IM GARTEN DES INCUBUS - John Tigges - E-Book

IM GARTEN DES INCUBUS E-Book

John Tigges

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Beschreibung

Als die junge, unschuldige Roberta 'Bobbe' Moore ins Kloster des Heiligen Wortes eintritt, hat sie mit sich und der Welt Frieden geschlossen. Sie bereitet sich auf ein Leben in Keuschheit und Genügsamkeit vor – bis eine unsichtbare Stimme zu ihr zu sprechen beginnt und ein brutaler, lüsterner Dämon von ihr Besitz ergreift; ein Dämon, der das Kloster und die Novizinnen mit den schrecklichsten Abscheulichkeiten und nackter Angst überzieht. Von diesem Moment an ist Bobbe ein willenloses Werkzeug in den Händen einer dunklen, unergründlichen Macht, die jede ihrer Taten kontrolliert. Und je länger sie sich in der Gewalt des Dämons befindet, desto größer wird ihr Verlangen, sich ihm hinzugeben... Mit IM GARTEN DES INCUBUS schuf der US-amerikanische Autor John Tigges einen Klassiker des modernen Horrors – hart, erbarmungslos, ohne Ausweg. Ein Roman der Extra-Klasse, neu übersetzt und illustriert von Christian Dörge und Auftakt der Reihe APEX HORROR.

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Ähnliche


JOHN TIGGES

Im Garten des Incubus

Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

Prolog: September 1932 – Ex Post Facto 

 

Erster Teil: 18. Juli 1951 bis 22. November 1951 - Non Sequitur 

Zweiter Teil:  22. November 1951 bis 15. Dezember 1951 - Alter Ego 

Dritter Teil:  16. Dezember 1951 bis 26. Dezember 1951- Gehenna 

Vierter Teil: 26. Dezember 1951 bis 27. Dezember 1951 - Adversarius 

 

Epilog: 27. Dezember 1951 -  Nostalgia/Via Dolorosa 

 

Addendum 

 

Das Buch

Als die junge, unschuldige Roberta 'Bobbe' Moore ins Kloster des Heiligen Wortes eintritt, hat sie mit sich und der Welt Frieden geschlossen. Sie bereitet sich auf ein Leben in Keuschheit und Genügsamkeit vor – bis eine unsichtbare Stimme zu ihr zu sprechen beginnt und ein brutaler, lüsterner Dämon von ihr Besitz ergreift; ein Dämon, der das Kloster und die Novizinnen mit den schrecklichsten Abscheulichkeiten und nackter Angst überzieht.

Von diesem Moment an ist Bobbe ein willenloses Werkzeug in den Händen einer dunklen, unergründlichen Macht, die jede ihrer Taten kontrolliert. Und je länger sie sich in der Gewalt des Dämons befindet, desto größer wird ihr Verlangen, sich ihm hinzugeben...

Mit Im Garten des Incubus schuf der US-amerikanische Autor John Tigges einen Klassiker des modernen Horrors – hart, erbarmungslos, ohne Ausweg. Ein Roman der Extra-Klasse, neu übersetzt und illustriert von Christian Dörge und Auftakt der Reihe APEX HORROR.

Frühe Ausgabe von Im Garten des Incubus:

Der Autor

John Tigges.

(* 16. Mai 1932, + 29. Oktober 2008).

John Tigges war ein US-amerikanischer Autor von Horror- und Western-Romanen.

Er begann seine Karriere als Schriftsteller im Jahr 1973 und verfasste 38 Bücher unter seinem eigenen Namen sowie unter den Pseudonymen William Essex und Ned Stone.

Bekannt wurde John Tigges durch seine Trilogie des Schreckens, die aus Garden Of The Incubus (1982), Unto The Altar (1985) und Kiss Not The Child (1988) besteht. Diese Werke gelten als stilbildend für den modernen Horror-Roman.

Weitere herausragende Werke sind Venom (1988), Book Of The Dead (1989) und The Curse (1993).

Unter dem Namen William Essex schuf er u.a. die von H.P. Lovecraft beeinflussten Horror-Romane The Pack (1987),  Slime (1988) und From Below (1989). Als Ned Stone war er dem Metier des Wild Bunch-artigen Western verpflichtet: Die Breed-Trilogie - bestehend aus den Romanen Breed (1990), Mountain Massacre (1991), Blood On The Rails (1991) - gehört zu seinen bekanntesten und erfolgreichsten Werken. Mit Rails To Hades (1993) und One Man Jury (1995) setzte er die Breed-Trilogie bis in die (19)90er Jahre hinein fort.

John Tigges galt neben seiner Karriere als Autor zudem als begnadeter Violinist: So war er Mitbegründer des DUBUQUE SYMPHONY ORCHESTRA (1956); hier spielte er in den Jahren 1958 - 1968 und 1971 - 1973 die Violine und war außerdem der Manager des Orchesters.

Er verstarb 2008 im Alter von 76 Jahren.

Prolog

September 1936

Ex post facto

  Die goldenen Strahlen der September-Sonne sickerten durch die Blätter der Ulmen, die die Melby Avenue säumten. Sie warfen kleine Lichter auf die Bürgersteige und die gut gepflegten Rasenflächen. Fröhlich pfiffen die Vögel auf den belaubten Zweigen ihre Lieder.

  Besonders auffällig war das Fehlen lärmender Kinder, denn die Schule hatte wieder begonnen. Doch mit der Heimkehr der Schüler kehrte das Geschrei zurück auf die Straßen. Für gewöhnlich entließ die Schule ihre kleinen Schützlinge recht frühzeitig, damit sie sich langsam an die neuen Regeln gewöhnen konnten.

Bobbe Moore ging langsam und heiter die Straße entlang. Bei jeder neuen Entdeckung auf ihrem Heimweg von der St. Pauls Schule blieb sie stehen. Warum nur musste die Schule so schnell zu Ende sein? Eben erst hatte sie die Kontrolle über die Sandkiste zurückerobert. Nein, es heißt Sandkasten, hatte die Schwester gesagt.

  Egal.

  Bobbe hatte gewartet, bis die anderen aus der Klasse heraus marschiert waren und sich anschließend viermal von Schwester Evangaline versichern lassen, dass morgen die Schule wieder stattfinden würde.

  Die junge Nonne hatte das kleine Mädchen in die Arme genommen und es anschließend auf den Heimweg geschickt.

  Nun, da sie sicher war, dass es morgen so weitergehen würde, ging Bobbe langsam und leichten Herzens nach Hause.

  Sie war stolz, dass ihre Mutter ihr zugetraut hatte, den Nachhauseweg allein zu gehen. Die Sechsjährige beschloss, ihre neue, wenn auch nur kurze Unabhängigkeit voll und ganz auszukosten. Sie kannte den Weg von der St. Pauls-Schule zu ihrem Haus in der Sycamore Street auswendig. Ging sie ihn nicht fast jeden Sonntag mit ihren Eltern, beim Kirchbesuch?

  Das scheppernde Geräusch eines Rasenmähers störte den ruhigen Nachmittag, und Bobbe blieb stehen. Als sie nach dem Ursprung des Geräusches forschte, stellte sie fest, dass esaus dem Vorgarten des alten Mr. Dudley kam. Irgendwie mochte sie ihn nicht. Er war schmutzig, und vor allem roch er merkwürdig.

  Vorsichtig ging Bobbe ging vorsichtig weiter.

  Vielleicht würde sie ungesehen an ihm vorbeikommen.

  Als sie die Ecke seines Vorgartens erreicht hatte, erstarrte sie. Ob er sie gesehen hatte? Sie drückte sich eng an den Zaun und hielt den Atem an.

  Der Rasenmäher wurde abgestellt, und Edgar Dudley blickte auf die Gartenecke.

Etwas hatte sich dort bewegt.

  Ein zahnloses Grinsen huschte über sein Gesicht, als er feststellte, dass die roten, hellen Flecken tatsächlich zu einem Kleid gehörten und dass ein kleines Mädchen reglos dastand, darauf hoffend, nicht gesehen zu werden.

  »Komm her, Kleines«, lockte Dudley. »Hab‘ keine Angst. Ich mag kleine Mädchen.«

  Mit großen Augen starrte Bobbe durch die belaubte schützende Mauer.

  Er mochte kleine Mädchen? Und sie hatte immer geglaubt...

  Sie entschied, dass sie sich geirrt hatte, und trat näher an den Zaun heran.

  »Bist du heute in der Schule gewesen?«

  »Ja«, antwortete Bobbe mit dünner Stimme.

  »Was sagst du? Ich habe dich nicht verstanden. Du musst lauter sprechen. Ich höre nicht so gut. Warum kommst du nicht hervor, damit ich dich besser sehen kann?«

  »Ja«, wiederholte sie etwas lauter. »Ich war in der Schule.«

  Sprich nicht mit Fremden, hatte ihre Mutter ihr heute Morgen mit auf den Schulweg gegeben. Aber dieser alte Mann war ja nicht eigentlich ein Fremder. Sie hatte ihn zuvor schon sehr oft gesehen.

  »Hast du Hunger, Kleine? Ich wette, du hast Hunger. Zur Schule gehen und lernen kann schrecklich hungrig machen, stimmt's?«

  Bobbe schaute ihn durch die belaubte Barriere an, ging aber nicht weiter auf ihn zu. Sie war hungrig, und der Weg nach Hause schien lang. Er hatte Recht: Heute war sie hungrig. Ihr erster Schultag war aufregend gewesen – neue Freunde, Schwester Evangaline, die viel jünger als ihre Mutter war, und nun dieser alte Mann, den sie immer für einen bösen Alten gehalten hatte, der aber wirklich nett und besorgt schien.

  »Ich habe ein paar Süßigkeiten und Kekse im Haus - genau das Richtige für dich.« Seine Stimme sank zu einem merkwürdigen Flüstern herab.

  Süßigkeiten? Kekse?

  Die schmeckten gut. Sie war sicher, ihre Mutter würde ihr nicht einen einzigen Bonbon geben.

  Sie kam aus dem Schutz des Busches hervor und ging auf das Tor zu. Sie zögerte. Sollte sie hineingehen?

  »Braves Mädchen«, ermutigte sie Dudley. »Du musst das nur das Tor aufstoßen und...«

  Die Augen in seinem knochigen Kopf blickten hin und her, um die unmittelbare Umgebung zu überblicken. Es war wenig Betrieb um diese Zeit in der Melby Avenue, und wie er sehen konnte, waren seine neugierigen Nachbarn alle mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt.

  »Komm nur mit ins Haus.« Er lächelte.

  Bobbe folgte ihm in kurzem Abstand. Sie hatte die Ermahnung ihrer Mutter vergessen.

  Dudley schloss die Augen und malte sich aus, was er mit dem kleinen Mädchen anstellen würde. Jetzt, da seine Mutter tot war, konnte er endlich all die Dinge tun, die ihm bis dahin verwehrt gewesen waren. Jahrelang war er fast jede Minute mit ihr zusammen gewesen, weil sie krank und bettlägerig war. Geld war nie ein Problem gewesen, seit die Bahn für den Unfalltod von Edgars Vaters eine Rente zahlte. Sein Leben war jedoch öde gewesen, da er Krankenschwester spielen musste - für eine selbstsüchtige, rachsüchtige alte Frau, die er immer mehr hasste. Das Leben und seine Vergnügungen hatten sich ihm verweigert, aber jetzt – jetzt würde er alles nachholen.

  Es war ihm völlig klar, dass die Jahre und die Bitterkeit auch sein Äußeres geprägt hatten. Unter gar keinen Umständen würde er eine Frau finden. Sogar die beiden Prostituierten in der kleinen Stadt hatten ihn abgewiesen.

  Er lockte sich die dicken Lippen, wenn er an jene Dinge dachte, die er mit einer Frau - jeder Frau - hatte tun wollen. Aber ein kleines Mädchen war etwas völlig anderes. Jahrelang hatte er sie beobachtet, wenn sie auf dem Weg zur Schule oder nach Hause an seinem Haus vorbeigingen. Seine wilden Fantasien lösten heftige Reaktionen in der Leistengegend aus und ließen sabbernden Geifer über sein Kinn auf sein Hemd laufen. Wie oft hatte er sich vorgestellt, eines dieser Schulmädchen zu tätscheln und zu streicheln! Seine Träume waren voller Mädchen, die ihm jede Freiheit ließen, sie zu liebkosen. Wenn schließlich der Schmerz in der Leistengegend unerträglich wurde, erwachte er sabbernd.

  Das war, als seine Mutter noch lebte.

  Jetzt aber... war die Zeit gekommen. Er rieb sich die Ausbuchtung, die er in seiner Hose wachsen fühlte, und hielt die Verandatür auf für das näherkommende Kind.

  »Geh nur hinein, Kindchen«, keuchte Dudley atemlos, als Bobbe an der Veranda angelangt war.

  Zögernd ging die Kleine auf die Tür zu, die ins Innere des großen Hauses führte. Mit zwei schnellen, katzenähnlichen Schritten folgte er nach und ließ die schwere Tür angelehnt.

  Bobbe stand in dem dunklen Flur und musste die Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen, bevor sie sich zu dem alten Mann umwandte. »Ich heiße Bobbe«, sagte sie fröhlich, »und heute war mein erster Schultag. Ich mag die Schule. Ich mag die Schwester und auch die anderen Kinder.«

  Sie war verwirrt, als Dudley ihr Lächeln nicht erwiderte, und sie fragte sich, warum er nicht so nett war wie vorhin im Garten. »Bitte, wo ist die Schokolade?«

Dudley hustete und wies auf das Wohnzimmer.

  »Dort«, sagte er heiser und schob das Mädchen vor sich her. »Komm mit, und ich gebe dir etwas Süßes.«

  Bobbe rückte näher, um die Schale mit den Süßigkeiten zu erreichen, die der Mann auf seinen Schoß gestellt hatte. Als sie die Kekse in der schwankenden Schale berührte, schnellte seine Hand vor und fasste sie grob an der Schulter. Sie sträubte sich zappelnd, als er sie zu sich heranziehen wollte, doch es gelang ihr nicht sich loszumachen.

  »Hier«, sagte er besänftigend, »hier, nimm ein paar Kekse. Deshalb bist du doch gekommen, nicht wahr?« In der freien Hand hielt er die Schale, die sich während des kurzen Kampfes halb entleert hatte.

  Bobbe war erschrocken über die plötzliche Bewegung des Mannes. Sie schluchzte auf und trocknete sich die Augen mit dem rechten Handrücken; mit der linken Hand nahm sie ein paar gelbe Bonbons.

  Er hatte jeden Gedanken an die Konsequenz seines Handelns beiseite gedrängt.

Sein Denken war nur noch darauf gerichtet, das Mädchen zu besitzen. Mühelos nahm er sie hoch, setzte sie sich auf den Schoß und stöhnte.

  »Hier sitzt du doch viel besser, oder?« Er lockerte seinen Griff, um mit seiner schwieligen Hand über ihr langes schwarzes Haar zu streichen. Bobbe war beruhigt, weil sie die versprochenen Süßigkeiten bekommen hatte. Sie lutschte einen Zitronenbonbon und sah sich in dem halbdunklen Raum um. Es machte ihr

nichts aus, so nah bei ihm zu sitzen, obgleich sie die Nase rümpfte wegen seines Körpergeruchs.

  Zu viele Möbel, dachte sie und rief sich ihr eigenes Wohnzimmer ins Gedächtnis. Plötzlich sah sie die Mutter vor sich. Sie warf einen besorgten Blick zur Tür, durch die sie und der Mann gerade eingetreten waren. Sie verrenkte sich fast, um von seinem Schoß herunterzukommen. und schrie auf vor Schmerz, als er einen Arm fest um ihre Taille legte. Er stellte die Keksschale auf den Tisch und ließ seine freie Hand an ihrem Arm hoch-  und runter gleiten, bevor er sie auf ihr Bein legte. Bobbe erstarrte, saß regungslos wie eine Statue.

  Ihr Vater streichelte sie auch oft, aber nicht auf diese Weise.

  Eine Träne sammelte sich in ihren Augen und blieb unsicher auf dem unteren Rand ihres Lides hängen.

  Ohne Warnung schob er das verschreckte Kind von seinem Schoß, hielt es mit einer Hand fest und versuchte mit der anderen seinen Gürtel zu öffnen. Es war völlig unmöglich. Er starrte sie an und brummte: »Hier bleibst du stehen, verstanden? Wenn du dich rührst, versohl' ich dir den Hintern!«

  Langsam lockerte er seinen Griff und beobachtete, ob sie irgendwelche Anzeichen von Ungehorsam zeigte. Als er überzeugt war, sie würde dort stehenbleiben, machte er sich mit beiden Händen an dem widerspenstigen Gürtel zu schaffen.

  Mit großen Augen sah Bobbe, wie der alte Mann seine Hose aufmachte und fallen ließ. Lange Unterhosen kamen zum Vorschein.

  Plötzlich kam Bewegung in sie, und sie schoss zur Tür, griff sich im Vorbeilaufen ein paar Zitronenbonbons, warf sie nach dem Alten, der, in seine Hosen verheddert, mühsam versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

  »Du verdammte Mistgöre!«, kreischte Dudley in den höchsten Tönen, als er sah, dass seine beabsichtigte Beute ihm durch die Verandatür entwischte.

  »Verdammt!«, schrie er noch einmal, bevor er die Verfolgung aufnahm. Er fiel jedoch der Länge nach hin, rollte vornüber, zog die Hose hoch und hielt sie an der Taille zusammen. Er war drauf und dran, hinter seiner fliehenden Beute herzujagen. Bevor er jedoch die Eisentür erreicht hatte, blieb er stehen und überlegte, das Mädchen könnte vielleicht um Hilfe schreien, wenn er ihr nachlief. Dann wäre er in Schwierigkeiten.

  Gerade als er beschlossen hatte, ihr nicht nachzulaufen, sah er Bobbe an der Außenseite des gusseisernen Zaunes entlang rennen.

  »Verdammt!«, schrie er. mit der Faust drohend. »Verdammte Göre! Oh, Scheiße, der Teufel soll dich holen. Ja! Nimm sie, Satan, sie gehört dir! Ich brauche dieses

kleine Dreckstück nicht! Es gibt noch eine Menge andere!«

  Als Bobbe merkte, dass sie nicht mehr verfolgt wurde, verlangsamte sie ihren Schritt und betrachtete zwei klebrige Bonbons, die in ihrer schwitzenden Hand hängengeblieben waren. Während sie auf den Gehweg lossteuerte, schüttelte sie die gelben Bröckchen von der Hand und wischte sich die schmutzigen Hände am Kleid ab.

  Hüpfend machte sie sich auf den Nachhauseweg.

  Ein paar Minuten später bog sie in die Sycamore Street ein. Als sie ihr Haus sehen konnte, begann das kleine Mädchen, das zu spät aus der Schule kam, loszulaufen.

  »Ich bin's«, rief sie beim Aufstoßen der Vordertür.

  »Mein kleines Fräulein«, tadelte die Mutter, »ausgerechnet an deinem ersten Schultag kommst du zu spät nach Hause! Ich dachte, du wärest ein großes Mädchen, Bobbe, und ich könnte mich darauf verlassen, dass du direkt nach Schulschluss heimkommst. Wo warst du denn? Mami war schon ganz krank vor

Sorge!«

  Bobbe sah ihre Mutter an und stellte fest: Sie war nicht böse, sondern ängstlich. Sie ging quer durch den Raum, umarmte ihre Mutter, die sich eng an die vermisste

Tochter schmiegte.

  »Nicht weinen, Mami, jetzt bin ich ja hier. Und alles ist wieder in Ordnung.«

  »Wo bist du gewesen, Bobbe?«, fragte Clare Moore und hielt ihre Tochter eine Armlänge von sich.

  »Ich...«, begann Bobbe und wollte gerade über den gewissen Mann reden, der nett sein und ihr Bonbons geben wollte, aber die Erinnerung löste sich plötzlich in Nichts auf; und sie sah statt dessen einen jungen Hund mit schwarzen Flecken vor sich herumtollen. »Ich... ich habe einen kleinen Hund getroffen und mit ihm ein wenig gespielt, Mami. Es tut mir leid. Wirklich. Ich tu´s auch nie wieder«, flüsterte sie entschuldigend.

  »In Ordnung.« Clare versuchte ernst zu bleiben und hoffte, dass sie weder die Erleichterung über die Rückkehr ihrer Tochter zu sehr zeigen würde noch das Vergnügen, das sie dabei empfand, als sie die Ernsthaftigkeit ihres einzigen Kindes bemerkte.

  Der Ersatzgedanke mit dem kleinen Hund hatte sich derart in ihrem Kopf festgesetzt, dass Bobbe hoffte, ihre Eltern würden ihr einen schenken. Sie hatte so viel Spaß mit ihm gehabt! Sie wusste sogar, sie hatte ihn schrecklich gern gehabt.

  Sie lief die Stufen zu ihrem Zimmer empor und summte dabei ein Lied, das sie in der Schule gelernt hatte.

  Der Zwischenfall mit Edgar Dudley war für immer aus ihrem Gedächtnis verschwunden.

ERSTER TEIL:

18. Juli 1951 bis 22. November 1951

Non sequitur

  1. Kapitel

  Eine milde nächtliche Brise schüttelte die silbern schimmernden Blätter durcheinander und trug ein Flüstern in die Stille des fast verlassenen Stadtparks von Springfield. Hoch droben mühten sich die Sterne vergeblich, neben dem Glanz des Julivollmonds bestehen zu können.

  Zwei Gestalten umarmten und küssten einander zärtlich, bevor sie sich trennten, um einander schließlich tief in die Augen zu schauen.

  »Ich liebe dich, Bobbe«, sagte Jay Livingston sanft.

  »Ich weiß, Jay. Ich liebe dich auch so sehr!«

  »Ich bin froh, dass wir erst ins Kino gegangen sind, bevor wir hierher kamen.«

  »Warum?«, fragte sie lächelnd, obwohl sie seine Antwort bereits kannte.

  »Weil wir allein sind. Ich dachte mir, dass alle so gegen elf verschwinden würden, und ich hatte Recht.«

  »Warum ist es denn so wichtig, dass wir allein sind?«

  Jay sah an Bobbe Moores Gesicht vorbei in die Dunkelheit. Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, ohne sofort entmutigt zu werden. Jeden Zoll kannte er seit Jahren auswendig - seit sie zusammen in die Highschool gekommen waren.

  Ihre dunkelblauen, fast violetten Augen schienen so transparent, dass sie ihre geheimsten Gedanken sichtbar machten. Ihre fein geformte Nase, der volle Mund, der stets bereit war, bei der leichtesten Herausforderung zu lächeln – all das war ständig in seinem Gedächtnis, selbst, wenn sie nicht bei ihm war.

  »Ich glaube, du weißt es, Bobbe.«

  Sie lächelte und zeigte dabei ebenmäßige, weiße Zähne.

  »Ich glaube, du willst alle in der Stadt zufriedenstellen und mich heiraten. Stimmt´s?«

  »Nein! Mir ist´s egal, was die Leute über dich und mich denken. Ich möchte dich heiraten, ja, und das kann ich jetzt auch, da ich beinahe fertig bin mit dem College.«

  »Worüber möchtest du dann reden, Jay?« Verwundert zog sie die Stirn kraus.

  »Ich möchte Zukunftspläne schmieden, einschließlich Hochzeit. Ich werde den Holzhandel übernehmen, wenn Dad sich zurückzieht und – nun ja.«

  Er verstummte.

  »Was ist, Jay?«, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln. »Hast du es dir etwa anders überlegt?«

  »Pssst!«, zischte er und gebot ihr mit der Hand Ruhe.

  Bobbe drehte den Kopf in dieselbe Richtung, in die Livingston starrte. »Siehst du etwas oder...?«, begann sie, schwieg aber, als er ihr wiederum Zeichen machte, ruhig zu sein.

  »Ich glaube, ich habe dort eine Bewegung gesehen«, flüsterte er. »Ja, da ist es wieder. Da drüben ist jemand, der uns beobachtet.«

  Ein plötzliches Rascheln im Unterholz veranlasste Bobbe, sich hinter Jay zu stellen. Aus dem Schatten des Grüns trat ein großer schwarzer Hund in das Mondlicht.

  »Ist das Midnight?«, fragte Bobbe.

  »Ich... ich glaube ja, sieht so aus.« Jay atmete erleichtert auf.

  »Was ist? Du hast doch nicht etwa Angst?« Ein Lächeln blitzte auf, und ihre Augen funkelten, als sie ihn aufzog.

  Der riesige Hund kam zögernd auf das Paar zu. Midnight, so nannte hier jeder den mysteriösen Hund, war schon einmal erschienen und hatte die Stadt in Besitz genommen. Nur wenige waren in der Lage, sich dem anscheinend verwilderten Tier zu nähern, ohne durch sein tiefes Knurren und Blecken der Zähne erschreckt zu werden.

  »Beweg dich nicht, Bobbe!«, sagte Jay.

  »Ich hab keine Angst vor ihm, Jay«, sagte sie fest und ging auf ihn zu.

Der Schwanz des Hundes begann zu wedeln. Er leckte Bobbes Hand, als sie versuchte, ihn zu streicheln.

  »Tja, ich werde...« Jay atmete erleichtert auf. »Ich hätte es nicht geglaubt.« Er trat an Bobbes Seite, stoppte aber, als das Tier knurrte und die Zähne bleckte.

  »Ich glaube, er mag dich nicht, Lieblinge«, sagte Bobbe.

  »Lass uns gehen.« Jay streckte ihr die Hand entgegen.

  Bobbe ging zu ihm. Langsam verließen sie die Lichtung, in deren Mitte der Hund

stand.

  »Ich glaube, er hat's kapiert«, sagte Jay, als der Hund ihnen nicht folgte. »Seit wann besitzt du die Fähigkeit, wilde Tiere zu zähmen?«

  »Nein, Jay, er ist ganz und gar nicht wild.«

  »Du kannst fragen, wen du willst: alle werden dir sagen, dass es unmöglich ist, ihm zu nahe zu kommen.«

  Nachdem sie in dem vom Mondlicht erhellten Park einige Minuten spazieren gegangen waren, wurde die Erscheinung des Hundes bald durch Gedanken über die Zukunft verdrängt. Sie wählten einen Picknicktisch, der hell vom Mond beschienen wurde, und Jay half Bobbe hinauf. Sie stellte die Füße auf den Stuhl, lehnte sich zurück und stützte sich auf die ausgestreckten Arme.

  »Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte er, indem er Vergesslichkeit vorschützte. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Wir sprachen über unsere Heirat. Gefällt dir der Gedanke?«

  »Was glaubst du?«, fragte sie schlicht.

  »Wir gehen seit dem ersten Oberschuljahr zusammen. Seit du auf dem College bist, habe ich mich nie mit einem anderen verabredet. Ich nehme an, bei dir ist es genauso.«

  »Ich hab ein wirklich ausgeprägtes Gesellschaftsleben hinter mir. Frauen belagerten meine Tür die ganze Zeit über. Ehrlich, Bobbe, wenn man die Arbeit von drei Jahren in zweien schafft, bleibt wenig Zeit, herumzuflirten.«

  »Ich weiß, Jay«, sagte sie und nahm seine Hände in ihre.

  »Einen Moment.« Er machte sich von ihrem sanften Griff frei, suchte in seiner Jackentasche herum und zog ein kleines Etui hervor. Als er es öffnete, sammelte der Diamant so viel Mondlicht in sich, wie er konnte, und warf es zurück in die Nacht.

  »Ich weiß, es war anmaßend von mir, es als sicher anzunehmen, dass du mich heiraten würdest, Bobbe, aber du willst mich doch heiraten, nicht wahr?«

  Plötzlich war ein Geräusch wie gedämpfte Stimmen zu hören, und der heranstürmende Midnight erschien. Er sprang auf den Tisch, setzte sich neben Bobbe und bleckte die Zähne – und knurrte leise.

  »Was, zum Teufel, bedeutet das?«, platzte es aus Jay heraus.

  Bedächtig legte Bobbe ihre Arme um den Hals des Hundes.

  Ein gedankenverlorener Ausdruck trat in ihre Augen. »Es... es tut mir leid, Jay«, sagte sie ruhig. »Ich... ich kann es nicht. Ich kann dich nicht heiraten.«

  Jay war durch den Klang ihrer Stimme völlig überrascht. Er starrte sie ungläubig an, als er merkte, dass sie es todernst meinte. »Bist... bist du - sicher, Bobbe?«, stammelte er nach einigen Minuten des Schweigens, in denen er das Gefühl hatte,

einen Schlag in die Magengrube erhalten zu haben.

  »Ich war mir noch nie so sicher wie jetzt, Jay.«

  »Warum, Bobbe? Warum kannst du mich nicht heiraten?« Seine Stimme hatte einen kläglichen Ton, als spürte er erst jetzt das volle Ausmaß ihrer Antwort.

  »Ich kann dich nicht heiraten, Jay. Ich kann dich niemals heiraten.« Sie hob ihre Augen, um ihn anzusehen, und sagte dann ruhig: »Ich habe beschlossen, in ein Kloster einzutreten.«

  Einige Minuten ging in seinem Kopf alles durcheinander, bevor er in der Lage war, erneut zu sprechen. »Du hast... was?« Seine Stimme durchschnitt die Stille. Jeden Augenblick erwartete er, sie würde in Lachen ausbrechen, um ihm zu zeigen, dass sie nur Spaß gemacht hatte. Er wollte ihr die Hand entgegenstrecken, unterließ es aber, denn er Midnights glühenden Blick. Als das Tier nichts unternahm, um ihn von einer Berührung abzuhalten, streichelte Jay zärtlich ihren nackten Arm. »Du frierst. Bist du in Ordnung? Bobbe, was ist los? Das kannst du doch nicht ernst meinen?« Er war durcheinander und wollte ihr nicht glauben. Er fühlte seine Wut steigen, kämpfte gegen das aufsteigende Gefühl an und fügte schwach hinzu: »Ich... ich liebe dich.« Während er sie im Mondlicht beobachtete und auf irgendeine Reaktion hoffte, bemerkte er, dass ihre Haut fahl und transparent geworden war. Irgendwie schien sie eher wie eine unwirkliche Fremde auszusehen, als wie das Mädchen, das er seit fast vier Jahren liebte.

  Sie lächelte teilnahmslos. Ihre Augen sahen durch ihn hindurch in die Nacht, und ihre Worte gaben ihrer Gleichgültigkeit Ausdruck. »Vergiss mich, Jay. Ich weiß, du liebst mich, aber du musst mich vergessen. Es ist das Beste für uns beide. Du

weißt so gut wie ich, dass die Dinge sich immer zum Guten wenden. Als du dir beim Fußballspielen in der High School das Bein verletzt hattest, konntest du dir nicht vorstellen, dass diese Verletzung dich von der Armee und von Korea fernhalten würde. Möglicherweise hat sie dir sogar dein Leben gerettet.«

  Livingston trat etwas zurück. Er fühlte sich abgestoßen von dem Anblick, wie ihre Augen plötzlich in die Höhlen zurücktraten. Er erholte sich wieder von der momentanen Täuschung, überzeugt, dass es nur das Halblicht des Mondes war, ging auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Völlig durcheinander schüttelte er den Kopf. »Ins Kloster? Das gibt doch keinen Sinn. Warum ins Kloster? Ein anderer Mann, das könnte ich verstehen, aber - ins Kloster?« Livingston fuhr sich mit einer Hand durch sein blondes Haar. Er hatte einen trockenen Mund. Trotz seiner Bräune schien er immer blasser zu werden. Was konnte er jetzt noch tun? 

  »Bringst du mich nach Hause, Jay?«, fragte sie entschieden. »Ich habe noch vieles zu erledigen.«

  »Um diese Zeit?«

  »Natürlich nicht. Aber ich brauche den Schlaf. Morgen werde ich Pater Dolan und die Schwestern von St. Pauls besuchen.«

  »Komm«, sagte er ungehalten und erschrocken durch Midnights Bellen. Doch als er Bobbe jetzt ansah, strahlte sie.

  Dieses Lächeln!

  Sie verließen den Picknicktisch und gingen schweigend zurück zum Wagen. Als sie vor dem Moore-Haus anhielten, stieg Jay aus und half Bobbe aus dem Wagen. An der Vordertür nahm er ihre Hand in die seine. »Ja, Bobbe, ich glaube, das war es dann. Ich hoffe, du hast lange genug darüber nachgedacht, bevor du dich in irgendeinem Kloster begraben lässt.«

  »Ich begrabe mich nicht, Jay. Es ist ein wunderschönes, ein erfülltes Leben, und ich weiß, es ist genau das, was ich mir wünsche. Möchtest du mir nicht Glück wünschen?« Lächelnd zog sie ihre Hand zurück, so. als würde diese Geste allein ihn von ihrer Ernsthaftigkeit überzeugen.

  »Doch: viel Glück!«, sagte er bitter. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging zurück zum Wagen.

  Bobbe sah, wie er Platz nahm, und als er den Motor anließ, sagte sie sanft: »Es tut mir leid, Jay. Wirklich.« Eine Träne formte sich in ihrem Auge und wurde immer größer, bevor sie senkrecht an ihrer Wange herunterlief.

  Gegenüber dem Moore-Haus stand die ganze Zeit der große schwarze Hund. In seinen bernsteinfarbenen Augen brach sich das Mondlicht. Er sah zu, wie Jay Livingston schnell zu seinem Wagen ging. Als der Wagen um die Ecke bog und außer Sicht war, trat Bobbe ins Haus.

  Träge streckte sich das große Tier. Die Zunge hing ihm zum Maul heraus, und es begann, sich geifernd die Lefzen zu lecken.

  Dann - verschwand Midnight.

 

 

  2. Kapitel 

 

  Bobbe drehte sich auf den Rücken und starrte die Decke an.

  Ein leerer Ausdruck hielt ihr ovales Gesicht umfangen, Gedankenfetzen gingen in ihrem Kopf herum. Langsam setzte sie sich auf und rieb sich die Schläfen. Sie wunderte sich, dass sie noch vollständig bekleidet war. Ohne, dass sie es hätte verhindern können, kam ihr die Szene von gestern Abend mit Jay ins Gedächtnis und wiederholte sich immer wieder.

  Sie schnappte nach Luft, als ihr die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie zu Livingston gesagt hatte, endlich klar wurde.

  »Oh, mein Gott!« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund und starrte mit weit geöffneten Augen die Decke an. Was hatte sie gesagt? Warum hatte sie solche Dinge gesagt? Würde Jay ihr vergeben? Sie würde ihn bitten, nie wieder darüber zu sprechen.

  Diese Gedanken! Ins Kloster! Die ganze Geschichte war äußerst grotesk.

  Bobbe sprang aus dem Bett und zog sich aus.

  »Es gibt keinen Grund, ins Kloster zu gehen«, sprach sie leise zu sich selbst, holte tief Luft und hielt inne.

  Irgendjemand befand sich vor ihrer Schlafzimmertür.

  »Mam?«, rief sie und griff sich ihren Chenille-Bademantel, der auf dem Stuhl neben ihrem Bett lag. »Bist du es, Mam?«

  Zuerst hörte es sich nur wie ein sanfter Windstoß an, der scharf um die Hausecke wehte. Aber dann nahm es an Lautstärke zu, und nach und nach vermochte sie einzelne stöhnende Stimmen voneinander zu unterscheiden.

  Bobbe ließ den Mantel, den sie immer noch in der Hand hielt, fallen und starrte auf die Tür.

  »Mam?«

  Ohne Warnung sprang die Tür auf. Sofort war der Raum eiskalt. Ihre Augen wurden starr vor Schreck, als sie sah, wie die schwere Bettdecke beiseite gezerrt und das Laken emporgeschleudert wurde. Unsichtbare grobe Hände ergriffen

Bobbe und hoben sie hoch übers Bett, bevor sie ohne weitere

Umstände auf die Matratze geschleudert wurde.

  Sie hielt die Augen fest verschlossen. Sie ergab sich dem unsichtbaren Gewicht, das ihren nackten Körper tief in die Matratze presste.

  »Du wirst nur noch das tun, was dir befohlen wird!« Die Stimme schien den ganzen Raum zu auszufüllen. Sie drang ebensounnachgiebig in sie ein, wie das Gewicht sie aufs Bett zwang. »Im Umgang mit anderen Menschen wirst du dich vollkommen normal verhalten. Um jedoch von deinem Meister akzeptiert zu werden, wirst du ihnen die Heilige Hure vorspielen. Du gehörst nur dem Meister – niemandem sonst! Hast du das verstanden?« 

  Bobbe versuchte zu nicken.

  »Antworte! Du hast eine Stimme – also benutze sie!« Die zischende Stimme war überall in ihrem Kopf und hämmerte sich in ihrBewusstsein.

  Bobbe öffnete den Mund, konnte aber kaum sprechen. »Ich verstehen«, brachte sie mühsam über die Lippen.

  »Gut! Versuche nichts auf eigene Faust. Ich bin bei dir, wie ich es schon immer gewesen bin.« 

  Ihr nackter Körper erhob sich aus den Falten der Matratze und lag jetzt obenauf. Sie atmete flach. Ihr Gesicht hatte den gleichen leeren Ausdruck wie am vergangenen Abend, als sie Jays Antrag abgewiesen hatte.

  Zum zweiten Mal verließ sie das Bett.

  Ging wie ein Automat ins Bad und duschte sich mechanisch.

  Das warme Wasser entspannte sie und heiterte sie wieder auf. Was in ihrem Schlafzimmer geschehen war, war in ihr Unterbewusstsein abgesunken. Sie freute sich, dass Samstagmorgen war. Die Wochenenden waren ihr kostbar, sie begrüßte

diese Unterbrechung ihrer Arbeit bei der F & C Versicherungs-Agentur, bei der sie seit dem Abitur arbeitete.

  Da war etwas, was sie heute unbedingt tun musste, aber trotz aller Bemühungen, sich daran zu erinnern, kramte sie, während sie sich abtrocknete, vergeblich in ihrer Erinnerung.

  Was nur?  

  Was musste sie tun?

  Sie stürmte zurück in ihr Zimmer und fand ihr Kleid dort, wo sie es hatte fallen lassen, als die Tür aufgesprungen war. Sie nahm es, hängte es in den Schrank und begann die Garderobe auszusuchen, die sie für ihren Besuch bei Pater Dolan benötigte.

  Das war's, dachte sie. Ich muss Pater Dolan besuchen – und die Nonnen in St. Paul. Warum ist mir das denn nicht gleich im Badezimmer eingefallen? 

  Wie von unsichtbarer Hand geführt, wählte sie ein dezentes braunes Kleid und flache Schuhe aus. Sie ließ das Dutzend hochhackiger Schuhe völlig unberührt, ebenso die lebhaften bunten Röcke, Kleider und Blusen. Ich muss Pater Dolan und die Nonnen beeindrucken, dachte sie. Ein schneller Blick in den Spiegel überzeugte sie, dass sie sich so sehen lassen konnte. Sie ließ die einfachen kosmetischen Kunstgriffe weg, die sie sonst anwandte, und ging hinaus. Sie roch frisch gebrühten Kaffee, als sie sich leichtfüßig hinunter begab. Durch die geschlossene Küchentür drang gedämpftes Geschirrgeklapper in das Wohnzimmer, und Bobbe ging zum hinteren Hausteil. 

  »Morgen, Mam.«

  »Guten Morgen, Schatz«, sagte Clare liebevoll. »Der Kaffee ist gerade fertig.«

  Bobbe lächelte, wollte jedoch die Unterhaltung nicht sofort weiterführen. Sie und ihre Mutter waren gute Freundinnen und immer gut miteinander ausgekommen. Jetzt fragte sich Bobbe, wie ihre Mutter wohl die Entscheidung, ins Kloster zu gehen, aufnehmen würde.  

  Nach Bobbes Geburt war dem jungen Paar vom Arzt gesagt worden, dass sie keine weiteren Kinder haben würden. So wurde ihr einziger Spross mit der ganzen Liebe und Zuneigung überschüttet, die Dan und Clare Moore in der Lage waren zu geben.

  Bobbe lächelte, als sie gemächlich auf die Tür zuging. Sie liebte den Humor ihrer Mutter, ebenso die Tatsache, dass sie, solange sie denken konnte, immer gute Freundinnen gewesen waren. Obwohl Bobbe als Clares jüngere Schwester hätte durchgehen können, respektierten sie sich gegenseitig, sodass sie in der Doppelrolle von Mutter und Tochter genauso gut wie in der von Freundinnen nebeneinander bestehen konnten.

  Jetzt wollte sie sich ihrer Mutter aber nicht anvertrauen. Jedenfalls nicht auf der Stelle. Alles sollte schon so weit wie möglich für ihren Eintritt ins Kloster geregelt sein, bevor sie es den Eltern sagte.

  Die Frage, ob sie das aus eigenem Antrieb tat, drängte sie schnell beiseite.

  Sie lehnte die angebotene Tasse Kaffee ab, die die Mutter in der Hand hielt, und sagte, derweil sie zur Tür ging: »Ich habe wirklich keine Zeit, Mam.«

  Clare war völlig überrascht, dass Bobbe ihren ersten Kaffee des Tages nicht trank. Beide Frauen hatten sich immer auf ihren Samstagmorgen-Kaffeeklatsch gefreut. »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte sie und setzte die Tasse auf dem Tisch ab.

  »Mir geht's gut, Mam. Wirklich, sagte Bobbe. Sie warf einen Blick auf die Uhr über der Spüle. Es war fast fünfzehn Minuten vor Neun. Pater Dolan musste ungefähr jetzt seine Acht-Uhr-Messe beenden, dachte sie. »Ich habe keine Zeit für Kaffee. Ich habe um neun eine Verabredung.« Sie verließ die Küche, ohne noch irgendwelche Kommentare abzuwarten. Wenn sie jetzt zu lange bei ihrer Mutter blieb, könnte es schwierig werden, es ihr nicht zu erzählen, bevor sie den Priester und die Nonnen besucht hatte.

  »Wann bist du zurück - falls Jay anruft?«, rief Clara hinter ihr her.

  »In ein paar Stunden.« Sie antwortete laut genug, dass ihre Mutter sie noch hören konnte, dann aber, um jede Erwiderung zu verhindern, schlug sie die Tür hinter sich zu.

  Während Bobbe entschlossen die Sycamore Street in Richtung Melby Avenue hinunterging, hatte sie ständig Jays hübsches Gesicht vor Augen. Ein bittender, nicht begreifender Ausdruck war in dem Gesicht, und seine Lippen formten immer wieder das eine Wort: »Warum?« 

  Dort vorn konnte sie Edgar Dudley erkennen, der seinen Rasen sprengte. Sein graues zottiges Haar kam wirr unter seinem schweißfleckigen Hut zum Vorschein. Um an ihm und seinem dunklen unheilvollen Haus möglichst schnell vorbeizukommen, beschleunigte sie den Schritt. Sie wunderte sich über die Abscheu, die sie vor dem alten Mann empfand.

  Alt. Er war ihr vom ersten Augenblick an alt erschienen.

  Aber dieses sonderbare, beunruhigende Gefühl, das wie eine giftige Schlange über sie kam, jedes Mal, wenn sie ihn sah, schien jetzt fast außer Kontrolle zu geraten.

  Der Wunsch, zum Pater und den Nonnen zu kommen, wurde plötzlich in ihr wach und zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. »Guten Morgen, Mr.  Dudley«, rief sie freundlich - noch bevor sie ihre Gefühle recht einordnen konnte.

  Der Alte war so überrascht von der Stimme, dass er sich umdrehte, um zu sehen, wer ihn so freundlich grüßte. Dabei drehte er versehentlich seinen Wasserschlauch so, dass dieser direkt durch ein offenes Fenster in sein Wohnzimmer spritzte.

  Immer noch überrascht über den freundlichen Ausbruch, war Bobbe bereits außer Hörweite, als Dudley feststellte, wohin der Strahl irrtümlich gegangen war. Seine Flüche und Drohungen verloren sich in der warmen Luft.

  Noch zwei Wohnblocks, und sie lenkte ihre Schritte auf das Pfarrhaus, das neben der Kirche lag.

  Was sollte sie sagen? 

  Wie sollte sie es sagen?

  Vielleicht würde Pater Dolan ihr helfen. Sie hoffte es. Langsam legte sie ihren Finger auf die Türklingel. Ein greller, unangenehmer Ton drang durch das ruhige Haus.

  Mehrere Minuten vergingen, in denen Bobbe teilnahmslos auf die Holzbarriere starrte, die sie von ihrem Ziel trennte.

  Dann öffnete sich die Tür.

  »Ja?«, fragte eine dicke weißhaarige Frau, die in der Türöffnung erschien.

  Bobbe bekämpfte das Bedürfnis, sich umzudrehen und so schnell wegzurennen, wie sie nur konnte, und sagte schüchtern: »Hat Pater Dolan zu tun? Ich würde ihn gern sprechen. Es... es ist sehr wichtig.«

  »Hmm!«, schnaubte die Haushälterin und öffnete die Tür weiter, um das Mädchen einzulassen. Immer ist es wichtig, dachte sie.

  Die schwergewichtige Frau zeigte auf ein kleines Büro neben dem Flur, in dem sie standen, und Bobbe ging gehorsam hinein und setzte sich auf einen Stuhl mit gerader Lehne. Ein großer zylindrischer Schreibtisch dominierte durch seine Form den kleinen Raum. Alte, verblasste Auszeichnungen und Diplome hingen schief an der Wand und umrahmten, wie Bobbe feststellte, ein Bild von Jesus.   

  Ihre vollen Lippen spitzten sich und wollten gerade das Bild Christi anspucken, als sie schlurfende Schritte im Flur vernahm.

  »Guten Morgen, Roberta«, sagte der dünne Priester liebenswürdig und streckte seine Hand aus, um seinen attraktiven Gast zu begrüßen. »Wie geht es dir?«

  »Guten Morgen, Pater«, sagte sie lächelnd. Beide nahmen Platz.

  »Es gibt sicherlich einen gewichtigen Grund, warum du am Samstagmorgen deinen Pater aufsuchst. Was ist es, mein Kind?«

  Er blinzelte. Er war sich absolut sicher, warum Roberta Moore zu ihm gekommen war. Aber wo war der junge Livingston? Warum war er nicht dabei?

  »Pater«, begann Bobbe zögernd, »ich... ich habe mich entschlossen, Schwester des Ordens Heiliges Wort zu werden.«

  Sie schlug die Augen nieder, um seinem durchdringenden Blick auszuweichen, und faltete die Hände so stark, bis die Knöchel weiß hervortraten.