Im finsteren Eis - Bracken MacLeod - E-Book

Im finsteren Eis E-Book

Bracken MacLeod

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Beschreibung

In der Kälte hört dich niemand schreien

Als sich die Crew des Versorgungsschiffes Arctic Promise plötzlich im Zentrum eines Orkans findet, ahnen die von Wind und Wetter gehärteten Männer nicht, dass dies erst der Beginn ihrer Irrfahrt ist. Vom rücksichtslosen Kapitän immer weiter in die schwarze, eisige See getrieben, läuft das Schiff in einer gigantischen Eisscholle auf. In Kälte und Dunkelheit eingeschlossen, bricht eine seltsame Krankheit unter den Männern aus. Doch sie sind nicht alleine. In der Ferne sind die Umrisse eines zweiten Schiffes zu sehen. Dunkel, bedrohlich … In ihrer Verzweiflung machen sich die Überlebenden auf, um nach Rettung zu suchen. Sie ahnen nicht, dass in dem Schiff bereits etwas haust … etwas Böses …

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Seitenzahl: 484

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Zum Buch

Nach einem schweren Sturm ist die Crew des Frachtschiffs Arctic Promise gezwungen, ohne Navigations- und Kommunikationssysteme weiterzufahren. Während die harten Seeleute von einer mysteriösen Krankheit befallen werden, lenkt Kapitän William Brewster das Schiff weiter durch Dunkelheit und dichten Nebel. Als die Arctic Promise auf einer Eisscholle havariert, beginnt der Kampf ums Überleben.

Doch die Männer sind nicht alleine. In der Ferne erkennen sie die Silhouette eines zweiten Schiffes. Der Matrose Noah nimmt das Schicksal in die Hand und führt die letzten gesunden Mitglieder der Crew auf einem gefahrvollen Weg durch die infernalische Welt aus Schnee und Eis.

Doch als sie das fremde Schiff betreten, beginnt ein Grauen, das ihre Welt in den finsteren Schlund dunkler Schatten zieht …

Zum Autor

Bracken MacLeod arbeitete als Anwalt, Philosophielehrer und Martial-Arts-Trainer. Doch sein Herz gehört dem Schreiben. Zahlreiche seiner Kurzgeschichten sind in renommierten Genremagazinen erschienen, in Amerika gilt MacLeod schon jetzt als eine der aufregendsten Neuentdeckungen in der Spannungsliteratur.

Bracken MacLeod

Im finsteren Eis

Roman

Aus dem Amerikanischen von Frank Dabrock

Wilhelm Heyne Verlag München

Die Originalausgabe STRANDEDerschien 2016 bei Tor/Macmillan Publishing Group, New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2017

Copyright © 2016 by Tom Doherty Associates

Based on a concept by Bracken MacLeod and Alexandre Paul Ilic

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Printed in Germany

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: © Ann-Kathrin Hahn / DAS ILLUSTRAT, München

Teile der Umschlagillustration stammen aus dem Gemälde »Das Eismeer« von Caspar David Friedrich

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-20162-3V001www.heyne.de

FürRICHARD SUENAGA und JILL CHERNISS,zwei Lichter, die zu früh erloschen sind.

Arg ist die Welt (…)

Schwertzeit, Beilzeit

Schilde bersten

Windzeit, Wolfzeit

bis die Welt vergeht –

nicht einer will den andern schonen.

– »VÖLUSPÁ«

Oh Licht! Das ist der Ausruf aller Figuren in den antiken Dramen im Angesicht ihres Schicksals. Es war auch unsere letzte Zuflucht, wie mir jetzt bewusst ist.

Mitten im tiefsten Winter erkannte ich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.

– ALBERT CAMUS, »HEIMKEHR NACH TIPASA«

TEIL I Der unbesiegbare Sommer

1

Die unermess­liche Leere unter ihnen schäumte und wogte, drang zu ihnen empor, um sie in die eisige Dunkelheit zu ziehen. Tosend versuchte sie, jeden Einzelnen von ihnen zu umschließen. Ihr kalter Schoß forderte sie auf, in den düsteren Ursprung allen Lebens zurückzukehren und zu sterben, jeder Mann für sich allein in der dunklen Stille.

Das Meer peitschte gegen das Schiff, die Wellen krachten gegen die Außenwand, und der Kapitän versuchte, es vor den Wind zu bringen. Er steuerte direkt in die Wellen, um die Wucht des Aufpralls zu verringern. Während er das Steuerrad herumriss, sprangen die Crewmitglieder in ihre Klamotten. Die Männer schnappten sich Vorschlaghämmer und Baseballschläger und eilten den anderen Deckarbeitern zu Hilfe, um wie eine mittelalter­liche Armee der Kavallerie entschlossen Widerstand zu leisten. Noah kämpfte mit seiner wasserdichten Kleidung, versuchte, Hose und Jacke anzuziehen, und stopfte seine Hände in ein Paar unförmiger Handschuhe, die ihn nur für kurze Zeit vor Erfrierungen schützen würden. Als sich das Schiff zur Seite neigte, taumelte er durch den Gang, darum bemüht, nicht den Halt zu verlieren, bevor er überhaupt draußen im Sturm war. Er zwängte seinen Fuß in einen der Stiefel und wankte von seinem Spind fort, als er ermit dem Kopf gegen die Schottwand geschleudert wurde. Er spürte ein Knacken in der Schulter, gefolgt von einem Schmerz, der sich langsam in seinem Körper ausbreitete. Noah biss auf die Zähne und rappelte sich wieder auf; er musste zu den anderen aufs Ladedeck. Er durfte nicht jetzt schon schlappmachen.

Zwei Deckarbeiter schoben sich an ihm vorbei, wodurch er das Gleichgewicht verlor und ins Straucheln kam. »Aus dem Weg, Cabot!«, brüllte einer von ihnen. Obwohl der zweite Mann hinter seinem Kollegen freie Bahn hatte, stieß er Noah ebenfalls zur Seite und beschimpfte ihn, weil er so langsam war. Noah lief hinter den beiden Männern Richtung Tür, um sich dem Sturm entgegenzustellen.

Draußen auf dem Ladedeck konnte er am Horizont das Meer nicht vom Nachthimmel unterscheiden. Der peitschende Wind und der Regen wetteiferten mit den Wellen, die auf das Deck krachten. Das einzig Helle in der Dunkelheit waren die Gischt auf dem Wasser und die immer dicker werdende Eisschicht auf dem Schiff, die von den Scheinwerfern auf dem höher gelegenen Vorderdeck angestrahlt wurde. Über die Seitenwand schoss ein Schwall Wasser und überzog das Eis mit einer weiteren Schicht; sobald die Männer eine davon fortgeschlagen hatten, bildete sich sofort eine neue. Normalerweise war es zu gefährlich, die Männer bei diesem Wetter nach draußen zu schicken, aber das Schiff hatte bereits Schlagseite, und wenn die Eisschicht noch dicker wurde, konnte ihr Gewicht das Schiff zum Kentern bringen. Dann würden vielleicht nicht nur ein paar der Männer dem Sturm zum Opfer fallen, dann würden sie alle im Meer den Tod finden.

Noah ließ seinen Blick über das Schiff wandern, um zu sehen, wo er den anderen Deckarbeitern zur Hand gehen konnte, als ihn eine wütende Stimme aufforderte, sich in Bewegung zu setzen. Der Bootsmann Serge Boucher ragte vor ihm empor, aber seine Worte wurden von dem Wind und den tosenden Wellen verschluckt.

»Was?«, schrie Noah.

Serge drückte ihm einen orangefarbenen Vorschlaghammer in die Hände, beugte sich zu ihm vor und brüllte: »Nach achtern! Schlagen Sie das Eis auf der Luvseite weg!« Er packte Noah mit einer Hand, die so groß wie die Pranke eines Eisbären war, und stieß ihn von der Schottwand fort hinaus auf das Ladedeck. Noah rutschte und stolperte über die vereiste Oberfläche und hatte Mühe, nicht gegen die Container und Kisten zu stoßen. Die Arctic Promise war unterwegs in den Nordosten der Tschuktschensee und hatte eine Lieferung für die Bohrplattform Niflheim von OrbitOil an Bord. Auch ohne einen Sturm in Orkanstärke, der drohte, ihr Schiff zum Kentern zu bringen, war die Fahrt schon beschwerlich genug.

Schließlich hatte Noah wieder Halt unter den Füßen und bahnte sich seinen Weg zwischen den Containern zur Planke des Seitendecks, das sich oberhalb des Hauptdecks befand. Er kletterte auf den schmalen Steg, als eine Welle gegen das Schiff krachte, sodass er nichts mehr sah und sich verschluckte; beinahe wäre er über die Reling nach unten auf das Ladedeck geschleudert worden. Vielleicht würde er nicht ertrinken und sich stattdessen den Hals brechen. Er nahm seinen Hammer und schlug zu. Der Aufprall ließ seine Arme erzittern, und um ein Haar wäre der Hammer ins Meer gefallen. Doch er hielt ihn fest umklammert, nahm all seine Kraft zusammen und schlug erneut zu. Und dann noch mal und noch mal, bis die Eisschicht abplatzte und in den Ozean rutschte.

Erneut brach eine Welle über das Schiff herein und nahm Noah die Sicht. Das Wasser drückte gegen seinen Körper und zerrte an ihm. Er hielt sich so gut er konnte an der Reling fest, bis die Welle über ihn hinweggespült war, dann schwang er trotzig seinen Hammer. Er würde nicht zulassen, dass der Sturm ihn holte. Nicht während er hier stand, den Hammer kampfbereit in seiner Hand.

Hinter ihm drang ein Schrei durch den Sturm, gefolgt von einem Ausruf kollektiven Entsetzens, was ihm mehr Angst einjagte als die eisigen Wassermassen, die ihm die Luft zum Atmen raubten. Er fuhr herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Stahltrosse, mit der Container Nummer sechs befestigt war, riss und sich löste. Sie sauste unkontrolliert hin und her und fegte knapp über die Köpfe seiner beiden Kollegen Henry und Theo hinweg. Dann schnellte sie zurück und knallte Funken sprühend gegen die Reling zu seiner Linken. Schützend hob Noah die Hände in die Höhe. In diesem Moment schleuderte ihn eine weitere Welle gegen die Reling und riss ihm die Füße unter den Beinen weg. Er ging zu Boden und knallte mit dem Kopf gegen den Gitterrost. Dann sah er Sterne; die einzigen, die heute Nacht zu sehen waren. Er spürte in der Wange einen stechenden Schmerz, bevor sie wieder kalt und taub wurde. Trotz des Dröhnens in seinen Ohren konnte er hören, wie Serge durch den Sturm etwas brüllte. »Machen Sie das Scheißding wieder fest! Sofort!«

Noahs Augen brannten, und seine Wimpern waren von Eis verklebt. Mit seinen vollgesaugten Handschuhen kratzte er sie wieder frei und rappelte sich auf. Er konnte den Männern unten auf dem Deck nicht helfen, sondern nur dabei zusehen, wie sie gegen den Sturm und die schwere Fracht ankämpften. Aber auch er musste einen Job erledigen. Schlag das Eis auf der Luvseite ab. Er war an den äußersten Rand der Ozeane verbannt worden, und er wusste, dass die Crew ihm keine Träne nachweinen würde, wenn er hier draufging. Sobald sich das Meer wieder beruhigt und das Schiff die Niflheim erreicht hätte, würde der Kapitän die Firma darüber informieren, dass sie einen weiteren Mann auf See verloren hätten, um sich dann seine wohlverdiente Nachtruhe zu gönnen. Man würde Versicherungsansprüche geltend machen und Verzichtserklärungen einreichen, bevor schließlich die Versicherungssumme ausgezahlt wurde. Nach Noahs Tod würde Geld von einer Tasche in die andere wandern, und hoffentlich würde ein Teil davon bei seiner Tochter landen. Für die meisten Menschen, die er kannte, war er tot mehr wert als lebendig, aber nicht für sie.

Er drosch mit dem Hammer erneut auf das Eis ein, bis die Metallreling endlich frei war. Dann lief er weiter, den Hammer in den Sturm gereckt; seine Arme brannten vor Erschöpfung. Hinter ihm war ein Quietschen und Jaulen zu hören. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, wie der riesige Container, der sich gelöst hatte, auf einen der Deckarbeiter zurutschte – durch das tosende Unwetter hindurch konnte er undeutlich eine gelbe Regenjacke erkennen, die hinter dem grauen Koloss verschwand. Die anderen schafften es nicht, die Fracht zu befestigen, und es spielte keine Rolle, wie viel Eis Noah beseitigte, wenn an Deck Menschen zerquetscht wurden. Sie brauchten Hilfe.

Er rannte zur Leiter am Ende der Planke und kletterte nach unten. Um die vertäute Ladung herum lief er zu den Männern, die versuchten, den losen Container zu sichern, und dabei mit der Winde und der Kette, mit dem Sturm und dem Regen zu kämpfen hatten. Felix lag auf dem Rücken. das Gesicht rot von dem austretenden Blut, das vom Wasser immer wieder fortgespült wurde. Zwei Männer mit zurückgeschobenen Kapuzen versuchten, ihn vom Container fortzuziehen. Noah eilte ihnen zur Hilfe.

»Warum zum Henker haben Sie die Planke verlassen?«, brüllte Serge.

»Ich dachte …«

»Es ist mir scheißegal, was Sie denken!« Serge packte Felix am Handgelenk und legte dessen Arm über seine Schultern, während er die anderen Besatzungsglieder, die versuchten, dem Deckarbeiter hochzuhelfen, fortstieß. Er hob den verletzten Matrosen auf die Beine und drehte ihn von den anderen weg. Felix verzog schmerzerfüllt das Gesicht, doch er beklagte sich nicht. »Cabot! Hierher, sofort!«, rief Serge. Noah schob sich unter Felix’ freien Arm und legte ihm die Hand um die Taille. Serge ließ Felix’ anderen Arm wieder los und riss Noah den Hammer aus der Hand. Der Bootsmann ragte wie ein zorniger Donnergott vor ihm empor, dazu bereit, ihn niederzustrecken. Stattdessen drückte er den Hammer einem der Deckarbeiter in die Hand. Ohne weitere Anweisung rannte der Mann los, um die Eisschicht auf dem Seitendeck an Backbord fortzuschlagen. Serge nickte und warf Noah einen vernichtenden Blick zu, um ihm zu signalisieren, was er von einem Deckarbeiter erwartete. Oder wie Noahs Großvater immer gesagt hatte: Wenn ich dich auffordere zu springen, dann fragst du mich in der Luft »wie hoch«.

»Bringen Sie ihn rein«, sagte Serge. »Bringen Sie ihn zu Mickle.« Er packte Noah an der Jacke und zog ihn vorwärts. Noah hatte Mühe, den verletzten Mann festzuhalten. »Und bauen Sie dieses eine Mal keinen Scheiß, Cabot. Los, rein mit ihm, und zwar sofort! Und sollte ich Sie noch mal hier draußen erwischen, dann wird es nicht der Sturm sein, der Sie über Bord schickt.«

Über die Lautsprecheranlage war die Stimme des Kapitäns zu hören: »Wir steuern direkt auf ewas Großes zu! Haltet euch fest!«

Es fühlte sich an, als wäre das Schiff auf Grund gelaufen. Schlagartig kam es zum Stehen, dann hob sich der Bug in der Dünung, und die Männer blickten direkt auf das Meerwasser herab, das über das Heck schoss. Noah suchte verzweifelt Halt. Das Schiff lag tief im Wasser, die Eisschicht auf dem Aufbaudeck drückte es nach unten. Zu beiden Seiten erhob sich das Meer, als hätte der Kapitän es in der Mitte geteilt. Und wenn William Brewster Moses war, dann wären die Männer an Achtern diejenigen, die Ramses als Letzte zu Gesicht bekommen würden, bevor die Fluten über sie hereinbrachen. Mit einer Hand umklammerte Noah eine Kette, mit der anderen Felix. Da er nichts anderes tun konnte, hielt er sich fest und schrie vor Angst, während die Wassermassen von beiden Seiten auf sie herabprasselten und das Schiff weiter nach unten gezogen wurde.

Noahs Mund, Nase und Augen füllten sich mit eiskaltem Salzwasser, bis es schließlich auch in seine Lungen strömte. Es drang durch die Ritzen seiner Kapuze in seine Kleidung, lief in Stiefel und Handschuhe. Falls er nicht ertrank, würde er garantiert Erfrierungen davontragen. Er spuckte Wasser und rang nach Luft, die furchtbar kalt war, aber unfassbar guttat. Das Schiff richtete sich wieder aus, und für einen kurzen Moment stand Noah auf einer ruhigen, waagerechten Oberfläche und starrte auf einen Berg aus Männern statt auf eine Wand aus Wasser. Serge stand regungslos vor ihm und schaute mit entschlossenem Blick geradeaus wie die Fischerstatue in Noahs Heimatstadt Gloucester. Für einen Moment war die Welt wieder in Ordnung. Doch dann brach erneut die Hölle los.

»Geht rein«, brüllte Serge. Noah schob auf der rutschigen Oberfläche eine Kiste zur Seite und hielt Felix weiter fest, während der verwundete Mann neben ihm herhumpelte. Falls er sich beklagte oder protestierte, konnte Noah ihn nicht hören. Als sie die Schotttür erreichten, hatte Brewster sie direkt in eine weitere Monsterwelle gesteuert. Das Schiff richtete sich erneut auf. Dann sackte es unter ihnen weg und krachte auf die Wasseroberfläche. Noah und Felix wurden durch die Tür geschleudert und knallten auf das Deck. Felix landete direkt auf ihm und schrie zum ersten Mal vor Schmerz auf. Noah bekam keine Luft mehr, und sein verdrehter Rücken schmerzte von dem zweifachen Aufprall, als er versuchte, sich unter dem verletzten Mann hervorzuwinden.

»Mein Gott, Cabot!« Noah spürte, wie Felix fortgezogen wurde, doch ihm half niemand auf die Beine. Er rappelte sich auf und warf durch die Tür einen Blick auf die Männer, die er zurückgelassen hatte. »Cabot!«, brüllte der dritte Offizier Chris Holden. »Wo verdammt noch mal glotzen Sie hin? Helfen Sie mir!« Noah wandte sich wieder Felix zu, schob sich unter seinen Arm und brachte ihn aufs erste Deck zu ihrer notdürftig ausgestatteten Krankenstation.

Die Krankenstation des Schiffes war ein schmaler Raum mit einem Untersuchungstisch auf Rollen, zwei in den Wänden eingelassenen Kojen gegenüber einem Waschbecken, einer kurzen Arbeitsfläche und einem Versorgungsschrank. Die meisten Bereiche des Schiffes waren äußerst beengt, und die Krankenstation – die man in der Hoffnung eingebaut hatte, dass sie nur selten benutzt werden würde – war das beste Beispiel dafür. Noah half Holden dabei, Felix auf den Untersuchungstisch zu heben. Felix legte sich hin, während Holden das Telefon von der Wand nahm und die Kommandobrücke rief. »Pereira ist verletzt. Wir brauchen Mickle so schnell wie möglich.« Er legte auf und wandte sich Noah zu. »Was ist passiert?«

»Eine Trosse ist gerissen und einer der Container hat sich gelöst. Er hat ihn voll erwischt.«

»Ach ja? Und wo zum Henker waren Sie?«

»Ich habe das Eis vom Seitendeck entfernt.«

Holden kniff die Augen zusammen und warf Noah einen vernichtenden Blick zu, bevor er sich dem verletzten Mann zuwandte, ihm das Blut vom Gesicht wischte und nach der Wunde suchte. »Wo bist du verletzt, Felix?«

Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Felix: »Die Rippen tun weh. Ich kriege kaum noch Luft.«

Einen Moment später erschien der medizinische Offizier des Schiffes im Türrahmen. Sean Mickle, der zweite Offizier, schob sich an Noah vorbei, um sich um Felix zu kümmern; während er ihm aus seiner Kleidung half, stellte er ihm weitere Fragen. Stockend antwortete Felix ihm. Er hatte Schmerzen und konnte kaum atmen. Es war eine Tortur für ihn, die Arme zu heben. »Ich werde Ihnen was gegen die Schmerzen geben, okay?«, sagte Mickle. Felix nickte.

Holden sah zu Noah, der im Türrahmen verharrte, und schüttelte den Kopf. »Was ist? Warten Sie auf eine Belohnung? Schieben Sie ab und gehen Sie zurück auf Ihre Ka­­bine.«

»Meine Kabine?«

»Ja, Ihre Kabine. Scheren Sie sich raus.«

Noah wartete nicht darauf, dass Holden seine Anweisung wiederholte. Denn dann würde dieser ihn anbrüllen und beschimpfen und ihm eine zusätz­liche Wachschicht aufbrummen. Er stiefelte aus der Krankenstation und be­­gab sich vom ersten Deck in seine Ein-Mann-Kabine fünf Ebenen tiefer auf dem D-Deck. Die Besatzung des Schiffes bestand aus einer kleinen Crew von sechzehn Männern. Die meisten von ihnen waren auf dem B- und C-Deck untergebracht, näher an der Kombüse und den Tagesräumen. Noahs Kabine befand sich so weit unten, wie das möglich war, ohne dass er direkt auf den Generatoren schlief.

Als er nach unten kletterte, hielt er sich gut am Geländer der steilen Leiter fest, während das Schiff draußen immer noch gegen die Wellen ankämpfte und sich in der aufgewühlten See hob und senkte. Falls er in die Tiefe stürzte und sich den Schädel aufschlug, wäre niemand da, der ihn auf die Krankenstation zurückbringen würde. Allerdings bezweifelte er, dass das außer ihm selbst irgendjemandem etwas ausmachen würde.

Je tiefer er kam, desto stärker und beißender wurde der Öl- und Maschinengeruch. Als er den Absatz des D-Decks erreichte, öffnete er die Tür und stellte fest, dass der Gang von dichtem weißem Rauch erfüllt war, der unter der Tür des Geräteraums hervorwaberte. Noah schnappte sich den Feuerlöscher, der an der Wand neben einer roten Axt hing, und rannte zur Tür. Als er sie aufriss, kam ihm eine wider­liche Rauchwolke entgegen, und er trat zurück. Er nahm seine durchnässte Mütze und drückte sie sich vor Mund und Nase, bevor er in den Raum stürzte. Durch den Nebel konnte er mit seinen brennenden Augen eine Schalttafel erkennen, die in Flammen stand. Er ließ seine Mütze fallen und versuchte, den Stift aus dem Feuerlöscher zu ziehen. Der Kabelbinder, mit dem der Stift gesichert war, damit er sich bei der Auslieferung nicht versehentlich löste, war noch nicht entfernt worden. Mit dem verdammten Ding am Feuerlöscher konnte er nicht das Geringste ausrichten.

Noah zog sich mit dem Mund einen seiner Handschuhe aus und warf ihn zu Boden, während er fluchend an seiner Hose nestelte. Durch die nassen Regensachen kam er nicht an sein Taschenmesser. »Verdammte Scheiße!« Er versuchte, mit den Zähnen den Kabelbinder zu entfernen. Nachdem er unter Schmerzen darauf herumgekaut hatte, löste dieser sich endlich. Er zog den Stift heraus, trat gegen die Abdeckung der brennenden Schalttafel und versuchte, sie zu öffnen. Sie rührte sich nicht, und er trat erneut dagegen, worauf die Abdeckung zu vibrieren begann und herunterfiel. Das heiße Metall prallte von seinem Arm ab, und das feuchte Gummi zischte auf. Noah brauchte unbedingt Sauerstoff. Obwohl der Großteil des Rauchs aus dem Raum in den Gang gezogen war, war die Luft immer noch stickig und voller giftiger Gase. Er kämpfte gegen den Würgereiz an, während er den Feuerlöscher unten auf die Funken und Flammen richtete und den Hebel herunterdrückte. Trockenpulver schoss aus der Düse, und der Rauch und Gestank nach Chemikalien wurden stärker. Noah hatte Angst, dass ein einziger Feuerlöscher nicht reichen würde. Aber wenn er es schaffte, die Flammen unter Kontrolle zu bringen, könnte er losrennen und einen weiteren holen. Es kam nicht infrage, im Geräteraum mit Wasser zu löschen. Das würde bei sämt­lichen Systemen an Bord des Schiffes zu einem Kurzschluss führen. Aber die Flammen wurden weniger. Er sprühte die Schalttafel so lange voll, bis der Feuerlöscher leer war und er glaubte, dass er das Feuer erstickt hatte.

Er schwitzte und konnte kaum etwas erkennen. Am liebsten hätte er die schwere Kleidung ausgezogen und seine brennenden Augen ausgewaschen, aber er musste die Kommandobrücke anrufen und den Kapitän über den Brand informieren. Während er in den Gang hinauswankte, geriet das Schiff erneut ins Schlingern, und er fiel der Länge nach hin. Dabei stieß er mit dem Kopf gegen einen Ventilhahn und sah Sterne. Dann sah er nichts mehr.

2

Erfüllt von Panik kam Noah in der oberen Koje der Krankenstation wieder zu sich. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber er hatte keine Orientierung, und ihm war übel, sodass sich alles um ihn herum drehte. Also ließ er sich wieder zurück auf das Kissen fallen. Er holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Wenn er auf der Krankenstation lag, dann hatte jemand ihn gefunden und hergebracht. Das bedeutete, dass das Feuer unter Kontrolle und mit dem Schiff alles in Ordnung war. Wenn sein Herz nur etwas langsamer schlagen würde, dann würde auch das Pochen in seinem Schädel nachlassen. Er lag in der Koje und lauschte, ob es draußen immer noch stürmte. Das Schiff war ruhig. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war, aber inzwischen hatten sie es anscheinend durch den Sturm geschafft. Und wenn er nicht tot war oder träumte, dann befanden sie sich immer noch über Wasser.

Während in seinem Gesichtsfeld helle Punkte umhertanzten, versuchte er erneut, sich aufzurichten. Auf die Ellbogen gestützt schaffte er es, sich halb aufzusetzen. An einem winzigen Tisch, auf einem an der Wand befestigten Hocker, saß Mickle; er schaute von seinen Unterlagen auf und sah ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Verärgerung an. »Wie geht’s Ihnen, Cabot?«

»Ich habe einen mächtigen Brummschädel«, sagte Noah. Seine Kehle war rau, und er brachte nur ein heiseres Krächzen hervor. Er räusperte sich, aber als er erneut versuchte, etwas zu sagen, klang seine Stimme noch unverständ­licher.

»Kein Wunder. Sie haben unter Deck einen kräftigen Schlag abbekommen. Zumindest sagt mir das die Platzwunde über Ihrem rechten Auge.«

Noah hob die Hand und befühlte seine Stirn, bis er die Wunde gefunden hatte. Unwillkürlich zuckte er zurück. Etwas vorsichtiger untersuchte er den etwa drei Finger breiten geschwollenen Streifen entzündeten Gewebes und stellte fest, dass er von medizinischem Kleber und Tape zusammengehalten wurde.

»Ist Ihnen schlecht? Oder schwindelig?«, fragte Mickle.

Noah nickte und knurrte.

»Wahrscheinlich haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung. Aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, nicht ohne CT. Allerdings muss man kein Genie sein, um zu sehen, dass es Sie ziemlich übel erwischt hat. Sie sollten für ein oder zwei Tage auf Ihrer Kabine bleiben. Falls Sie sich übergeben oder die Kopfschmerzen schlimmer werden, muss ich Sie noch mal untersuchen.«

»Was, wenn ich einschlafe und nicht wieder aufwache?«

»Sobald wir die Niflheim erreicht haben, werde ich für Pereira einen Rettungshubschrauber anfordern. Dann können Sie mit ihm nach Hause fliegen.«

»Das meine ich nicht.«

Mickle stand auf, klappte den Aktenordner mit seinen Papieren zu und schob ihn in einen Plastikbehälter an der Wand. »Solange Sie sich erholen, können Sie nicht arbeiten. Und wenn es was Ernstes ist, müssen Sie in ein richtiges Krankenhaus.« Er breitete die Arme aus, als müsste er extra betonen, dass das »Krankenhaus« des Schiffes kaum besser als das Krankenzimmer einer Highschool ausgestattet war. Aber immerhin hatte er hier starke Schmerzmittel.

Vorsichtig hob Noah seine Beine über den Rand der Koje. »Wie geht es den anderen?«

Mickle kicherte leise. »Gut. Abgesehen von ein paar Männern mit Prellungen und leichten Erfrierungen sind Sie und Pereira die Einzigen, die im Sturm verletzt wurden. Ihr habt euch zwar große Mühe gegeben, dabei draufzugehen, aber ihr seid noch am Leben. Das ist doch was.«

Noah seufzte. Er drückte sich vorsichtig von der Koje ab, hüpfte herunter und landete unsanft auf den Fersen. Eine Woge des Schmerzes schoss durch seinen Rücken hinauf in seinen Schädel, sodass sich der Raum zu drehen begann. Während er sich an der Leiter festhielt, die er eigentlich hätte herunterklettern sollen, versuchte er, sich zu orientieren. Er spürte, wie Mickle ihn mit der Hand am Arm festhielt, konnte ihn aber nur als schemenhaften Umriss erkennen. Der zweite Offizier pflegte einen professionellen Umgang und konnte sogar recht herzlich sein, aber sie beide waren nicht gerade die besten Freunde. Noah vermutete, dass Mickle so besorgt war, weil er keine Lust auf den Papierkram hatte, falls jemand an Bord des Schiffes starb.

»Alles in Ordnung?«

»Geht schon«, sagte Noah. Er richtete sich auf und hielt seine Hände in die Höhe, um ihm zu signalisieren, dass er sicher auf seinen Füßen stand. Mickle ließ ihn los und trat zurück. »Mich hat’s schon schlimmer erwischt. Aber Sie wollen bestimmt nicht, dass ich Ihnen von meinem Liebesleben erzähle.« Noah zwinkerte ihm zu, aber Mickle lachte nicht. Obwohl Noahs Frau Abby ihn lustig fand, wusste er, dass er das nicht war. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. Vielleicht sollte ich es besser lassen, dachte er, als er Mickles ausdrucksloses Gesicht sah.

»Also, Superman, Sie sollten sich jetzt ein bisschen ausruhen. Sich von dem Schlag und dem Dreck erholen, den Sie bei Ihrer Löschaktion eingeatmet haben. Übrigens, gute Arbeit.«

»Danke. Wie schlimm war es denn?«

Mickle zuckte mit den Schultern. »Ist nicht mein Fachgebiet. Martin kümmert sich darum, da müssen Sie ihn fragen.« Er wandte sich zum Gehen und blieb dann noch einmal im Türrahmen stehen. Martin Nevins war der Maschinist und Mechaniker auf dem Schiff. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für schwarzen Humor, den niemand an Bord wirklich zu schätzen wusste. Er war einer von Noahs wenigen Verbündeten, zumindest war er das gewesen, bevor Noah eine der Schaltflächen im Geräteraum mit dem Pulver aus dem Feuerlöscher vollgesprüht hatte.

»Ich werde auf dem Weg zu meiner Kabine mal bei ihm vorbeischauen.«

»Das würde ich nicht tun. Er ist nicht besonders glücklich über die Sache. Übrigens, Brewster hat Ihnen eine neue Kabine zugewiesen. Sie sind jetzt auf dem C-Deck untergebracht. Im D-Deck stinkt es, als wäre dort eine ganze Ölraffinerie ausgelaufen, darum will er nicht, dass da unten jemand schläft. Damit hat er Ihnen einen Gefallen getan. Was Sie die ganze Zeit in Ihrer Kabine eingeatmet haben, entspricht ungefähr zehn Packungen filterloser Zigaretten. Wenn Sie noch mehr davon einatmen, werden Sie sich wünschen, Sie hätten einen Job in einem Bergwerk und nicht auf einem Frachtschiff angenommen.« Noah lächelte dem medizinischen Offizier schwach zu. Er hatte sich diesen Job nicht ausgesucht, er hatte es seiner eigenen Trägheit zu verdanken, dass er hier gelandet war.

Sein Vater, Großvater und Urgroßvater waren alle in Gloucester Fischer gewesen, und er war mehr oder weniger an Bord von Fischdampfern aufgewachsen. Sobald er alt genug gewesen war, war er mit seinem alten Herrn und dessen altem Herrn zur Arbeit hinausgefahren. Während andere Kinder Baseball spielten, für die Schule lernten und nach Boston fuhren, um sich zu vergnügen, hatte er seine Zeit draußen auf dem Meer verbracht. Aber die staat­lichen Beschränkungen und Fangquoten entzogen seiner Familie zusehends die Lebensgrundlage. Da sie sich nicht mehr als ein paar kleine Boote leisten konnten, richtete sein Vater ihr Familienunternehmen neu aus, nachdem die staat­lichen Regulierungsbehörden den Fang von Dorschen im Golf von Maine praktisch verboten hatten. Er renovierte die Boote und rüstete sie um, um mit den Sommergästen auf zwölfstündigen »Abenteuertouren« zum Tiefeseefischen hinauszufahren. Mit seinem verwitterten, faltigen Gesicht wirkte er zwanzig Jahre älter, als er tatsächlich war, während er den Touristen lächelnd erzählte, dass die Cabots in diesen Gewässern fischten, seit sie mit ihren Booten darauf unterwegs seien. Nur ein Aufkleber an seinem Auto verriet, wie sehr er es hasste, den Fremdenführer für Besucher zu spielen, die seine harte Arbeit in eine Freizeitbeschäftigung verwandelten. Auf dem Heck seines Pick-ups stand auf einem roten, rechteckigen Sticker: »Gibt man dir einen Fisch, hast du den ganzen Tag zu essen. Bringt man dir das Fischen bei, wirst du verhungern.«

»Früher konnte man quer durch das Hafenbecken laufen, Noah«, hatte sein Dad ihm erzählt. »Damals lagen dort so viele Boote, dass man von einem Ende zum anderen laufen konnte, ohne nasse Füße zu bekommen. Heute geht das nicht mehr.« Dabei deutete er auf ein weiteres neues Hafenhotel, dort, wo früher mal ein Auktionshaus oder eine Verpackungsanlage gestanden hatte. Noah hatte auf die drei oder vier verbliebenen Boote geschaut, die zu einer »Hafenrundfahrt im Mondschein« aufbrachen. Sein alter Herr hatte immer noch einen aufrechten Gang und breite Schultern. Doch seine Stimme klang brüchig. Sie verriet die Enttäuschung darüber, dass man ihm das Einzige genommen hatte, worin er je gut gewesen war, und dass er noch mal ganz von vorne anfangen musste. Dass er seinem Sohn nichts weitergeben konnte.

Noah war ein guter Schüler gewesen, auch wenn er oft gefehlt hatte. Er musste sich nicht besonders anstrengen, um ordent­liche Noten zu bekommen; es fiel ihm alles mehr oder weniger zu. Als er sich an der University of Washington einschrieb, war nur der Berufsberater überrascht, dass er einen Studienplatz bekam, denn er hatte Noah erzählt, dass für ihn nur die Armee oder das Zuchthaus infrage kämen. Die einzige Person, die enttäuscht war, war seine Mutter.

»Gibt es nichts Näheres? Gibt es in Boston keine Uni?«, fragte sie.

»Sie ist auf Platz fünfzehn von allen Unis auf der ganzen Welt, Mom. Das ist eine tolle Uni. Außerdem kann man da Fischereiwissenschaft studieren und …« Aber Annemarie Cabot wollte nicht hören, wie er ihr die Vorzüge der Universität anpries. Sie hörte bloß »Seattle«. Und das lag am anderen Ende der Welt.

»Lass den Jungen gehen«, sagte sein Vater. »Er kann nicht hierbleiben und mit den Touristen fischen fahren. Er hat einen Studienplatz an der … wie nennst du sie, Noah?«

»U-Dub.«

»Sie nennen die Uni dort U-Dub, Annemarie«, wiederholte sein Vater.

»Und wie soll er das bezahlen, Ethan? Wir können uns ein Studium an der U-Dub nicht leisten.«

»Ich werde ein Studiendarlehen aufnehmen, Mom. Das muss jeder.« Er gab seiner Mutter einen Kuss und sagte ihr, dass er schon zurechtkommen werde. Er versprach ihr, sie jedes Jahr in den Ferien und im Sommer zu besuchen und sie jede Woche anzurufen; es würde so sein, als wäre er nie ausgezogen. Doch es kam ganz anders.

In seinem ersten Jahr hatte er große Probleme. War ihm der Unterricht an der Gloucester High stets leichtgefallen, kam er hier, verg­lichen mit den anderen Studenten, nicht mehr so einfach voran. Plötzlich war er nur noch Durchschnitt. Er ließ Thanksgiving ausfallen, um sich dem Studium zu widmen. Im Sommer nahm er einen Job auf einem Fischereischiff in Alaska an, damit er es sich leisten konnte, nur ein kleines Darlehen aufzunehmen. Wenn er im Sommer genug Geld verdiente und das Jahr über keinen Teilzeitjob annehmen müsste, würde es im Studium besser laufen. Je öfter er nicht nach Hause fuhr, desto weniger fehlte ihm seine Mutter. Im darauffolgenden Semester lernte er Abby kennen, und damit änderte sich alles. Aber nicht unbedingt zum Besseren.

Noah schüttelte die Erinnerungen an die alten Zeiten ab und schaute zu Felix, der keuchend in seiner Koje lag. Trotz der Schmerzmittel verzog er im Schlaf hin und wieder das Gesicht. Gebrochene Rippen. Sollte er sich die Rippen gebrochen haben, würde er vielleicht sterben. Erst recht, wenn seine Lunge punktiert war oder er eine andere Verletzung hatte, die man von außen nicht erkennen konnte. Warum wollte Mickle erst einen Rettungshubschrauber anfordern, wenn sie die Niflheim erreicht hatten? Das Meer hatte sich inzwischen beruhigt. Sie könnten jetzt sofort Hilfe rufen und Felix früher ins Krankenhaus bringen lassen, statt weiterzufahren, sodass der Hubschrauber eine sehr viel weitere Strecke zurücklegen musste, um ihn abzuholen.

Offensichtlich hatte der Kapitän die Entscheidung ge­­troffen zu warten. Der Alte führte bestimmt nichts Gutes im Schilde, wenn er Felix’ Leben aufs Spiel setzte, und Noah wollte herausfinden, was das war. Er verließ die Krankenstation und machte sich auf den Weg zur Kommandobrücke.

3

Die Artic Promise war ein Materialtransporter mit maximaler Ladefläche, der große Mengen wichtiger Fracht zu den Offshore-Bohrinseln brachte. Auf dem Hinweg war er mit Zementpulver, Dieselkraftstoff, Trinkwasser und Lebensmitteln für die Crew beladen. Auf dem Rückweg beförderte das Schiff entzündbare Chemieabfälle, die entsorgt werden mussten. Den meisten Platz nahm das lange, offene Achter-Ladedeck ein. Am Bug befand sich ein großer Aufbau, in dem sich die Betriebs- und Wohnräumlichkeiten befanden. Als Noah zum ersten Mal so ein Schiff gesehen hatte, wirkte es auf ihn wie ein Boot, das man mit einem Pritschenwagen gekreuzt hatte.

Für die Ölindustrie zu arbeiten war ein zwiespältiges Gefühl. Von Kindesbeinen an war Noah so erzogen worden, dass er eine ganz selbstverständ­liche, instinktive Abneigung gegen die Bohrinseln vor der Atlantikküste hegte. Ein Ölteppich konnte den Lebensraum im Ozean und damit die Existenzgrundlage vieler Menschen an der Küste zerstören, die auf eine gesunde Meeresflora und -fauna angewiesen waren. Sein Großvater hatte sich politisch engagiert und dagegen protestiert. Fischer zuerst! war sein Schlachtruf gewesen. Wie die Farmer und Rancher versorgten die Fischer Amerika mit Lebensmitteln, und er beharrte darauf, dass ihre Existenzgrundlage einen entscheidenden Beitrag zur Volksgesundheit leistete. Er wollte es nicht hören, wenn man ihm sagte, dass er schließlich kein Segelschiff besitze und deshalb wie jeder andere auf Öl und Benzin angewiesen sei.

Noah hatte erlebt, wie sich sein Großvater mit den Umweltschützern gegen die Ölfirmen zusammentat und sich anschließend gegen ebendiese Leute wandte, weil sie die Schwertfisch- und Dorschpopulationen vor der Überfischung schützen wollten. Beide Seiten benutzten einander, um ihre Ziele durchzusetzen, und am Ende gab es immer weniger Fischer, die immer weniger verdienten und mit den Fischfarmen konkurrieren mussten. Außerdem verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand, denn sie fingen an zu trinken, um den Stress besser zu ertragen, während sie zwischen zwei mächtigen Interessengruppen zerrieben wurden. Noah wollte nichts mit Politik oder den Umweltaktivisten zu tun haben. Er wollte eine Arbeit, die ihm Spaß machte, wollte eine Familie gründen und ein kleines Stück vom Glück, das für ein ganzes Leben reichte. Das war nicht zu viel verlangt. Zumindest fand er das. Im Laufe der Zeit veränderte sich seine Situation, und er brauchte mehr Geld. Als OrbitOil dann neue Leute einstellte, bewarb er sich dort. Es war ein Job, und er war sicherer als die Arbeit auf den Fischerbooten in der Beringsee. Jedenfalls hatte man ihm das bei seinem ersten Einsatz auf einem der Schiffe erzählt. Allerdings fragte er sich, ob »sicherer« der richtige Ausdruck war, oder ob »auf andere Weise gefährlich« es nicht besser traf. Aber das brachte die Arbeit auf See nun mal mit sich. Wenn er einen sicheren Job wollte, hätte er weiter die Uni besuchen und Bibliothekar oder Architekt werden können. Es war ihm jedoch nicht möglich gewesen, sein Studium fortzusetzen. Er hatte akzeptiert, dass er vielleicht für den Rest seines Leben auf Schiffen wie der Arctic Promise arbeiten würde.

Als er das Ende der Leiter erreicht hatte, betrat er durch die Tür die Kommandobrücke. Sie war in ein trübes weißes Licht getaucht, das durch die Fenster fiel, die den Raum auf allen Seiten umgaben. Die Kommandobrücke befand sich an der höchsten Stelle des Aufbaus; von hier aus hatte man einen 360-Grad-Blick auf das Schiff und das umliegende Meer. Momentan war jedoch nur eine dichte Nebelwand zu sehen, sodass man nicht das Geringste erkennen konnte. Kapitän William Brewster saß auf einem der beiden am Boden festgeschraubten Sitze und starrte auf den Computerbildschirm, der in dem weiß-grauen Bedienfeld vor ihm eingelassen war; wahrscheinlich navigierte er mithilfe der Instrumente. Er nippte an einem Becher mit lauwarmem Kaffee. Die Ringe unter seinen blutunterlaufenen Augen verrieten, dass das Koffein inzwischen keine Wirkung mehr zeigte. Abgesehen von Brewster war die Kommandobrücke leer.

Oberhalb der geneigten Fenster sah man auf mehreren Computerbildschirmen die Instrumentenaktivität sowie Bilder von verschiedenen Bereichen des Decks; Noah hatte keine Ahnung, was die Anzeigen zu bedeuten hatten. Er war ein Deckarbeiter – seine Aufgabe war es, das Schiff zu be- und entladen. Er wusste, wie man ein Fischerboot steuerte, und kannte sich mit dessen Kontrollanzeigen aus. Aber die Geräte auf der Brücke der Arctic Promise sagten ihm genauso wenig wie die Bedienelemente eines Space Shuttles.

Er reckte seinen Hals, um durch eines der Fenster zu spähen, und stellte fest, dass er nicht weiter als bis zum Vorderdeck sehen konnte. Der Nebel versperrte ihm die Sicht auf das Meer und den Bug des Schiffes. Sein Magen zog sich zusammen, denn er hatte das Gefühl, zu fliegen und nicht auf dem Meer unterwegs zu sein. Lieber hätte Noah einen Monat an Bord eines Schiffes verbracht als einen Tag im Flugzeug. Wenn auf einem Schiff etwas passierte, konnte er in einen Überlebensanzug schlüpfen und ein Rettungsboot besteigen. In einem Flugzeug blieb ihm nichts anderes übrig, als zu beten. Falls er ein religiöser Mensch gewesen wäre.

»Noah«, sagte Brewster, ohne von dem Bildschirm vor sich aufzublicken. »Ich habe nicht nach Ihnen gerufen.« Er stellte seinen Becher auf dem Bedienfeld ab, wo sich zwischen zwei Tastaturen bereits ein getrockneter brauner Ring abzeichnete.

»Mickle hat mir erzählt, dass Sie warten wollen, bis wir die Bohrinsel erreicht haben, bevor Sie für Felix Pereira einen Rettungshubschrauber anfordern. Er braucht aber jetzt sofort einen. Er kann nicht warten, bis wir die Bohrinsel erreicht haben.«

Brewster schüttelte den Kopf. »Seit wann sind Sie Arzt?«

»Kommen Sie, William! Der Junge ist schwer verletzt. Man muss kein Arzt sein, um …«

»Ich habe keine Zeit für diesen Mist, Noah. Ihnen ist bestimmt nicht entgangen, dass wir hier ein Problem haben. Ich muss mich konzentrieren.«

»Aber Sie sind für das Wohl Ihrer Besatzung verantwortlich. Felix muss sofort mit dem Hubschrauber von hier fortgebracht werden.«

Brewster drehte sich auf seinem Stuhl um und deutete mit zitterndem Zeigefinger auf die Kommunikationsanlage. Noah wusste nicht, ob der Alte vor Erschöpfung oder wegen des Koffeins zitterte, auf jeden Fall war er froh, dass man zum Steuern eines Schiffes keine besonders ruhige Hand brauchte. »Tun Sie sich keinen Zwang an. Die Funkgeräte sind alle tot, und das Satellitentelefon funktioniert auch nicht mehr. Wenn Sie jemanden erreichen, bestellen Sie eine verdammte Pizza und ein Taxi, das uns von hier wegbringt.«

»Die Kommunikation ist zusammengebrochen? Wegen der Geräte, die Feuer gefangen haben?«

»Nein. Nevins sagt, das war das Antriebssystem. Aber für beides gibt es ein Notsystem. Ich habe keine Ahnung, warum die Kommunikation zusammengebrochen ist. Ich schätze, dass es etwas hiermit zu tun hat.« Er deutete mit dem Kinn auf den Nebel hinter dem Fenster. »Diese Brühe ist hier aufgezogen, als sich der Sturm wieder gelegt hatte. So was habe ich noch nicht erlebt.« Er drehte den Kopf und sah aus den Augenwinkeln zu Noah. »Selbst wenn ich für Pereira einen Hubschrauber anfordern könnte, würde man uns nicht finden. Am besten bringen wir ihn so schnell wie möglich zur Bohrinsel. Die ist näher als das Festland.«

»Woher wissen Sie das?« Noah beugte sich dichter an das Fenster und hatte Mühe, durch den Dunst und das trübe Licht dahinter etwas zu erkennen. Der Nebel zog in Schwaden über das Vorderdeck, sodass man den Bug kaum ausmachen konnte.

»Ich weiß, wo wir uns befanden, bevor der Sturm aufzog.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht wissen, wo wir uns jetzt gerade befinden?«

Brewster stand auf und stieß Noah mit seinem knorrigen Zeigefinger gegen die Brust. Noah versuchte, nicht von der Stelle zu weichen, aber der Schmerz in seinem Brustbein ließ ihn zurückwanken. Ein Leben voller schwerer Arbeit hatte William Brewster innerlich und äußerlich verhärten lassen. Er mochte es nicht, wenn man ihn infrage stellte oder kritisierte. Und er mochte seinen Schwiegersohn nicht. Von allen Vätern, die Noah Gewalt angedroht hatten, falls er ihr »kleines Mädchen« schlecht behandeln würde, war Brewster der einzige, dessen Drohungen glaubwürdig klangen. Der Mann machte keine Sprüche und sagte nichts, was er nicht auch meinte. Wenn er jemandem Gewalt androhte, dann fehlte nicht mehr viel, bis er Ernst machte.

»Ich kenne unseren Kurs«, sagte Brewster. »Und ich weiß, mit welcher Geschwindigkeit wir uns fortbewegt haben, seit ich über Satellit unsere Position bestimmt habe. Ich weiß also, wo wir uns befinden. Aber Sie könnten nicht mal mehr Ihren Arsch von Ihrem Ellbogen unterscheiden, wenn ich Sie ordentlich zusammenfalte. Also noch mal, gibt es einen Grund, warum Sie hier oben sind?«

»Nein. Nur wegen Felix. Das ist alles.«

»Dann sind wir hier fertig. Sie sind entlassen. Gehen Sie zurück auf Ihre Kabine. Sie dürfen sich nur noch in den Unterkünften und in der Messe aufhalten. Und ich will Sie erst wieder zu Gesicht bekommen, wenn wir die Niflheim erreicht haben. Sobald wir dort sind, können Sie mit Ihrem Kumpel nach Hause fliegen, und dann will ich Sie nie wiedersehen. Ende der Durchsage.«

»Sie feuern mich? Nachdem ich das Schiff gerettet habe?«

Brewster schnaubte spöttisch. »Ich feuere Sie, weil Sie sich Befehlen widersetzt haben. Der Bootsmann hat Sie angewiesen, das Eis zu entfernen. Sie sollten sich nicht in der Nähe des Decks oder der Container aufhalten. Und im Geräteraum hatten Sie erst recht nichts verloren.«

»Aber es war gut, dass ich da war.«

Brewsters Gesicht verfinsterte sich. Die weißen Brauen über seinen kornblumenblauen Augen zogen sich zusammen, und seine Wangenmuskeln spannten sich, als er auf die Zähne biss. Noah verkrampfte und wartete auf den Faustschlag. Falls er ihm standhielt, könnte er vielleicht zum Gegenangriff übergehen. Falls er ihm standhielt.

»Sie gehören nicht auf dieses Schiff, Cabot.«

»Sie haben mich selbst angeheuert.«

»Ich habe händeringend nach Männern für meine Crew gesucht. Aber Sie können mir glauben, dass ich meine Entscheidung inzwischen bereue. Was auch immer Abby an Ihnen gefunden hat, ich habe es nicht verstanden, und ich verstehe es jetzt noch weniger. Sollte ich Sie noch mal hier oben oder auf dem Ladedeck sehen, werfe ich Sie über Bord. Ich wette, ein halbes Dutzend der Männer wird sich darum prügeln, mir dabei zu helfen. Und jetzt scheren Sie sich weg, damit ich uns auf Kurs halten kann.«

»Aye, Sir«, sagte Noah und salutierte.

Zur Antwort zeigte Brewster ihm den Mittelfinger.

Noah verließ den Raum durch die nächstgelegene Tür und kletterte die Außenleiter hinunter. Früher hatte er sich gefragt, was er tun musste, damit sein Schwiegervater ihn wenigstens tolerierte, wenn er ihn schon nicht mochte. Er hatte alle Möglichkeiten aufgelistet: Abby liebevoll behandeln und treu sein, einen sicheren Job suchen, für ihren Lebensunterhalt sorgen, während sie ihr Studium wieder aufnahm und ihren Master machte, und sich um Williams einziges Enkelkind kümmern. Aber das alles war nicht genug gewesen. Dass er, Noah Cabot, Abigail Lynne Brewster geheiratet hatte, war nicht wiedergutzumachen. Und jetzt lagen Brewster und er im Dauerclinch. Egal was er tat, es war nicht gut genug. Er hatte versucht, Gemeinsamkeiten mit ihm zu finden und den Mann als Teil seiner Familie zu betrachten, doch inzwischen sehnte sich Noah nicht länger nach seiner Anerkennung. Dafür war es zu spät.

Die eisige Luft war merkwürdig feucht, und der Nebel fühlte sich auf seinem ungeschützten Gesicht und auf den Händen wie tausend Nadelstiche an. Er kletterte so schnell er konnte, während er darauf achtete, dass er auf dem Eis an Stufen und Geländern nicht abrutschte. Der Bug der Arctic Promise war ebenfalls damit überzogen, und das Schiff lag immer noch tief im Wasser. Aber immerhin waren sie nicht gekentert, und die Eisschicht wurde offensichtlich nicht dicker. Fürs Erste waren sie seetüchtig und die Mannschaft in Sicherheit. Sollten sie jedoch erneut in einen Sturm wie den von letzter Nacht fahren, dann würde es nicht lange dauern, bis das Schiff zu schwer wurde und kenterte.

Auf dem C-Deck hielt er inne und ließ seinen Blick kurz über das motorisierte Rettungsboot auf der Steuerbordseite wandern. Serge, der Bootsmann, war auch ihr Steuermann und für die Wartung des Rettungsbootes verantwortlich. Noah hatte keine Ahnung, wonach er suchte, aber er wollte nicht auf ein unerwartetes Problem wie das mit dem Kabelbinder und dem Feuerlöscher stoßen.

Er beugte sich über das Geländer, um die Taue zu in­­spizieren, die als »Sicherheitsmaßnahme« an dem Boot befestigt waren, dann hob er die Abdeckplane, um einen Blick auf das Gefährt selbst zu werfen. Er wusste nicht genau, was man tun musste, um das kleine Boot zu Wasser zu lassen, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Er seufzte erleichtert, obwohl er nach seiner Überprüfung mehr verwirrt als beruhigt war. Es sah nicht so aus, als würde irgendetwas die Crew daran hindern, das Boot zu besteigen und zu Wasser zu lassen. Er nahm sich vor, das Boot auf der Backbordseite ebenfalls zu begutachten. Die Mannschaft bestand lediglich aus sechzehn Männern, und jedes Rettungsboot bot Platz für zwanzig Personen. Zu fast allen Ausrüstungsgegenständen auf dem Schiff gab es ein Gegenstück. Aber sollte eines der Rettungsboote kentern, würden sie mehrere halb erfrorene Männer aus dem Meer fischen müssen. Darum war es besser, dass das erste Boot so funktionierte, wie sie es erwarteten. Noah drehte sich um und wollte ins Warme gehen, als ihm ein Besatzungsmitglied den Weg versperrte. Theo irgendwas. Theo Mesires. Er war ein typischer Deckarbeiter. Stark und kräftig gebaut, und er arbeitete gerne mit den Händen, aber noch lieber beklagte er sich über seine Arbeit. »Was treibst du da, Noah? Suchst du nach einem Feuer, das du löschen kannst?«

»Was? Ich wollte nur nachschauen …«

»Warum hörst du nicht auf, deine Nase in Angelegenheiten zu stecken, die dich nichts angehen?«

Noah schob sich an dem Deckarbeiter vorbei und stieß dabei gegen dessen Schulter. »Wenn ich mich daran halte, musst du morgen vielleicht schwimmen.« Er öffnete die Tür und eilte ins Innere, um der frostigen Atmosphäre und den eiskalten Temperaturen zu entkommen. Sein Ruf war ihm bereits vorausgeeilt. Er schwor sich, dass das hier jedenfalls sein letzter Job für OrbitOil oder irgendeine andere Bohrfirma wäre. Sein Entschluss stand fest. Es war Zeit, sich Ellie zu schnappen und nach New England zurückzukehren. Aber erst einmal musste er wieder in einem Stück nach Seattle kommen.

4

Auf dem D-Deck stank es nach Rauch und verschmorten Elektrogeräten. Noah war überrascht, dass man ihm eine andere Kabine zugewiesen hatte, denn es hätte dem Alten ähnlich gesehen, wenn er ihn aus reiner Schikane in diesem Gestank hätte hausen lassen. Allerdings war Brewster Angestellter der Firma und hatte sich diese persön­liche Genugtuung wahrscheinlich verkniffen, weil man ihn dafür hätte haftbar machen können. Aber die Crew würde dafür sorgen, dass Noah sich auf dem C-Deck genauso unwohl fühlte wie eine Ebene tiefer. Noah wollte seine wenigen Habseligkeiten zusammensuchen, obwohl er angesichts des Gestanks vermutete, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Trotzdem waren es immer noch seine Sachen. Er würde seine Kleidung brauchen und ein paar Bücher, die er mitgenommen hatte. Schließlich wäre er nun für einige Zeit an seine Kabine gefesselt. Er wünschte, er hätte mehr Bücher mitgenommen. Wenn er nichts zu tun hatte, würde es eine lange Reise werden.

Um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, blieb er im Türrahmen seiner Kabine stehen. Der enge Raum war gerade so breit, dass Noah zwischen dem Kleiderschrank und dem kleinen Schreibtisch hindurchgehen konnte. Am Ende des Raums stand ein Einzelbett, in das er gerade so hineinpasste. Vermutlich mussten sich Männer wie Boucher, der über eins achtzig war, zusammenrollen, um darin zu schlafen. Die Kabine war so groß, wie Noah sich eine Gefängniszelle vorstellte, allerdings gab es hier keine Toilette. Die befand sich am Ende des Gangs. Seine Unterkunft war zwar beengt, aber man ging davon aus, dass er die meiste Zeit sowieso arbeitete oder in der Messe oder in einem der Tagesräume verbrachte. Es gab auf dem Schiff sogar ein Fitnessstudio. Noahs winzige Kabine diente le­­diglich zum Schlafen und der Privatsphäre, und sie war alles andere als luxuriös. Es gab hier nicht mal ein Bullauge. Für die Firma war der Lebensraum der Mitarbeiter zweitrangig. Auf dem Schiff wurde möglichst viel Platz für die Ladung benötigt. Die Männer mussten sich irgendwie damit arrangieren. Die Ölförderung hatte Vorrang.

Noah öffnete den Wandschrank und hob seinen Seesack vom Boden auf. Dann nahm er ein Hemd von einer Ab­­lage, schnupperte daran und verzog das Gesicht. Er wusste nicht, ob der Gestank von dem Brandgeruch in den Gängen oder von dem Kleidungsstück selbst kam. So oder so, er hatte ihn immer noch in der Nase, und er würde ihn noch eine Weile wahrnehmen, egal wo er sich ge­­rade aufhielt. Er stopfte seine Kleidung in den Seesack und fuhr fort.

Er klaubte die wenigen Sachen vom Schreibtisch zusammen: einen billigen MP3-Player, mehrere Toilettenartikel, zwei Bücher und seinen Schachcomputer. Nachdem er alles in den Seesack gestopft hatte, wandte er sich den beiden wichtigsten Gegenständen zu – zwei Fotos, die an einer kleinen Pinnwand über dem Schreibtisch befestigt waren. Er nahm sie ab und starrte lange in die Gesichter seiner Frau und seiner Tochter. Er verreiste nie ohne diese Bilder. Das von Abby war bereits das dritte, das er ausgedruckt hatte. Das erste war irgendwann abgegriffen und zerfleddert gewesen, und das zweite hatte er irgendwo zwischen einem Schiff und seiner Wohnung verloren. Er hatte die Bilder auch auf der SD-Karte seines Handys. Was auch passierte, er hatte dafür gesorgt, dass sie immer in seiner Nähe waren. Die Bilder bedeuteten ihm mehr als die Bücher, die Klamotten oder sonst irgendwas. Er würde eher in Lumpen herumlaufen und nie wieder ein Wort lesen, als zu vergessen, wie Abby aussah.

Während er die Fotos vorsichtig in die Reißverschlusstasche auf der Außenseite des Seesacks schob, ließ er seinen Blick durch den Raum wandern, um zu sehen, ob er etwas vergessen hatte. Aber selbst wenn dem so war, konnte er jederzeit zurückkommen. Zumindest bis sie die Niflheim erreicht hatten. Er zog den Seesack zu und warf ihn über die Schulter. Dabei prallte der Sack gegen die Wand, und Noah verlor für einen Moment das Gleichgewicht und musste sich abstützen. Dann trat er hinaus in den Gang, um seine neue Unterkunft aufzusuchen.

Draußen sah er einen Fuß aus dem Geräteraum ragen. Wahrscheinlich gehörte er zu Martin Nevins, dem Techniker und Mechaniker des Schiffes. Noah ging zu ihm hin­über, um einen Blick ins Innere zu werfen, denn er konnte sich nicht daran erinnern, was passiert war, nachdem er sich den Kopf gestoßen hatte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte ein giftiges Gemisch aus Löschpulver und Rauch den Raum erfüllt. Seitdem hatte sich nicht viel verändert.

»Hey, Marty. Wie sieht’s aus?«

Der Techniker lehnte sich zurück und wischte sich mit dem schmutzigen Unterarm über die Stirn. Er schwitzte, obwohl es kalt in dem Raum war. »Beschissen sieht’s aus.« Er musterte Noah von Kopf bis Fuß, bevor er hinzufügte: »Und du siehst auch nicht besser aus.«

Noah strich mit den Fingern über die Platzwunde auf seiner Stirn und fragte sich, wie schlimm die Prellungen in seinem Gesicht waren. Abgesehen von der Krankenstation und den Schließfächern in der Umkleidekabine gab es auf der Promise kaum reflektierende Oberflächen. Er hatte vergessen, einen Blick in den Spiegel seines Wandschranks zu werfen. Vielleicht hatte das Feuer die Hälfte seines Bartes versengt. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um sich zu vergewissern, dass er nicht halb Mann, halb Frau war und wie die Attraktion einer Freakshow wirkte. »Bestimmt sehe ich schlimmer aus, als ich mich fühle. Oder umgekehrt. Keine Ahnung.« Er deutete auf das Schaltfeld, das er gelöscht hatte. »Das Feuer hat das Antriebssystem erwischt, was? Lässt sich der Schaden wieder beheben?«

»Nein. Da ist nichts mehr zu machen. Das Ding ist total im Arsch. Wir benutzen jetzt das Notsystem.«

»Und wenn das auch ausfällt?«

Martin stieß ein wütendes Lachen aus. »Du weißt, was dann passiert.« Er musste es nicht aussprechen. Martin zog eine Zigarette aus der Packung und steckte sie an. Außer auf den Außendecks war das Rauchen an Bord verboten. Aber wer konnte schon den Geruch einer Camel Red vom Gemisch anderer Giftstoffe unterscheiden, die die Luft auf dem D-Deck verpesteten? »Aber wie wahrscheinlich ist es, dass das Notsystem ebenfalls ausfällt, hm?«

Noah zuckte mit den Schultern. Er wollte es nicht laut aussprechen. Er glaubte zwar nicht an unglück­liche Zufälle und schieres Pech, dennoch konnte er sich nicht völlig davon frei machen. Es war eine irrationale Angst, ähnlich wie die davor, dass ein Fahrstuhl plötzlich in die Tiefe stürzte oder ein Bus genau dann aus dem toten Winkel auftauchte, sobald man einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Allerdings musste man nicht an schlechtes Karma glauben, um zu wissen, dass Brewster aus den Motoren alles rausgeholt hatte. Sollten sie in einen weiteren Sturm geraten, hätten sie womöglich viel größere Probleme als das Eis.

Martin nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies einen langen Streifen Rauch Richtung Decke. »Ich habe übrigens eine Flasche Whisky auf meiner Kabine. Hast du nachher Lust auf einen kleinen Drink?«

»Gerne. Komm vorbei. Ich bin jetzt auf dem C-Deck untergebracht.«

»Sehr gut. Hier unten sollte sich niemand mehr aufhalten.«

Noah streckte Martin seine Faust entgegen, damit er da­­gegen schlug. Der Mechaniker stieß mit seinen Knöcheln etwas zu fest zu und zog den Mundwinkel, in dem keine Kippe steckte, zu einem Lächeln hoch. Die beiden waren bereits früher zusammen zur See gefahren, aber die Tatsache, dass sie beide aus New England stammten, verband sie mehr als die gemeinsame Erfahrung, Beton und Benzin in den Arktischen Ozean zu transportieren.

Noah wandte sich zum Gehen. »Sag mal, äh, was ist eigentlich mit den Kommunikations- und Navigationssystemen los?«

»Was denn? Vermisst du deine Daily Soaps?« Noah lachte. »Ich habe mit Brewster gesprochen. Das Funkgerät und das Sattelitentelefon funktionieren nicht mehr. Und ich schätze, das gilt auch für das dynamische Positionierungssystem. Ich dache, du wüsstest vielleicht, was damit los ist.«

Martin stand auf und neigte den Kopf zur Seite, als versuchte er herauszufinden, was für ein Fabelwesen da vor ihm stand. »Ich höre das gerade zum ersten Mal. Es gibt kein Gerät, das ich nicht reparieren könnte, aber wenn das Funkgerät und das Sattelitentelefon beide gleichzeitig den Geist aufgegeben haben, ist das kein technischer Defekt. Es sei denn, das Schicksal spielt uns einen üblen Streich; das sind zwei getrennte Systeme. Vielleicht liegt es am Wetter. Oder es ist ein Bedienfehler.«

»Ein Bedienfehler?«

»Ja.« Er zwinkerte ihm zu. »Der Kapitän ist so alt, dass er wahrscheinlich noch mit Tonbandgeräten aufgewachsen ist. Es würde mich nicht wundern, wenn er keine Ahnung hat, wie man mit diesem ›neumodischen‹ Computerkram umgeht, und beim Versuch, einen Porno runterzuladen, die Internetverbindung der Systeme unterbrochen hat.« Er nahm erneut einen tiefen Zug von seiner Zigarette und drückte sie an seiner Schuhsohle aus. Den Filter steckte er wieder in die Packung. »Aber irgendwas muss ja noch funktionieren, wenn wir uns vorwärtsbewegen. Er steuert das Schiff ja wohl nicht ohne Hilfsmittel.«

Noah stieß ein Lachen aus, um seine Angst zu vertreiben. »Alles bestens. Er orientiert sich an den Sternen und seinen Karten.«

Martin schüttelte wortlos den Kopf. Er konnte dar­über nicht lachen. Er hatte vorhin einen Blick nach draußen geworfen und wusste, dass dort keine Sterne zu sehen waren.

»Wenn wir das Antriebssystem für eine Weile ausschalten müssten … also, um zu überprüfen, ob es richtig läuft … na ja, um die verschiedenen Funktionen zu überprüfen, du weißt doch, wie das geht?«

»Nicht wenn ich deshalb wegen Meuterei angeklagt werde.«

Noah hob seine freie Hand. »Ich habe nichts von Meuterei gesagt. Sollte Brewster uns aufgrund seiner Berechnungen vor die sibirische Küste steuern, ist das als Kapitän sein gutes Recht. Ich hätte lieber nichts sagen sollen. Ich bin wohl ein wenig paranoid. Brewster weiß bestimmt, was er tut.« Noah spürte, wie sich seine Kopfschmerzen zurückmeldeten; seine Schläfen pochten. Er hätte sich von Mickle auf der Krankenstation mehr Schmerzmittel geben lassen sollen.

Martin sah aus, als könnte er jetzt sofort einen Drink vertragen. Stattdessen zündete er sich eine weitere Zigarette an. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Lass mich darüber nachdenken.«

»Ich verlange nichts von dir. Ich habe nur laut gedacht.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann zeigte er auf den Qualm von Martins Zigarette. »Du weißt, dass die Dinger dich umbringen werden.«

Der Techniker nahm einen tiefen Zug und behielt den Rauch einen Moment lang in der Lunge, bevor er ausatmete. »Ich habe mich nie besser gefühlt.«

Noah betrachtete sein bleiches, schwitzendes Gesicht und wusste, dass das nicht stimmte.

5

Noah verstaute seine Sachen in der neuen Kabine. Auf dem Schiff gab es Unterkünfte für vierzig Besatzungsmitglieder. Die Kabinen auf dem C-Deck waren für zwei Personen ausgelegt, aber da ihre Minimalbesatzung nur aus sechzehn Männern bestand, die alle im B- und C-Deck untergebracht waren, musste sich keiner von ihnen mit jemandem ein Zimmer teilen. In seiner neuen Kabine hatte Noah doppelt so viel Platz wie in der alten; nicht dass er ihn brauchte. Trotzdem war es ein angenehmes Gefühl, dass der Abstand zwischen den Wänden ein wenig größer war. Da er seine Unterkunft für die nächsten Tage nicht verlassen durfte, war er froh, dass man ihm eine weniger beengte Kabine zugewiesen hatte. Er streckte sich und versuchte, seinen wachsenden Unmut über Brewster zu unterdrücken, weil dieser ihn zunächst in einer Einzelkabine so tief unter Deck untergebracht hatte. Es gelang ihm, seinen Ärger zu vertreiben, außerdem kam er jetzt besser mit den Kopfschmerzen zurecht. Seit seinem Gespräch mit Marty waren sie schlimmer geworden. Er durchsuchte seinen Seesack nach einem Schmerzmittel, jedoch ohne Erfolg. Er hatte vergessen, es einzupacken.

Er riskierte einen Blick auf den Gang. Dort war es merkwürdig still. Es gab auf diesem Deck dreizehn Kabinen und ein Fitnessstudio, aber falls jemand außer ihm hier unten war, schlief er noch, um sich von dem Albtraum der letzten Nacht zu erholen.

Noah verließ seine Kabine und kletterte hinauf zum Ersten Deck zwischen A-Deck und Brücke. Er lief vorbei an den Umkleidekabinen und der Toilette zur Krankenstation, wo Mickle sich um Felix kümmerte. Ohne sich nach ihm umzudrehen, sagte Mickle: »Wir haben kein Aspirin mehr oder irgendwas anderes, also fragen Sie erst gar nicht danach. Hat denn keiner von euch etwas gegen einen Kater eingepackt?«

»Woher wussten Sie, dass ich ein Aspirin will?«

Mickle drehte sich um und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Genau wie Marty Nevins schwitzte er trotz der Kälte auf dem Schiff. »Es waren etwa ein Dutzend Jungs hier, die nach Schmerzmitteln gefragt haben. Seit einer Stunde ist der Vorrat aufgebraucht.« Er deutete auf Noahs Wunde. »Ist es sehr schlimm?«

Noah zuckte mit den Achseln. »Ich kann’s aushalten. Ein Dutzend Männer, ja?«