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Beschreibung

Die Liturgiewissenschaft steht als theologische Disziplin vor besonderen Herausforderungen. Sie hat in der Konzils- und Nachkonzilszeit ihre spezifische Ausformung erfahren, die lange Zeit prägend war. Aber Kirche, Liturgie sowie das weitere Umfeld haben sich stark verändert: In sechs Jahrzehnten sind die Weisen, in denen der christliche Glaube gelebt und gefeiert wird, vielfältiger geworden. Neben die Pfarrgemeinde sind eine Fülle anderer Orte des Gottesdienstes und des Gebets getreten – stabilere, aber auch zeitgebundenere. Für ihre Gestaltung spielen teilweise ökumenische Aspekte eine Rolle und die Beziehungen zu anderen Religionen, ebenso die Einbettung in das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld, das mittlerweile eine Vielzahl anderer Rituale kennt.– Damit stellen sich Fragen rund um die Liturgiefähigkeit des Menschen und die Menschenfähigkeit der Liturgie anders und neu. Zudem muss das Verständnis der Liturgiewissenschaft im Zusammenhang der Diskussion über die zukünftige Gestalt universitärer Theologie und im Blick auf ihr interdisziplinäres Profil weiter geklärt werden. Stimmen aus der Liturgiewissenschaft, aus anderen theologischen Disziplinen und aus der evangelischen Praktischen Theologie sowie aus verschiedenen kirchlichen Arbeitsfeldern gehen in diesem Buch der Frage nach: Was ist in näherer Zukunft Aufgabe und Beitrag der Liturgiewissenschaft in Theologie, Wissenschaft insgesamt, in Kirche und Gesellschaft? Die Essays in diesem Sammelband richten sich an ein kirchlich und theologisch interessiertes Publikum. Entscheidungsträger*innen in Kirche und Gesellschaft werden ebenso angesprochen wie Fachwissenschaftler*innen, aber auch Studierende. Der Sammelband möchte eine Diskussion über das zukünftige Profil der Liturgiewissenschaft als basaler Disziplin katholischer Theologie anstoßen. Mit Beiträgen von Harald Buchinger (Regensburg), Alexander Deeg (Leipzig), Peter Ebenbauer (Graz), Birgit Jeggle-Merz (Chur/Luzern), Thomas Jürgasch (Tübingen), Martin Klöckener (Freiburg/Ue.), Julia Knop (Erfurt), Benedikt Kranemann (Erfurt), Lisa Kühn (Osnabrück), Andreas Odenthal (Bonn), Johannes Pock (Wien), Thomas Schärtl (München), Hildegard Scherer (Chur) Kim Schwope (Dresden), Stephan Wahle (Freiburg/Br.), Martin Stuflesser (Würzburg), Stephan Winter (Tübingen), Alexander Zerfaß (Salzburg).

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Benedikt Kranemann | Stephan Winter (Hrsg.)

IM AUFBRUCH

Liturgie und Liturgiewissenschaft vor neuen Herausforderungen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Umschlagfoto:

Stadtlücken Sebastian Klawitter

© 2022 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen.

Satz: Daniela Kranemann, Erfurt

E-Book: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-402-24824-9

ISBN 978-3-402-24825-6 (E-Book-PDF)

ISBN 978-3-402-20218-0 (Epub)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Benedikt Kranemann – Stephan Winter

Liturgiewissenschaft in Transformation

BIBEL- UND GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN

Hildegard SchererLiturgiewissenschaft und Neues Testament.Ein Plädoyer für eine kritisch-praktische Liturgiewissenschaft

Thomas JürgaschEine Jägerin verlorener Schätze: Perspektiven auf die Liturgiewissenschaft aus Sicht eines Kirchenhistorikers

Harald BuchingerLiturgiewissenschaft als Fach universitärer Theologie.Zur Relevanz historischer Forschungsperspektiven

SYSTEMATISCH-THEOLOGISCHE PERSPEKTIVEN

Julia KnopLiturgiewissenschaft und Dogmatik. Kreative Potenziale für eine zukunftsfähige Theologie

Peter EbenbauerDas »Gesetz des Betens« in den Turbulenzen von kirchlichen Reformen und kulturellen Umbrüchen. Neue Aufgaben der Liturgiewissenschaft

ÖKUMENISCHE UND INTERRELIGIÖSE PERSPEKTIVEN

Martin KlöckenerDas ökumenische Profil der Liturgiewissenschaft

Michael Meyer-BlanckEvangelische Liturgiewissenschaft in Deutschland heute

Stephan Winter»Splitter schwarzen Lichts« im Blick. Erzählung und Ritus als Kern religiöser Glaubenspraxis und die Rolle der Liturgiewissenschaft

KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN

Alexander ZerfaßVon Chancen und blinden Flecken. Liturgiewissenschaft im Gespräch mit den Geistes- und Kulturwissenschaften

Benedikt KranemannGottesdienst als Ritual verstehen. Liturgiewissenschaft und Ritual Studies

Andreas OdenthalRitualkompetenz. Zu den Aufgaben einer multidisziplinären Liturgiewissenschaft

Stephan WahleChristbaum, Bach und Popmusik. Chancen und Herausforderungen einer kultursensiblen Liturgiewissenschaft

PRAKTISCH-THEOLOGISCHE PERSPEKTIVEN

Ottmar FuchsDie Liturgie als Basis der Pastoral. Pastoraltheologische Anmerkungen zur brisanten Notwendigkeit einer gnadentheologisch orientierten Liturgie und Liturgiewissenschaft

Birgit Jeggle-MerzLiturgiewissenschaft als »theologia experimentalis«. Zu Vision und Mission des praktisch-theologischen Zweiges der Liturgiewissenschaft

Martin StuflesserLiturgische Bildung

Lisa Kühn – Samuel-Kim SchwopeTheologie an der Schnittstelle – Liturgiewissenschaft zwischen Universität und Kirche

EPILOG

Thomas Schärtl-TrendelLiturgischer Realismus

Autorinnen und Autoren

Liturgiewissenschaft in Transformation

Benedikt Kranemann – Stephan Winter

Theologie bleibt angesichts von Veränderungen in Kirche, Gesellschaft, Universität und Kultur in Bewegung. Das lässt sich für das vergangene Jahrhundert gut an der Zeit rund um das Zweite Vatikanische Konzil ablesen. Laut dem Dekret des Konzils über die Ausbildung der Priester, 1965 beschlossen, hing die »erstrebte Erneuerung der gesamten Kirche […] zum großen Teil vom priesterlichen Dienst ab« (OT Einleitung), weshalb eine »Neugestaltung der kirchlichen Studien« (OT, Kap. V) anstand. Dazu gehörte auch, dass die Liturgiewissenschaft zu den Hauptfächern der Theologie gerechnet werden sollte, so bereits 1963 die Liturgiekonstitution (SC 16). Inhalte und Methoden der theologischen Disziplinen veränderten sich in der Folgezeit, dazu die Art und Weise der akademischen Lehre und nicht zuletzt nach und nach die Zusammensetzung der Gruppe der Forschenden und Lehrenden, die immer weniger allein aus Klerikern bestand. Der nachkonziliare Aufbruch in der katholischen Kirche, aber ebenso fast zeitgleiche Reformbewegungen in der Gesellschaft forderten die Theologie heraus.

Bald nach der Jahrtausendwende stellten sich neue Herausforderungen. 2010 eröffnete der deutsche Wissenschaftsrat, das wichtigste Gremium für die Beratung wissenschaftspolitischer Fragen in Deutschland, die Kurzfassung seiner »Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen« mit dem Satz: »Das wissenschaftliche Feld der Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften sollte angesichts der wachsenden Pluralität religiöser Bekenntnisse in Deutschland und der steigenden Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise zu Fragen der Religion weiterentwickelt werden.« Mit der Diagnose von »Pluralität« und der Wahrnehmung von Veränderungen im Bereich der Bekenntnisse und angesichts der wachsenden Verunsicherungen in der Gesellschaft darüber, wie mit Religion und Bekenntnis im öffentlichen Raum umzugehen ist, deuten sich zugleich die Aufgaben an, denen sich die theologische Forschung und Lehre nicht verschließen darf, sondern von der Sache her widmen muss.

Ein gutes Jahrzehnt später haben sich viele Herausforderungen noch einmal verschärft. Veränderte Voraussetzungen theologischer Reflexion hängen v. a. mit der so genannten Missbrauchskrise und speziell der Veröffentlichung der MHG-Studie über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2018 zusammen, damit ebenso mit den Themen, die der Synodale Weg, wenn nicht aufgeworfen, so doch verstärkt zur Bearbeitung auf die Agenda gehoben hat. Und nicht zuletzt hat die Corona-Pandemie die Rahmenbedingungen noch einmal erheblich in Bewegung gebracht, geht sie doch offensichtlich mit einem deutlichen Säkularisierungsschub einher.

Mehr denn je sind demnach die theologischen Disziplinen insgesamt herausgefordert, das eigene Selbstverständnis sowie ihr Verhältnis zur Kirche, ihre Rolle in der Glaubensgemeinschaft und in deren Erneuerungsprozess zu klären. In Zeiten der Kirchenkrise stellt sich die Frage, was Theologie dabei durch die notwendig sehr kritische Reflexion von Kirche und ihrem Handeln, durch die Entwicklung von wissenschaftlich verantworteten Modellen zukünftiger Gestalten von Kirche und ihrer Praxis, durch die Formulierung theologischer Kriteriologien für Reformprozesse etc. beitragen kann und muss. Immer gefragt ist außerdem eine Selbstkritik der ›unheiligen Theologie‹ (Magnus Striet – Rita Werden). Ein weiteres kommt hinzu: Heute steht jede theologische Disziplin ebenso vor der Aufgabe, ihren Beitrag zur Theologie insgesamt, aber zugleich im Diskurs mit den Geistes- und Kulturwissenschaften zu bedenken. Hier sind dann auch Relevanz und Begründungslogiken religiöser Optionen der Lebensgestaltung inter- und transdisziplinär zu thematisieren. Einzubeziehen sind Krisenphänomene wie etwa der Klimawandel und Bedrohungen durch zivil wie militärisch genutzte bzw. nutzbare Nuklearkraft, die die Moderne als solche tiefgreifend in Frage stellen und alle Deutungssysteme, damit auch die religiösen, zu radikalen Neuansätzen zwingen.

Diese Dynamiken und Anfragen, denen sich gegenwärtig die Theologie(n) insgesamt gegenübersieht bzw. -sehen, betreffen deutlich und unmittelbar die Liturgiewissenschaft als theologische Teildisziplin, denn: Die Liturgie als Praxis des Glaubens ist von den hier nur kurz skizzierten Entwicklungen zu sehr betroffen, als dass die Theologie sie ignorieren könnte bzw. dürfte. Dementsprechend kann auch die theologische Disziplin, die sich ausdrücklich mit den unterschiedlichen Formen der Feier der Liturgie und den in ihnen zum Ausdruck kommenden Weisen des Glaubens, aber auch mit der Darstellung der Kirche und der Lebensäußerung religiöser Individuen befasst, nicht an der Krise der Kirche und ihren Konsequenzen für die Liturgie, an den Verwerfungen um Macht in der Kirche, die ja ebenfalls die Liturgie betreffen, den vielfältigen Formen (nicht zuletzt des geistlichen) Missbrauchs etc. unbeteiligt vorbeischauen. Und ebenso ist ihr Reflexionspotential dort besonders (an)gefragt, wo sich rituelle Praktiken in modernisierten Gesellschaften neu formieren – zumal angesichts wachsender Säkularisierungsprozesse und der angesprochenen global bedeutsamen Krisenphänomenen der aktuellen Moderneentwicklung. Wie angedeutet: Das hat auch die Pandemie noch einmal verstärkt offengelegt, weil sie nicht zuletzt rituellgottesdienstliche Praktiken auf das Heftigste tangiert: Offensichtlich hat sich das Verhalten vieler religiös geprägter Menschen und auch speziell von Katholik:innen gegenüber solchen Praktiken bzw. der Liturgie in dieser Zeit verändert. So wird z. B. selbstbewusster entschieden, wann wer wo welche Liturgie feiern will, und Liturgie im digitalen Raum spielt eine ungleich größere Rolle als vor der Pandemie. Die Vorstellung, dass die Liturgie (was zumeist die Eucharistie meint) der Gipfel und die Quelle kirchlichen Lebens ist, scheint zunehmend weniger fraglos geteilt zu werden, was theologisch einige Probleme aufwirft. Formen des Gottesdienstes, Verantwortung für die Liturgie, Leitungskompetenz etc. werden neu diskutiert. Und kurz vor Abschluss an den Arbeiten für dieses Buch ist der Krieg gegen die Ukraine ausgebrochen. Was sich daraus für liturgische Praxis ergibt, ist derzeit noch gar nicht abzuschätzen.

Der Liturgiewissenschaft ist damit aufgegeben, bislang als gesichert Geltendes grundlegend neu zu reflektieren, zu reformulieren sowie die entsprechenden Transformationsprozesse kritisch-konstruktiv zu begleiten, teilweise auch dazu zu motivieren, Manches ganz neu anzugehen. Dafür ist die Disziplin aufgrund innerfachlicher Aufbrüche, wie sie in jüngerer und jüngster Zeit zu beobachten waren, grundsätzlich gut aufgestellt. So hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend der Blick auf viele Quellen deutlich verändert, aber auch die Einschätzung ganzer Epochen der Liturgiegeschichte. Liturgiegeschichte wird heute als vielfältiger eingeschätzt. Außerdem gibt es nicht wenige weitreichende Neueinschätzungen zur Theologie der Liturgie, etwa für den Bereich der sakramentlichen Feiern. Das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum wird ebenso seit Längerem neu diskutiert, desgleichen das von kirchlichen Normen und situativen Gestaltungsmöglichkeiten. Auch hier begegnet mehr Pluralität theologisch-wissenschaftlicher Thesen und Modelle. Und die Überlegungen, wie sich das Verhältnis von Liturgiewissenschaft als universitärer Disziplin und liturgischer Praxis gestalten soll, sind in produktiver Bewegung, was sich daran zeigt, dass sie stark divergieren.

Liturgiewissenschaft befindet sich »im Aufbruch«. Deshalb lohnt es, die angedeuteten Dynamiken im Fach vor dem Hintergrund der skizzierten Herausforderungen genauer zu beleuchten und weiterzudenken: Wie soll die Geschichtsforschung, wie die Theologie der Liturgie heute aussehen? Welches Profil muss eine an der Praxis des Gottesdienstes interessierte Liturgiewissenschaft heute vorweisen können? Was leistet das Fach für die wissenschaftliche Theologie insgesamt, was für Geistes- und Kulturwissenschaften? Was ist seine Aufgabe gegenüber Kirche und Gesellschaft? Dazu äußern sich in diesem Sammelband Theolog:innen nicht nur aus der katholischen Liturgiewissenschaft, sondern auch aus anderen katholisch-theologischen Disziplinen, aus der evangelischen Praktischen Theologie und der kirchlichen Praxis. Sie gehen der Frage nach, was in näherer Zukunft Liturgiewissenschaft ausmachen sollte. Sie wollen eine Debatte anstoßen, die sich natürlich auf die wissenschaftliche Disziplin, ihr Selbstverständnis und ihre Bedeutung richtet, aber ebenso an der Liturgie selbst interessiert ist. Sie zeigen, welches Gewicht eine theologische Disziplin weit über den kirchlichen Binnenraum hinaus besitzt, die sich mit Feier, Ritual, Symbol, Glaubensästhetik etc. beschäftigt. Und sie belegen einmal mehr, wie interessant und vielfältig sich aktuell Liturgiewissenschaft darstellt.

»Liturgie – ein vergessenes Thema der Theologie?« lautete der Titel eines Sammelbandes, den Klemens Richter 1986 herausgegeben hat. Dieses wichtige Buch wollte seinerzeit, so das Vorwort, auf die theologische Relevanz der Liturgie als Glaubensquelle aufmerksam machen, und die Rezeption zeigt, dass dies auch nachhaltig gelungen ist. Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten in dieser Hinsicht viel geschehen, wie auch hier und dort im vorliegenden Buch sichtbar wird. Erst aufgrund dieser Dynamiken kann heute zudem eine andere, der damaligen keineswegs ferne Fragestellung in den Vordergrund treten: welche Bedeutung die Liturgiewissenschaft für die anderen theologischen Disziplinen, aber auch für die kirchliche Praxis besitzt. Bei den Überlegungen zur Konzeption des vorliegenden Buches ist den Herausgebern jedenfalls wieder einmal bewusst geworden, wie stark ihr liturgiewissenschaftliches Denken und Arbeiten durch ihren akademischen Lehrer beeinflusst worden ist. Deshalb widmen sie diesen Band Klemens Richter.

Dieser Sammelband möchte eine breite Diskussion unter Leser:innen anstoßen, die sich für wissenschaftliche Theologie und insbesondere Liturgiewissenschaft interessieren. Deshalb haben die Autor:innen auf Fußnoten verzichtet. Notwendige Belege und Verweise finden sich im Text. An jeden Beitrag sind einige wenige Literaturhinweise angefügt worden, die zum Teil kommentiert werden.

Unser Dank gilt allen, die für dieses Buch einen Beitrag verfasst haben. Johanna Birkefeld und Sebastian Schmidt sei für die kritische Durchsicht der Aufsätze, Daniela Kranemann für den Buchsatz gedankt. Schließlich danken wir Dr. Dirk F. Paßmann für die wie immer hervorragende verlegerische Betreuung des Buches.

BIBEL- UND GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN

Liturgiewissenschaft und Neues Testament

Ein Plädoyer für eine kritisch-praktische Liturgiewissenschaft

Hildegard Scherer

»Wie sehr liebe ich deine Weisung, den ganzen Tag bestimmt sie mein Sinnen« (Ps 119,97 EÜ): So beschreibt ein Psalmbeter seinen Hunger nach Anregung für die Lebensgestaltung, den er mit dem Erbe der biblischen Texte zu stillen sucht. Die kirchliche Liturgie erweckt solche Stimmen zum Leben. Sie bietet den Beter:innen die Schrift durch die Jahrhunderte als Impuls zum Nachsinnen an. Sie inszeniert und reflektiert ihre Botschaft unter den vielfältigen Anregungen des Rituals mit allen Sinnen. Sie schöpft aus ihren großen, tiefen Erzählungen von der Geschichte Gottes mit den Menschen den Grund ihres Lobes und das Vertrauen für ihr Bitten.

Liturgie stellt die Schrift nicht nur in den Rahmen des Rituals. Sie spricht sie auch hinein in einen Ausschnitt von Welt und Kultur und in den Lebensrahmen der Feiernden. Dabei regt sie ein kreatives Verstehen an, das zur Transformation führt. Die Begegnung mit der Schrift stößt Veränderung an (Gerhards – Kranemann 198).

Auch die wissenschaftliche Exegese ist interessiert an einer Begegnung mit der Schrift. Sie sucht methodengeleitet nach ihrem angemessenen Verständnis in ihren kulturellen Bedingungen, reflektiert Zusammenhänge und bringt die Texte auf diese Weise zur Sprache. Sie vertritt, nicht unkritisch, die Stimme der biblischen Erinnerungen im theologischen Diskurs.

Vielleicht kann nicht nur die unmittelbare gottesdienstliche, sondern auch die reflektierte Begegnung mit exegetisch erschlossenen Texten lebendige Anregungen zur Vergewisserung bieten. Solche Anregungen, fragmentarisch, vorläufig und perspektiviert, sollen im Folgenden zur Diskussion gestellt werden. Sie betreffen die Potentiale der Liturgiewissenschaft.

Die Schrift bietet selbst Erinnerungen an Ausdrucksmöglichkeiten des Glaubens an. Im Bereich des Neuen Testaments konserviert sie Ausschnitte aus dem Ringen der ersten Christgläubigen um die Gestalt ihrer liturgischen Versammlungen. Diese Abschnitte sind weniger häufig, als man zunächst meinen mag. Liturgische Rollenbücher darf man deshalb nicht erwarten, und damit wehrt das Neue Testament auch jeder Versuchung, die Ausdrucksformen vergangener Zeiten ungesehen imitieren zu wollen. Die Suche nach Ausdrucksformen unter den Zeichen der eigenen Zeit kann aber vielleicht von der Besinnung auf das Fremde der biblischen Erinnerung profitieren: Neutestamentliche Texte zeigen bisweilen eine Sensibilität für die Chancen und Grenzen des gemeinsamen Betens und Feierns. Aus ihnen lassen sich, bei aller zeitlichen und kulturellen Distanz, Grundphänomene ersehen, die in unterschiedlichen Konfigurationen auch in anderen historischen Situationen zum Thema werden können. Beispielhaft mögen dafür paulinische, lukanische, johanneische Texte und die Offenbarung des Johannes stehen.

1. PAULUS: VERSAMMLUNG ALS PROBLEM

Sechs der unumstritten Paulus zugeschriebenen Briefe, die im Neuen Testament gesammelt sind, dokumentieren den Blick einer Gründergestalt auf das Leben christlicher Gemeinden in Städten Kleinasiens und Griechenlands. Dieser Blick ist oft auf Probleme und Fragen gerichtet, da diese das situative Eingreifen des Apostels mittels des Briefes erforderten. Im ersten Brief an die Korinther ist an mehreren Stellen das Thema der Versammlung, zum Gruppenmahl in der Intention Jesu, zu Gebet und Gespräch virulent. Innerhalb weniger Jahre nach Gründung der korinthischen Gemeinde hatten sich bereits Praktiken und Konflikte ausgebildet, die das Gemeindeleben beeinträchtigten und zu Interventionen bei Paulus führten (vgl. 1 Kor 1,11; 11,18).

Ein Problem ist für Paulus die Gestalt des sogenannten »Herrenmahles«, der gemeinsamen Mahlfeier unter Berufung auf den Kyrios Jesus Christus. Dort treten »Spaltungen« zu Tage, die Paulus unvereinbar mit der Intention des Herrenmahles erscheinen. Er fordert ein, dass Ausdrucksform und Intention einander entsprechen sollten (vgl. 1 Kor 11,17–34).

Welches Problem genau bei der Ausdrucksform auftrat, lässt sich dem Text nur schwer entnehmen, da die griechischen Bezeichnungen ambivalent bleiben: In jedem Fall traf sich die Gemeinde zu einem ausgebildeten Mahl, bei dem miteinander Speisen verzehrt wurde. Entweder nahmen einige das Mahl »vorweg« und waren bereits vom folgenden Weingelage betrunken, während die anderen noch hungerten, so dass Paulus zufolge alle aufeinander warten sollten. Oder aber einige nahmen das Mahl »für sich ein« und werden aufgefordert, »einander aufzuwarten«, also die Speisen, ggf. von unterschiedlicher Qualität, miteinander zu teilen. In jedem Fall sieht Paulus darin ein je »eigenes« Mahl, das im Kontrast zum »Herrenmahl« steht. Bei ihm zeigen sich Gruppenbildungen, wahrscheinlich entlang sozialer Gefälle und Interessen. Paulus will zur Gestalt der Einheit zurückrufen. Dafür greift er auf die Tradition der sog. »Einsetzungsworte« Jesu beim letzten Mahl vor seinem Tod zurück. Wie Jesus allen gleichermaßen vom Brot und Kelch gegeben habe, so fordere auch das Herrenmahl Besinnung auf diese Gemeinschaftsaspekte. Wie Jesus sich hingegeben habe, so ist auch die Hingabe aneinander gefordert, der Eigeninteressen und Statusbestätigungen zuwiderlaufen.

Paulus problematisiert, was man heute als »performativen Widerspruch« bezeichnen kann: die Abweichung des Handelns von der ausgedrückten Intention. Vielleicht muss Paulus in dieser Situation die Grundlage des Mahles neu definieren und seine Vorstellung der Intention neu formulieren. Der Konflikt kann theologisch produktiv gewirkt haben; Theologie schulte sich an konkreten Konstellationen des Lebens, die zu Justierungen herausfordern.

Beachtenswert erscheint dabei auch der Umgang mit der Tradition. Paulus greift einen Überlieferungsbestand auf, der als fester textlicher Baustein verbreitet ist. Und doch ist dieser Baustein allein noch nicht ausreichend. Er bedarf der Interpretation. Diese Interpretation steht im Gesamtkontext urchristlicher Theorie und ist kongruent zu anderen theologischen Überlegungen. Insbesondere spiegelt sich darin die Grundoption, die Paulus an mehreren Stellen mit dem Kreuzesgeschehen verbindet: auf die Anderen bezogene Hingabe und Statusverzicht (vgl. Phil 2,1–11; 1 Kor 2,1–5). Doch gibt sich diese Interpretation als solche zu erkennen, indem die Grundlage zitiert und davon abgesetzt ist. Sie ist damit prinzipiell offen für kritische Überprüfung an dieser Grundlage und für den Diskurs. Wir wissen nicht, ob die Korinther sich auf die Anregung des Paulus eingelassen haben oder vielleicht noch andere Wege gegangen sind. In jedem Fall bleibt die Frage nach der Stimmigkeit der liturgischen Ausdrucksgestalt, nach der Erfahrbarkeit eines christlichen Ethos in der Liturgie, ein Themenfeld liturgiewissenschaftlicher Reflexionen.

Das Problem gestalthafter Erfahrbarkeit thematisiert Paulus auch in 1 Kor 14,1–40. Hier kommt die Wirkung der Liturgie auf Teilnehmende in den Blick. In den Versammlungen der korinthischen Gemeinde werden verschiedene Sprachartikulationen benutzt, die auf Geisteswirken zurückgeführt wurden, darunter auch die »Glossolalie«, die »Sprachen«- oder »Zungenrede«. Wie sich das Phänomen äußerte, beschreibt Paulus nicht. Sicher ist nur, dass diese Sprache keine auf Anhieb verständlichen Inhalte transportierte, sondern übersetzt werden musste, was wiederum eine eigene Geistbegabung erforderte. Dahinter steht wohl eine Vorstellung von geistgewirkten Sondersprachen, die bereits am göttlichen Bereich partizipieren lassen, »Sprachen der Engel« also (1 Kor 13,1). Doch Paulus weist diese Artikulationsweise in die Schranken. Sie solle im privaten Gebet gepflegt werden, in der Gemeinschaft nur, wenn die Übersetzung gewährleistet ist. Leitkriterium für seine liturgische Ordnungsoption ist dabei, dass die Gemeinde »aufgebaut« werden soll bzw. dass sie Nutzen zieht.

Diese unverständliche Sprache führt innergemeindlich zu Ausschlüssen. Sie bringt »Unkundige«, die die besondere Sprache nicht verstehen, in die Situation der Unwissenheit. Sie können am Dankgebet nicht teilnehmen, wenn sie ihr »Amen« aufgrund des unverständlichen Inhalts nicht authentisch zu sprechen wissen. Auch auf Außenstehende, Nicht-Glaubende, hat diese Sprachartikulation einen Effekt: Wer von außen eintritt, glaubt, die Redenden seien »von Sinnen«. Dies ist bei Paulus keine erwünschte Reaktion; er sieht diese durchaus kritisch und stellt ihr einen wünschenswerten Effekt gegenüber, der durch Prophetie – geistgewirkte, aber verständliche Rede – erzielt wird: Alle Gemeindemitglieder kommen mit den Außenstehenden in eine intensive persönliche Auseinandersetzung, das Innere ihres Herzens wird offengelegt. Dies endet nach paulinischem Ideal im Niederfallen der hinzukommenden Person vor Gott und der Feststellung, hier sei Gott gegenwärtig – nicht im Einzelnen, sondern im Agieren der Gruppe, ausgewiesen durch ihr kommunikatives Zusammenspiel.

Die korinthische Gemeinde ist eine kleine Gruppe inmitten einer religiös pluralen Gesellschaft. Zusammengehalten durch den offiziellen Stadt- und Götterkult mit Funktionen symbolischer Repräsentation, suchen deren Mitglieder vielfältig nach religiösen Deutungs- und Hilfsangeboten für ihre existentielle Situation, in Heil-, Orakel- oder Mysterienkulten. Für derart sozialisierte Nicht-Mitglieder ist die christliche Gemeindeversammlung nicht verschlossen. Paulus nimmt die Deutungsmöglichkeiten der Nicht-Glaubenden in den Blick und fragt nach den Signalen, welche die liturgische Praxis der Christgläubigen an die Außenstehenden sendet. Er fragt nach der Verständlichkeit der Liturgie innerhalb der kulturellen Matrix der historischen Situation. Auch wenn die »Erbauung« der Gemeinde an erster Stelle steht, ist liturgisches Feiern dennoch ein Zeichen für die Anderen. Eine solche Dimension ist heute wieder aktuell. Außenstehende werden mit christlichen liturgischen Feiern, auch in ihrer »Hochform«, nicht nur bei familiären oder öffentlichen Anlässen konfrontiert, sie können sich jederzeit durch die medialen Übertragungen damit konfrontieren lassen. Liturgie von deren Rezeption her zu denken und zu überprüfen, was vom ausgedrückten Gehalt im unmittelbaren Erleben ankommt, was Verwechslungen oder gar Anstoß erregt – das kann wiederum Liturgiewissenschaft produktiv leisten.

2. LUKAS: LITURGIE IM IDEAL

Einen Kontrapunkt zum paulinischen Problembewusstsein bietet der Autor des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte, hier konventionell »Lukas« genannt. Lukas erzählt v. a. in der Apostelgeschichte stilisierte Anfänge der christlichen Gruppen, die ein Ideal darstellen. Dazu gehört zunächst, dass sich die Christgläubigen weiterhin den Tempelliturgien in Jerusalem anschließen. Sie gehen damit in der Spur Jesu, der nach der lukanischen Kindheitserzählung (Lk 1–2) in einer entsprechenden Familienfrömmigkeit aufgewachsen ist, zum Reinigungsopfer und zur Wallfahrt selbst in den Tempel kommt und auch sein letztes Pessah in Jerusalem verbringt (Lk 22,13). Auch der Paulus der Apostelgeschichte wendet sich am Ende seines Wirkens zum Tempel (Apg 21,26f.). Räumlich entfernt davon, besucht er nach der Apostelgeschichte an seinen Wirkungsorten im nordöstlichen Mittelmeerraum regelmäßig Synagogen und bringt sich dort ins Gespräch ein, so wie auch speziell der lukanische Jesus sein Wirken an einem Sabbat mit einer Schriftlesung in der Synagoge seiner Heimatstadt beginnt (Lk 4,16–30). Die liturgische Nähe zur Israel steht außer Zweifel. Diese hohe Wertschätzung der, mit dem Römerbrief gesprochen, »Wurzel«, die »dich« »trägt«, und gegenüber der keinerlei christliche Überheblichkeit angezeigt ist (Röm 11,18), ist den Gemeinden ins Stammbuch geschrieben. Freilich formuliert Lukas dies in einer Zeit, als der Tempel längst nicht mehr steht und alle Gruppen Israels nach einer Lebens- und Liturgieform suchen müssen. Freilich hat es Spannungen und Brüche zwischen den Christgläubigen und anderen jüdischen Gruppierungen gegeben. Doch diese gemeinsamen Ursprünge will Lukas erinnert wissen. Für christliche Liturgiewissenschaft kann dies umso mehr zum Anlass werden, sich in Respekt das Erbe bewusst zu machen, das christliche und jüdische Liturgien teilen.

Neben den Tempel- und Synagogenliturgien pflegen die christlichen Gruppen noch ein eigenes Ritual, das Lukas mit »Brotbrechen« abkürzt. Es findet in Häusern, also nicht im stadtoffiziellen Bereich, statt und ist eingebunden in eine umfassende Lebensgemeinschaft von Harmonie, die sogar Gütergemeinschaft einschließt (Apg 2,44–47, vgl. 4,32–35). Beim »Brotbrechen« gehen schon den Emmausjüngern die Augen auf, und sie wissen sich in Gegenwart des Auferstandenen (Lk 24,30f.). Beim »Brotbrechen« finden sich die christlichen Gruppen in Häusern zusammen zu Gotteslob und Gebet, aber auch zu inhaltlicher Auseinandersetzung, die gegebenenfalls bis weit in die Nacht andauert (Apg 20,7–12).

Das gemeinsame Gebet ist ständige Aufgabe der Gemeinde (vgl. Apg 1,14). Bereits der lukanische Jesus wird stärker als Betender dargestellt als in anderen Evangelien. Er lehrt seine Schüler:innen das »Vater unser« als Prototyp eines gemeinsamen Gebets (Lk 11,1–4). Auch die christliche Gruppe in Jerusalem findet sich zum Gebet zusammen. In Apg 4,24–30 legt Lukas ihr ein solches in den Mund. Angesichts des mutigen Entschlusses von Petrus und Johannes zur Verkündigung betet die Gruppe um ebensolchen Mut und Bestätigung durch Zeichen und Wunder. Sie tut dies »einmütig« in einer idealtypischen Weise – mit korrekter, biblisch inspirierter Anrede Gottes, erinnernder Rückschau mit Psalmzitat und vertrauensvoller Bitte am Schluss. Die Gemeinde erscheint also als eine liturgisch-formal hochkompetente Gruppe. Jedenfalls gibt es dort diese Kompetenz, der sich alle anschließen. Liturgische Kompetenz zeigen auch die Propheten und Lehrer Antiochiens in Apg 13,1–3, denen in der Liturgie die nächsten mutigen Schritte zur Glaubensweitergabe aufgezeigt werden und die unter Fasten, Gebet und Handauflegung ihre Gesandten ausschicken (vgl. 6,6).

Sind die liturgische Kompetenz dieser idealen Gemeinden der Anfänge, ihre Gebetsworte, ihre Beharrlichkeit und ihr Gesprächsinteresse nicht ebenso stilisiert wie ihre Eintracht und ihre Gütergemeinschaft? Wenn Lukas narrative Theologie betreibt, zeichnet er den Soll-Zustand der Gruppe. Ihr reales Verhalten mag dahinter zurückgeblieben sein. In der Gefahr, vom Soll-Zustand aus zu denken, steht allerdings auch die Liturgiewissenschaft. Sie hat teilweise eine komplexe, historisch gewachsene und doch modifizierte Liturgie vor Augen mit (inzwischen) außeralltäglichen Gesten und Requisiten, anspruchsvollen Texten antiker Poesie und kunstvoller Musik in einem Raum, der ästhetisch dem Alltag enthoben ist. Ein solches Ritual mitzuvollziehen, erfordert hohe kulturelle Kompetenz. Diese Außeralltäglichkeit kann das Besondere, Heilige versinnbildlichen. Aber sie kann auch ausschließen, jene nämlich, die nicht Bildungsmöglichkeiten, Begabung und Interesse haben, diese kulturellen Codes zu erlernen. Liturgiewissenschaft ist ohne Zweifel in ihrem Blick auf Ästhetik und Tradition gefragt – aber auch in ihrem Blick auf Inklusion von Menschen unterschiedlichster Begabungen sowie biographischer und kultureller Kontexte. Die lukanischen Texte mit ihren Idealisierungen regen an, sich über die intendierten idealen Liturgie-Rezipient:innen Rechenschaft zu geben.

3. JOHANNESEVANGELIUM: RITENDEUTUNG UND NARRATIVE KREATIVITÄT

Das Johannesevangelium fällt durch seine symbolisch angereicherten Texte auf, die viele Interpretationsbemühungen erfordern, und die mit ihrer Vielzahl an Assoziationen hinsichtlich ihrer Bedeutungen nicht immer klar aufzuschlüsseln sind. Rätselhaft bleibt beim Johannesevangelium auch sein Bezug zu den synoptischen Texten. Teils entfernt es sich davon weit, teils scheinen sie bis in wörtliche Übereinstimmungen hinein aufgegriffen zu sein. Zwischen all diesen Rätseln wundert es nicht, wenn sich Bezüge zur Liturgie als interpretationsoffen und ambivalent herausstellen. So wird in der Forschung die Frage differenziert diskutiert, wie und ob das Johannesevangelium eine Abendmahlstradition beinhaltet. Die einen sehen diese u. a in der »Brotrede« (Joh 6) reflektiert, die anderen lesen dort eine ausgefeilte weisheitliche Nahrungsmetaphorik, die auf die Lehre Jesu verweist.

In jedem Fall auffällig ist jedoch die Erzählung des Johannesevangeliums vom letzten Mahl Jesu (Joh 13,1–30). Schon Paulus berichtet, dass ihm ältere Traditionen weitergegeben worden seien über ein besonderes Wort Jesu zu Brot und Wein anlässlich dieses Mahls am Abend vor seinem Leiden. Alle anderen Evangelisten erzählen es entsprechend und zitieren in je modifizierter Form dieses Brot- und Becherwort. Anders Johannes: Obwohl er dem letzten Mahl Jesu mehrere Kapitel widmet, ist vom Teilen des Brotes und des Weins sowie einem erklärenden Wort dort nichts zu finden. Wo man diese in der Erzählung erwarten würde, präsentiert Johannes dagegen eine andere Aktion Jesu, die er seinen Schüler:innen zur Nachahmung aufträgt: Er wäscht ihnen die Füße. Diese Reinigungsgeste der Sklaven, Niedrigrangigen oder eng Verbundenen für die Gäste des Mahles findet in der Erzählung zur falschen Zeit statt. Normalerweise sind die Füße zu waschen, bevor die Gäste ihren Platz einnehmen. Doch der johanneische Jesus steht auf, als bereits alle Platz genommen haben, bindet sich das Leintuch um und beginnt das Waschen und Abtrocknen. Durch diese unerwartete Zeitanordnung wird die Fußwaschung fokussiert. Der Ausfall des Brot-Becher-Erzählelements tritt dadurch umso deutlicher zu Tage. Ein Suchprozess entsteht, warum wohl diese Tradition, die den Leser:innen bekannt gewesen sein dürfte, hier fehlt, und warum die Fußwaschung erzählt wird.

Diese Warum-Frage beantwortet die Erzählung nicht, doch scheint es plausibel, dass die Verwunderung der Leser:innenschaft intendiert gewesen ist. Tatsächlich zeigen sich Analogien zwischen der Fußwaschung und dem Brot-Becher-Erzählelement: Beide Male ist Jesus Initiator und wendet sich an seine Schüler:innenschaft. Beide Male gibt er einen Impuls, seinem Vorbild zu folgen und das Zeichen untereinander weiterzugeben. Beide Male ist das Zeichen gedeutet, und die Deutung steht im Kontext von Jesu Lebenshingabe und Tod.

Provoziert also der Autor des Johannesevangeliums durch seine Erzählanordnung, die das Gewohnte, das Brot-Becher-Zeichen, verfremdet, und regt dadurch einen Reflexionsprozess an? Überblendet man so die beiden Rituale, hebt die Fußwaschung neben der soteriologischen die zwischenmenschliche Dimension des Statusverzichts, des aktiven Handelns im Interesse der anderen hervor. Sie wird im Gebot ausformuliert, einander zu lieben wie Jesus die Schüler:innen geliebt hat (13,34). Sie weist voraus auf das Kreuz. Möglicherweise ist die Fußwaschung der eingängigere, weniger anstößige Ritus. Möglicherweise antwortet die Verfremdung auf die Gefahr einer Vernachlässigung bestimmter Aspekte beim Ritualverständnis. Dann wäre der Autor des Johannesevangeliums – wie Paulus – auch ein Liturgie-Theologe, der allerdings nicht argumentativ ableitet und erklärt, sondern in narrativer Darstellung zur Reflexion anregt.

Das Mittel der Verfremdung, noch dazu in diesem narrativen Rahmen, mag den einen kreativ, den anderen jedoch provokativ erscheinen. Es wirft Fragen auf und stellt in Frage. Die Erwartung, im Ritual bestätigt zu werden, dort Stabilität und Heimat zu finden, wird enttäuscht. Feierliche Harmonie, ein Refugium im Alltag stellt sich so nicht ein. Vor solcherlei zutiefst verständlichen, aber nicht immer tragfähigen Erwartungen an Liturgie auch zu warnen, kann sich als Aufgabe der Liturgiewissenschaft ergeben. Sie hat den Auftrag, das Gesamt der liturgischen Vollzüge und ihrer möglichen Sinnzuschreibungen im Blick zu behalten, auch die Provokationen des Kreuzes.

4. OFFENBARUNG DES JOHANNES: LITURGIE ALS GEFAHR UND ERFÜLLUNG

Als letztes Buch des Kanons lenkt die Offenbarung des Johannes den Blick noch einmal stark auf Liturgien. In Form der Vision beschreibt der Seher Johannes szenische Sequenzen, die, so der Anspruch der »Apokalypse«, Hintergründiges am bereits bestehenden Lauf der Welt »aufdecken« wollen. Die Visionen überzeichnen zu surrealen Bildern, sie kontrastieren Attraktives und schrecklich Abstoßendes und rufen so zur Entscheidung. Sie beanspruchen, eine gottgefällige und Heil versprechende Lebensoption abzubilden und vor Abwegen zu warnen.

Zentraler Schauraum der Visionen ist der himmlische Thronsaal. Dort wird die lobende Anerkenntnis des wahren Gottes inszeniert, und von dort aus initiieren Engel die symbolisch verdichteten Szenen, die auf der Erde spielen. Sie lassen symbolische Figuren auftreten, kosmische Veränderungen aufkommen und die Menschen all dies spüren, bis am Ende ein symbolischer Kampf und ein göttliches Gericht die gottfeindlichen Mächte auf Erden bezwingen.

Liturgien spielen in diesem Konzept eine bedeutende Rolle. Schaut der Seher den himmlischen Thronsaal, wird er dort Zeuge einer immerwährenden himmlischen Liturgie (Offb 4–5). Älteste, symbolische Tiere, Engel und schließlich alle Geschöpfe der Erde geben Gott und dem Lamm die Ehre, indem sie ihnen feierlich Akklamationen zurufen. Das Ritual des Thronsaals ist einem Herrscherritual nachempfunden. Doch gibt es auf der Erde andere Figuren, welche für sich Unterwerfung beanspruchen: der Satan und sein schreckliches Tier, Symbolfigur für menschliche Herrschaften (Offb 13,1–17). Die Offenbarung warnt davor, diesen eine Verehrung zukommen zu lassen, d. h. auf der realen Ebene: sich an irgendeiner Form des Kults für sie zu beteiligen. Im antiken religiösen Symbolsystem dient der Kult der Anerkenntnis und Legitimation von Macht. Sie kann in der Optik der Offenbarung aber nur dem einen, wahren Machthaber gebühren, dem Gott Israels. Alle anderen Kultempfänger:innen gehören einer Gegenmacht an, die nicht bestätigt werden darf. Die Offenbarung warnt daher gezielt vor kultischen Praktiken für Kaiser oder Götter, da ihnen damit fälschlicherweise Macht zugestanden würde. Da solche Praktiken das alltägliche Leben prägten, fordert die Offenbarung zu einer strikten Distanz davon auf, die zur Marginalisierung führen und erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Opfer bedeuten konnte.

Damit weist die Offenbarung auf die Macht der Kulte, Rituale und Liturgien hin: Sie können Menschen mit Mehrheitsdruck vereinnahmen, sie können sie in Kompromisse zwingen. Ihre Ästhetik, ihre Vorteilsversprechen können Menschen auch ideologisch leiten. Sie können den sozialen und emotionalen Kitt für ein u. U. menschenfeindliches gesellschaftliches System beisteuern. Solche Machtdynamiken in den Lebenswelten unserer Zeit zu orten, kann Aufgabe einer Liturgiewissenschaft sein, die Rituale mit ihren anthropologischen Voraussetzungen und Folgen zu lesen und von einer christlich-humanistischen Grundoption her einzuordnen weiß.

Das Schlussbild der Offenbarung ist wiederum vom Kult bestimmt. Nach dem Gericht macht Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde, auf die das himmlische Jerusalem herabkommt (Offb 21,1–22,5). Diese neue Stadt ist konzipiert wie ein einziges weltumspannendes Allerheiligstes des Jerusalemer Tempels. In ihr thronen »Gott und das Lamm« unmittelbar. Die Bewohner:innen dieser von ihren Dimensionen her den ganzen Mittelmeerraum umfassenden kubischen Stadt befinden sich im permanenten Gottesdienst. Nacht und Bedrohung sind vernichtet, Schönheit und Reichtum sind allen zugänglich, die auf den reinen, goldenen Straßen im Licht und Angesicht Gottes umhergehen. Ein solches kultisches Heilsideal stellt die Offenbarung neben die lebensfrohen Bilder der Jesustradition, die den ewigen Heilsraum Gottes als ein geselliges Freudenmahl imaginieren. Nach der Offenbarung finden die Menschen ihre Erfüllung in der unverstellten Gegenwart Gottes. Vielleicht mögen die Tempel- und Thronrituale, die der Seher in seiner Umgebung erlebt, eine Ahnung wecken von dieser aus menschlicher Kraft unerreichbaren und unvorstellbaren Begegnung. Die irdischen Liturgien umspielen und halten eine Leerstelle frei, die sich nicht füllen lässt. Doch die hoffnungsvolle Sehnsucht danach hilft dem Menschen zu tragfähigen Entscheidungen auf dem Weg zur versprochenen Erfüllung. Und so kann es der theologische Auftrag der Liturgie sein, an das immer Andere und immer Größere Gottes zu erinnern, das die menschlich-symbolischen Ausdrucksweisen vorläufig, bisweilen auch begrenzt, reformbedürftig und unbefriedigend sein lässt und die Sehnsucht nach einem Mehr wachhält, das menschliche Möglichkeiten übersteigt.

5. RESÜMEE

Welchen Beitrag leisten nun die neutestamentlichen Ausführungen für eine Orientierung der Liturgiewissenschaft? Paulus, Lukas, der Autor des vierten Evangeliums und der Seher der Offenbarung wären nach heutigem Verständnis wohl als kritisch-praktische Liturgiewissenschaftler einzuordnen, die Kriterien für die rituellen Ausdrucksformen aus dem christlichen Glauben heraus formulieren und einfordern (Gerhards – Kranemann 48). Die drei letztgenannten biblischen Autoren wählen dafür ein narratives Vorgehen. Sie formulieren ihre Anliegen im »Storytelling«, das die Hörer:innenschaft involviert und zu Übertragungsprozessen anregt. Sie werben also für ihre Position in einem vielfältigen Diskurs.

Dabei zeichnet sich ab, was heute als »Ritualdynamik« bezeichnet wird: Die liturgischen Formen der ersten Christ:innen sind keine starren, zeitenthobenen Rituale, sondern von Anfang an der kritischen Reflexion und dem gestalterischen Wandel ausgesetzt. Einen »Kult« hätten antike Zeitgenoss:innen darin wohl kaum erkannt, und die biblischen Schriften rezipieren eine entsprechende Terminologie dezidiert nicht in Bezug auf die Gemeindeversammlungen. Diese »Ritualdynamik«, die Pflicht zur Gestaltung, erkannt zu haben, ist sicher Verdienst des Zweiten Vatikanischen Konzils (SC 21, Gerhards – Kranemann 31.50), ebenso der Zugang zur Liturgie als »Dialog- und Begegnungsgeschehen« (Gerhards – Kranemann 49).

Wenn Albert Gerhards und Benedikt Kranemann in ihrem Band zu »Grundlagen und Perspektiven der Liturgiewissenschaft« die Fragen der Liturgiewissenschaft im 21. Jahrhundert benennen (49–53), so haben diese eine hohe Resonanz bei den Anliegen neutestamentlicher Autoren:

•Eine gegenwartssensible, in die Zukunft denkende Liturgiewissenschaft geht in der Spur der neutestamentlichen Autoren, welche die damals kulturell etablierte Form des gemeinsamen Mahles im Haus so zu transformieren wussten, dass daraus ein »Herrenmahl« entlang der gemeinsamen Grundüberzeugungen ersichtlich wird.

•Was heute die ökumenische Liturgiewissenschaft als Vielfalt in Einheit zu deuten weiß, bildet sich in Teilen bereits im Neuen Testament ab, das in seinen verschiedenen Schriften und Traditionen einen differenzierten Blick dokumentiert. Ein johanneisches letztes Mahl mit seiner Fußwaschung kann neben dem der Synoptiker mit seinen »Einsetzungsworten« stehen, und beide inspirieren sich gegenseitig.

•Liturgiewissenschaft im Angesicht des Judentums, nicht nur des antiken, sondern auch des daraus erwachsenen heutigen, lernt aus den neutestamentlichen Schriften die Erinnerung an die gemeinsame Basis. Das Lukasevangelium mag dafür beispielhaft stehen. Wenn auch historisch bedingte Abgrenzungen, sogar Antagonismen aufgetreten sind: ohne Israel, dem Gott die Treue hält, ist Christentum nicht zu haben. In liturgischen Elementen wie der Schriftlesung, dem Psalmengebet oder der Feier des »Pascha-Mysteriums«, die Jesus ebenso wie die ersten Christ:innen praktiziert haben, wird dies ausdrücklich deutlich. Gerade wenn jüdisches Leben heute in manchen Teilen in eine angegriffene Minderheitenposition gerät, ruft schon allein die christliche Liturgie die Notwendigkeit des solidarischen Interesses in Erinnerung.

•Wie die ersten Christ:innen leben auch die heutigen in einer Welt vielfältiger religiöser oder auch areligiöser ritueller Angebote. Sie sind gefordert, diese zu reflektieren, sie berechtigt und fair zu kritisieren – und dabei mag der Stil der Offenbarung heute auch problematisiert werden –, aber auch von ihnen zu lernen: Sie lehren etwas über den Menschen und die Sprache, die ihn anspricht, über seine »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst« (GS 1). Sie lehren etwas über die große Suche, bei der alle Riten und Rituale nur begleiten können, bis sie, mit der Offenbarung gesprochen, nach christlicher Überzeugung im Unbeschreiblichen ihre Erfüllung findet.

Trotz aller Kontingenz und Entwicklungsbedürftigkeit zeugt die Schrift von einem unbestrittenen Bedürfnis der christlichen Gruppen nach Versammlung, Ritual, Gebet und Freude über das Leben im Angesicht Gottes. Die Ausdrucksformen dafür, die durch die Zeit weitergegeben und vom Leben geläutert worden sind, wollen zur Sprache gebracht und produktiv verstanden werden. Auch dies ist unverzichtbare Aufgabe der Liturgiewissenschaft: durch forschendes Urteilen das Wachsen an einem reichen, über Kulturen und Epochen ausgeprägten spirituellen Erbe zu ermöglichen.

LITERATUR

Zum Verständnis von Liturgiewissenschaft und ihrer Schriftrezeption:

Albert Gerhards – Benedikt Kranemann, Grundlagen und Perspektiven der Liturgiewissenschaft. Darmstadt 2019 [= 4., komplett überarbeitete Auflage von Einführung in die Liturgiewissenschaft (Einführung Theologie), 12006].

Überblicke zur Thematisierung von Liturgie im Neuen Testament:

Michael Theobald, Anfänge christlichen Gottesdienstes in neutestamentlicher Zeit, in: Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte 1: Von der Antike bis zur Neuzeit. Hg. von Jürgen Bärsch – Benedikt Kranemann in Verbindung mit Winfried Haunerland – Martin Klöckener. Münster 2018, 17–82. – Systematisch-genetischer Überblick.

Peter Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit. Stuttgart 2002 (BWANT150). – Überblick entlang der Schriften.

Zu grundlegenden exegetischen Erschließungen der besprochenen Texte:

1 Kor:

Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther. Göttingen 2010 (KEK 5).

Lk/Apg:

Peter Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit. Stuttgart 2002 (BWANT 150), 27–297.

Joh:

David C. Bienert, Das Abendmahl im johanneischen Kreis. Eine exegetisch-hermeneutische Studie zur Mahltheologie des Johannesevangeliums. Berlin 2020 (BZNW 202), 427–443.

Offb:

Martin Ebner, Spiegelungen. Himmlischer Thronsaal und himmlische Stadt. Theologie und Politik in Offb 4f. und 21f., in: ders., Inkarnation der Botschaft. Kultureller Horizont und theologischer Anspruch neutestamentlicher Texte. Stuttgart 2015 (SBAB 61), 242–280.

Hildegard Scherer, »Geh hinaus, mein Volk, damit ihr nicht teilhabt an ihren Sünden …« (Offb 18,4)? Zu Anliegen und Erinnerungspotential der Weltsicht der Offenbarung des Johannes, in: Christsein in der Welt. Hg. von Michael Durst – Margit Wasmaier-Sailer. Freiburg/ Br. 2020 (ThBer 40), 93–123.

Eine Jägerin verlorener Schätze: Perspektiven auf die Liturgiewissenschaft aus Sicht eines Kirchenhistorikers

Thomas Jürgasch

1. VORSPANN

Er hat die sagenhafte Bundeslade gefunden, in Indien einen der legendären Shankara-Steine wiederbeschafft, den Heiligen Gral entdeckt – sogar seinem Vater daraus zu trinken gegeben – und einen mysteriösen Kristallschädel seinen außerirdischen Besitzer:innen zugeführt! Fans des amerikanischen Popcornkinos werden sogleich erkannt haben, um wen es sich dabei handelt – um den wohl berühmtesten Archäologen der Welt: Dr. Henry Walton Jones Jr., besser bekannt als Indiana Jones. Als Titelheld einer mittlerweile vier Filme umfassenden Kinoreihe hat der seit 1981 von Harrison Ford gespielte Indiana Jones dabei – sowohl auf der innerfilmischen als auch auf der außerfilmischen Ebene – etwas geschafft, wovon viele Wissenschaftler:innen – v. a. der sogenannten ›Geisteswissenschaften‹ – träumen: ihr Fach jenseits des sogenannten ›Elfenbeinturms‹ öffentlichkeitswirksam zu präsentieren und zugleich dessen praktische Relevanz unter Beweis zu stellen. Hier kann Dr. Jones natürlich gerade als Geisteswissenschaftler punkten, auch wenn die Methoden seiner praktischen Archäologie bisweilen etwas unorthodox erscheinen mögen.

Immerhin haben die Indiana Jones-Filme laut Statistischem Bundesamt in der »echten Welt« dazu geführt, dass nach der Erstausstrahlung des ersten Filmes im Jahr 1981 die Studierendenzahlen im Fach Archäologie in Westdeutschland im Zehnjahreszeitraum bis 1991 um 85 % angestiegen sind (https://de.statista.com/infografik/25044/studierende-der-archaeologie-in-deutschland/ [25.11.2021]). Was allerdings aus universitärer Sicht vielleicht gegen eine Nachahmung der Jones’schen Methoden spricht, ist, dass Projekte wie die Suche nach dem Heiligen Gral oder außerirdischen Kristallschädeln wahrscheinlich nur bedingt drittmittelförderwürdig sind.

Mit dem Kontrast zwischen dem spröden archäologischen Hochschullehrer Dr. Jones auf der einen und dem sich nach seinem Hund aus Kindheitstagen selbst so bezeichnenden Abenteurer »Indiana« Jones auf der anderen Seite spielen die Filme selbst immer wieder. Und es ist u. a. eben dieses Changieren zwischen Jones’ Persönlichkeiten und ihren entsprechenden Welten, das den Reiz dieser in den Filmen immer auch ironisch gebrochenen und nach heutigen Maßstäben vielleicht auch kontroversen »Heldenfigur« ausmacht; eines Helden, der eben noch als leicht spröder Prof. Jones dozierend im Hörsaal steht, nur um Augenblicke später, ausgestattet mit Lederjacke, Peitsche, Revolver und Fedora, in aller Handgreiflichkeit Jagd auf archäologische Kostbarkeiten zu machen, die er vor dem Zugriff von Nazis, Kommunisten und anderen ideologischen und religiösen Fanatikern zu retten versucht.

Das Spiel mit diesen Kontrasten stellt dabei nicht nur einen wesentlichen Bestandteil des Erfolgsrezeptes der Filmreihe dar. Darüber hinaus spricht es ein Motiv an, das eben schon angeklungen ist und das für die nachfolgenden Überlegungen zu der – aus meiner Sicht – zentralen Bedeutung liturgiewissenschaftlicher Perspektiven für die altkirchenhistorische Forschung eine wichtige Rolle spielt. Abstrakt formuliert geht es dabei um das Verhältnis von Theorie und Praxis, das in den Filmen auf verschiedenen Ebenen thematisiert wird. Dies gilt etwa, wenn Jones in einer Hörsaalszene des dritten Films der Reihe seinen Studierenden dozierend erklärt, dass es in der archäologischen Praxis niemals vorkomme, dass ein »X« genau die Stelle markiert, an der man zu graben hat, um einen wertvollen Schatz zu heben. Konterkariert wird dies einige Szenen später, wenn unser Held genau an einer solchen, durch ein X markierten Stelle damit beginnt, den Mosaikboden einer venezianischen Kirche aufzureißen, da er genau dort – unter dem X – einen wichtigen Hinweis für seine Suche nach dem Heiligen Gral zu finden hofft. Mit dem Zugang über das das Theorie-Praxis-Verhältnis lassen sich einige wesentliche Aspekte liturgiewissenschaftlicher Forschung thematisieren, die aus meiner Sicht als Altkirchenhistoriker deren hohe Relevanz aufweist. Wie deutlich werden wird, erstreckt sich dieses Potenzial nicht nur auf kirchenhistorische Reflexionen im engeren Sinn, sondern darüber hinaus auf eine ganze Reihe weiterer Facetten theologischen Nachdenkens.

Um zu erläutern, worin genau dieses Potenzial besteht, inwiefern das besagte Verhältnis von Theorie und Praxis in diesem Kontext eine zentrale Rolle spielt und was das Ganze schlussendlich überhaupt mit Indiana Jones zu tun haben könnte, sollen zunächst das, was mit »Theorie-Praxis-Verhältnis« genauer gemeint ist, im Rückgriff auf semiotisch-pragmatistische Überlegungen von Charles S. Peirce (1839–1914) in den Blick genommen werden. In einem zweiten Schritt werden diese semiotischen Betrachtungen auf konkrete Beispiele aus der kirchenhistorischen und liturgiewissenschaftlichen Forschung angewendet werden, um so darzulegen, dass und weshalb auf Liturgie fokussierende Perspektiven gerade für kirchenhistorische Fragestellungen von so zentraler Bedeutung sind. Abschließend wird in einem dritten Schritt auf die Konsequenzen einzugehen sein, die sich aus diesen Überlegungen ergeben und die es rechtfertigen, der Liturgiewissenschaft den Heldinnenstatus einer ›Jägerin verlorener Schätze‹ zuzuschreiben. Zunächst aber zu einigen semiotischpragmatistischen Gesichtspunkten von Theorie und Praxis.

2. »WHAT YOU DO SPEAKS SO LOUDLY I CANNOT HEAR WHAT YOU ARE SAYING« – ASPEKTE VON THEORIE UND PRAXIS AUS SEMIOTISCH-PRAGMATISTISCHER SICHT

Dieses – zugegebenermaßen sehr frei wiedergegebene – Bonmot aus Ralph Waldo Emmersons (1803–1882) Letters and Social Aims illustriert in sehr schöner Weise einen zentralen Gesichtspunkt des sogenannten »Peirce’schen Pragmatismus« (Emmerson 96). Peirce selbst bringt seine Form ›pragmatischen‹, später von ihm zur weiteren Präzisierung als ›pragmatizistisch‹ bezeichneten Denkens dabei schon früh in seinem Werk mit Hilfe der folgenden Maxime auf den Punkt: »Consider what effects, which might conceivably have practical bearings, we conceive the objection of our conception to have. Then, our conception of these is the whole of our conception of the object.« (Peirce 293) Wie dieses Zitat aus Peirces Traktat »How to Make our Ideas Clear« zeigt – einem Traktat, der u. a. das Ziel verfolgt, unsere Ideen vor möglichen metaphysischen Täuschungen« (metaphysical deceptions) zu bewahren –, lassen sich die Bedeutungen unserer Konzepte in erster Linie dadurch klären, dass wir ihre »Effekte« (effects ) in den Blick nehmen, und zwar v. a. solche, die praktische Tragweite bzw. Konsequenzen haben (d. i. die im Zitat genannten »practical bearings «) (Misak 29–32). Auch wenn Peirce seine Maxime in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder überarbeiten und zu präzisieren versuchen wird, zeigt sich schon in dieser Formulierung derselben eine Grundüberzeugung der Peirce’schen Art des Denkens: dass nämlich zur Klärung der Bedeutungen unserer Konzepte (»conceptions «) die genannten »practical bearings « zu berücksichtigen seien. Um was aber handelt es sich bei diesen ›praktischen Konsequenzen‹, die doch für die Klärung unserer Konzepte so wichtig sein sollen? Um diese Frage beantworten zu können, ist es nötig, sie in den weiteren Kontext der Peirce’schen Lehre von den Zeichen und der Interpretation derselben zu stellen, in den Rahmen seiner Semiotik also; denn: Die Klärung unserer Konzepte stellt einen Sonderfall dessen dar, was Peirce allgemeiner als die Frage nach der Genese und Interpretation von Zeichen fasst. Als eine Besonderheit der Peirce’schen Spielart der Semiotik kann dabei gelten, dass sie die Struktur der Zeichen als eine triadische begreift: Sie sieht Zeichen als solche durch drei und nicht – wie traditionell üblich – zwei Aspekte bestimmt, was bisweilen mit Hilfe eines sogenannten ›semiotischen Dreiecks‹ visualisiert wird (Jürgasch 2015, 202–205). So besteht für Peirce jedes Zeichen (sign ) aus einem bezeichnenden Element (representamen ), einem bezeichneten Element (object ) und einem sogenannten Interpretanten (interpretant ), der selbst ein weiteres Zeichen darstellt, welches das Bezeichnende des Zeichens mit dem entsprechenden Bezeichneten verbindet (Peirce CP 2.228; Peirce verwendet sign und representamen manchmal in austauschbarer Weise). Was zunächst etwas kryptisch und kompliziert klingen mag, ist eigentlich recht simpel und gerade für Peirces Zeit gleichzeitig äußerst innovativ. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass im Fall der Interpretation eines Zeichens das bezeichnende Element stets in Bezug darauf ausgelegt werden muss, was es eigentlich bezeichnet, worin seine »Bedeutung« (meaning ) besteht, oder, um Peirces eben verwendete Terminologie nochmals aufzugreifen, auf welches »object « es verweist. Zeichen, so Peirces Grundüberzeugung, bedeuten nicht an sich einfach etwas, sondern stehen immer im Kontext weiterer Zeichen, was im Akt ihrer Interpretation zu berücksichtigen ist. Während beispielsweise ein angebissener Apfel, sofern er als Zeichen bzw. Symbol für etwas aufgefasst wird, in bestimmten religiösen Zusammenhängen auf den biblischen Sündenfall verweist, kann er in anderen Fällen z. B. für sündhaft teure Elektrogeräte stehen. In wieder einem anderen Fall vermag ein solcher Apfel, wenn er etwa unter einem Küchentisch entdeckt wird, als Symbol für den Sauberkeitszustand eben dieser Küche zu dienen und wird möglicherweise bei der Person, die ihn entdeckt, sofort das Bedürfnis erzeugen, die Küche zu putzen und aufzuräumen. Entscheidend ist nun für Peirce, dass der Apfel als solcher – wenn er denn überhaupt als ein Zeichen aufgefasst wird – keine Bedeutung hat und auf kein »object « verweist. Bedeutung erlangt er erst, wenn ein weiteres Zeichen eingeführt wird, durch welches die in einem bestimmten Fall anzunehmende Bedeutung zur Sprache kommt – genau dieses Zeichen ist Peirce zufolge der Interpretant. Als ein solcher Interpretant kann dabei u. a. ein komplexes Zeichen wie ein Satz fungieren, mit dessen Hilfe eine Person aussagt, in welcher Weise sie den Apfel als Zeichen verstanden hat bzw. verstanden wissen wollte. Darüber hinaus fallen für Peirce u. a. aber auch bestimmte Handlungen unter die Kategorie der Interpretanten; wenn ich mich etwa auf der Straße umdrehe, nachdem hinter mir jemand meinen Namen gerufen hat, oder wenn ich die Küche aufräume, nachdem ich den auf dem Boden liegenden angebissenen Apfel wie im eben genannten Beispiel als Zeichen für den Sauberkeitszustand der Küche auffasse. Mit Blick auf diese Bandbreite der verschiedenen Arten von Interpretanten und ihrer Funktionen lässt sich dabei mit Cheryl Misak grundsätzlich festhalten: »Meaning, for Peirce, resides in the effects a sign has on interpreters – on what Peirce calls its interpretant. He catalogues many varieties of interpretants – from the simple reaction of one who turns his head at the indexical shout of ›look‹ to sophisticated responses to propositions.« (Misak 32)

Für den hier diskutierten Kontext spielen nun insbesondere die gerade beschriebenen ›praktischen Interpretanten‹ eine essenzielle Rolle, eröffnet ihre Konzeption doch nicht nur eine ganze Reihe von Perspektiven auf das Verhältnis von Theorie und Praxis, sondern – auf dieser Grundlage – auch auf das reiche Potenzial liturgiewissenschaftlicher Reflexionen, das dieser Disziplin aus meiner kirchenhistorisch geprägten Sicht eignet. Entscheidend ist dabei, dass unsere zunächst rein ›theoretisch‹ erscheinenden Konzepte bisweilen eben auch und gerade durch Formen praktischen Tuns und Handelns interpretiert werden. Auch wenn dies hier zunächst so klingen mag, wird an dieser Stelle kein Gegensatz zwischen Theorie und Praxis zugrunde gelegt. Vielmehr wird mit schon seit der Antike angestellten feinsinnigeren Betrachtungen die Theorie ebenfalls als eine Form der Praxis angesehen, die etwa bei Aristoteles sogar als die höchste Form der Praxis gilt.

Insofern liturgiewissenschaftliche Forschung sich in vielen ihrer Spielarten auf solche Formen praktischen Tuns und Handelns in Gestalt von Riten und (liturgischen) Praktiken fokussiert, nimmt sie genau solche praktischen Interpretanten – hier v. a. religiöser und theologischer Konzepte – in den Blick und kann so Bedeutungsdimensionen dieser Konzepte in besonderer Weise erhellen. Um zu veranschaulichen, wie sich dies ganz konkret darstellt und worin die Besonderheiten einer solchen Perspektive bestehen, sollen im folgenden Abschnitt einige altkirchenhistorische Beispiele angeführt werden; sie illustrieren, wie liturgiewissenschaftliche Betrachtungen die eben beschriebenen Perspektiverweiterungen durch ihren spezifischen Blick auf ›praktische Interpretanten‹ befördern können.

3. ALLES CHRISTLICH, ODER WAS? SPÄTANTIKE CHRISTLICHKEIT – EINMAL PRAKTISCH GEDACHT

Der Fokus auf die skizzierten ›praktischen Interpretanten‹ lässt sich in der Forschung zur frühen Kirche vielfach beobachten – wenn auch meist ohne explizite Verweise auf den beschriebenen pragmatizistischen Peirce’schen Theoriehintergrund und die entsprechende Terminologie. Ein erstes konkretes Beispiel dafür bieten die Arbeiten Éric Rebillards, der sich u. a. intensiv mit spätantiken »christlichen« Begräbnisritualen in Nordafrika