für Stefan war es nicht einfach gewesen, freizubekommen. Immer sind es die Kolleginnen mit Kindern, die sich zuerst in den Urlaubsplan eintragen, hatte Stefan geklagt, als sie zum ersten Mal über diese Reise und einen möglichen Termin gesprochen hatten. Schließlich hatte Susanne irgendwas getrickst und ihnen die Reise ermöglicht.
Die Reiseversicherung ersetzt im Fall einer Reisewarnung hundert Prozent, erklärte Stefan.
Gibt es eine Reisewarnung?
Schau auf der Seite des Außenministeriums nach, forderte Stefan ihn auf.
Das hast du doch sicher schon getan! Davids Sarkasmus war nicht zu überhören. Gibt es eine?
Nein, gibt es nicht. Sie mahnen nur zu erhöhter Vorsicht, gab Stefan klein bei. Aber mach dir keine Sorgen! Achtzig Prozent der Anzahlung kriegen wir auf jeden Fall zurück. So was überlasse ich nicht dem Zufall.
Also bestimmst du, ob wir fahren oder nicht!, fuhr David Stefan an.
Tu ich nicht, lenkte Stefan mit matter Stimme ein.
Ich will in die Wüste. Und wo willst du hin? Stefan hatte den Ablauf der Reise bisher alleine geplant und von David zumindest einen konkreten Vorschlag verlangt. Da waren sie im Bett gelegen, David hatte Lust auf Sex gehabt, aber Stefan hatte sich nicht davon abbringen lassen, in dem Reiseführer zu blättern.
Ich will unbedingt in die Filmstudios von Ouarzazate, war David eingefallen. Kurz zuvor hatten sie einen Film mit Brad Pitt und Cate Blanchett gesehen, der dort gedreht worden war. Also gut, Ouarzazate! Und plötzlich schien die Reise etwas mit ihrem noch kurzen gemeinsamen Leben zu tun zu haben. Marokko war kein beliebiges Ziel mehr gewesen.
Und nun?
Lass uns zusammen entscheiden.
David ließ nicht locker: Aber was soll schiefgehen, wenn du die Reise geplant hast?
Ja. Ja, ist ja gut. Stefan breitete die Arme aus. Er war genervt.
David drehte ihm den Rücken zu.
Warum sind wir nicht in der Lage, so eine Entscheidung in Ruhe zu treffen?, fragte Stefan.
Und David fühlte sich plötzlich unwohl, so vollkommen nackt in Gegenwart eines anderen, auch wenn dieser andere Stefan war.
Der Morgenhimmel war wolkenlos, die Luft klar und kalt. Ein Oktobermorgen, halb sechs Uhr. Das Taxi stand mit laufendem Motor vor der Haustür. David verkniff sich eine Klimadiskussion, er hatte um diese Zeit keine Lust auf einen derartigen Disput. Noch hatte er den Morgengeschmack im Mund, ein Pelztier, zwischen seinen Zähnen verfangen.
Der Fahrer trug ein blütenweißes, frisch gebügeltes Hemd und hatte seinen Dienst vermutlich gerade erst angetreten. Er war jünger als sie, eher Ende dreißig als Anfang vierzig. Schwarzer Vollbart, kein Hipsterbart, ein Bart, wie Männer aus südlichen Ländern ihn immer schon trugen. Vermutlich stammte er vom Balkan. Oder er war Türke, aber hier geboren. Oder Syrer und mit der letzten großen Flüchtlingswelle ins Land gekommen, eigentlich Arzt, dessen Titel hier nicht anerkannt wurde und der den Taxischein gemacht hatte, um über die Runden zu kommen –
Kaum waren sie eingestiegen, erkundigte sich der Fahrer nach ihrem Reiseziel.
Zum Flughafen, antwortete David knapp.
Das weiß ich, erklärte der Taxifahrer geduldig und lächelte. Ich meine, wohin geht es von dort aus? Er sprach ein astreines Deutsch, nicht der Anflug eines fremdländischen Akzents, nur eine lokale Einfärbung.
Stefan übernahm: Thailand. Sie hatten tatsächlich auch über Thailand gesprochen, aber aus Zeitgründen, Flugdauer etc. sofort wieder verworfen.
Sehr gut, der Taxifahrer nickte, als hätten sie die beste Wahl unter allen denkbaren Möglichkeiten getroffen. Daraufhin folgte – für David wie aus dem Nichts – eine Suada darüber, was die Presse alles nicht berichten würde und was den Menschen daher vorenthalten blieb. Er nannte ein Beispiel: die Schweinegrippe als globales, aber völlig unterschätztes Problem unserer Zeit. Warum hört man davon so wenig? Wer verfolgt da welche Interessen? Das sollte man sich mal fragen! Über den Rückspiegel suchte der Taxifahrer Augenkontakt zu Stefan.
Stefan zuckte nur mit den Schultern. Keine Ahnung.
Es wird sehr wohl darüber berichtet.
David hatte am Vortag nicht nur im Fernsehen davon gehört. Nachdem sie übereingekommen waren, trotz der Morde im Atlas nach Marokko zu fahren – es hatte auf Messers Schneide gestanden –, und auf den Streit war eine Leere im Gehirn gefolgt, auch eine Leere im Bauch, war David nachts noch einmal in die Küche gegangen, hatte trockenes Brot gegessen, das vor der Abreise ohnehin noch vernichtet werden musste, konnte danach nicht einschlafen und surfte im Netz. Alles, was die Toten im Atlas betraf, hatte er geflissentlich übersehen, und war schließlich bei einem Artikel zum Thema Schweinegrippe hängen geblieben –
Ja, aber nur über einen Teil der Wahrheit, fuhr Peter mit Gewissheit fort.
Peter hatte David mittlerweile auf dem Schild gelesen, das über dem Autoradio angebracht war, und nicht Abdul oder Bogdan. So kann man sich täuschen.
Zum Beispiel sagt einem niemand, warum die Schweinepest urplötzlich an unterschiedlichsten Orten auftaucht, fuhr Peter mit neuem Eifer fort, Norddeutschland, Rumänien, Süditalien.
Aber dafür gibt es sehr wohl eine Erklärung, widersprach David erneut.
Der Taxifahrer zog die Augenbrauen hoch.
Die ansteckenden Keime sind hitzeresistent, heißt, sie überleben in der Wurst, LKW-Fahrer sind kreuz und quer durch Europa unterwegs, schmeißen ihre angebissenen Wurstsemmeln an Raststationen weg, Wildschweine fressen das, den Rest kann man sich ausrechnen.
Einen Moment lang blieb Peter der Mund offen stehen. Er schien zu überlegen, ob er David Respekt zollen sollte oder ihm auf dem Leim zu gehen drohte.
Sind Sie vom Fach?, fragte er schließlich.
Nein, antworte David, habe ich irgendwo gelesen.
Irgendwo gelesen! Peter spuckte die Worte aus, als müsste man ihm so billig nicht kommen.
Ein Handy piepste.
Meines, verkündete Stefan.
Eine Nachricht von Susanne. Sie wünschte ihnen eine gute Reise.
Danke, murmelte David.
Stefan und Susanne schrieben eine Weile hin und her. David sah aus dem Fenster und lauschte auf das Ticken des Blinkers. Der Taxifahrer fuhr zügig, scherte aus, überholte, lenkte ein. Kaum begann es auf die Windschutzscheiben zu tröpfeln, sprangen die Scheibenwischer an und zogen Schlieren über das Glas.
Schreib Susanne unbekannterweise liebe Grüße, bat David, wollte aber eigentlich nur, dass Stefan endlich mit dem nervigen Gesimse aufhörte –
Stefan sah erst von seinem Handy hoch, als das Taxi im Morgenstau zum Stillstand kam und er um seinen Zeitplan fürchtete.
Wann geht euer Flieger? Plötzlich duzte der Taxifahrer sie, als wären sie von diesem Moment an eine Schicksalsgemeinschaft.
In drei Stunden.
Locker. Peter winkte ab und lachte.
In den Sechs-Uhr-Nachrichten kam die Sprecherin auf die Morde in Marokko. Neue Informationen hatte sie nicht, zitierte aber den marokkanischen Tourismusminister, der sein Land für sicher erklärte. David wollte Stefan auf keinen Fall provozieren, weder mit einer Bemerkung noch mit einem Blick, den Stefan möglicherweise als Triumph hätte interpretieren können, auch wenn die Aussage eines Tourismusministers wohl ohnehin kaum für ein Überlegenheitsgefühl taugte.
Eine halbe Stunde später als geplant setzte Peter sie vor der Abflughalle ab. Selbst als sie bereits eingecheckt und die Sicherheitskontrollen über sich hatten ergehen lassen, lauerte David die ganze Zeit darauf, ob Stefan doch noch einen Rückzieher machen, plötzlich aufstehen und verkünden würde: Wir fliegen nicht! Nicht in ein Land, wo man Touristinnen aufschlitzt. Keine Diskussion.
Die Flugbegleiterin am Gate telefonierte. David musterte die Leute, die mit ihnen nach Marrakesch fliegen würden. Viele Paare, trotz Schulferien wenige Kinder, vor allem keine Kleinkinder. Die Chance, ohne Kindergeschrei fliegen zu können, ist groß, sagte David.
Stefan sah sich um, nickte, auch wenn Kinder ihn noch nie gestört hatten. Die Lautsprecher knackten.
Die Flugbegleiterin verkündete mit einer Stimme, mit der sie die allerschlechtesten Nachrichten verkaufen konnte, ohne dass irgendjemand ihr böse sein würde, dass der Zubringerbus noch eine Weile bräuchte. Stefans letzte Gelegenheit, doch noch einen Rückzieher zu machen, war angebrochen. Er nutzte sie nicht. Im Grunde hatte David das von Anfang an gewusst. Hatte Stefan einmal sein Wort gegeben, hielt er es, selbst dann, wenn er noch Zweifel haben sollte. David hätte sich ruhig darauf verlassen können.
Kaum hatten sich die Passagiere, die bereits angestanden hatten, wieder hingesetzt, fuhren die Busse vor. Unmut und Erleichterung hielten sich unter den Fluggästen die Waage. David und Stefan drängten sich unauffällig nach vorne und schafften es in den ersten von drei Zubringerbussen. Schmunzelnd nickten sie einander zu. Im Flugzeug gingen sie zügig bis ganz nach hinten durch. Als Stefan plötzlich stehen blieb, rannte David gegen ihn. Was?
34, 35 und Schluss, sagte Stefan, dann bat er David, nochmals auf die Tickets zu schauen.
Da steht Reihe 37.
Es gibt keine Reihe 37, behauptete Stefan.
Wie, es gibt keine Reihe 37? Das kann doch nicht sein! David verstand nicht.
Erst als Stefan sich an eine der Flugbegleiterinnen wandte, fiel auf, dass der Zubringerbus zur falschen Maschine gefahren war. Die Passagiere, die nach Marrakesch fliegen wollten, wären beinahe nach Bagdad abgehoben. Die Fluggäste in unmittelbarer Nähe hatten es unmissverständlich mitbekommen, sprangen von ihren Sitzen auf, ein älteres Paar sah zu ihnen herüber, als wäre es Davids und Stefans Schuld, dass sie allesamt im falschen Flieger gelandet waren. Nach ein paar Momenten der sich wie ein Lauffeuer in der Kabine verbreitenden Ratlosigkeit folgte eine Durchsage, eine Entschuldigung, ein Sorry – die versöhnende Stimme der Flugbegleiterin. Und alle wieder hoch von den Sitzen, Jacken an, das Handgepäck zusammensammeln, raus aus dem Flieger. Was wäre, wenn? Die Leute spekulierten durcheinander. Wo ist Bagdad?, fragte ein Kind. Eine der gefährlichsten Gegenden der Welt, erklärte ein Mann. Und jemand zeigte auf Stefan und David. Die beiden haben uns gerettet.
Gerade noch waren wir die Schuldigen. So schnell kann es gehen.
Jetzt waren sie die Letzten in der Schlange. Langsam schob sie sich Richtung Ausgang, zurück ins Freie, die Treppe hinunter, zurück in den Zubringerbus – einer musste sein Gepäck von weiter hinten holen, der Gang zwischen den Reihen verstopfte –
Bagdad ist eine wunderbare Stadt. Erzählen Sie Ihrem Kind keinen Unsinn! Das war an den Mann – vermutlich der Vater – gerichtet, der seiner Tochter Auskunft über Bagdad gegeben hatte. Und an die Allgemeinheit: Sie werden es nicht glauben, aber man isst dort hervorragend, verkündete der Spaßvogel, der keinerlei Anstalten machte, seinen Sitz zu verlassen. Seine Stimme war tief, hatte ein leichtes Vibrato und trug durch den gesamten Flieger.
Die, die es gehört und verstanden hatten, lachten.
Ein unglaubliches Abenteuer hätte uns erwartet, rief er. Und wer hat uns dieses Abenteuer verdorben?, erkundigte er sich lautstark und demonstrativ erbost.
Tatsächlich nickten ein paar in Stefans und Davids Richtung.
Der Spaßvogel streckte und reckte sich, um über die Rückenlehne nach ihnen sehen zu können.
Wir! David hob lachend seine Hand.
Stefan war rot angelaufen, es war ihm unangenehm, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.
Wissen Sie, was das für eine Chance für uns gewesen wäre?, fragte der Spaßvogel. Eine Antwort wartete er nicht ab. Er ließ sich wieder in den Sitz fallen. Auf jeden Fall meinte er, dass es etwas Gutes, etwas Großes bedeutet hätte – konkret wurde er nicht. Stattdessen rief er Richtung Cockpit: Was, wenn wir uns weigern, den Flieger zu verlassen. Leute, was ist?
Wieder lachten ein paar, andere wandten sich ab und machten weiter kleine Schritte vorwärts – es war jetzt genug gespaßt worden.
Weißt du, wer das ist?, flüsterte David, nachdem er den Spaßvogel mit einem Mal erkannt hatte.
Dieser Schauspieler.
Richtig. Stefan war eigentlich nicht der Typ, der so etwas wusste. David staunte.
Die Generation von Davids und Stefans Eltern war mit ihm aufgewachsen. Ein Schauspieler, der seine große Zeit hinter sich und eine Weile als Enfant terrible gegolten hatte. Es folgten ein Absturz, Drogen, Alkohol. Mit ein paar Arthousefilmen, in denen er sich selbst spielte, gedreht von jungen Filmemachern, die seine Enkelkinder hätten sein können, hatte er so etwas wie ein Comeback gefeiert. Aber auch das war schon wieder ein paar Jahre her. Das alles wusste David aus der Boulevardzeitung, die er regelmäßig las, auch dass er nahe Marrakesch ein Haus besaß. Aber wie heißt der nur? Immer mehr Details kamen David über diesen Schauspieler in den Sinn – dass er einen Erwachsenen adoptiert, warum auch immer einen langwierigen Prozess am Hals gehabt hatte, nur sein Name fiel ihm nicht ein.
Als sie an dem Schauspieler vorbeizogen, saß der immer noch in seinem Sitz. Sein Blick ging ins Leere, seine Finger trommelten auf seinen Oberschenkeln, als würde er auf einem Klavier einen Ragtime spielen.
Zum zweiten Mal stiegen sie eine Treppe zu einem Flieger hoch. Von den Zeitungen, die am Eingang zur freien Entnahme lagen, nahm David je ein Exemplar. Der Steward lächelte professionell freundlich, fand aber wohl, dass ein, zwei Titel genügt hätten. Die Leute hinter ihnen beschäftigte immer noch das Was-wäre-Wenn. Am Weg zu ihren Sitzen wurden David und Stefan angestarrt. Die anderen Passagiere mussten doch wissen, dass es Zufall gewesen war. Dass sie zufällig die Sitze in einer Reihe hatten, die es dort nicht gegeben hatte. Menschen wollen Helden, war eine von Xavers Maximen. Und die, die zu Helden ernannt werden, haben sich verdammt noch einmal auch als solche zu benehmen.
David streckte den Rücken durch. Stefan zwängte sich als Erster in ihre Sitzreihe. Als der Schauspieler als Letzter durch die Tür kam, sagte Stefan: Da ist er ja. Erleichtert, als wären sie für ihre falschen Tickets tatsächlich selbst verantwortlich und somit auch für alles andere hier.
Aber weißt du, wie der heißt?
Oskar Ralph, sagte Stefan, ohne nachdenken zu müssen.
Natürlich. Oskar Ralph. Warum bin ich nicht längst selbst daraufgekommen? David schnallte sich an.
Die Tür wurde geschlossen. Die Sicherheitshinweise durchgegeben. Das Flugzeug startete.
Als sie die Wolkendecke durchstießen und gleißendes Licht zum Fenster hereinfiel, war Stefan bereits eingeschlafen. David beugte sich über ihn, er roch Stefans süßlichen Atem, zog die Blendklappe herunter, ließ sich zurück in seinen Sitz fallen und blätterte die Zeitungen durch.
Zum ersten Mal sah er die Gesichter der beiden Ermordeten und las ihre Namen: Svea und Inka. Svea hatte für das Foto ihre blonden Locken in den Nacken geworfen. Inkas Pagenkopf machte sie zum Mitglied einer 70er-Jahre-Disco-Band. Sie setzten sich in Szene, wie junge Menschen das für Fotos machen, die sie auf Social-Media-Plattformen posten – unscharfe Bilder, als hätte man sie von einem Bildschirm abfotografiert. Zwei fröhliche Mädchen, die ihre Schulzeit gemeinsam verbracht hatten und seit zwei Jahren die Universität in Kopenhagen besuchten. Nirgendwo stand, an welcher Fakultät sie studiert hatten. Jus? Medizin? Volkskunde? Sprachen? Literatur? Wäre doch interessant gewesen! Aber in jedem Artikel wurde bloß angemerkt, dass die marokkanischen Behörden bei der Suche nach den Tätern Hilfe aus dem Ausland bisher verweigerten. Zwischen den Zeilen stand: Die haben etwas zu verbergen. Wahrscheinlich stimmte das sogar. Aber es muss noch viel mehr geben, das interessant sein könnte, dachte David, von dem aber nirgendwo etwas zu lesen ist. Über das nie gesprochen wurde, nicht einmal nachgedacht. Hatte Peter mit seinen Vermutungen, dass uns allen das Entscheidende vorenthalten wurde, doch recht gehabt?
Das Kabinenpersonal trug Essen auf. David stopfte das Papier in das Netz am Vordersitz und öffnete den Karton mit dem Hühnerfilet in Tomatensoße. Das Essen für Stefan lehnte er ab, Stefan aß diesen Flugzeugfraß nie. Das war für ihn eine Stilfrage. Reiste er beruflich, reiste er ohnehin Business. Selbst da verweigerte er das Menü. Zum Essen kam diesmal aber auch David nicht. Wegen plötzlich zu erwartender Turbulenzen über dem Mittelmeer wurde der ganze Trash flink wieder abserviert und in großen Plastiksäcken versenkt.
Immerhin sitzen wir im richtigen Flieger.
David schloss die Augen, wartete auf das angekündigte Schütteln und Rütteln und dachte: Aber was wäre geschehen, wenn – wenn sie tatsächlich mit Oskar Ralph und all den anderen im Irak gelandet wären?
Nun, dann wäre David ein paar Tage später nicht am Ufer des Flusses Ourika gestanden. Er wäre nicht dort gestanden, wo ihm das Gras bis über die Knie reichte. Wo seit Jahrhunderten das klare Wasser Steine abschürfte. Am gegenüberliegenden Ufer Ziegen das harte Zeug knabberten, das dort wuchs. Ein paar der Tiere machten ihre Hälse lang und tranken aus dem Fluss. Ein Mädchen, vielleicht sechs, sieben Jahre alt, hockte bei ihnen am Wasser. Seine dunklen Haare waren zu einem festen Zopf gebunden. Die Spitze des Zopfs berührte den Boden. Die Hände des Mädchens lagen flach auf seinen Schenkeln. Mit großen Augen stierte es zu ihm herüber. Auf Davids Armen landeten Mücken. Er hätte am liebsten um sich geschlagen. Tat es nicht. Er hatte Durst und würde sich am liebsten wie die Ziegen zum Wasser hinunterbücken. Tat es nicht. Natürlich nicht, das wäre Wahnsinn. Pest und Cholera. Stefan hätte nicht David! David! aus der Ferne gerufen. David hätte an dieser Stelle nicht tief durchgeatmet, und er hätte sich nicht gesagt: Nein, ich schäme mich nicht, impulsiv reagiert zu haben. Dass ihr Fahrer und Stefan sich zum wiederholten Male einig gewesen waren, hätte ihn nicht tierisch genervt. Sie wären ihrem Fahrer überhaupt nie begegnet. David hätte seinem Ärger nicht Luft machen wollen. Er wäre nicht zum Fluss hinuntergelaufen.
Die Turbulenzen waren dann doch nicht der Rede wert gewesen, und Stefan wachte erst auf, als die Stewardess die Landung am Flughafen Marrakesch-Menara ankündigte. Der Flieger durchstieß die Kumuluswolken, und Nebelfetzen sausten vor den Fenstern vorbei.
Nachdem die Maschine sanft aufgesetzt hatte, die Türen geöffnet waren und sie endlich an der Reihe zum Aussteigen waren, trat David vor Stefan ins Freie. Er ließ sich von der warmen, trockenen Luft umarmen, blickte auf den Asphalt der Landebahn hinüber, sah den Abrieb der Gummireifen Hunderter Flugzeuge, eine wilde Grafik, ein Kunstwerk –
Mohamed und sein Wagen waren erst für den nächsten Tag gebucht. Also nahmen sie abermals ein Taxi, das Erstgereihte in der Schlange vor dem Airport. Der Taxifahrer, mit weit vorstehenden Backenknochen und grauen Locken, fuhr los, ohne wirklich auf den Ausdruck geschaut zu haben, den Stefan ihm hingehalten hatte – als gäbe es für Touristen in dieser Stadt ohnehin nur ein mögliches Ziel.
Die mehrspurige Straße führte schnurstracks bis zum Zentrumsring, links und rechts begleitet von aufwendig bepflanzten Blumenrabatten, die von einer Staubschicht überzogen waren und trotzdem leuchteten. Dahinter ein glitzernder Stacheldrahtzaun, und hinter dem Zaun, kilometerlang, Lagerhallen, Wohnbauten, fertige und solche, die niemals fertig werden würden.
Stefan und David klebten an den Fenstern.
Der Mittagsverkehr am Altstadtring nahm sie auf, der Taxifahrer verließ ihn nahe der Hauptmoschee wieder, fuhr an einem Park vorbei, wo zur Mittagszeit eine Menge Menschen in den Schatten weit ausgreifender Zedern lagerten.
Schau!, sagte Stefan – ohne weiteren Kommentar.
David drehte sich zu ihm hin.
An einem verrosteten Klettergerüst turnten ein paar jugendliche Sportler, machten stoisch Klimmzüge. Ihre Muskeln schwollen an, und sie ließen sich von einer Gruppe Mädchen bewundern.
Ein anderes Land, aber keine vollkommen fremde Welt zog an ihnen vorbei.
Mehrere Busse verstopften die Straße. Polizeisirenen heulten. Der Taxameter zählte gleichmäßig nach oben. Vorsorglich hatte Stefan bereits am Flughafen einen Fixtarif vereinbart und würde sicher nicht bereit sein, mehr als den ausgemachten Betrag zu bezahlen. Als hätte auch der Taxifahrer sich gerade daran erinnert, scherte er plötzlich nach rechts aus, überholte mit zwei Rädern am unbefestigten Straßenrand, bei der nächstbesten Möglichkeit bog er ab, kurvte eine Weile kreuz und quer und hielt schließlich in der Nähe eines Stadttores, hinter dem die Medina lag.
Aus dem Schatten der Mauer sprang ein Junge mit großen leuchtenden Augen auf sie zu, einer der vielen, die dort herumlungerten. Es gab keinen Streit, keine Drängelei, er war an der Reihe.
Der Junge, dreizehn, maximal vierzehn, zerrte mit seinen dünnen Armen ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ließ es auf eine Sackkarre plumpsen, fixierte die Koffer mit einer Schnur, dann sah er sie zum ersten Mal an. Und? Wohin damit? Stefan zeigte erneut den Ausdruck der Buchung, womit der Junge nichts anzufangen wusste. Also zog Stefan einen zweiten Ausdruck mit dem Stadtplan hervor. Wieder starrte der Junge eine Weile orientierungslos auf das Papier, wandte sich nach einer Weile hilfesuchend an den Taxifahrer, der sich daraufhin auch über das Blatt beugte, den Kopf schüttelte, etwas über die Straße rief. Die anderen kamen jetzt doch herbei, nahmen sich gegenseitig den Zettel aus der Hand, bis einer einen Einfall zu haben schien. Er richtete sich auf, redete wild gestikulierend, die anderen verstummten, hörten ihm zu, versuchten nachzuvollziehen, nickten, waren sich uneinig, dann einig, schlugen sich auf die Schultern, lachten. Plaudernd verstreuten sie sich, überließen den Auftrag wieder ganz dem einen. Der Junge grinste und zeigte dabei mehrere Zahnlücken.
Das Riad lag nahe am Stadttor, in unmittelbarer Nähe eines laut Stefan berühmten Hamams, es war das letzte Haus in einer schmalen, menschenleeren Sackgasse, die vom Hauptweg abführte, zweimal scharf ums Eck bog und mit abgetretenen Steinplatten gepflastert war.
Eine Mitfünfzigerin öffnete das schwere Holztor. Elodie war Französin, mit rot gefärbten schulterlangen Haaren, schlank, good in shape, hätte Donald Trump gesagt, hätte es sich um die Frau des französischen Präsidenten gehandelt. David fand, Elodie und Brigitte Macron hatten tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten.
Nice to meet you! Ihre Stimme perlte ohne besondere Höhen und Tiefen vor sich hin.
Der Junge lieferte das Gepäck bis in den Hof. Stefan gab ihm ein paar Scheine. Im Rückwärtsgang, wobei er die Sackkarre hinter seinem Rücken vor sich herschob, rief der Gepäckträger am halben Weg zum Tor Elodie etwas zu. Elodie schüttelte den Kopf und gab eine unwirsche Antwort. Als er das Tor krachend zufallen ließ, fluchte sie. Dann wandte sie sich wieder ihren Gästen zu.
Sorry, take a seat! But these kids make me crazy.
What did he want?, fragte Stefan.
Nothing!
David ergänzte sein Bild von Elodie: Sie hatte gelernt, vielleicht ja mühsam gelernt, weil es nicht ihrer Natur entsprach, weil Herbergswirtin nicht von Anfang an ihre Berufung gewesen war und weil sie immer wieder denselben Fehler begangen hatte, aber irgendwann hatte sie es doch kapiert: Er ist unklug, sich Gästen anzuvertrauen.
Im Hof spritzte ein Springbrunnen klares Wasser in ein bemoostes Becken. Darüber hing ein fast blickdichtes Dach aus fleischigen herzförmigen Blättern. David und Stefan setzten sich nebeneinander auf eine Steinbank. Ihre Kühle zog durch den Hosenstoff bis auf die Haut der Oberschenkel. Und plötzlich fühlte David diese unbestimmte Traurigkeit, die ihn an Tagen, an denen er aus dem Bett musste, bevor die Sonne aufgegangen war, bis zum Abend nicht mehr so richtig losließ.
Gefällt es dir?, fragte Stefan, der das Quartier ausgesucht hatte.
Langsam ließ David seinen Blick schweifen. Neben der Steintreppe, die in die oberen Etagen führte, entdeckte er einen Stamm, nicht dicker als der dünne Arm des Gepäckträgers, der zu seinem Erstaunen ganz alleine das schützende Grün entwickelt hatte.
Elodie servierte Tee. Stefan nickte, rührte ihn aber nicht an. David nippte ein wenig und schmeckte die klebrige Süße, die ihn augenblicklich mit einem wohltuenden Energieschub versorgte.
It is terrible, of course. But it’s their own fault. You just have to know what you are getting into and what not.
Erst verstanden David und Stefan nicht, wovon Elodie redete.
These two girls. Bitches! Sie setzte sich ihnen gegenüber, schob sich eine dünne weiße Zigarette zischen ihre roten Lippen und steckte sie an.
Stefan sah auf seine Fußspitze.
What?, fragte Elodie nach drei Zügen.
You mean these two girls from Denmark?, erkundigte David sich höflich, achtete aber darauf, kein übermäßiges Interesse zu zeigen.
Yes. Elodie hatte ihre Meinung deponiert, damit war sie zufrieden und stand ruckartig auf. Just a moment!
Für einen Augenblick verschwand sie in der Dunkelheit eines ebenerdigen Raumes und kehrte mit einem iPad zurück, checkte die Reservierung.
Ah, okay, sagte sie bedeutungsvoll und sah kurz zu David und Stefan auf, als könnte sie nicht recht glauben, was sie da las. You booked the room on this gay platform. No problem. Dann stutzte sie erneut. One night? Only one night?, fragte sie, jetzt mit deutlichem Vorwurf in der Stimme.
Stefan erklärte, sie hätten diese eine Nacht gebucht, ja, aber auch eine zweite, wenn sie von ihrer Tour zurückkämen, in sieben Tagen, die Nacht vor ihrem Rückflug.
Then you get the room over there! Elodie zeigte auf die Tür neben ihren Privaträumen.
Schwer einzuschätzen, ob es eine gute Wahl war oder ob sie gerade abgestraft worden waren.
Bevor sie das Zimmer beziehen durften, wollte Elodie noch wissen, was David und Stefan vorhätten. Stefan erzählte von den Filmstudios, der Wüste und –
Sie unterbrach ihn: You already booked a camel tour?
Yes. Stefan nickte. Of course!, sagte er, als hätte die Frage an sich etwas Beleidigendes.
Elodie nahm eine Broschüre vom Tisch, in der Wüstentouren auf Kamelen angeboten wurden, und streckte sie ihnen hin. Friends of mine.
Weder David noch Stefan griffen danach.
If you booked a tour on a fake site, forget the money and call this number. Sie streckte den Arm weiter aus. Aus reiner Höflichkeit nahm Stefan jetzt doch den Prospekt. Elodie ließ sich mit einem Seufzer zurück in den Sitz sinken und erklärte, dass es Breakfast auf dem Dach gäbe, und als hätte das unmittelbar mit dem Frühstück zu tun: I started a new life, ten years ago. After breaking up with my husband.
Und David bastelte weiter an der Vorstellung, die er sich von Elodies Leben machte: Besagter Husband war ein fetter Franzose, den es von einem Tag zum anderen plötzlich geekelt hatte, diese rot geschminkten Lippen zu küssen, ein schmieriger Typ mit einer Menge Kohle, die er durch beste Verbindungen in höchste Politikkreise quasi endlos hatte anhäufen können, schließlich kamen Affären mit jüngeren Frauen hinzu, schlussendlich die Scheidung, Elodie bekam einen Haufen Geld hinterhergeworfen, nur damit sie abhaute. Und weil sie als Teenager einmal in Marrakesch gewesen war und damals totale Freiheit empfunden hatte, dachte David, kaufte sie dieses Riad, um an ihr erinnertes Gefühl anknüpfen. Natürlich hatte sie es nicht wirklich nötig zu vermieten, aber irgendeiner Beschäftigung musste sie ja nachgehen, und als Geschäftsfrau, was sie als Hotelbetreiberin war, verdiente sie sich den Respekt arabischer Männer, junger arabischer Männer, Männer im Alter ihres Sohnes – ach ja, den hatte David bisher übersehen –, der seine Mutter genauso verachtete wie sein Vater. Wie auch immer, interessanter sind ohnehin die arabischen Männer –
Mein Hirn ist voller furchtbarer Klischees, stöhnte David, nachdem sie das Gepäck aufgehoben hatten und den Hof überquerten.
Yes. Stefan lachte, ohne wissen zu wollen, was David soeben durch den Kopf gegangen war. Weil du dir ständig diese Netflix-Serien ansiehst.
Sie betraten das Zimmer. Das einzige Fenster ging zum Hof hinaus. Neben dem Bett brannte eine Funsel in einem ovalen Metallschirm mit eingestanzten Löchern. Lichtpunkte waren über den Mauern verstreut.
Ein Sternenhimmel.
Fünf Ziele hatte Stefan für diesen Nachmittag eingeplant. Die älteste Moschee der Stadt, nicht die größte, mit ihren berühmten Mosaiken aus dem vierzehnten Jahrhundert, ein archäologisches Museum, in dem die Rekonstruktion eines mittelalterlichen Stadthauses zu besichtigen war, den Gewürzmarkt, eine Schautöpferei und schließlich den Djemaa el Fna, den Platz der Gehenkten, den zentralen Platz mit seinen Verkaufsständen, Cafés, Restaurants, Schlangenbeschwörern, Hütchenspielern und Flammenschluckern, seinem wabernden Lärm.
Sich lieber einfach treiben lassen, hatte sich David gewünscht, um anzukommen, die Seele nachreisen zu lassen –
Die Seele nachreisen lassen?
Und dann sich an Tempo, Lautstärke, Gerüche, die vielen Menschen, das Geschrei, die Farben, das Überangebot an Ramsch zu gewöhnen, mit dem die Händler die Touristen bedrängten.
Aber Stefan meinte, sie hätten weder am nächsten Morgen noch am Tag ihrer Rückkehr genügend Zeit für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Also zogen sie an den Verkaufsständen vorbei, nur selten schien etwas Wert zu haben, die orientalischen Teppiche vielleicht, oder diese grün glasierten Töpferwaren? Vielleicht aber war alles einfach Zeug ohne Wert.
Zum ersten Mal hielten David und Stefan vor einem Laden voller Lampen, die jener im Zimmer ihrer Unterkunft glichen. Der Verkäufer kam auf David zu, bedrängte ihn mit Zahlen, vermutlich Preisen, auf Französisch und Englisch. David schüttelte immer wieder den Kopf. Der Händler ließ nicht locker. Schließlich stürmte David zurück ins Freie, die Händlerklette neben ihm her. David holte tief Luft: Stop it! Der arme Mann zuckte zusammen, als wäre ohne ersichtlichen Grund aus einem Spiel plötzlich tödlicher Ernst geworden. David atmete mehrmals tief durch, dann sah er sich nach Stefan um.
Stefan hatte vor dem Laden auf ihn warten wollen. Jetzt war er nirgends zu sehen. David drehte sich im Kreis, schließlich entdeckte er ihn etwas abseits und mit einem verzweifelten Blick auf sein Handy. Stefan hatte die Orientierung verloren. Das Wegenetz auf dem Display richtete sich immer wieder aufs Neue aus.
Sollen wir nicht erst einmal dorthin? David zeigte auf ein Schild mit dem Namen des Platzes der Gehenkten, das schief an einer Hausmauer zwischen einem Stoffgeschäft und einer Tischlerei hing, aber in eine eindeutige Richtung zeigte.
Das ist aber nicht, wo wir hinwollen, wandte Stefan ein.
Trinken wir dort einen Tee und schauen in aller Ruhe weiter.
Jemand rempelte Stefan von hinten an und sein Telefon fiel zu Boden. Er fluchte, bückte sich.
Sorry. I am so sorry!
Nein. Nichts passiert. Ist gut! Everything is okay!
Der Rempler zog achselzuckend weiter.
Okay, ja, gut, gab Stefan nach. Erst einmal einen Tee.
Auf dem Weg zum Djemaa el Fna kamen sie zufällig am Gewürzmarkt vorbei. Die Händler hockten zwischen ihren einen halben Meter hohen Kegeln, satte Farben wie in einem Malkasten für Kinder, Gelb, Rot, Grün, Braun. Jeder hatte eine Waage mit Gewichten vor sich.
Stefan wollte Fotos machen, die Stimmung einfangen, wie er sagte.
Mit leicht gegrätschten Beinen fixierte er einen der Händler, einen alten Mann mit gegerbter Haut, bat ihn, etwas von dem tiefroten Pulver auf die eine Waagschale zu schaufeln und Gewichte in die andere zu legen. Brav führte der Mann mit sicherer Hand aus, was von ihm verlangt wurde. Von einem anderen Verkaufsstand näherten sich zwei neugierige Mädchen. Kaum hatten sie Stefans Aufmerksamkeit, begannen sie zu posieren. Stefan schoss ein paar schnelle Bilder, dann fixierte er die zwei über die Kamera hinweg. Unter Stefans Blick ordneten die Kinder ihre Gliedmaßen, alles Gespielte, alles Affektierte verschwand aus ihren Körpern. Zufrieden sah Stefan wieder durch den Sucher. Auf den Gesichtern der Kinder entfaltete sich ein herzerfrischendes Lachen. Stefan drückte ab, sah zu den Kindern und strahlte.
Der Mann mit dem magischen Blick.
Später, in einem Lokal am Djemaa el Fna – sie hatten doch noch zur Moschee und der Schautöpferei gefunden, das Museum hatte, dem Himmel sei Dank, geschlossen – war es bereits fortgeschrittener Nachmittag.
Mehr oder weniger nur das Nötigste – Organisatorisches – war besprochen worden, seit David und Stefan in Marrakesch gelandet waren. Aber so ist das immer, egal ob auf einer gemeinsamen Reise oder zu Beginn einer Affäre: Obwohl man zu zweit ist, ist man am Anfang auf sich alleine gestellt, alleine mit den neuen Verhältnissen, alleine mit der neuen Umgebung beschäftigt, man weiß nicht, ob der andere sieht, was man selbst sieht, die Gefühle vermischen sich nicht –
Und so tat jeder seins.
Stefan klickte die Bilder durch, ab und zu nickte er zufrieden, manchmal drückte er die Löschtaste. Die Fotos, die seinem strengen Blick standhielten, lud er auf einer Plattform für semiprofessionelle Fotografen hoch, wo er mehr als dreitausend Follower hatte – nur ein Bruchteil davon likte Stefans Bilder, aber das ist auch nicht das Entscheidende, hatte Stefan David einmal erklärt. Das Entscheidende ist es, zu einer Community zu gehören, die eine Sache miteinander teilt.
Und warum fühlst du dich dann nicht der Schwulencommunity zugehörig?, hatte David wissen wollen.
Weil ich nicht das Gefühl habe, mit denen etwas zu teilen, außer mein Begehren – und mein Begehren ist keine Sache. David hatte über diese Logik lachen müssen.
Aber auch David war nie auf eine Prideparade gegangen, hatte seine Bücher nicht in schwulen Buchhandlungen gekauft oder Wert darauf gelegt, in gayfriendly hotels abzusteigen. Er hatte sich immer nur für Schwulenlokale und ihre Darkrooms und Cruisingareas in städtischen Parks interessiert, um dort auf die Jagd zu gehen –
David loggte sich ebenfalls in das WLAN ein, schielte zur Nachmittagssonne hoch, verrückte seinen Stuhl, scheinbar, um nicht geblendet zu werden, in Wahrheit, um den Bildschirm seines Tablets aus Stefans Blickfeld zu nehmen.