Im Bann des Dschingis-Khan - Gabriela Meyer - E-Book

Im Bann des Dschingis-Khan E-Book

Gabriela Meyer

4,9

Beschreibung

Tristan freut sich auf einen gemeinsamen Urlaub mit seinen Eltern im Süden Asiens. Aber dort ereignen sich mysteriöse Dinge. Zunächst berichtet eine alte Kantonesin von den "Schatten der Vergangenheit", die ihm bis in sein Land folgen würden. Und dann ist da noch der ominöse Antiquitätenhändler, der Tristan ein Tintenfass verkauft, von dem er behauptet, dass es das "Blut des Dschingis-Khan" beinhalte. Die Mysterien setzen sich auch in seiner Heimat fort. Da lernt er diesen fremdartigen Jungen kennen. Die Geschehnisse nehmen unweigerlich einen gefährlichen Verlauf...

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Der Dank gilt meiner Familie, die mich liebevoll unterstützte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

I

Lässig schlenderten sie durch die Straßen Kowloons. Sie waren mit der Fähre auf das Festland gekommen, um noch etwas von dem Flair des alten Chinas der Kaiserzeit zu erhaschen, das sich hier in unzähligen Überresten widerspiegelte. Da es ihr vorletzter Tag in diesem Land war, galt es den natürlich noch einmal so richtig auszukosten …

Schon lange hatten sich Tristan und seine Eltern Elisabeth und Rüdiger Hohenbusch einen gemeinsamen Urlaub im fernen Osten ersehnt. Und weil Rüdiger zufällig während der Sommerferien geschäftlich in Hongkong zu tun haben würde, bot es sich geradezu an, die gemeinsamen Ferien im Süden Asiens zu verbringen.

Rüdiger Hohenbusch war Einkäufer für Spielwaren einer großen Handelskette in Nürnberg. Die geschäftlichen Besprechungen sollten nur an zwei Tagen stattfinden. Dabei ging es vornehmlich um die Vorstellung neuartiger Spielzeugkollektionen, wertigerer und schadstoffärmerer Materialien und verbesserter Herstellungsmöglichkeiten zur Senkung der Produktionskosten.

Während dieser zwei Tage vertrieben sich Elisabeth und Tristan die Zeit alleine. Sie verbrachten viel Zeit damit, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die sie in Hongkong besichtigen wollten und studierten fleißig ihren Reiseführer.

Als Rüdiger der Arbeitswelt endlich den Rücken zukehren konnte, begann der gemeinsame Urlaub mit einer sehr bemerkenswerten Sightseeing-Tour in der Großstadt Victoria, an der Nordküste der Insel Hongkong …

Zunächst besuchten sie den Tempel des Gottes Man Mo Miu, der als ältester chinesischer Tempel der Stadt vermutlich im Jahre 1842 erbaut worden war. Schon die Tatsache, dass er – laut Stadtführer – von acht Unsterblichen bewacht wurde, machte Tristan so neugierig, dass ihn nichts und niemand davon hätte abhalten können, diesen Tempel genau zu ergründen. Das ungewöhnliche Ambiente jenes Bauwerkes stach besonders hervor: trichterförmige Metallkörbe in unzähliger Fülle baumelten von irgendwo da oben herunter und sogen die Rauchschwaden tausender Räucherstäbchen wie große Saugglocken in sich hinein. Zusammen mit der roten Hintergrundatmosphäre wog sich alles in vollkommener Harmonie und bot insgesamt eine sehr spirituelle und demutsvolle Stimmung.

Elisabeth, die vorab damit beschäftigt gewesen war, zwei Hirsche aus massivem Messing zu fotografieren, schritt nun zum Altar hinüber, um sich dort drei gläserne Sänften näher anzusehen. Da, plötzlich, wurde sie von einer ärmlichen alten Frau angesprochen, die neben dem Altar gehockt hatte und nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet zu haben schien. Zunächst ließ sie sich von der Alten in einen längeren Plausch verwickeln, dann winkten sie Tristan zu sich herüber.

Elisabeth wusste genau, dass ihr Sohn einen stark ausgeprägten Sinn für alles Übersinnliche und Verborgene hatte, und die alte Kantonesin sollte ihm unverzüglich anhand von den Rauchschwaden einiger Räucherstäbchen sein Schicksal vorhersagen…

Tristan hockte sich neben die alte Frau, so, dass er nicht das Gefühl erwecken konnte, in irgendeiner Form über sie erhaben zu sein. Das alte Mütterchen stammelte vor sich hin und Tristan wunderte sich sehr, weshalb sie die englische Sprache, wenn auch etwas gebrochen, so gut beherrschte.

Sie fing an, ihre Arme deutungsvoll zu kreisen und erzählte von den „Schatten der Vergangenheit“, die ihm bis hin in sein fernes Land folgen würden …

Doch urplötzlich wurde sie - wie aus heiterem Himmel - von einer streunenden Katze angesprungen und so bösartig gekratzt, dass sie wortlos und beinahe fluchtartig jenen Ort verließ …

Noch eine ganze Weile danach hatten Tristan und seine Eltern vor dem Tempel gestanden und sehr erregt über jenen Zwischenfall diskutiert. Doch dann endlich brachen sie auf, um zu der Ladder Street, einer Treppengasse mit typisch chinesischen Geschäften, zu gelangen. Dort wollten sie einfach nur ins Menschengetümmel eintauchen und im Strom des realen Lebens versinken. Sie kehrten in viele Geschäfte und kuriose Läden ein, besichtigten kostbare Antiquitäten und weltmeisterlichen Kitsch, der so manch naivem Touristen als große Kostbarkeit feilgeboten wurde. Und sie amüsierten sich köstlich.

Nach dieser eindrucksvollen Odyssee menschlicher Schwächen fuhren sie mit dem Peak Tram auf den 551m hohen Victoria Peak hinauf, mussten aber, nachdem sie aus der Bahn ausgestiegen waren, noch ein ganzes Stück zu Fuß bis auf den Gipfel hinaufsteigen.

Doch, es hatte sich wirklich gelohnt! – Solch ein Panorama war ihnen noch nirgendwo geboten worden! Stillschweigend und demutsvoll genossen sie den atemberaubenden Ausblick auf die Halbinsel …

Schwimmende Restaurants und die Bootsfahrt, bei der sie ihr Mittagessen von vorüberfahrenden Küchenbooten zusammengestellt hatten; die herrlichen botanischen und zoologischen Gärten und der Park namens Balm Garden, mit den bunten Figuren aus der chinesischen Mythologie. Dann noch der älteste Fischerort Aberdeen mit tausenden bewohnten Booten und Dschunken.

Und nicht zuletzt der gigantische Containerhafen - denn Hongkong war umschlagsmäßig einer der größten Häfen der Welt -, hatten in Tristan, der noch in den Ferien vierzehn Jahre alt werden sollte, einen gewaltigen Eindruck hinterlassen!

„Hongkong heißt Duftender Hafen, ein Begriff, der noch aus der Zeit des florierenden Opiumhandels stammt“, hatte sein Vater Rüdiger erklärt, als sie an einem der Kais standen, um den Arbeitern beim Be- und Entladen der Frachtschiffe zuzuschauen …

Denn Rüdiger, der seinen Grad als Akademiker immer wieder zu manifestieren wusste, war stets darauf bedacht, Tristan so viel Hintergrundwissen wie irgend möglich mit auf den Weg zu geben. Und so erklärte er seinem Sohn, dass eine so große Industrie- und Handelsmetropole wie Hongkong auch ihre Schattenseiten aufweise:

„Dort, wo sich Millionen von Menschen auf dichtem Raum zusammendrängen, gibt es natürlich auch Elendsviertel!“ bemerkte Rüdiger.

Und tatsächlich, Tristan wandte seinen Blick auf die Berghänge in der Ferne, dort, wo sich hunderte kleine Bretterbuden dicht an dicht aneinanderreihten …

Ein ähnliches Bild bot sich auf dem Wasser durch die zahlreichen Boote und Dschunken im Stadthafen, in denen die Menschen lebten.

Und während sich Tristan die Kehrseiten einer Weltstadt vor Augen hielt, erwähnte Rüdiger, dass es all diesen Menschen aber so noch besser ginge, als wenn sie von den kärglichen Erträgen nach harter Arbeit auf Chinas Feldern leben müssten.

Dann erklärte Rüdiger noch, dass Hongkong bis 1997 eine Britische Kronkolonie gewesen war und letztere für viele Chinesen, die als Flüchtlinge früherer Kriege und Revolutionen auf den 235 Inseln und in den New Territories im Nordwesten der Halbinsel Kowloon lebten, ein richtiger Zufluchtsort war.

„Die Menschen hatten damals große Angst davor, was geschehen würde, wenn all diese Gebiete an China zurückfallen würden. Wenn der Union Jack und das Wahrzeichen Großbritanniens, die Krone, der Fahne der Volksrepublik China wichen, dann könnten ja wieder die gleichen gefängnisähnlichen Bedingungen herrschen, die vor den vielen Revolutionen und Kriegen bestanden hatten, und vor denen die Menschen in die Kronkolonie geflüchtet waren“, erklärte Rüdiger.

Tristan hörte den Ausführungen seines Vaters bedächtig zu.

Seine Oma hatte ihn einmal als einen „hübschen blonden Jungen mit leider viel zu ernstem Wesen, aber ausgesprochen gescheit “ beschrieben.

Und Tristan entsann sich plötzlich der alten Kontonesin, und er sagte zu Rüdiger: „Ach, deshalb sprach die alte Frau in dem Tempel so gut Englisch, jetzt begreife ich!“

Eine Großstadt wie Hongkong vermochte es jedoch auch, einen Jungen wie Tristan rasch wieder abzulenken! – Da gab es Dinge, die ihn so sehr begeistert hatten, dass er die Probleme der Menschen dort erst einmal verdrängte …

Der wunderbare Ocean Terminal in Kowloon, der Halbinsel, in dem die schönsten Passagierschiffe der Welt anlegten, oder das größte chinesische Restaurant der Welt, in dem sie einmal zu Mittag gegessen hatten.

Die Skyline von Victoria bei Nacht und die lebhaften Straßen mit den Schriftzeichen auf auffallend großen Schildern. All die Straßenstände und noch viele andere Eindrücke, würden sich für immer in seinen grauen Zellen einspeichern!

Nun, am Ende ihres Urlaubes in Hongkong angekommen, wollten sie natürlich auch noch ein paar Zeugnisse eines Chinas im 14. Jahrhundert in Augenschein nehmen. Sie mieteten sich einen Wagen und fuhren in die New Territories.

Elisabeth, die mit dreiundvierzig Jahren noch eine sehr jungendhafte Figur und ein hübsches Gesicht mit großen braunen Augen und schulterlanges brünettes Haar hatte, war von der Fahrt in dem überhitzten Auto schon recht müde geworden. Doch die Tatsache, dass sie Angst hatte, irgendetwas Wesentliches zu verpassen, hielt sie davon ab einfach einzudämmern.

Auf dem Weg zum Tempel in Sha Tin durch die Täler im Hinterland der Halbinsel Kowloon, sahen sie Frauen mit großen Strohhüten – unter glühend heißer Sonne – auf den Reisfeldterrassen arbeiten. Sie fühlten sich gleichsam in eine andere Zeit, ein anderes Jahrhundert, zurückversetzt. Man konnte den Eindruck gewinnen, als hätte sich an den althergebrachten Lebensweisen nichts verändert; als sei die Zeit einfach stehengeblieben!

Am Tempel der 10 000 Buddhas angekommen, stiegen sie die 431 Stufen zu jenem Relikt der vergangenen Zeit empor. Tristan machte sich einen Spaß daraus, jede einzelne Stufe lauthals zu zählen.

Als sie endlich oben angelangt waren, fotografierte Elisabeth ohne Unterbrechung die vielen schwarzen und goldblattbedeckten Buddhas in ihren verschiedenen Körperhaltungen.

Doch letztendlich war es doch die große Hitze, die sie daran hinderte, noch allzu weite Touren und größere Besichtigungen zu planen. Also nahmen sie sich vor, auf der Rückfahrt ins Hotel einen Abstecher in ein kleines Dorf auf dem Weg zu machen, um sich nach ein paar Souveniers umzusehen.

In dem belebten Dörfchen, wo gerade ein Markt stattfand, besorgten sie sich an einem der Straßenstände eine Kleinigkeit zu essen. Sie entschieden sich für eine exotische Mischung aus Gemüse und Pilzen, die mit orientalischen Gewürzen verfeinert war. Ihre Speisen verzehrten sie an Ort und Stelle. Derweil sie mit sichtlichem Genuss vor sich hin schmausten, wurden sie die ungewollten Zeugen eines Spektakels aus der Klamottenkiste:

Als der Besitzer eines Straßenstandes nach einem bereits bratfertigen Huhn griff um es zu zerteilen, schlich sich unter seinem Stand ein herrenloser Hund an ihn heran und schnappte nach dem Leckerbissen! Dann lief der gewitzte Hund davon, und der in Rage geratene Mann mit einem großen Holzkochlöffel hinterher.

Diese günstige Gelegenheit nutzte wiederum ein anderer Hund, um sich ebenfalls ein Huhn zu ergaunern, und den ehemaligen Besitzer der Ware vollends zur Verzweiflung zu bringen …

Nun auch zornig auf seinen benachbarten Kollegen, der seiner Meinung nach zu unverschämt lachte und schließlich auch hätte aufpassen können, machte sich der bestohlene Verkäufer daran, dessen Obst und Gemüse stückweise in den nahegelegenen Bach zu werfen …

Ein herrliches Schauspiel!

Tristan und seine Eltern krümmten sich vor Lachen.

Elisabeth wischte sich mit ihrer Serviette die Tränen aus dem Gesicht. Noch nie hatten die drei so ein ulkiges Spektakel in Natura miterlebt!

Tristan fand, dass sein sonst immer so überarbeitet aussehender, sechsundvierzig Jahre alter Vater mit den ergrauten Schläfen in seinem noch fülligen blonden Haarschopf, schon viel entspannter und erholter wirkte. Rüdiger tat ihm immer leid, weil er jeden Tag über eine Stunde mit seinem Auto zur Arbeit fahren musste. Manchmal kam er erst nach Hause, wenn Tristan schon im Bett war. Doch eine Wohnung in Nürnberg kam für Rüdiger nicht in Frage. Er wollte so oft wie irgend möglich bei seiner Familie sein.

Nach diesem belustigenden Drama schlenderten die drei weiter Richtung Dorfmitte. Sie bogen in eine Nebenstraße ein und Tristan bemerkte, immer noch amüsiert, dass nicht einmal ein „Trabant“ diese Straße hätte durchqueren können …

Ganz dicht drängten sich die Häuser aneinander, und die Luft war noch viel stickiger als in den anderen Straßen. Von überall her strömten merkwürdige Gerüche auf sie ein; zum einen Teil stammten diese von Gekochtem oder Gebratenem, und zum anderen Teil von dem Abwasser, das durch das Rinnsal in der Mitte der Gasse floss.

Immer wieder durchbohrten ferne Stimmen die Stille und Leere jener Gasse, die den Dreien eine Art Hinterhofatmosphäre darbot.

Niemand hätte hier auch nur ein einziges Zeugnis öffentlichen Lebens vermutet, bis sie schließlich eine sanfte Biegung passierten …

Dort entdeckten sie plötzlich, in der Nähe der nächsten Quergasse, einen kleinen Laden, der neben allem üblichen Ramsch auch echte Antiquitäten führte. Angezogen von der Vielfalt der Waren, aber auch von dem Hauch des Geheimnisvollen, der von dem wenig beleuchteten hinteren Teil des Ladens ausging, beschlossen sie hineinzugehen.

Sie öffneten die mit Schnitzereien versehene grüne Holztüre – links vom Schaufenster gelegen -, über der ein hübsch verschnörkeltes Schild mit der Aufschrift „Antiques“ hing und traten ein.

Ein Glöckchen klingelte, doch der Inhaber des Geschäftes schien entweder verhindert oder nicht sehr neugierig auf seine Kundschaft zu sein.

Der staubige und muffige Geruch erinnerte an jene Gewölbekeller, die man teilweise noch unter alten Kirchen in ihrer Heimat vorfand.

Jedenfalls hatten die drei reichlich Zeit, sich schon ein wenig umzuschauen …

Elisabeth wandte sich gleich einem Service aus wunderschönem handbemalten Porzellan zu, und Rüdiger interessierte sich für die verschiedenartigen Handfeuerwaffen, Dolche und Schwerter an der hinteren Wand des Lädchens. Tristan überflog mit seinen Augen das schwarze Regal auf der linken Seite des Lädchens, das fast lückenlos ausgefüllt war.

Formschöne Vasen aus Glas, handgeschnitzte Figuren aus Holz und kleine Buddhas aus Jade, in Weiß und Hellgrün, waren dort zu sehen:

„Jade ist zwar der Stein des Himmels für die Chinesen und er bestimmt in wesentlichen Dingen sogar ihr Leben, aber er ist leider auch sehr leicht zu fälschen, das kann niemand - nicht einmal ein Fachmann - auf Anhieb herausfinden“, hatte Elisabeth beim Bummel durch die Ladder Street einmal erwähnt.

In dem Antiquitätenlädchen gab es auch viele Bücher. Einige von ihnen lagen aufgeschlagen vor einer Reihe anderer, und man konnte anhand ihrer vergilbten Seiten erahnen, wie alt sie schon sein mussten.

Vereinzelt lagen auch Schmuckstücke herum, und es befanden sich noch viele kleine exotische Tischleuchten, an denen ringsherum lange Glasfäden hingen, im Regal.

Kleine Gefäße, die Tristan für Pulverfässchen hielt, Schnupftabaksdosen, Räuchergefäße und viele andere Sachen, deren Bezeichnung er nicht kannte, versetzten ihn in eine längst vergangene Welt.

Auf dem Boden lagen Teppiche mit Drachenmotiven und anderen Mustern. Darauf standen gedrechselte Tischchen und reichhaltig verzierte Stühle mit farbenfrohen Polstern.

Während Tristans Augen von eine Ecke in die andere schweiften – immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Entdeckungen -, trat plötzlich ein älterer Mann hinter dem Vorhang hervor, der sich an der hinteren Wand befand.

In seinem dunklen langen Gewand mit einer Kordel um den Bauch, glich er eher einem chinesischen Priester denn einem Kaufmann. Die kleinen Schlitzaugen, der kurze graue Spitzbart und die ungewöhnlich spitzen Wangenknochen verliehen ihm einerseits priesterliche Weisheit und Klugheit, andererseits stechendes Kalkül fernab jener Barmherzigkeit! Die drei begrüßten ihn auf Englisch und nachdem Rüdiger erklärt hatte, dass sie sich noch ein wenig umschauen wollten, trat der Chinese dezent nickend einen

Schritt zurück, legte die Arme vor der Brust übereinander und schwieg geduldig.

Tristan, der sich nun wie von einem Wachposten beobachtet fühlte, und der mit dem Erscheinen dieses Mannes jedes Behaglichkeitsgefühl verloren hatte, ging zielstrebig auf die hintere Ecke des Regales zu, als wollte er auf diese Weise über seine aufkommende Unsicherheit hinwegtäuschen.

Da entdeckte er plötzlich etwas, das ihn alles vorher Gesehene vollends vergessen ließ!

Neben dem Regal, in der Ecke des Raumes, befand sich eine aus Holz geschnitzte anmutig wirkende Frauenfigur, die in stehender Haltung wohl annähernd Tristans Körperhöhe erreicht hätte.

Kerzengerade, im Yogasitz verharrend, breitete sie ihre leicht angewinkelten Arme zu den Seiten hin aus.

Ihr Gesicht, der Kopfschmuck und die spärliche Bekleidung legten die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine orientalische Tänzerin handeln musste.

Auf ihrer nach rechts ausgestreckten Hand, dort, wo weder Tageslicht noch der Schein einer Lampe mit ganzer Intensität hingelangten, stand ein kleines Glasgefäß mit einer sehr bizarren Form. Es glich der eines Krummsäbels und war auf einem metallenen Sockel eingeklemmt. Darin befand sich eine rötlich schimmernde Substanz. Der Inhalt des Gefäßes und die ungewöhnliche Form des Gläschens verschmolzen zu einer unabdingbaren Einheit.

Auf dem höchsten Teil des Schaftes, der auch aus Metall war und zum Ende hin immer schmaler wurde, befand sich ein kleiner Schraubverschluss, der durch ein kreuzähnliches Metallstiftchen zu bedienen war.

„The blood of Dschingis-Khan!“ flüsterte eine Stimme.

Tristan durchfuhr es wie ein Blitz; zum einen war es wohl die Tatsache, dass jener Kaufmann – wie durch Zauberei – plötzlich neben ihm stand und zum anderen der Schreck über das Gesagte!

Das Blut des Dschingis-Khan? …

Auch Elisabeth und Rüdiger, die sich jetzt ganz in Tristans Nähe befanden, ließen für einen Moment von ihrer Stöberei ab und drehten sich dem Chinesen mit verwunderten Blicken zu.

Da lachte der Kaufmann höhnisch, als machte er sich über Tristans verdutztes Gesicht lustig.

Im Unklaren darüber, ob das Ganze nur als Scherz gemeint war, platzte es aus Tristan, der die sich im Behältnis befindende Substanz gar nicht genau sehen konnte, hilferingend heraus:

„Blut!? – Blut, das gerinnt doch, Vati, nicht wahr?“

Nun bekam auch Rüdigers Stimme etwas Spöttisches:

„Natürlich gerinnt Blut, doch wer weiß denn schon, welch gewitzter Alchimist da zu Werke war?!“ – Rüdiger grinste und wandte sich wieder bedeutenderen Dingen zu.

Ungeachtet dessen, was Vater und Sohn in der fremden Sprache beredeten und gleichermaßen so, als hätte der Ladenbesitzer jedes einzelne Wort verstanden, nahm dieser das Tintenfässchen in seine Hand und beugte sich so weit vor, dass Tristan seinen Atem spüren konnte, als er weitersprach:

„It’s no ordinary blood!“…

Die Wangenknochen des Mannes erschienen Tristan noch viel spitzer und die Körpergröße gewaltig zu sein!

Mit aufgerissenen Augen blickte Tristan in die seines Kontrahenten wie das hypnotisierte Kaninchen in die einer Schlange!

„I acquired this inkpot by purchase at an old dawdler during a visit in the northern Mandschuria. If this ink touches foreign ground, it will change its red colour into black … Black like Death!”

Tristan liefen kalte Schauer über den Rücken, vollkommen unnötig, seine Eltern um Übersetzung des Ganzen zu bitten.

Er hatte jedes Wort verstanden, zumal er im Englischen aufgrund zahlreicher Ferienreisen in englischsprachige Länder schon recht firm war:

Kein gewöhnliches Blut! ... Schwarz wie der Tod!

Tristan schauderte es.

Nun verfinsterten sich auch die Gesichter von Elisabeth und Rüdiger, die den vermeintlichen Fantastereien des Chinesen nichts abgewinnen konnten. Schnell entschieden sich die beiden für eine der orientalischen Lampen. Dann eilte Rüdiger auf den Ladenbesitzer zu, riss ihm das Gefäß aus der Hand und fragte Tristan ungehalten:

„Willst du das Ding da nun haben oder nicht?“

„Ja … hmm …, klar!“ antwortete Tristan lautstark, aber etwas zögerlich. Schließlich glaubte er ja nicht mehr an Märchen, auch wenn er sich der Faszination des Gesagten nicht so ganz erwehren konnte.

Rüdiger stellte die ausgewählten Gegenstände auf den kleinen Ladentisch und bezahlte in Hongkong-Dollar.

Dann verließen die drei jenen unheimlichen Ort.

Auf der Fahrt zurück ins Hotel kreisten tausend Gedanken in Tristans Kopf herum. Immer wieder hatte er das Bild des furchterregendes Antiquitätenhändlers vor Augen und das, was er sagte:

„The blood of Dschingis-Khan“ …

Welch perfide Idee, das Blut eines Menschen in ein Glasgefäß zu füllen! – Er dachte über die Dokumentation nach, die er im Fernsehen einmal über diesen Herrscher der Mongolen gesehen hatte. Auf tatarisch „Temüüdschin“ bedeutete Dschingis-Khan „Der Schmied“, und tatsächlich vereinte jener Herrscher die mongolischen Stämme in der zentralen und nördlichen Mongolei. Er schmiedete sie zusammen.

Tristan wusste auch, dass Dschingis-Khan irgendwann in der Mitte des 12. Jahrhunderts geboren worden war; ein genaues Geburtsdatum war aber nie genau überliefert worden.

Doch wie war er gestorben? – Tristan wusste es nicht mehr, er würde es zu Hause einmal nachgooglen!

Sie erreichten ihr Hotel am späten Abend und waren sehr erschöpft. Tristan ging gleich zu Bett, weil er sich vorgenommen hatte, sehr früh am Morgen aufzustehen. Er wollte noch einmal vom Balkon des Hotels im neunten Stockwerk den Sonnenaufgang erleben und zusehen, wie eine Weltmetropole aus ihrem Schlaf erwacht.

Rüdiger hatte bereits die Hotelrechnung bezahlt, als Elisabeth Tristan aufforderte seine restlichen Sachen zu packen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tristan dem lebhaften Treiben auf Hongkongs Straßen noch einmal sehr innig zugeschaut. Ein wenig wehmütig war ihm schon um sein Herz, als er seinen Koffer packte. Das Tintenfass, das von dem seltsamen Kaufmann behutsam mit ein paar Stofffetzen umwickelt und in eine kleine Holzkiste gepackt worden war, verstaute Tristan ebenfalls in seinem Koffer. Er hatte es sicherheitshalber aus der Kiste gar nicht mehr herausgehoben.

Nach dem Frühstück verabschiedeten sich Elisabeth, Rüdiger und Tristan mit ein paar freundlichen Worten von den Bediensteten und drückten allen ein wenig Trinkgeld in die Hand, worauf diese mit ein paar höflichen Dienern reagierten.

Sie ließen ihr Gepäck in ein Taxi tragen und fuhren zum Flughafen.

Der vorgesehene Abflug sollte um 13.10 Uhr sein. Und nachdem sie ihr Gepäck aufgegeben hatten, verblieb ihnen noch etwas Zeit, sich den außergewöhnlich gelegenen Flughafen Chek Lap Cok einmal etwas näher anzusehen …

Die einzigartige Lage des Flughafens, der wie eine kleine Halbinsel ins Meer hinausragte, mit den Landebahnen, die ins Wasser hinausführten, machte ihn zu einem Highlight der Extraklasse.

Elisabeth und Rüdiger machten sich schon auf den Weg auf das oberste Plateau, während Tristan sich noch schnell am Kiosk ein Eis und etwas Kaugummi besorgen wollte.

Als er jedoch an den unzähligen Schließfächerreihen vorbeieilte, wurde er plötzlich gewaltsam am Arm in einen der menschenleeren Gänge gezerrt…

„Take this!“ forderte eine fremde Stimme, und vor sich sah Tristan einen jungen Mann asiatischer Abstammung.

Er trug im Gegensatz zu allen anderen Leuten ziemlich auffällige Kleidung, denn es war nicht gerade üblich, bei fast vierzig Grad Celsius, in einem Anzug herumzulaufen, auch wenn die Anzugfarbe Weiß war. Das Gesamtbild des Mannes kolportierte etwas von einem Gigolo! Schwarz-weiße Schuhe und eine Krawatte in Zebraoptik, schulterlanges schwarzes Haar, ein Schnäuzer und eine schwarze Sonnenbrille …

Der Fremde zog die Sonnenbrille ab und hielt Tristan ein goldenes Schmuckstück vor die Nase:

„Take it!“ sagte er erneut.

Die Aufforderung, das Schmuckstück an sich zu nehmen, wurde für Tristan zunehmend zu einer unabwendbaren Verpflichtung; die Stimme des Mannes enthielt nun mehr Dringlichkeit und seine Hand begann zu zittern.

Tristan überkam das Gefühl, als hätte der Mann nur auf ihn gewartet.

Da erklärte er Tristan in gebrochenem Englisch, dass das Amulett ihn und die, die er liebte stets beschützen würde und ihm Mut und Stärke verliehe.

Er drückte Tristan das Amulett in die Hand und verschwand mit eiligen Schritten.

Tristan konnte kaum glauben, was sich gerade zugetragen hatte!

Sollte er die Kette nun wirklich behalten oder dem nächsten Sicherheitsbeamten übergeben? - Konnte ihn jemand in irgendeiner Weise für den Besitz des Amulettes belangen? - Was sollte er tun? – Vielleicht seine Eltern um Rat fragen? – Nein! Das war schier undenkbar; die waren in Sachen Geheimniskrämerei erst einmal bedient!

Den Kopf voller Fragen setzte er sich auf den nächst gelegenen Stuhl und betrachtete das Amulett:

Ein tropfenförmiger blutroter Edelstein, fixiert auf einem goldenen ovalen Untergrund, funkelte ihn an. Für einen Moment lang dachte Tristan, der Stein an sich leuchtete durch eigene Energie auf, doch es musste das Licht der Sonne gewesen sein, das bis zu seinem Platz hingelangte.

War es wirklich ein Edelstein, ein Rubin vielleicht oder ein roter Diamant, der teuerste Edelstein der Welt? – Ach, Quatsch, dann hätte der fremde Asiat ihn doch niemals so einfach abgegeben! - Auf jeden Fall musste das Amulett etwas Besonderes sein, weshalb wohl sonst hatte jener Mann ein solches Szenarium vollzogen?!

Tristan sah sich das Schmuckstück genau an …

Auf dem Amulett war ein Topfähnliches Gebilde erhaben dargestellt, über dem der Edelstein eingefasst war. – Nein, das konnte nicht sein, denn ein Topf, der unten offen war, hatte keinen Nutzen. Er sah genauer hin, und jetzt ähnelte das Gebilde eher einem Ritterzelt. - Tristan wusste es nicht genau und plötzlich erschrak er, als seine Eltern wie wild auf ihn zustürmten.

Er ließ die Kette in einer seiner Bermudataschen verschwinden.

„Was machst du hier solange? – Warum bist du uns nicht auf das Aussichtsplateau hinaufgefolgt?!“ schrie Elisabeth ihm entgegen.

Tristan tat, als wäre ihm von der Hitze übel geworden und folgte seinen Eltern, die sorgenvoll dreinschauten, zum Flughafencheck.

Bis er seine Gedanken ins Reine gebracht haben würde, wollte er niemandem von dieser Sache erzählen …

Vielleicht maß er der Angelegenheit viel zu viel Bedeutung bei, und der Stein war gar nicht echt? – Vielleicht musste der Chinese den Schmuck aber auch einfach loswerden, weil es heiße Ware war? – Oder, er brauchte jemanden, der den wertvollen Schmuck durch den Flughafenzoll brachte? – Deshalb vielleicht das heimliche Getue und die unverkennbare Angst, die durch die Mimik und Gestik des fremden Mannes zum Vorschein gekommen war?

Die drei fuhren nun die Rolltreppe hinauf und gelangten auf die Etage, auf der sich die Kontrollstelle befand. Da vernahmen sie plötzlich, aus der Halle unter ihnen, ein ungeheures Geschrei und aufgeregte Rufe einiger Menschen durchflutete den Raum.

Was ist denn da passiert?“ wollte Tristan wissen, während sein Magen sich nun wirklich ein wenig verkrampfte.

Sie schauten von der Brüstung aus hinab und sahen zu, wie sich unter ihnen eine große Menschentraube bildete …

„Ich kann gar nichts erkennen, gestand Rüdiger und drängelte schon, weiterzugehen.

Nun war das schrille Geschrei der Frauen verklungen und der Lärm wurde stetig dumpfer. Nun herrschte Totenstille.