Im falschen Licht - Carlo Schäfer - E-Book

Im falschen Licht E-Book

Carlo Schäfer

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Beschreibung

Ein Wetter in Heidelberg, als würde die Stadt durch eine Autowaschanlage getrieben. Die Polizei fischt einen Toten aus dem Neckar, über den man nicht das Geringste weiß. Selbstmord, Unfall oder Mord? Eigentlich traut man Hauptkommissar Theuer und seinem Team nicht mehr als die Jagd auf einen Hundemörder zu. Doch der Ermittler und seine Getreuen finden heraus, dass sich der Tote in einem illegalen und nicht ungefährlichen Gewerbe für Studenten verdingte. Theuer bekommt zwar Schützenhilfe durch die junge Staatsanwältin Bahar Yildirim, aber die Zeit drängt: In Heidelberg macht ein Reisender Station, der für einen geheimen Auftrag über Leichen geht. Ein stimmungsvoller Kriminalroman, dessen skurriler Charme ähnlich gefangen nimmt wie die verwinkelte Hauptstadt der Romantik.

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Seitenzahl: 368

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Carlo Schäfer

Im falschen Licht

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Über dieses Buch

Ein Wetter in Heidelberg, als würde die Stadt durch eine Autowaschanlage getrieben. Die Polizei fischt einen Toten aus dem Neckar, über den man nicht das Geringste weiß. Selbstmord, Unfall oder Mord? Eigentlich traut man Hauptkommissar Theuer und seinem Team nicht mehr als die Jagd auf einen Hundemörder zu. Doch der Ermittler und seine Getreuen finden heraus, dass sich der Tote in einem illegalen und nicht ungefährlichen Gewerbe für Studenten verdingte. Theuer bekommt zwar Schützenhilfe durch die junge Staatsanwältin Bahar Yildirim, aber die Zeit drängt: In Heidelberg macht ein Reisender Station, der für einen geheimen Auftrag über Leichen geht.

 

Ein stimmungsvoller Kriminalroman, dessen skurriler Charme ähnlich gefangen nimmt wie die verwinkelte Hauptstadt der Romantik.

Über Carlo Schäfer

Carlo Schäfer wurde 1964 in Heidelberg geboren, wo er auch studierte. Er jobbte als Nachtportier und Hilfsgärtner, veröffentlichte Cartoons und arbeitete als Lehrer in Mannheim.

Inhaltsübersicht

Für meine MutterNur einen Sommer ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelHeidelberg, 2. April 2001

Für meine Mutter

Else Schäfer

Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!

Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,

dass williger mein Herz, vom süßen

Spiele gesättigt, dann mir sterbe!

 

Mein Artist. Mein Knabe. Mein Kind. Mein Mann. Gefällt dir das Gedicht? «An die Parzen» von Hölderlin. Ich habe es letzte Nacht wieder gefunden, nach langer Zeit. Ruhelos bin ich durch die Wohnung geirrt, und plötzlich sah ich den verloren geglaubten Band im Regal. Als ich diese erste Strophe gelesen hatte, konnte ich endlich schlafen.

Ich weiß, ich sollte diese Zeilen nicht schreiben. Zu sagen, ich brächte mich mit ihnen in Teufels Küche, ist ja noch milde ausgedrückt, ich schreibe mich wohl direkt in den dritten Kreis der Hölle. Was machst du mit mir? Ist dieser Herbst mein Sommer?

Ich schaue aus dem Fenster, es ist derselbe Blick wie gestern. Das Laub, sofern es noch an den Bäumen hängt, ist verfärbt, auf dem Boden sammelt sich der Schmutz, den niemand mehr wegwaschen wird, bevor die Natur wieder aufwacht. Irgendwann, in fünf Monaten vielleicht?

Und doch sieht alles anders aus, ist alles in einer kaum merklichen Weise ver-rückt. Im Judentum gibt es ein Bild für die Welt nach Ankunft des Messias: Alles sei scheinbar gleich, nur um ein Winziges verschoben – erlöst. Zugleich lässt das Bild aber auch die Armut und Verzweiflung an allen Dingen ahnen, wenn sich die Welt ins Unerlöste wendet.

Und das wird sie, denn du wirst mich nicht haben wollen, nicht auf längere Zeit. Lass uns nicht, lass mich jetzt nicht daran denken. In meinem Garten lag ein Feld brach, bis du kamst. Ich weiß nicht, was dort wachsen wird, und will es nicht wissen. Ich schreibe durcheinander, konfus, ich kann mich kaum auf meine Pflichten konzentrieren und muss das doch, es gibt ja nicht wenige, die mir übel wollen.

Willst du mir gut?

Ich will dich baden, will dich ölen, dass du mir entgleitest wie ein Fisch und ich dich immer wieder greifen kann wie ein hungriges Tier die Beute. Das bin ich, ein hungriges Tier.

Ich verzehre mich nach dir.

Soll ich das abschicken? Nein, das sollte ich wohl nicht. Ich wäre ja ganz in deiner Hand.

Nun denn, so sei es.

Und so unterzeichne ich auch:

in deiner Hand.

1

Man roch den nächsten Regen als eine Ahnung von Metall und Stein in der Luft. Eine graue Wand schob sich neckaraufwärts, als würde die ganze Stadt in eine gigantische Autowaschanlage getrieben.

Gegenüber lag das Schloss im Nebel. Ein schönes erstes Bild für einen Fernsehkrimi, aber hier war wirklich jemand tot, und das war erfahrungsgemäß nicht unterhaltsam. Einzelne Wolkenfetzen grüßten geisterhaft aus dem Stadtwald am Königstuhl herüber. Klein lag die Altstadt am anderen Ufer, die sandsteinrote Stadthalle klammerte sich geduckt fest, als könnte ihr der friedliche Neckar etwas anhaben. Und die Hiesigen wussten: Er konnte. Tauwetter im Schwarzwald, Regen von Stuttgart bis Mannheim – noch war man sich nicht sicher, aber erfahrene Bewohner der Altstadt hatten die Gummistiefel aus dem Keller geholt und die Telefonnummern ihrer Versicherungen im Geldbeutel.

Der Erste Hauptkommissar Johannes Theuer blickte wieder nach links, Richtung Alte Brücke, wo die Neckarstaden fast auf einer Höhe mit dem Fluss verliefen: Nein, es lagen noch keine Sandsäcke aufgestapelt.

Vielleicht würde es ja aufhören. Vielleicht begann ja bald der Heidelberger Frühling, in dem Palmen vor die buckligen Altstadthäuser gekarrt wurden und die Kneipen- und Cafétische das Kopfsteinpflaster eroberten. Der Frühling gehörte den Heidelbergern, manchmal schon ab Februar. Der Frühling ließ die Stadt atmen wie manchmal auch ein warmer Herbst. Die meisten Touristen kamen im tropisch heißen Sommer. Aber dieses Jahr war Herbst im Frühling. Schon fielen wieder die ersten Tropfen.

Es regnete überall. In Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, im ganzen Odenwald, über den Rhein, Speyer, Landau, im Elsass – und was scherte Theuer der Rest.

Donnerstag nach Aschermittwoch. Der Hauptkommissar zwang seinen Blick, dem dahinkräuselnden Wasser zu folgen, runter zur Theodor-Heuss-Brücke, die das Nobelviertel Neuenheim mit der Altstadt verband. Am zweiten Pfeiler hatte sich etwas Schwarzes verfangen, das die Kollegen der Wasserschutzpolizei jetzt bargen und mit einem schnittigen Motorboot ans Ufer brachten. Eine Leiche.

Theuer ging über das Neckarvorland langsam zur Anlegestelle des Bootes, er rutschte auf dem schlammigen Grund. Die Kollegen hatten ihm bei diesem Wetter den leichten Schritt voraus und überhaupt oft das Leichte. Er gelobte, zu Hause aus freien Stücken augenblicklich zu Boden zu fallen, wenn er nur jetzt nicht stürzte.

Einer aus seinem Team, der Kollege Thomas Haffner, stand auf halber Strecke zwischen ihm und dem Ufer. Wie ein Wettermännchen, dem ein Taifun die Hütte und das fesche Weib für den Sonnenschein weggerissen hat, starrte Theuers Mann trübselig auf den Winterboden und schien sich dabei sanft zu wiegen. Als der Erste Hauptkommissar näher kam, erkannte er, warum. Sein Junger war betrunken, zumindest noch mit gewaltigen Mengen Restalkohols durchgiftet.

Theuer wusste natürlich, dass es für solche Fälle Anlaufstellen im Revier gab, irgendwelche antherapierten Wracks, die Haffner mitfühlend zuhören und ihn dann einsperren würden, aber er hatte nicht die Nerven, das jetzt ernsthaft in Betracht zu ziehen. Er tat, als röche er nichts – großes Glück für Haffner, angesichts des Pestbrodems, den er ausstieß.

«Was machst du, Haffner? Was stehst du so rum?» Theuer bemühte sich, ein wenig vorwurfsvoll zu klingen.

«Ich werde nicht gebraucht», bellte der Kollege zornig. Sein mächtiger Schnurrbart pinselte eine dumpfe Wut in die Welt. «Alle schicken mich weg. Ich hab schon üble Sachen mitgemacht, wirklich harte Sachen, aber jetzt ist der Stern anscheinend mein Vorgesetzter und nimmt alles in die Hand.»

«Ich brauch dich grade auch nicht», sagte Theuer unschön. «Ich meine», korrigierte er hilflos, «Sie können sich ein bisschen ausruhen, Herr Haffner.»

Der Betrunkene fingerte in den Taschen seines Bundeswehranoraks nach den Zigaretten, die er bereits in der Hand hatte.

 

«Meine Herren! Kollegen! Sei es im harten Streifendienst auf der Straße oder in der Hektik des Büros! Wir sind doch alle Kollegen. Und selbstverständlich Kolleginnen!»

So schmierig man diese Worte auch finden konnte, sie standen am Beginn der ersten Rede des neuen Heidelberger Polizeidirektors Dr. Ralf Seltmann an seine müden Truppen, gehalten in den ersten Januartagen des Jahres eins, nachdem die Welt nicht untergegangen war und Theuer also immer noch acht Jahre Dienst zu schieben hatte.

«Sie werden sich fragen, was will der Neue?» Seltmann strahlte in die Gesichter seiner Zuhörer.

Hätten Heidelbergs Finsterlinge um die Masse widerwillig in einen Schulungsraum gepferchter Polizeibeamter gewusst, es hätte so manches an diesem Tag den Besitzer gewechselt. Nur eine Notbesatzung der Streifen und Abteilungen tat so, als habe man alles im Griff, alle anderen waren auf ausdrücklichen Wunsch des neuen Chefs da.

Theuer saß weit vorne, weil er fast zu spät gekommen war. Eingegrottet in seinen Leib und die dicke Lederjacke, die unvermeidlich schlecht rasierten Wangen wie ein Kater bei der Fellpflege am Kragen wetzend, betrachtete er müde den Neuen und hasste ihn nach Sekunden bereits in einer Intensität, die ihn selbst verwunderte.

«Wir müssen reagieren!» Etwas Jammerndes war nun in der hohen Stimme des Vortragenden. Aber wie auch nicht, nach allem, was es zu berichten gab. Amokläufer, Taschendiebe, Notzuchter, Blutschänder, Rattenfänger, Islamisten, Dopingsünder, Mafiosi, sie alle waren gleichsam im Marsch aufs friedliche Heidelberg zu imaginieren. «Wir müssen reagieren!»

Theuer konnte dem Szenarium nicht komplett widersprechen, nur: Eigentlich brauchte der gebeutelte Schutzmann des 21. Jahrhunderts in erster Linie Geld. Davon aber, das war zu ahnen, würde das schmissige Referat nicht handeln.

Stattdessen: «Vernetztes Denken. Kleine, reaktionsschnelle Einheiten!»

«Stellenstreichungen», sagte Theuer halblaut.

«Engere Kooperation mit den Kollegen in Mannheim und Ludwigshafen! Das Rhein-Neckar-Dreieck als gemeinsamen urbanen Raum begreifen.» Und dann kam es: «Polizei 2000.»

Theuer lachte donnernd, und man drehte sich nach ihm um oder rückte gleich ein wenig weg. Die letzten Ladenhüter sollten es mal wieder bringen bei der Verbrechensbekämpfung.

«Sie finden das lustig.» Seltmanns bis dahin messianisch leuchtendes Gesicht entgleiste in ein unsicheres Grinsen, und er sah so aus, wie er eben aussah: ein fünfzigjähriger Mann, der jedes Jahr das Sportabzeichen schaffte. Einer, der die Jugend nachholen wollte, die er strebend versäumt hatte. Mit schnieker halber Lesebrille für den Börsenteil der Financial Times Deutschland, wo stand, wie ausgesprochen miserabel es mit der erträumten Finca auf Mallorca aussah.

«Nein», sagte Theuer sachlich und schaute an Seltmann vorbei. «Wenn ich lache, heißt das nicht, dass ich etwas lustig finde. Es heißt gar nichts. Nur eben, dass ich lache.»

Der Polizeidirektor straffte sich: «Na, ich sehe schon, hier gibt es Kollegen, die originell zu denken verstehen! Das brauchen wir. Solche Kollegen will ich und solche Kolleginnen! Darf ich Sie fragen, wie Sie heißen?»

«Theuer», sagte Theuer. «Kollege und Kollegin von der Kriminalpolizei. Kapitale Delikte, ganz schlimme Sachen.»

Jemand kicherte, aber es war nicht Seltmann. Der sprach hüstelnd weiter, und sein Vortrag war tatsächlich nicht einmal das Papier wert. Was nach allen kühnen Visionen herauskam, war nämlich nur Folgendes: Der Direktor würde aus den vorhandenen Kräften einzelner Ressorts der Kriminalpolizei nach und nach Teams bilden.

«Das läuft dann so ab. Totschlag in Heidelberg-Wieblingen. Die Staatsanwaltschaft gibt ihr Okay.» Er sprach «Okay» fast texanisch aus. «Drei fahren hin, einer macht die Communication im Amt, schließt sich mit den Mannheimern kurz, schickt Pathologen und Spurensicherer hin. Zwei von dreien beginnen am Tatort sofort mit den Ermittlungen, einer erledigt den bürokratischen Kram.»

Theuer meldete sich und fragte harmlos wie ein Küken, ob Communication dasselbe sei wie «Kommunikation» und ob mit dem bürokratischen Kram die Gesetze gemeint seien. Das hatte ihm hinterher in einem Neuenheimer Bistro zwar drei kleine Weiße auf Kosten des begeisterten Kollegen Metzner beschert, aber er war sich fast sicher, dass Seltmann die Theuer-Gruppe nach diesem Antrittsdebakel besonders genüsslich zusammengestellt hatte.

(Es sollte sich erweisen, dass man den Polizeidirektor hier tatsächlich nicht unterschätzen durfte. Dem oftmals wirren Beziehungsgeflecht zwischen seinen Untergebenen folgte er wie eine hungrige Spinne. So war er schließlich Polizeidirektor geworden.)

 

Heute, am 1. März 2001, erwies sich nun die jämmerliche Qualität des Seltmann’schen Entwurfs, denn sie waren völlig überzählig am Schauplatz. Der emsige Werner Stern, der dritte des Teams am Tatort, der mit den Streifenbeamten sprach und den Abtransport der Leiche regelte, hätte vollends ausgereicht.

Theuer nahm sich zusammen und ging energisch zu der Gruppe, die um den Toten herumstand – die Schlammspritzer an seinen Jeans sollten monatelang halten. Haffner trottete hinter ihm her. Vor der Kulisse der Altstadt wirkten der mächtige Kommissar und sein benebelter Adept wie zwei Absinthtrinker, die in der Morgenkühle ein neues Leben beginnen wollten.

Man machte dem schweren Kollegen respektvoll Platz. Das wunderte ihn. Nicht ohne Eitelkeit war er der Meinung, es müsste sich bis zum letzten Streifenschieber herumgesprochen haben, dass er seit Jahren gemächlich gen Abstellgleis zuckelte.

Einen Moment noch schonte er sich, spähte unter der Brücke hindurch zum Jachthafen und zu den ersten trutzigen Gemäuern des Stadtteils Bergheim, dann senkte er den Blick zu dem Toten auf der Wiese. Ein Sanitäter hob kurz die Decke. Man sah ein grämliches Gesicht puppenhaft erstarrt. Menschenleichen, fand Theuer, ähnelten Vögeln, die sich an Glasfronten das Genick gebrochen haben. Fast alles ist noch da, nur ist es nichts mehr.

«Selbstmord oder Unfall wahrscheinlich», sagte Stern leise. «Hatte keinen Ausweis dabei, überhaupt außer einem alten Bartschlüssel keinerlei persönliche Dinge. Schätzungsweise an die fünfzig. Spindeldürr, vielleicht eins sechzig groß. Die Sanitäter sagen, der wäre noch nicht lange im Wasser. Wahrscheinlich vor ein paar Stunden gesprungen oder gefallen, und dann ist er am Pfeiler hängen geblieben.»

Haffner fixierte den stromlinienförmigen Betonpfeiler der Theodor-Heuss-Brücke, als könne man diesen aus dreißig Meter Entfernung einer kriminalistischen Untersuchung unterziehen. «Wie soll man sich denn daran verfangen?», bellte er dynamisch.

«Haffner», stöhnte Theuer, sagte aber nichts weiter.

«Durch das Hochwasser», erklärte Stern eifrig, «ist der Eisenring, den es dort für, ja, für was eigentlich?» Der kluge Ton war weg. «Auf jeden Fall ist der Eisenring zurzeit genau auf Wasserhöhe. Da hat sich irgendwas reinverwickelt, was weiß ich, der Mantel … auf jeden Fall hing er da, als die Alte ihren Imbisswagen aufgemacht hat. Und die Polizei gerufen hat. Also uns.»

Theuer gab dem Sanitäter zu verstehen, er möge den Toten wieder bedecken. «Warum müssen bei dem Scheißwetter drei von der Kripo kommen, wenn man hier überhaupt nichts tun kann?», brummte er pietätlos. «Das verdanken wir Seltmanns dämlichem Konzept.»

«Der neue Chef tut was für die Ordnungskräfte», wandte ein feister Streifenbeamter ein. «Ich geh in den Erziehungsurlaub, endlich darf ich!»

Haffner musste über einen Mann im Erziehungsurlaub laut lachen. Stern war das sichtlich peinlich, er verdrehte die Augen wie ein kurzgeschlossener Heimwerker.

«Guck nicht so», bellte Haffner. «Du bist ja schuld, dass wir hier sind. Bei dem Pisswetter. Deine Schuld!»

Das war nicht ganz falsch: Stern war immer der Erste im Büro, das sie sich nun teilen mussten. Nur deshalb hatten sie momentan den Fall. Die Sache war zu ihnen durchgestellt worden: zum leicht wahnsinnigen Theuer, leicht schlichten Stern, halb vollen Haffner und verhinderten Doktor Leidig, der jetzt, streng nach Seltmanns tollem Konzept, die «Communication» machte, also vermutlich ein Ortsgespräch mit der Staatsanwaltschaft führte.

Ein joggender Muskelprotz kam unter der Brücke hindurch federnd auf sie zu, als ließe sich aus den verschiedenen Fahrzeugen der Polizei, dem Krankenwagen und dem eben eintreffenden Leichenwagen nicht schlussfolgern, möglicherweise überflüssig zu sein. «Ich bin fast Arzt», japste er, «mitten im Examen, kann ich helfen?»

Haffner stauchte den Sportsmann zünftig zusammen, als brauche er zur Entgiftung solch einen Windbeutel in den Fängen. Theuer wollte das nicht hören, wandte sich ab und schaute voll unscharfer Gedanken wieder zum Fluss.

Berge vor und hinter ihm – er fand alles nur eng und albern. Auf der Brücke standen Schaulustige, grade dass sie nicht applaudierten, weil endlich mal was los war. Und die Kollegen verhielten sich ja auch wie die Laienschauspieler. Die Boote der Wasserschutzpolizei fuhren alberne Bögen, Schwünge aus Gischt in den kalten Dunst zeichnend, als seien sie das ihrem Publikum schuldig.

Der Jogger trottete davon, und Theuer nahm gerade noch wahr, wie der anständige Stern Haffner anzischte, man könne so etwas auch anders sagen.

Wieder standen sie alle so herum, eine Totenwache ohne Gedenken.

Der Erste Hauptkommissar riss sich mit der gleichen Kraft und dem gleichen Gefühl von Lächerlichkeit zusammen, wie die städtischen Bediensteten jetzt unter Mühen den rostigen Reißverschluss des Leichensackes zuzerrten.

Ein Streifenbeamter kam auf die Gruppe der Zivilen zu und winkte Stern kurz zu sich.

«Leidig hat angerufen», berichtete der brave Kommissar, als er zurückgekehrt war. «Auf dem Fall sitzt eine neue Staatsanwältin. Die ist anscheinend ganz heiß auf die Sache, will sich mit uns im Revier treffen.»

«Ich schätze, das hat mit Fasching zu tun», ließ sich etwas zu laut Haffner vernehmen.

«Was?», fragte Theuer müde. «Die Staatsanwältin? Oder mein Hemd?» Er trug zur Jeans ein rotes kanadisches Holzfällerhemd, dessen er sich nicht ganz sicher war.

«Den hat einer im Suff reingeworfen.»

«Gestern war Aschermittwoch!», sagte Theuer vernehmlich. «Da liegen die Leute um halb zehn verkatert im Bett.» Allmählich machten ihn die Schwipsereien des jungen Kollegen wütend. «Kommt, wir fahren heim.»

Er meinte das Revier.

 

Pfeifen, zwitschern und trällern, denn das Wetter ist schön. Wer sagt, dass es da oben immer kalt ist? MacPherson ist Duncan, und Duncan ist jemand anders, aber alle diese Namen sind immer er. Er ist sehr gerne er selbst. Er pfeift und trällert und packt.

Es geht auf die Reise. Man könnte sagen: ein Auftrag – aber er sagt lieber Reise dazu – Neues erleben, Neues sehen und Neues tun, am Ende etwas Unerhörtes? Es geht nach Heidelberg, und das macht es besonders schön. In die Hauptstadt der Romantik, ein Haufen Putzigkeiten beiderseits des Weges und er stählern inmitten des Ganzen. So wird es dort sein. Er fühlt sich groß und lebendig.

Packen: sorgfältig gefaltete Kleidung und ein wohl sortierter Kulturbeutel. Landkarten, Reiseführer, Ausweise, Kreditkarten mit seinen verschiedenen Namen. Und all die kleinen technischen Hilfsmittel, die amüsanten Spielzeuge, dezenten Spione, ach was: zusätzlichen Augen und Ohren. Er sieht und hört, was er will. Er pfeift sein lustiges Lied. Noch etwas zur Zerstreuung? Das Leben selbst zerstreut ihn doch schon! Aber dennoch und mit stillem Vergnügen: eine Ausgabe von Hölderlin-Gedichten, in fernen wirren Zeiten erworben, bevor er die Welt erkannt hat – als einen Klumpen Ton, nach Belieben zu formen.

Schließlich, bevor er den Koffer schließt, kümmert er sich noch um die kleine Silberne. Dabei pfeift er nicht mehr, denn es ist ernst und würdig, dieses letzte Ritual vor jeder großen Fahrt. Die kleine Silberne: zum Töten.

 

Es ergab sich immer so: Stern war der Fahrer. Er hatte anscheinend keine Lust zu wenden und fuhr über die Alte Brücke. Die Touristen stoben auseinander wie Tauben in der Fußgängerzone. In den Gassen nördlich der Hauptstraße wurden die Keller ausgeräumt. Als sie parallel zum Fluss einbiegen wollten, stoppte sie ein Kollege. Der Neckar sei übers Ufer getreten, sie sollten an der Heilig-Geist-Kirche die Fußgängerzone Richtung Bergbahn überqueren und dann am Faulen Pelz via Ingrimmstraße weiterfahren.

«Hält der uns für Touris oder für Studenten?», nörgelte Haffner von der Rückbank. «Wir wissen doch wohl, wie man hier durch die Gassen kommt!»

Stern fuhr langsam. Einige der Passanten schienen sie absichtlich zu blocken, da sie sich des schlimmsten Verbrechens in der Fußgängerzone schuldig machten: der Fortbewegung auf Rädern.

Plötzlich schaute Stern verdutzt drein: «Warum hat er uns nicht einfach gesagt, wir sollen umkehren?»

Sie wussten es alle drei nicht. Theuer nahm an, es hätte dann nicht wichtig genug geklungen.

Am Faulen Pelz war das Gefängnis. Theuer war gebürtiger Heidelberger, aber so recht hatte er sich nie daran gewöhnt, dass man hier seine U-Haft direkt in der Altstadt abbrummte, einen Steinwurf von den Romanisten und Kunsthistorikern, vor allem aber von zahllosen Kneipen entfernt. Zellen mit Schlossblick und fettem Fetensound. Er schaute nicht hin, als sie vorbeifuhren. Stern bog oberhalb des Uniplatzes in die Friedrich-Ebert-Anlage. Allmählich erreichten sie wieder automobile Geschwindigkeit.

Theuer schloss die Augen. Er kannte ja jedes Haus, die Musikhochschule, die Bauten der Jahrhundertwende zu beiden Seiten. Jetzt mussten sie am Ebertplatz vorbeikommen, Adenauerplatz, Kurfürstenanlage, wo das Heidelberg begann, das in den Bildbänden nicht vorkommt. Am Gesundheitsamt ging es dann nach rechts, zum neuen, bereits wieder nicht mehr so neuen Revier Mitte.

Theuer hasste sein Dienstgebäude. Schon nach wenigen Jahren war der Glanz dahin, und es würde nicht würdig altern – diese Krankheit der meisten neueren Gebäude, woran das auch liegen mochte.

Seltmanns Konzept schloss natürlich Rauchverbot in allen Räumen ein, als stärke es den Biss seiner zusammengewürfelten Grüppchen, im Entzug um die Wette zu zittern. Theuer immerhin war das Zigarettenrauchen in den letzten Jahren abhanden gekommen, ganz gegen die gängigen Suchtmodelle. Stern rauchte gar nicht wegen der Gesundheit, Leidig rauchte aus Angst vor seiner Mutter heimlich, und Haffner rauchte nach wie vor Kette, notfalls würde er alte Socken in die Rauchmelder stopfen. So qualmte er auch jetzt, denn die Staatsanwältin war noch nicht da.

Leidig hielt es nicht für nötig, seine elegante Pose zu ändern, nur weil seine Kollegen und sein Chef kamen: Er hatte die Beine auf dem Schreibtisch liegen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt, tadellos, aber altbacken gekleidet, als Einziger im Anzug. Wenn seine Mutter nicht dabei war, strahlte er manchmal selbstbewusste Tiefe aus.

Haffner war nicht in der Lage oder nicht willens, von seiner Hypothese zu lassen. Erneut betonte er, es sei ein «Faschingsdelikt». Er wurde kommentarlos übergangen.

«Er hing an der Heuss-Brücke», ergriff Stern das Wort. «Von dort ist er aber wohl nicht gesprungen oder gefallen oder geworfen worden, da wäre er weitergetrieben, die Strömung ist ziemlich stark. Außerdem hätte es dann vermutlich auch Zeugen gegeben.»

Theuer nickte.

Leidig gähnte: «Demnach hat er die Alte Brücke oder sogar das Wehr benutzt.»

Haffner schüttelte trotzig den Kopf, und man sah beinahe, wie sehr ihn das schmerzte: «Mir gefällt überhaupt nicht, dass hier automatisch von Selbstmord ausgegangen wird. Ihr habt anscheinend Angst vor einem Kapitalverbrechen.»

Leidig, der einen guten Teil seines jüngeren Erwerbslebens damit vertat, Haffner zu piesacken, legte nach, er fürchte sich tatsächlich vor Kapitalverbrechen und sehe darin einen guten Sinn.

Entnervt wedelnd sorgte Theuer für Ruhe.

Statt ins Freie, wie er das zum Denken eigentlich brauchte, schaute er von seinem Platz aus auf Sterns großen Jungenkopf. Seltmann hatte alle Tische in den neuen, fahrig und fleckig renovierten Teamzimmern per Dekret in ein kommunikationsförderndes Rondell gezwungen. Schon dafür hasste ihn der frisch gebackene Teamleiter. Vom ersten Tag an hatte Theuer seinen Schreibtisch zentimeterweise aus dem Rondell zu wuchten begonnen, um «es» im Sommer dann geschafft zu haben, aber die Putzfrauen vernichteten allwöchentlich seinen Widerstand.

Er wandte sich um und schaute auf die Großbaustelle schräg gegenüber des Reviers. Ein neuer, riesiger Wohnkomplex entstand, den im wohnungsarmen Heidelberg alle euphorisch begrüßten, außer ihm. Er hing an jedem Altbau, er hätte die letzten unsanierten, grauen Altstadthäuser umarmen mögen, aber alles ging weiter – nur er blieb der Theuer.

«Wir müssen herausfinden», zwang er sich schließlich zu arbeiten, «wer der Tote war, abwarten, was die Pathologen sagen, und dann eben die ganze Routine abspulen. Ihr geht mir auf die Nerven», wurde er lauter, «wenn ihr so tut, als hätten wir’s jetzt mit so einem Amifall zu tun, wo man furchtbar viel nachdenken muss!»

Das Team war ein bisschen beleidigt, und das Telefon läutete, zwei blöde Sachen auf einmal.

«Leitung eins», sagte Leidig mit einem resignierten Blick auf den Apparat. «Es ist der Chef.»

«Ich bin nicht da», bellte Theuer zu seiner eigenen Überraschung. «Sagen Sie, ich bin scheißen, reicht mir, wenn ich nachher mit ihm reden muss.»

Leidig nahm ab und schaltete auf Raumlautsprecher: «Kommissar Leidig?»

«Ja, Herr Leidig, gut, dass Sie immer so zuverlässig die häusliche Kommunikation wahrnehmen …»

Theuer hörte nicht zu, denn jedem Dienstgespräch mit Seltmann ging ein menschlicher Teil voraus, der ihm gänzlich unerheblich war. Er betrachtete den Gummibaum hinter Haffners dick bewölktem Schreibtisch und nahm sich fürsorglich vor, die Pflanze bald zu sich zu holen – als schwebten die karzinogenen Dünste nicht auch in seine leere Ecke.

«… ist die Staatsanwältin bei mir und möchte sich selbst gerne über den Fall informieren. Die junge und – wie soll ich sagen – erfrischende Dame wartet jetzt schon eigentlich zu lange. Ich habe mich ein wenig bei einem kriminalitätspräventiven Strategiegespräch mit der Oberbürgermeisterin verweilt …»

Jetzt schüttelte auch Stern den Kopf, die Angeberei war gar zu penetrant.

«… möchte natürlich, dass sich unsere Behörde nun bei einem solchen Lokaltermin gerüstet weiß, und möchte daher Sie, Herrn Leidig (gut, dass wir Sie haben), bitten, mir doch, ich bitte Sie, Herrn Theuer zu geben. Halt!»

«Das hätte er auch gleich sagen können», brummte Haffner.

«Halt?», fragte Leidig mit tückischer Milde.

«Ja! Halt! Herr Leidig, es wäre mir recht, wenn Sie doch bitte nicht auf Raumlautsprecher schalteten. Ich … ich mag das einfach nicht.»

«Nur keine Sorge, Doktor Seltmann», beruhigte Leidig. «Wir sprechen ganz privat.»

Stern musste lachen und hielt sich den Mund zu, auch der Erste Hauptkommissar spürte wachsendes Vergnügen.

«Herr Theuer ist nur leider auf der Toilette – nichts Ernstes, wenn Sie mich fragen», fuhr Leidig fort.

«Nichts Ernstes», hauchte Seltmann, «das ist sehr gut. Aber Herr Stern …»

Der winkte verzweifelt ab, noch immer barst er fast vor Lachen.

«… oder der Herr Haffner waren ja wohl auch am Ort des Geschehens …»

«Dann gebe ich Ihnen mal den Zweitgenannten», schalmeite Leidig und reichte grinsend weiter.

Haffner schnappte zackig nach dem Hörer. «Die Staatsanwältin kann kommen, jederzeit. Hier spricht Thomas Haffner.»

Seltmanns Stimme klang etwas gepresst: «Sie haben ja doch zugehört! Oder woher wissen Sie sonst, dass ich die Staatsanwältin im Vorzimmer habe?»

«Ich weiß es halt», rief Haffner verzweifelt.

«Nicht gut, meine Herren, nicht gut. Nein, nicht gut. Nichts gegen einen Scherz. Auch ich mache gerne vom Humor Gebrauch. Aber doch bitte nicht zulasten anderer. Ich bitte doch sehr. Also, dann komme ich jetzt mit der Staatsanwältin vorbei und schaue mir an, wie es bisher gelaufen ist. Was geleistet wurde. Leistung zählt!»

Er legte auf, und in aller Not war es das erste Mal, dass die vier Beamten miteinander lachten und sich also ein bisschen zu mögen begannen.

«Lüften», japste Haffner vergnügt. «Ich werd mal ein bisschen lüften. Simon, ich kann dich nicht besonders leiden, aber das war …»

Theuer spürte, dass solche Grobheiten Leidig schmerzten, und versuchte ihn mit Blicken zu trösten. Der junge Kollege bemerkte nichts davon.

«Wie ist es eigentlich bisher gelaufen?», fragte Stern, ruhiger jetzt, wenn nicht etwas ängstlich.

«Na, prima ist es gelaufen», beruhigte ihn sein Chef, «ganz prima. Sie haben sich doch ein paar Notizen am Tatort gemacht?» fügte er vorsichtig hinzu.

Zu seiner Erleichterung nickte der Brave.

Die Tür ging auf, und Seltmann erschien in Begleitung einer jungen Dame im Nadelstreifenanzug. Im scharfen Kontrast dazu trug sie schweinchenrosa hochhackige Schuhe. Alle schauten auf diese Schuhe und dann in ihr dunkles Gesicht.

«Ja, Sie sind ja …», sagte Haffner fassungslos.

Die Staatsanwältin schüttelte trotzig ihre gekräuselte Riesenmähne in den Nacken und schaute ihn streng an. «Deutsche Staatsbürgerin», sagte sie knapp. «Geboren in Heidelberg, als Kind türkischer Eltern. Bahar Yildirim, Sie werden sich daran gewöhnen. Guten Tag, die Herren.»

Alle antworteten brav: «Guten Tag.»

Seltmann, nun wieder strahlender Führungsmann, legte Yildirim die Hand auf die Schulter, was dieser sichtlich unangenehm war. «Frau Yildirim ist die erste, ja, wie soll man sagen, ehemalige Türkin im Dienste der Heidelberger Staatsanwaltschaft …»

Theuer betrachtete einen Riss in der Tapete.

Seltmann sah ihn auffordernd an.

«Was ist?», fragte Theuer müde.

«Ich habe Sie gerade gebeten, Frau Yildirim zu erläutern, was Sie bisher herausgefunden haben. Haben Sie das nicht gehört?»

«Nein», sagte Theuer freundlich, «ich hab’s nicht gehört.»

«Aber jetzt haben Sie’s gehört», sagte Seltmann leise. «Bitte, Herr Kollege.»

«Ja», begann der Erste Hauptkommissar gleichmütig und war Stern für zweierlei dankbar: einmal, weil er ihm elegant seine Notizen zuschob, und zweitens, weil diese leserlich, fast in Grundschulschrift abgefasst waren. «Ein Mann um die fünfzig, unauffällig gekleidet, schwarzer, zu großer Wintermantel. Er hatte einen Schlüssel bei sich und einiges Bargeld, sonst nichts.» Er bemerkte, dass ihn Yildirim interessiert anschaute. Sie schien ihn ernst zu nehmen, was ihn nicht weiter erstaunte – sie war ja neu. «Gewaltanwendung ist äußerlich nicht zu erkennen. Aber der Tote ist so schmächtig, dass es nicht sehr schwer gewesen sein kann, ihn in den Neckar zu stoßen. Er wurde in die Pathologie gebracht, die schauen dann genauer hin. Seine Kleidung wird untersucht, das ist ja alles Routine. Es wird aber sicher schwierig mit der Spurenlage. Er war einige Stunden im Wasser, und dann ist’s nichts mehr mit genetischem Fingerabdruck oder so. Also für mich in dieser Reihenfolge: Unfall, Selbstmord oder ein Tötungsdelikt. War noch was?» Er schaute zu seinen Leuten.

«Der Schlüssel ist altmodisch, so wie ein Kellerschlüssel, aber ich denke, manche Häuser in der Altstadt haben noch solche Türen», schaltete sich Stern ein. «Dort würde ich anfangen zu suchen …»

«Genau», sagte Theuer. «Das wäre natürlich das Erste – die Identität feststellen, am besten mit Bild in der Rhein-Neckar-Zeitung … Wir müssten ein Foto der Leiche nehmen. Das kann man ja mit dem Computer nachbearbeiten, damit es niemanden erschreckt …»

Yildirim nickte: «Das könnte man machen. Wenn wir gleich drangehen, wäre es spätestens in der Montagsausgabe.»

Während seiner Ausführungen hatte Theuer so etwas wie Feuer gefangen, allerdings spärliche Glut auf viel faulem Holz. Einfach ein wenig Interesse: Man könnte ja mal wieder beim Arbeiten die Uhrzeit vergessen und …

«Aber mal bitte langsam, die Herrschaften», lachte Seltmann und hob seine Hände wie segnend. «Jetzt warten wir doch erst mal ab! Da ist ein armer Mann ertrunken, wahrscheinlich letzte Nacht. Wir wissen doch noch gar nichts weiter! Das könnte doch, bitte schön, auch ein Unfall sein. Herr Theuer meinte ja sogar, das sei wahrscheinlich! So zumindest habe ich ihn verstanden, und ich habe genau zugehört. Es ist wichtig, dass wir uns alle zuhören und … wie könnte man das präzisieren? Kritisch schätzen lernen sollten wir uns, ja. Das sollten wir. Und hier erst mal abwarten. Warten wir doch mal, was uns in den nächsten Tagen an Vermisstenanzeigen zugeht! Ich möchte nicht, dass irgendeine arme Frau am Montag das Bild ihres toten Mannes in der Zeitung sieht … Der Neckar um diese Jahreszeit ist ein reißender Schlund, ich wage mal dieses kühne Bild für den romantischen Begleiter dieser Stadt, die ja jetzt auch die meine …»

Yildirim schien verunsichert. Theuer empfand Mitleid, zusätzlich zu dem bereits wieder anschwellenden Zorn auf seinen Chef. Sie wollte es gut machen. Normalerweise ließ die Staatsanwaltschaft die Polizei die Ermittlungen alleine durchziehen. Sie war neu und wusste ganz genau, dass man ihr keinen Anfängerfehler verzeihen würde, ihr nicht.

«Nein, wir machen erst mal gar nichts! Nach drei Minuten ist man erfroren und vorher bereits von der Strömung ertränkt. Thermische und vertikale Sogkräfte ergänzen sich hier aufs unheilvollste», bejubelte Seltmann sein vermeintliches Wissen und neigte sich Yildirim dann ölig zu: «Wir tun nichts. Badisch abwarten, so sagt man bei uns. Das kann ja auch der Kurpfalz nicht schaden, gell, Frau Yildirim? Es sei denn, unsere charmante Staatsanwältin beauftragt uns mit Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft ist die Herrin des Ermittlungsverfahrens, so haben wir’s ja alle mal gelernt, nicht wahr, Kollegen?»

Niemand nickte. Es arbeitete im Gesicht der Staatsanwältin, aber ihre Stimme klang ruhig: «Nein, ich … Sie haben da natürlich die größere Erfahrung … aber wenn Ende nächster Woche nichts rausgekommen ist, dann verständigen Sie mich bitte.»

«Selbstverständlich! Wenn sich dieser tragische Todesfall nicht von alleine aufklärt, dann werden wir ab Ende nächster Woche, mein Wort auf Ehre und Gewissen, geeignete Beamte auf den Fall ansetzen.»

«Wie?», fragte Yildirim verblüfft. «Machen die Leute hier nicht weiter?»

«Oh, das Theuer-Team!» Wahrhaftig, Seltmann legte nun auch seinem schweren Gegner die Hand auf die Schulter. Am liebsten hätte ihn der Befingerte gebissen. «Das Theuer-Team, wenn ich das mal so sagen darf, brauche ich an einer anderen Front. Im Stadtteil Handschuhsheim geht ein mysteriöser Hundemörder um. Schon zwei Schäferhunde wurden ihren Besitzern entwendet und dann im Stadtwald erschossen. Ich denke, da könnten unsere vier hier dem Bürger wieder ein Stück Sicherheit zurückbringen.»

Yildirim nickte etwas ungläubig. «Na ja, wenn Sie das so handhaben.»

Die Stimmung im Raum hätte einem Autisten klar gemacht, dass man sich unter den Polizisten darüber keineswegs einig war. Haffner biss hungrig auf seinem Schnauzer herum, Leidig zählte seine Büroklammern, Stern stierte auf den grauen Bodenflor, nur Theuer wirkte gefasst, was aber täuschte. Er hatte außerordentlich wüste Phantasien, in denen sein Chef und ein Hammer die Hauptrollen spielten.

Die Staatsanwältin verabschiedete sich rasch aus der klammen Atmosphäre, und der Polizeidirektor wollte schleunigst mit.

«Einen Moment, Herr Seltmann», rief Theuer.

«Ja, Herr Theuer?» Seltmann gab sich diesmal nicht die Mühe, die Maske des Management by Love zu tragen. Seine ältlichen Züge drückten unverhohlenen Zorn aus.

«Warum dürfen wir an der Sache nicht dranbleiben?»

«Herr Theuer, das ist doch nichts Persönliches!»

«Bin ich keine Person?»

«O doch!» Seltmann schaute ihn halb gütig an wie ein Schriftsteller seinen Sohn nach der befriedigenden Erlebniserzählung. «Eine Person sind Sie. Ein Original. Ich habe eine Schwäche für Originale. Aber nur eine Schwäche, und sie trübt mein Urteilsvermögen nicht. Ihre Personalakte liest sich wie ein, ich möchte mal sagen, Schelmenroman. Sehr lustig, aber nicht unbedingt Vertrauen erweckend. Oder wie finden Sie das: Ein gewisser Kommissar Theuer hat sich im Jahre 1982 zwei Wochen krank gemeldet. Statt eines Attestes lesen wir eine Notiz von seiner Hand auf Butterbrotpapier. Er sei krank, weil er sich nachhaltige Sorgen um den Zustand des Universums mache, denn neuerdings zögen sich die Physiker so seltsam an. Wie finden Sie das? Würden Sie diesem Beamten einen Todesfall anvertrauen? Am Ende präsentiert er Ihnen den Mann im Mond als Täter.»

«Das war kurz nach dem Tod meiner Frau», sagte Theuer hilflos. «Ich wollte von einem Fall entbunden werden, aber Ihr toller Vorgänger Röttig ließ mich nicht …»

«Sehen Sie? Ich lasse Sie.» Seltmann schloss die Tür.

Die vier saßen da wie betretene Realschüler.

«Sie sind ein guter Mann, Stern», sagte Theuer müde. «Sonst wären wir nur noch die Deppen.»

«Ich fürchte, das gibt sich nicht viel», seufzte Leidig. «Machen wir uns nichts vor: Wir sind auch so die …»

«Manchmal siezen Sie uns, Herr Theuer, und manchmal duzen Sie uns», unterbrach ihn Stern. «Das bedeutet aber wohl nichts?»

«Gar nichts», bestätigte der Erste Hauptkommissar würdig.

Leidig schien zu einer Art Selbstgeißelung entschlossen und setzte nochmals an: «Wir sind das Team, das bei der Teambildung übrig geblieben ist. Mich halten alle für ein Weichei …»

«Mich halten alle für doof», ergänzte Stern traurig, «sogar mein Vater, weil ich nicht baue.»

«Ja, klar», nickte Haffner herzlos. «Und den Herrn Theuer nennen sie einen Spinner, ich hab’s selbst gehört. Nur mit mir ist nichts.»

«Überhaupt nichts», pflichtete ihm sein Chef giftig bei. «Das kannst du ja heute Abend kräftig feiern.»

Haffner ignorierte die Spitze, strahlte vielmehr seinen ganzen Schnauzer entlang: «Und ich sag’s euch: Die Türkin da, die steht auf mich.»

2

Der Rest des Tages lag vor den vier Ermittlern wie ein totes Rind. Seltmanns Reform bedeutete wie die meisten Reformen nichts, der Großteil ihrer Arbeit war immer noch alltäglicher Stumpfsinn, und es hatte wenig Taug, einen betrunkenen albanischen Schläger viermal zu verhören oder überhaupt zu viert alleine zu sein. So bosselten sie mürrisch und ohne nennenswerten Austausch an ihren verschiedenen Pflichten herum. Wirtshauskeilereien, Schulhofnötigungen scharf an der Verjährungsgrenze, deren Beteiligte mittlerweile die ersten grauen Haare bekamen, solche Dinge. Am spektakulärsten erschien da noch der Fall einer Diakonisse, die einen gehbehinderten Muslimen aus religiösen Gründen mit dem Schirm gestochen hatte, aber da die Dame einerseits völlig geständig, zum anderen wegen eines galoppierenden Diabetes haftunfähig war, hielt sich auch bei diesem skurrilen Fall die investigative Freude in Grenzen.

Am frühen Nachmittag, Theuer hatte sich seit dem kürzlichen Erwerb einer Digitalwaage das Mittagessen abgewöhnt und war ganz entsetzlicher Stimmung, brachte Kollege Metzner die bisherigen Erkenntnisse zum Fall des Hundeschlächters vorbei. Haffners Blick genügte, diese Übergabe sehr sachlich zu halten, irgendwelche Bosheiten bekam das Team nicht zu hören.

Im Wesentlichen handelte es sich um Fotos zweier erschossener Schäferhunde mit genauen Ortsangaben und sehr vagen Zeitpunkten der Untaten. Auch die Besitzer waren aufgeführt. Keines der Tiere war letzter Trost einer vereinsamten Witwe oder so etwas Lobenswertes wie Blindenführer – es war für einen entschlossenen Hundehasser wie Theuer nicht allzu tragisch, was er da las. Auf das Deckblatt der schmalen Kladde hatte ein namenloser Kollege geschrieben, es sei wohl schwerste menschliche Abart im Spiel. Zumindest wolle er so mal sagen.

Es regnete.

«Ob wir jetzt ein richtiges Hochwasser kriegen, so wie 94?», fragte Stern in die Runde.

«Das klären wir. Wir sind ja gute Ermittler.» Leidig rief bei der Wasserschutzpolizei an. «Der Pegel fällt wieder», berichtete er dann. «Die Schneeschmelze im Schwarzwald ist durch. Die Neckarstaden kann man wieder befahren.»

Keinen der vier freute das, es hieß ja nur, dass der Tag einfach nicht mehr interessant würde.

«94 hatte ich noch einen Onkel in der Altstadt», berichtete Haffner ungefragt, «der ist jetzt auch schon tot. Also 94, da sind wir kurz vor Weihnachten die Untere Neckarstraße mit dem Schlauchboot entlanggepaddelt.»

Niemand sagte etwas.

«Das war lustig.» Haffner strahlte bei der Erinnerung etwas kindlich Frohes aus, das Theuer rührte. «Da hab ich zum ersten Mal Grog getrunken.»

«Hatte er eigentlich einen Ehering an?», warf Leidig ein. Alle wussten, dass er nicht Haffners Onkel meinte.

«Nein», Stern versuchte sich zu erinnern, «das wäre mir bestimmt aufgefallen.»

«Dann wartet vermutlich keine arme Frau», grinste Leidig in die Runde.

Theuer stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab, sein rechtes Bein kribbelte vom langen Sitzen.

«Es ist doch auch Schwachsinn», sagte er im Gehen. «Wie fällt man denn bitte einfach so am Aschermittwoch ins Wasser? Man muss sich das vorstellen: Da ist angeblich einer unterwegs, plumpst beim Angeln oder was weiß ich, in den Neckar, und man möge das doch nicht übertreiben. Geangelt hat er im Wintermantel, vor allem aber nachts.»

«Ohne Angel, soweit wir wissen», bekräftigte Leidig genüsslich.

«Also, ich weiß nicht.» Stern schaute offen verwirrt. «Vom Angeln hat er ja gar nichts gesagt. Nur – ich denke ja auch, dass Seltmann Unrecht hat. Wenn die Türkin gesagt hätte, sie will erst mal abwarten, hätte er bestimmt grade umgekehrt geredet.»

«Ja, natürlich.» Theuer zuckte mit den Schultern, genauer gesagt war er so verhangen gestimmt, dass er nur die rechte benutzte, beide waren schon zu viel. «So läuft das bei diesen Profilierungshengsten. Aber was will man dagegen machen?»

«Ja, aber», Stern wirkte für seine sonstige Harmlosigkeit fast empört. «Dann sollten wir doch was unternehmen!»

«Genau, wir ketten uns ans Rathaus und singen Protestlieder», lachte Leidig.

«Wir könnten», fuhr Stern beharrlich fort, «am Wochenende doch ein bisschen durch die Altstadt gehen und rumfragen. Oder ist das verboten?»

«Jetzt aber!», rief Haffner. «Vorhin war ich hier der Depp» – Theuer wollte etwas einwenden und wurde von seinem Untergebenen mit einer bemerkenswert herrischen Geste daran gehindert –, «ich war der Depp, weil ich von Anfang an gesagt hab, es ist eindeutig Mord, und jetzt geht’s gleich an die Freizeit, was soll denn das?»

«Ach, Haffner», der Teamchef fäustelte genervt an seinen Schläfen herum, «saufen kannst du trotzdem.»

Das beruhigte Haffner sichtlich.

«Aber du hast schon Recht, ich frage mich immer mehr, ob man sich für seinen Freitod im kalten Wasser vorher noch einen warmen Mantel anzieht. Und er war klein. Je kleiner man ist, desto schwieriger ist es, aus Versehen über ein Brückengeländer zu fallen. Ja, mein Gott, verboten ist es wohl nicht, zu fragen … ein bisschen rumzufragen.» Dann schlug Theuer mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch und tat sich an einem Bleistiftspitzer weh. «Wenn ihr mitmacht, bin ich dabei.»

Manchmal versuchte der Kommissar etwas Leben zu spüren, indem er die Lebenslust nachahmte.

 

Ganz woanders tritt er seine Reise an. Der Himmel verdüstert sich, aber das ist ihm gleich. Noch nicht einmal gleich, es ist gut! Die Düsternis beschirmt ihn.

Er reist gerne, und die spezielle Art und Weise seiner dienstlichen Ausflüge gibt ihm ein Gefühl der Leichtigkeit, auf das er nicht mehr verzichten will. Er ist ganz, ganz real, spürt den Boden unter den Füßen, den Wind im Gesicht, und zugleich ist er unsichtbar, gar nicht vorhanden. Diesmal heißt er also vorwiegend Duncan, zunächst aber MacPherson. Was ist schon ein Name, wenn er nach bürokratischen Kriterien gar nicht existiert? Nirgends, in keinem Computer. Es ist, als gehöre er einer anderen Spezies an. Das ist etwas Köstliches, Einsamkeit ist so köstlich.

Er fährt zügig, aber nicht wirklich schnell. Er hat Zeit. Um London der übliche Stau. Neben ihm steht ein Lkw, der Beifahrer raucht und wirft die Kippe auf die Straße. Er steigt aus und sammelt sie auf. Der grobschlächtige Kopilot ist verdutzt, aber er, der Reisende, lächelt ihm zu und genießt die Beschämung des dumpfen Mannes. Diesem Straßenschiffer ist er vermutlich unvergesslich, freilich wird er niemals denken, ein Mann, der anderer Leute Kippen entsorgt, könnte etwas anderes sein als ein pedantischer Kleinbürger. Er ist auch nichts anderes, kein anderer. Er ist verschieden.

Seine Gedanken schweifen um solche Bedeutsamkeiten und unterhalten ihn prächtig. Allmählich erreicht er den geliebten Zustand freier, fast wortloser Assoziation: Er sieht sich als Muster. London ist ein wimmelndes Etwas, die wundersam belebte Mitte eines tibetischen Sandmandalas. Er legt das ordnende Band um das Gewimmel, mag er nun auch gebremst sein, er ist zu klein, um aufgehalten zu werden. Er ist zu groß, als dass man ihn niederwerfen könnte. Man sagt, das Leben setzt sich durch. Das ist es, was er allen voraushat.

Gegen Abend ist er in Dover. Nach den Kriterien der Krone parkt er illegal, aber das ist ganz und gar unerheblich. Welche Schlange verharrt am Ort der Häutung? Sie werden das Auto abschleppen, wenn es ihm längst nicht mehr nützlich ist. Dem guten Mann, dem das Fahrzeug im bürgerlichen Sinne gehört, wird nach der Rückkehr aus dem Urlaub ein gewaltiges Strafmandat den ersten Abend verderben. Armer echter MacPherson.

Bevor er aussteigt, gibt er sich seiner Marotte hin, zupft sich eine Wimper ab und legt sie aufs Armaturenbrett. Wenn sie ihn eines Tages wirklich jagen würden, was hätten sie dann an so einem Fund ihre kindliche Freude! Der genetische Fingerabdruck und ab ins Labor damit! Und nichts trüge es ihnen ein, denn in keiner auch noch so abgelegenen Datenbank fänden sie ihn.

Um zu leben, muss man verschwinden.

Um groß zu sein, muss man klein sein.

In all diesen Paradoxien fühlt er sich wunderbar geborgen. Er schlendert durch eine öde Straße zum Haus des verkommenen Subjekts, dessen er sich manchmal bedient. An seinem Arm spürt er das Gewicht des Koffers, den er trotz der Rollvorrichtung trägt. Gepäck ist keine Last.

Auf sein Klingeln wird sofort geöffnet, und grußlos bellt es: «Heute Nacht würde ich lieber nicht fahren, das Wetter ist zum Kotzen.»

Sprächen die Menschen doch nur dann, wenn es Sinn ergäbe, statt dass sie ständig ungefragt ihre Begrenztheit mitteilten. Er wird in dieser Nacht fahren. Er ist es gewohnt, wie ein Korken auf den Wellen zu tanzen. Er liebt diesen Tanz.

 

Am Abend dieses Donnerstags kam die Sonne heraus. Haffner sprach mehrfach ungefragt von «beginnendem Biergartenwetter», und Leidig musste wohl noch einen Spaziergang mit seiner Frau Mutter befürchten, so mickrig hing er plötzlich über der Tischkante. Selbstverständlich waren sie nicht fertig, denn das war man nie in einer Welt, wo Achtjährige erbeutete Handtaschen horten, aber Theuer wollte einfach nicht mehr und rief: «Feierabend!» Keiner seiner Jungs hatte etwas dagegen einzuwenden.

Stern fuhr ihn nach Hause.

«Früher stand hier nichts», sagte der schwere Kommissar verträumt, als sie linker Hand das Neuenheimer Feld passierten, die Hochhäuser und Betonblocks der verschiedenen Fakultäten. «Es gab nur Obstwiesen und Äcker.»

Stern hörte das nicht zum ersten Mal, das wusste Theuer. Immerhin verzichtete er auf die Drachen, die man seinerzeit noch selbst gebastelt habe.

«Meinen Sie, dass wir das machen können, trotzdem da herumsuchen? Ich meine, dienstrechtlich.» Der junge Kommissar versuchte, gleichgültig zu klingen, was nicht ganz gelang. Nach seinem kühnen Vorschlag ängstigte ihn sichtlich die eigene Courage.

Theuer gähnte: «Ach, bestimmt. Vielleicht ist es ja Quatsch, aber ich will mich vom Seltmann nicht so einfach abservieren lassen. Wenn wir herausfinden, dass er Recht hat, reden wir nicht weiter darüber. Und wenn wir herausfinden, dass er nicht Recht hat, reden wir auch nicht darüber.»

Fast hätte er gekichert, so schön blöd fand er seinen Satz. Am Mönchhofplatz ließ ihn Stern, der sich ein Kopfschütteln kaum verkneifen konnte, raus. Wie immer vergaß Theuer, sich zu bedanken.

Er wohnte über der Sparkasse am Eck der Brückenstraße, unter dem Dach, gerade so eine Kleinigkeit zu einfach, um sich dem Großbürgertum des Stadtteils Neuenheim zurechnen zu können. Aber der Eigentümer lebte in Kassel, brauchte anscheinend weder menschlichen Kontakt zum Mieter noch allzu viel Geld, und der Blick auf die Backsteinhäuser der Jahrhundertwende gegenüber, ihre Dachgeschosse und Kamine war für Theuer ein Wandschmuck, auf den er nicht verzichten wollte.