Im Auge des Windes - Fabian Stendtke - E-Book

Im Auge des Windes E-Book

Fabian Stendtke

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Beschreibung

Es sollte der Beginn eines großen Abenteuers am anderen Ende der Welt werden. Doch kaum war die Dämmerung der ersten Nacht gewichen, nahmen an Bord des Forschungsschiffes unheilvolle Dinge ihren Lauf. Werden Jonas und Lia den Geheimnissen auf den Grund gehen können? Ein Detektiv-Abenteuer auf hoher See - Flucht und Entkommen: Ausgeschlossen. Für alle Leserinnen und Leser ab 10 Jahren.

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Seitenzahl: 185

Veröffentlichungsjahr: 2023

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INHALT

Fahrt aufnehmen

Ostwärts

Der Vorhang fällt

Wie Dominosteine

Licht und Schatten

Volle Fahrt voraus

Knurrende Mägen

Die Würfel gefallen

Zum Geburtstag viel Glück

Nächtliche Geister

Land in Sicht

Klarschiff machen

Im Blitzlicht

Seemannsgarn

Spuren lesen

Aus dem Nichts

Auf den letzten Meter

Wachablösung

Auf einer Wellenlänge

Letzte Absprachen

Abgeschiedene Strände

Wegweisungen

Aufgeflogen

Vom Erdboden verschluckt

Wendepunkt

Verzweifelte Suche

Am anderen Ende der Leitung

Tag 1

Kapitel eins

FAHRT AUFNEHMEN

Noch war Zeit. Lange hatte Jonas auf diesen Augenblick hingefiebert und nun stand er kurz bevor. Mit angewinkelten Knien und in kurzer Hose saß er wartend auf dem geriffelten Metallboden, der an einigen Stellen bereits leichten Rost ansetzte und dort von seinem ursprünglich ockergelben Pastellton in ein rötliches Braun überging. Gedankenvertieft betrachtete er seine zahlreichen Schürfnarben auf den Knien, erinnerten diese ihn doch an einige der schönsten Augenblicke in seinem noch jungen Leben.

Diese da erzählte so manche lustige Geschichte aus dem steinigen Bachlauf, den sie immer als Abkürzung in den Bretterbudenwald nutzen, und jene dort, an seinem anderen Bein, erinnerte ihn an die sommerlichen Kletterabenteuer. Die längste und tiefste von ihnen aber zog sich quer über das rechte Schienbein, diese hatte er als Erinnerungsstück von einem waghalsigen Seifenkistenrennen mitgebracht.

Jonas Rücken lehnte am kühlen Metallrahmen des Bettes, welches gerade genug Platz für einen schmalen Hering wie ihn bot. An nicht wenigen Stellen blätterte bereits die graue Farbe ab. Auf beiden Längsseiten war die Liegefläche durch ein doppelgittriges Bettgeländer eingerahmt, welches Jonas aus dem Krankenhaus vertraut war. Wie zuletzt, als er nach seinem Fahrradsturz eine Nacht dort verbringen musste. Vorsichtshalber. Naja, und eigentlich auch unverschuldet, schließlich hat so ein Hinterreifenplatzer selbst den geübtesten Fahrer schon einmal vom Sattel gerissen.

Jonas spürte, wie das harte Gestell auf seine Wirbelsäule drückte. Um die Szenerie eines Krankenhauszimmers weiter zu komplettieren, fehlten nur noch die Beinbügelgurte und ein in Klarsichthülle gepacktes und mit einer Schnur am Rahmen befestigtes Karteikärtchen, auf dem alle, die ihn hier besuchen würden, in vertrauter Schreibmaschinenschrift lesen könnten:

Jonas Karlkvist, geb. am 07.04.2010 Sternzeichen Widder. Abenteurer und großer Bruder. Leibgericht: Spaghetti.

Anders als er es vom Hospital kannte, duftete das Bett jedoch erfreulich frisch und die Matratze erweckte einen durchaus passablen Eindruck, sodass es sich hier entgegen der ersten Betrachtung sicher angenehm schlafen ließ. Die Müdigkeit würde ihn in den nächsten Tagen ohnehin einholen. Und die gewöhnungsbedürftigen Gitter? Nun ja, als Schutz vor dem Hinausfallen würden sie Jonas vermutlich noch ihren Dienst erweisen; schließlich ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, wie Jonas die Nächte in seinem neuen Zimmer verbringen würde. Noch klang es für Jonas ungewohnt: Sein neues Zimmer, genau, so durfte man von es von jetzt an mit gutem Gewissen nennen.

Außer einer größeren Holzkiste und einem weißlichbeigen Handwaschbecken, welches durch einen lieblos arrangierten Fliesenspiegel eingerahmt wurde, befand sich auf der rechten Seite des Zimmers, also dort, wo Jonas gerade nachdenklich am Bett lehnte, nichts weiter. Das Waschbecken würde er ohnehin kaum benutzen; die WCs und Duschen waren schließlich direkt nebenan. Und die Holzkiste? Jonas hatte einmal kurz probiert, sie zu öffnen. Es war jedoch vergeblich, sodass sie ihm schnell wieder aus dem Sinn geriet.

Auf der anderen Seite des überschaubaren Raumes, der durch die Eingangstür und das gegenüberliegende, lichtdurchflutete Fenster optisch in zwei etwa gleichgroße Hälften geteilt wurde, befand sich ein mannshoher Kleiderschrank, der zwar nicht viel, aber doch ausreichend Platz und Raum zum Verstauen bot und scheinbar nur darauf wartete, von Jonas bestückt zu werden. Unmittelbar angrenzend daran, in Richtung des Fensters, befand sich ein rechteckiger Schreibtisch aus dunklem Mahagoni-Holz, an dem den Einkerbungen, Kratzern, Wachsflecken und vor allem den unzähligen Glasrändern nach zu urteilen unter Kerzenlicht so manche Nacht durchgearbeitet und Pläne geschmiedet wurden. Als einziger Sitzplatz, abgesehen von Bett und Boden, stand ein windschiefer Holzstuhl zur Verfügung, der trotz – oder gerade wegen – seiner offensichtlichen Abnutzungserscheinungen Jonas in den Bann zog. Ganz sicher hat auf diesem schon so mancher Staatsmann Platz genommen oder ein windiger Unterhändler, der mit Piraten über die Freilassung von Geiseln oder Gold verhandelte.

Und wenn einer von Jonas´ Nachmietern diesen Stuhl einmal beäugen wird, wird er in Gedanken vielleicht den inzwischen über alle Grenzen hinweg bekannten elfjährigen Jonas sehen, wie dieser mit Hilfe von Zirkel, Lineal und alten Seekarten dem tobenden Sturm ausgewichen ist, von dem man sich auch Jahrzehnte später noch in alten Hafenkneipen erzählt. Und der größte aller Glasränder, dieser dort, der ist von ihm und seiner eisgekühlten Orangenlimonade.

Jonas dachte daran, dass er hier, in seinem Zimmer, nur übergangsweise wohnte. Genau genommen nur zwei Wochen. Und dann würden sie wieder in die Heimat fliegen. Nach Schweden.

Bis dahin gab es jedoch viel zu erleben! Und einige Aufgaben zu erledigen, nicht zu viele, aber doch ein paar, da er nur mit einer Sondererlaubnis von der Schule befreit wurde. Für das Fach Schwedisch sollte er die letzte Rechtschreibeinheit wiederholen und eine Art Reisetagebuch führen, in Mathematik ein paar Arbeitsblätter in Geometrie lösen und die Entfernungen zwischen den besuchten Orten berechnen und für Erdkunde ein Referat über Neuseeland und das Südpolarmeer halten. Und für Biologie, das hätte er fast vergessen, natürlich nach Tieren Ausschau halten. Aber das hätte er ohnehin getan.

Trotzdem, und das muss auch erwähnt werden: Muße und disziplinierter Fleiß wären einige der ersten Dinge, die er später als Politiker abschaffen würde. Aber dazu würde es ohnehin nicht kommen, denn eigentlich wollte er ja kein Politiker werden. Eher Schreiner oder so. Oder vielleicht Forscher. Wie Mutter. Irgendwann würde sich seine innere Stimme schon bei ihm melden und ihm den Weg weisen. Erwachsene können sich gar nicht mehr vorstellen, wie weit weg so ein Berufsleben von den wilden Abenteuernachmittagen eines Heranwachsenden ist.

Ganz und gar nicht ungewiss hingegen war die Tatsache, dass es sich an ungewöhnlichen Orten nun mal besser lernen ließ als auf allen Schulbänken der Welt. Und davon ab: Am allerbesten lernte es sich, – wieso waren eigentlich seine Lehrer noch nie dahintergekommen? – wenn niemand befahl, dass man jetzt und hier lernen müsse.

Mathematik zum Beispiel lernte Jonas immer – das heißt, wenn ihm danach war – auf dem Dachboden bei Opa Gustav, der auf einem kleinen Gehöft unweit von Jonas und seiner Familie wohnte und dort neben der Pflege eines schier endlosen Gemüsegartens zwei Schweine und eine beachtliche Menge an Hühnern zu versorgen hatte. Wenn mal wieder eine Klassenarbeit anstand und es am späten Nachmittag bereits dämmerte – und dies tat es bis auf die Zeit um die Sommersonnenwende in Schweden häufig recht früh – pflegte er sich auf Opa Gustavs Dachboden ein kleines Lämpchen anzuzünden und sich einen Sitzsack aus alten Pferdedecken zu bauen, auf dem sich herrlich gut Mathematik lernen ließ. Noch herrlicher war es jedoch, die Mathebücher schnellstmöglich wieder auf Seite legen zu können, um Kriminalgeschichten zu lesen oder sich den wirklich wichtigen Dingen im Leben zu widmen. Zum Beispiel dem Schnitzen oder dem Fußballbilder Sortieren.

Anders war es mit der schwedischen Sprache und Literatur. Diese ließ sich auf dem Dachboden keineswegs lernen; das stand fest. Wie auch? Hierzu kam nur ein einziger Ort in Frage: Die kleine Holzveranda vor der Tür, von der aus man einen unverbauten Blick auf den Birnbaum erhaschen konnte und man sich so vergnüglich oft vor Mücken in Acht nehmen musste. Auch wenn diese Fliegetiere nervig waren, hatten sie doch so manches auf der Habenseite. Ganz weit oben: Die Ansiedlung einer beachtlichen Froschpopulation. Und noch weiter oben: Die Stille vor seiner kleinen Schwester, die Mücken lieber aus der Ferne beobachtete.

Englisch, das ihm Dank seiner Mutter, die halbe Kanadierin war – Jonas hasste diesen Begriff, war sie für ihn doch sowohl ganz-Kanadierin als auch ganz-Schwedin und nichts Halbes – dieses Fach jedenfalls, was ihm folglich bereits mit in die Wiege gelegt wurde, lernte sich am besten unten am Teich, und zwar auf dem selbst errichteten Holzsteg, auf dem er und Opa Gustav immer saßen, wenn sie Forellen angelten oder Papierschiffe auf das Wasser setzen. Oder im Sommer ihren jauchzenden Arschbombenwettbewerb veranstalteten, zu dem alle Kinder aus den umliegenden Höfen eingeladen wurden und der seinen festen Platz im Terminkalender eines jeden Heranwachsenden im Umkreis von fünfzehn Fahrrad-Minuten im östlichen Västmanland besaß. Und wenn es einmal kalt war, auch im Winter musste man schließlich Englisch lernen, machte Jonas es sich immer vor dem knisternden Kamin gemütlich, dann jedoch bei Mutter und Vater im Haus; Behaglichkeit würden Erwachsene dieses Gefühl wohl nennen, das ihn auch jetzt augenblicklich überkam, da sich die mit dem Metallboden einhergehende Kühle in seinem Körper allmählich ausbreitete und er es hier, auf dem Boden, auf einmal unerklärlich gemütlich fand. Wie ähnlich sich wohltuende Wärme und Kälte doch sind!

Jonas schnitzte derweil mit seinem Taschenmesser aus einem Eibenholz gekonnt ein weiteres Stückchen ab, sodass die Umrisse eines Kiwi-Vogels bereits deutlich zu erkennen waren, und ihm dieser – wenn auch mit dem Schnitzen des Gefieders und des spitzen Schnabels die eigentlichen Prüfungen noch bevorstanden – bereits recht gut gelungen schien.

Die Strahlen der inzwischen tiefer stehenden Sonne fielen bereits bis an den Türschlitz, durch den man, wenn man genau hinsah, ein wahres Durcheinander aus Schuhsohlen und Schatten beobachten konnte. Jonas blinzelte dem Licht entgegen.

Wie wäre es mit etwas Musik? Zeit hatte er ja. Obwohl Vater ihm ans Herz gelegt hatte, die Lautstärke des alten Walkmans – Onkel Nils hatte ihm diesen im April zu seinem elften, seinem letzten, Geburtstag, geschenkt – möglichst nicht bis zum Anschlag aufzudrehen, befand Jonas, dass am heutigen Tag die Musik in voller Lautstärke auszukosten sei; schließlich ist nicht jeder Tag ein Tag für laute Musik.

Es gab die leisen Tage, die durch Bücher und Puzzles gefüllt werden wollten und eben die lauten Tage, an denen mit dem Rad wilde Abhänge hinab gerast oder sonst wie Bauchkribbeln erzeugt wurde. Heute war es wohl die Aufbruchstimmung, die die Lautstärke vorgab. Heute war ein lauter Tag.

Onkel Nils hatte Jonas extra eine alte Nirvana-CD auf Kassette überspielt, die er seit Tagen rauf und runter hörte und in großen Teilen bereits auswendig kannte. Wie ärgerlich, dass es davon nicht mehr gab! Gedankenverloren schloss Jonas die Augen, wippte seinen Kopf im Takt, dem Dave Grohl, der Schlagzeuger der Band, ihm vorgab und sang die Zeilen innerlich mit. Vielleicht etwas lauter, als er dachte.

Here we are now, entertain us, I feel stupid and contagious...

»Jonas, es nervt! Mach die Musik leiser!«

Kaum ertönten die ersten Takte des Refrains, hörte er seine zwei Jahre jüngere Schwester Lia, die lesend auf dem Bett hinter ihm saß und deren Anwesenheit er – entschuldigt bitte! – mal wieder völlig vergessen hatte, dumpf durch seine Kopfhörer befehlen. Schon verrückt, bei seinem kurzen Zimmerrundblick vor wenigen Minuten muss er geistesabwesend durch sie hindurchgeblickt haben.

Kurz öffnete Jonas die Augen, um nachzusehen, ob die Stimme wirklich von Lia kam. Jonas drehte sich um und sah in das fragende Gesicht seiner jüngeren Schwester.

»Geht das nicht etwas leiser?«

Jonas beantwortete ihre Frage stillschweigend, indem er den Lautstärkepegel ein kleines Stückchen verringerte.

Jonas wandte Lia wieder den Rücken zu und blickte auf den alten Meranti-Schrank, der ihm gegenüberstand und dessen Maserungen ihn an die weiten, unregelmäßigen Schlieren im Sand erinnerten, die raue Wellen mit viel Schaum und Muscheln im Gepäck für gewöhnlich erschufen. Erst gestern verbrachten sie den Empfehlungen einer Einheimischen folgend am Allans Beach einige Stunden fernab von anderen Menschen, Straßengeräuschen und Häusern. Papa hatte eigens für diesen Ausflug das kostbare Fernglas eingepackt und für Lia und Jonas einen ganzen Korb frischer Mandarinen mitgenommen. Auch wenn die Anfahrt von Dunedin auf die Otago Halbinsel auf der Karte nur einen Katzensprung entfernt schien, war sie aufgrund der abgelegenen und nur von wenigen Geländefahrzeugen befahrbaren Schotterwege doch lang und beschwerlich. Ständig staubte es und Vater musste wahlweise herumirrenden Schafen oder Schlammpfützen ausweichen.

Aber die Anreise war auch lohnenswert, denn hier, auf der Halbinsel, war die Natur doch noch einen Schwung abwechslungsreicher als in Dunedin. Gefühlt, nein ganz sicher sogar, war das Gras hier noch ein Stückchen höher, noch grüner und saftiger und die unzähligen Hügel auf seltsame Art und Weise noch geschwungener. So, als wären sie alle von einem Riesen geformt, der mit den Füßen in der wilden Brandung stehend schauerliche Lieder sang und die Anhöhen der Halbinsel mit viel Anmut entwarf. Und dabei vielleicht von zwei noch größeren Riesen begleitet wurde, seinen Eltern womöglich, die hier, mitten in der tasmanischen See, weit weit hinter Australien, gerade die zwei Hauptinseln Neuseelands formten und sich gegenseitig in Kontur und Vielfalt übertrafen.

Jonas sah die drei Gestalten klar vor sich und dachte an die – zugegeben – deutlich kleineren Schneehügel, die er auf den sanft geschwungenen Berghängen im Winter errichtete (und die wahlweise als Sprungschanze oder als zu verteidigende Burg bei einer Schneeballschlacht Einsatz fanden).

Ja, mit Schnee konnte man herrlich schöne Dinge machen und in nicht allzu langer Ferne würde er wohl wieder welchen zwischen seinen Fingern spüren. Endlich. Vielleicht würde er sogar einen Schneemann bauen können, der ihm als Spielpartner eine gelungene Abwechslung bieten würde. Wegen zu lauter Musik würde er sich ganz sicher nicht beschweren, man müsse nur darauf verzichten, ihm mit Holzkohle ein paar Ohren zu formen. Und nebenbei würde er auch nicht so viele Rückfragen wie Lia stellen. Gespräche mit ihm wären zugegebenermaßen recht einseitig, aber darauf kommt es ja auch nicht an. Wie viele Menschen halten schließlich Fische als Haustiere?

Von Schnee über Fische holten ihn seine Gedanken zurück an den vergangenen Strandtag. Jonas ließ sich von seinen Gedanken leiten und fand sich auf dem Rücksitz des Fahrzeugs wieder. Eingestaubt und durchgeschüttelt erreichten sie – Vater, Lia und Jonas – schließlich einen bewaldeten Parkplatz, auf dem sich bis auf einen in die Jahre gekommenen Surfer-Van kein anderes Fahrzeug befand. Vater parkte den Mietwagen zwischen zwei hoch aus dem Boden ragenden Wurzeln des Pohutakawa-Baumes, der derzeit in voller Blüte stand und dessen rote Früchte ihm, dem Eisenholzbaum, wie er übersetzt aus der Sprache der Maori heißt, den Namen gaben. Unter den ausladenden Ästen war nur wenig Platz vorhanden, gut also, dass ihr Wagen nicht sonderlich hoch war.

Sie stiegen aus. Aus der Ferne vernahmen sie das leise Bellen eines Hundes, das weniger bedrohlich als viel mehr verspielt klang. Bis zu den Dünen war es noch ein gutes Stückchen. Zunächst mussten sie den Aufstieg über eine kleine Weide bewerkstelligen. Der Wind schlug ihnen bereits jetzt vor der Kuppe arg ins Gesicht, sodass sie sich trotz Temperaturen um 24 Grad, was für den neuseeländischen Sommer auf der Südinsel ein wenig zu warm war, die Kapuze ins Gesicht ziehen mussten. Die Verständigung wurde mit jedem Schritt Richtung Meer schwieriger und ihr Körper und ihre Kleidung fühlten sich – obwohl die Wolken es nicht vermuten ließen – seltsam nass an. Wie nach einem Nieselregen.

Auf dem höchsten Punkt der Düne angelangt, stellten sie schnell fest, dass nicht etwa ein unverhoffter Sommerschauer, sondern die raue Brandung, die sich ihnen aufgrund der einsetzenden Flut nur wenige Meter entfernt zeigte, der Grund für ihre Abkühlung war. So lange Wellen hatte Jonas noch nie gesehen; und selbst Lia, die manche Dinge oft kritisch sah, ließ sich zu der Aussage hinreißen, dass dieser einsame, menschenleere Strand wohl einer der schönsten auf der Welt sein musste. Ja, dieser Strand war wirklich eine Wucht. Der Trampelpfad führte sie durch unzählige Tussokgräser, deren Halme den Borsten von Straßenbesen ähnelten und die in etwa fußballgroßen Büscheln angeordnet waren und aus dem feinen Sand ragten.

Links und rechts taten sich in weiter Entfernung schroffe Felsen auf und der Sand, den sie unter ihren Fußsohlen spürten, war fein und von hellbrauner Farbe. In der Mitte der Bucht betraten sie den Strand.

Nachdem sie auf einer Decke sitzend zwei Wellenreitern – vermutlich war es ihr Van, neben dem sie geparkt hatten – ein Weilchen zusahen und so viele Mandarinen aßen, bis sie Bauchschmerzen bekamen, wurde das Bellen des Hundes wieder lauter und Jonas konnte links von ihm klar und deutlich erkennen, wie sich drei – sah er richtig? – Steine aus dem Meer bewegten. Zwei große und ein kleiner. Papa griff zum Fernglas, doch ehe er unbeholfen die Abdeckkappen lösen konnte, hatte Lia, die altersbedingt wohl die besten Augen hatte, das Szenario als erste durchblickt:

»Robben, das sind Robben!«, rief sie freudig.

Und auch Jonas konnte nun die Tiere deutlich erkennen.

»Papa, können wir zu ihnen?«, bettelte Lia, und bevor Vater antworten konnte, lief sie bereits auf dem endlosen Strand den Meeressäugern entgegen.

Jonas, der schon viel über Tiere gelesen hatte und bei Frau Ingmarsen, wenn diese denn mal Sachkunde unterrichtete und nicht immer nur malen wollte, häufig gut aufpasste, packte Lia an der Hand und spürte sogleich die Verantwortung, die er über seine kleine Schwester übernahm.

»Das sind Pelzrobben«, rief er Vater im Weglaufen zu, »die tun nichts, wir halten Abstand!«

So ist das nun einmal mit kleinen Schwestern: In dem einen Augenblick vergisst man sie glatt, im nächsten hat man sie an der Hand und gibt auf sie Acht.

Den Blick immer noch auf den Kleiderschrank gerichtet, spürte Jonas wie die betrachteten Astaugen sich augenblicklich zu bewegen begann, so als würde Robbe um Robbe aus dem Meer steigen, um ihn hier – in seinem Zimmer – willkommen zu heißen. »Nur zu, ihr lieben Robben, kommt herein, aber passt bitte auf die Schleppnetze auf. Die da hinter mir ist Lia, meine kleine Schwester, mein Name ist Jonas. Vorsicht, bitte, rutscht nicht aus!« Hatte er die Sätze wirklich gerade ausgesprochen? Oder war es nur seine Phanatasie?

Aus den Augenwinkeln sah er durch das Fenster die größer werdenden Wellen des Meeres auf ihn zuschwappen. Jonas wurde nun vollends aus seinen Gedanken gerissen. »Lia!«, rief er freudig, »es geht los! Lia?« Wo war sie nur? Jonas war scheinbar entgangen, dass seine Schwester bereits das Zimmer verlassen hatte, und so lief er an Deck, um der an Land stehenden Menge vor der Abreise noch einmal zuzuwinken. Schließlich ging die lang ersehnte Expedition zum Südpol endlich los.

Oben angekommen standen bereits seine sich umarmenden Eltern und eine fröhlich lachende Lia an der Reling. Jonas quetschte sich zwischen sie. Aber wo zum Himmel waren die taschentuchschwenkenden Menschen, die Posaunen, die Männer, die ihre Hüte in Luft warfen? Alles, was Jonas aus den Filmen und aus seinen Büchern kannte? Niemand, aber auch wirklich niemand bemerkte, wie die Arctic Hope den Hafen von Dunedin verließ, um die Fahrt Richtung Antarktis aufzunehmen.

Kapitel zwei

OSTWÄRTS

Inzwischen hatte sich auch Jeff, einer von Mutters Arbeitskollegen und auf dem gleichen Gebiet wie sie forschend, zu ihnen an die hintere Reling gesellt. Gemeinsam sahen sie nun den Wasserwirbeln nach, die die Arctic Hope auf ihrem Weg aus dem langgezogenen Fjord, dem Otago Harbour, hinterließ.

Jonas betrachtete neugierig das ihm dargebotene Wasserspiel und ihm war es, als wenn immer genau jene Verwirbelung, die er gerade verfolgte, unmittelbar bevor sie eins mit dem sanften Ozeanwasser wurde, ihm zublinzelte und einen letzten Gruß in Form eines kurzen, gespiegelten Sonnenstrahls hinterließ. Mal dezent, mal unverfroren, mal freundlich und mal nur ganz kurz und ruppig. Wie Menschen in einer Fußgängerzone, deren Blicke sich kreuzen.

Obwohl sie gerade erst losgefahren waren und die Reise erst jetzt begann, breitete sich in Jonas bereits ein Gefühl des Ankommens aus, was sicher und vor allem daran lag, dass seine Mutter wieder bei ihm war, und die, als hätte sie es gespürt, Jonas augenblicklich an den Schultern ein Stück fester packte, als es ihm für Jungs in seinem Alter beliebte.

In den vergangenen Monaten hatten sie, also Mutter und Jonas, nur wenig Zeit füreinander, was daran lag, dass Liz – so kürzten Dad und ihre Freundinnen ihren Vornamen, Elisabeth, ab – von Forschungsauftrag zu Forschungsauftrag eilte und nur sehr selten in seiner Nähe, geschweige denn überhaupt in Schweden war. Jonas überlegte kurz, aber ihm war entgangen, wo es sie zuletzt hin verschlug. Er wusste noch, dass es ein Ort in Afrika war, und dass es um die Rodung des Urwaldes ging und Düngemitteln auf Kakaoplantagen und irgendeinen See in der Nähe. Und dass sie seit dieser Reise daheim nicht mehr ihre geliebte Schokolade aßen, oder wenn überhaupt nur noch ganz selten. Dabei war sie doch so lecker – aber wie soll bitte auch ein Elfjähriger nachvollziehen können, dass die linke Schokolade im Regal besser sein soll als die rechte, obwohl diese offensichtlich zehn Mal besser schmeckt?

Jeff und Vater inspizierten derweil das Schiff, indem sie alles anfassten, was sich in ihrer Nähe befand, ganz gleich, ob es schmierig, heiß oder vollkommen uninteressant war. Jonas dachte an all die Männer, die er im Baumarkt beobachten konnte, die jeden Gang abliefen, sämtliche Werkzeuge berührten und begutachteten, teils in Schubladen voller Schrauben griffen, nur um festzustellen, dass es tatsächlich Schrauben waren, und letztendlich doch nichts kauften, weil sie nichts benötigten.

Während Jeff und Vater in immer tiefere Fachsimpelei verfielen und sich dabei wie von einer unsichtbaren Hand geleitet über Deck führen ließen – und Mutter und Lia allmählich in den Schiffsbauch verschwanden – , genoss Jonas die Stille, den sanften Fahrtwind und die sich ihm in allen Farbtönen zeigende Natur.

Auch wenn er in den vergangenen sechs Tagen, in denen seine Mutter die Ausrüstung für die Expedition sichtete, sortierte und verlud, bereits sowohl die nördlichen als auch die südlichen Landstriche nahe dem Fjord erkundet hatte (und sie sogar einen langen Tagesausflug in das Landesinnere nach Queenstown und den herrlichen Lake Wakatipu unternahmen), war der Blick aus der Mitte der Meerenge zu den ihn umgebenden Anhöhen ein gänzlich verschiedener, ein beeindruckenderer.

Vor wenigen Augenblicken war die geschäftige Hafenfront Dunedins noch klar und deutlich zu erkennen, Schiff an Schiff reihten sich dort dicht aneinander auf, um vom jetzigen Betrachtungspunkt aus eine kleine Lücke entstehen zu lassen, in der sich die vergilbte Leuchtreklame von Earl´s Fish & Chips auftat.

Nun, keine fünf Minuten später, war es für Jonas nur schwer zu verstehen, wie diese kleine Stadt, deren umlaufende Hügel nur spärlich besiedelt waren, die zweit