Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge - Matteo Corradini - E-Book

Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge E-Book

Matteo Corradini

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Beschreibung

Nach einer wahren Geschichte...

Theresienstadt 1942: Die Nazis haben ein Lager für Juden errichtet, das zeitweise als Vorzeigelager dient. Doch es ist nur eine Station auf dem Weg in die Vernichtungslager. Inmitten dieser Hoffnungslosigkeit gründen Kinder eine Zeitschrift, um gegen das Grauen anzuschreiben. Sie treffen sich heimlich und verfassen Berichte über das Lager. Aber sie zeichnen auch Bilder, führen Interviews oder schreiben Gedichte.

Matteo Corradini bringt dem Leser auf berührende Weise das Schicksal dieser Kinder nahe.

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Seitenzahl: 298

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© Matteo Corradini

DER AUTOR

Matteo Corradini, geboren 1975, ist Hebraist und Schriftsteller. Er beschäftigt sich mit Didaktik der Schoah und arbeitet an verschiedenen Kunstprojekten. Er forscht in den Niederlanden und in Theresienstadt, wo er Geschichten und Gegenstände, vor allem Musikinstrumente, wieder zum Leben erweckt. Matteo Corradini ist außerdem der Kurator der neuen italienischen Ausgabe von Anne Franks Tagebuch.

Aus dem Italienischenvon Ingrid Ickler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Deutsche Erstausgabe Mai 2017 © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe: cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »La repubblica delle farfalle« bei Rizzoli Livri S.p.A./Rizzoli, Mailand La repubblica delle farfalle © 2012–2016 Rizzoli Libri S.p.A. / Rizzoli, Milan Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler Umschlaggestaltung: Art Director: Francesca Leoneschi; Graphic Designer: Andrea Cavallini/theWorldofDOT. Umschlagfoto: © Arcangel/Stephen Mulcahey kk · Herstellung: UK Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-17833-8V001www.cbj-verlag.de

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Theresienstadt – aus meiner Sicht

Als ich am 30. Januar 2002 das erste Mal in Theresienstadt war, schneite es und war ganz still. Einige Tage zuvor hatte ich beschlossen, meinen Bruder besuchen zu gehen, der seit Kurzem in Prag wohnte (auch er schreibt, aber in einer Sprache, die nur Computer verstehen, denn er arbeitet bei Apple). Mit der Schoah hatte ich mich schon früher beschäftigt und wusste, dass Theresienstadt nur eine Stunde von Prag entfernt liegt. Ich stieg in den Bus nach Litoměřice (Leitmeritz) und fuhr durch die flache, verschneite böhmische Landschaft. Dann stieg ich an einem Ort aus, der für mich sehr viel mehr war als nur ein Kapitel in den Geschichtsbüchern oder irgendeine Adresse.

Ich mag Theresienstadt, auch wenn das seltsam klingt. Normalerweise entwickelt man eine Beziehung zu Menschen, einer Katze, einem tropischen Fisch oder einem Papagei. Manchmal auch zu einem Ort aus der Kindheit, an den man schöne Erinnerungen hat. Doch in Theresienstadt gibt es etwas, das zu mir spricht, unabhängig von allem Schrecken, unabhängig vom Schicksal der Juden, die dort gelitten und alles verloren haben. Dort herrscht eine Atmosphäre, die mir von Lebendigkeit und nicht von Zerstörung, von Mut und nicht von Angst, von Leben und nicht von Tod erzählt. Und deshalb komme ich jedes Jahr wieder, manchmal sogar mehrere Male.

An diesem Punkt muss ich einen Schritt zurückgehen und erklären, was Theresienstadt früher war. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Stadt als Festung errichtet, wurde dann Garnisonsstadt und schließlich im Zweiten Weltkrieg von den Nazis annektiert. Eigentlich gehörte die Stadt zur Tschechoslowakei, einem Staat, den es heute nicht mehr gibt. Ein Teil der Bevölkerung aus der Region rund um Prag (Böhmen) sprach Deutsch, und ein Grund, warum das Dritte Reich die Deutschen überzeugen konnte, Krieg zu führen, war die Tatsache, dass ein Einmarsch dort die deutschsprachige Bevölkerung »befreien« würde.

Sobald die Deutschen ein Land besetzten, begann fast sofort die Verfolgung der Juden. In unserem Fall die Verfolgung der Juden in Böhmen und Mähren. Durch die vielen gegen sie gerichteten Gesetze verloren die Juden jede Würde, das Recht, sich frei zu bewegen, zu lernen, etwas zu besitzen, zu heiraten, wen sie wollten … Aber damit nicht genug: Die Nazis hatten die größte Verfolgungs- und Vernichtungswelle gegen die europäischen Juden organisiert, die es jemals gegeben hatte, und zwar sehr effektiv. Die Juden wurden aus ihren Häusern vertrieben und in sogenannte »Durchgangslager« verschleppt.

Diese Lager sahen manchmal aus wie Gefängnisse, mit Baracken, die man von den Fotos der Konzentrationslager kennt. Manchmal wurden aber auch ganze Stadtviertel abgeriegelt und in Lager verwandelt. Man nannte sie »Ghetto« und die größten gab es in Warschau, in Krakau und in Lodz …

In den Augen der Nazis war Theresienstadt der ideale Ort, an den sie die tschechischen Juden deportieren konnten. Die ganze Stadt wurde im Laufe von zwei Jahren von den Nazis in ein Durchgangslager verwandelt und von der Außenwelt abgeschnitten, weshalb es den Namen »Ghetto« bekam. Es war das am weitesten im Westen liegende Ghetto im Reich.

Anfangs wurden nur die Juden aus Böhmen und Mähren nach Theresienstadt gebracht, zwei Regionen, die von den Nazis besetzt worden waren. Von dort aus wurden sie in die Konzentrationslager verschleppt: in den ersten Monaten nach Treblinka, danach vor allem nach Auschwitz.

Später änderten die Nazis ihre Pläne und verwandelten Theresienstadt in ein »Propagandalager«. Sie wollten der Welt und dem Roten Kreuz beweisen, dass den Juden gar nichts Schlimmes passierte, dass sie gut behandelt wurden und sie sogar viele Freiheiten hatten. Deshalb mussten die Juden das Lager verschönern und die Häftlinge genossen einige Monate lang vermeintliche Freiheiten. Mit der Zeit kamen auch deutsche, holländische und dänische Juden nach Theresienstadt.

Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, ist wirklich passiert. Es ist die Geschichte einer Gruppe von Kindern in Zeiten von Angst und Traurigkeit, die versuchten, auf ihre Art und Weise Widerstand zu leisten. Sie hatten keine Waffen, sie konnten auch keine spektakulären Aktionen gegen die Nazis durchführen, aber sie konnten schreiben und erzählen, was zu dieser Zeit geschah. Die Wahrheit zu sagen war zu dieser Zeit und an diesem Ort etwas, was mit der Todesstrafe geahndet wurde. Und trotzdem schrieben die Kinder heimlich eine Zeitung namens Vedem und nahmen genauso große Risiken auf sich wie die Erwachsenen.

Ihre Geschichten sind wahr. Ihre Namen sind echt. Ihre Charaktere habe ich so originalgetreu wie möglich wiederzugeben versucht. Als ich ihre Zeitung gelesen habe, habe ich sie mir so vorgestellt, mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Witzen und ihrem Lachen.

Auch die beschriebenen Orte gibt es wirklich. Einige Kapitel kann man vor Ort lesen und alle Plätze ablaufen. Alles ist genauso passiert, wie es im Buch steht. Nur die Sache mit Jiri nicht, aber das ist eine andere Geschichte.

Lieber Leser, was du in Händen hältst, ist ein Roman, kein Geschichtsbuch. Aber trotzdem wollte ich, dass alle Details genau stimmen, oder jedenfalls fast. Und das nicht, weil ich besonders pingelig oder übergenau bin, sondern aus Respekt gegenüber denen, die an diesem Ort gelitten haben, und den Geschichten der Kinder, die sich in Theresienstadt abspielten. Etwas zu erfinden ist leicht, aber dieses Mal wollte ich mich auf die Geschichte berufen. Wenn jemand die Geschichte deines Lebens erzählen würde, dann sollte sie doch auch so genau wie möglich sein, oder?

Ich komme oft nach Theresienstadt. Nicht, dass ich mich hier zu Hause fühle, aber ich habe verstanden, dass das Ghetto ein Teil meiner Geschichte ist. Jedes Haus hat einen Geruch. Auch mein Haus hat ihn, doch da ich an ihn gewöhnt bin, nehme ich ihn nicht mehr wahr. Wenn ich die Häuser von anderen betrete, rieche ich ihn, er wird aus der Geschichte des Hauses geboren: der Geruch der Wände, der Möbel, der Menschen, das Parfüm, die frische Wäsche oder das Essen, die Spielsachen und die Bücher. Theresienstadt riecht nach Blumen und Feuchtigkeit, nach Erde und Pflaumenschnaps, Kieselsteinen und Rinde. Wenn du einen Stein von hier mitnimmst, dann ist er anders als die, die du bei dir zu Hause findest.

Vielleicht kommst auch du eines Tages nach Theresienstadt und nimmst den Geruch der Häuser und der Straßen wahr. Vielleicht treffen wir uns dort. Vielleicht willst du mehr wissen. In Theresienstadt gab es auch deutsche Kinder. Sie haben viele Artikel in der Zeitung geschrieben, von der hier die Rede ist, in deiner Muttersprache, und diese Artikel sind alles, was von ihnen geblieben ist. In diesem Buch kommen die Hauptfiguren aus Prag. Aber wenn du mein Buch zu Ende gelesen hast, dann hast du vielleicht Lust, die Geschichten der deutschen Kinder zu lesen und sie weiterzuerzählen. Auf deine Art. Damit sie nicht vergessen werden.

Matteo Corradini, im Sommer 2016

Kapitel 1 –

Glühbirne

»Zuerst einmal habe ich eine Überraschung für euch.« Aus dem Plunder, den er mitgebracht hatte, zog Edison ein Säckchen aus grobem Stoff hervor, in dem sich ein zusammengerolltes dunkles Lumpenbündel befand. Er nahm es vorsichtig auf den Arm, als wäre es ein schlafendes Baby. Er hielt es an seine Wange, dann legte er es auf den Tisch zurück und wickelte es auseinander, wie ein Zauberer, der erst den leeren Zylinder zeigt, bevor kurz darauf auf wundersame Weise etwas daraus auftaucht.

Es war das letzte Mal, dass wir alle gemeinsam eine Lampe anschalteten. Dort oben in der Dachkammer vergaßen wir die Finsternis, die Stille, die Nacht, die uns bevorstand. Und die Sterne, die hier nicht mehr zu sehen waren. Wir vergaßen sogar den modrigen Geruch der Decken, das Jucken der Läuse, die sich in unseren Haaren eingenistet hatten. Hier waren nur wir. Jiri mit seinem unglücklichen Talent war auch noch dabei. Wohin ihn das führen sollte, ahnte er in diesem Moment noch nicht.

Edison hatte den Raum betreten, wie ein Gesandter schritt er herein und kniff die Wangen zusammen, um nicht lachen zu müssen. Vor der dunklen Tür im düsteren Raum konnte er seine Aufregung leichter vor uns verbergen. In der Hand hielt er das Bündel, das er sofort vor uns auf den Tisch legte, an dem wir die Redaktionssitzungen unserer Zeitung abhielten. Dann riss er den Mund weit auf (man konnte seine weißen Zähne in der Dunkelheit blitzen sehen) und flüsterte: »Überraschung.« Eine Glühbirne.

Überraschung, einfach so, ohne Ausrufezeichen. Die benutzten wir nicht mehr. Ausrufezeichen standen nur hinter den gellenden Befehlen, die messerscharf in unsere Ohren schnitten.

Wir scharten uns um den Tisch, wer auf einem der Pritschen gelegen hatte, quälte sich wieder hoch. Der Fußboden knarrte. Schon als Edison »Überraschung« gesagt hatte, war es ganz still geworden. Ganz behutsam öffnete er das Bündel, ein zweiter Lumpen kam zum Vorschein, in dem eine Papierhülle verborgen war. Darin war eine Glühbirne eingewickelt. Edison nahm sie vorsichtig in die Hand und präsentierte sie uns, als wäre sie ein Diamant. Wir beugten uns ganz nach vorne, kamen so nah, dass sich unsere Augen in der Glühbirne widerspiegelten. Edison hielt sie an der Fassung fest, und wenn sich Aufregung in Elektrizität verwandeln könnte, dann hätte er sie mit den Fingern zum Leuchten bringen können.

Wir waren sprachlos. Er stieg auf den Tisch und steckte die Glühbirne in die nackte Fassung, die an einem Kabel von der Decke baumelte. Vor unserer Ankunft hatte dort bestimmt auch eine richtige Lampe gehangen, vielleicht eine aus Kristall. Wir bekamen vor Staunen kaum Luft. Edison schraubte und schraubte, dabei hüpfte er immer wieder auf und ab, es sah aus, als hätte ihn jedes Mal ein Stromschlag erwischt. Er schraubte weiter, während wir in Gedanken seinen zuckenden Bewegungen folgten und mit den Händen immer schneller auf die hölzerne Tischplatte schlugen.

Zdenek brachte uns zum Schweigen: »Seid ihr verrückt? Schluss mit dem Krach!« Wir beruhigten uns wieder.

Edison hatte es geschafft. Er sah Petr an, der sich neben den Schalter gestellt hatte.

»Kann ich?«, fragte er.

»Wenn sie uns dieses Mal erwischen, dann bringen sie uns um.«

»Von draußen sieht man nichts.«

Nichts. Es blieb dunkel. Jiri stieg ebenfalls auf den Tisch und griff nach der Glühbirne. Das Licht der brennenden Kerze, die auf dem Tisch stand, ließ ihn größer erscheinen, während er sich an der Porzellanfassung zu schaffen machte.

»Komisch, dass die letzten Bewohner sie nicht mitgenommen haben, die haben doch sogar die Tapeten abgemacht.«

Petr hielt ihn am Bein fest, während Jiri voller Stolz verkündete: »Das Schauspiel beginnt in Kürze!«

Während er mit einer Hand die Fassung festhielt, nahm er die Glühbirne in die andere, schraubte sie erst heraus und dann wieder hinein. Wenn ich an diese Szene zurückdenke, wird mir schmerzlich bewusst, dass wir acht in diesem Moment das letzte Mal zusammen waren, um zu reden und zu schreiben. Die letzte Nacht mit unserem Freund Jiri. Dieses Schauspiel sollte sein letztes sein, aber zu diesem Zeitpunkt wusste das noch niemand.

»Dreh sie fester«, schlug Zappner vor, der Junge mit dem Bart.

»Wenn wir sie anschalten, werden sie uns sehen.«

»Wenn wir sie anschalten, werden wir uns sehen, das ist ein großer Unterschied.«

Edison hatte die Sache wieder in die Hand genommen. Mit seiner letzten Drehbewegung hätte er selbst einen Hundeschwanz zum Leuchten gebracht. Und da war es: das Licht. Das Zimmer bekam Farben und Konturen, als ob alles in diesem Moment zum Leben erweckt worden wäre und wie von selbst zu leuchten begonnen hätte. Man erkannte die mit Gedichten und Geschichten bedeckten Blätter, die mit der Hand geschriebenen Zeitungen, ein paar Bücher, drei Ansichtskarten und die modrig riechenden Pritschen. Man sah die Gesichter von acht Jungen, die wie auf Kommando lächelten, im Gleichklang wie ein Orchester. In der finstersten Nacht konnten sie sich gegenseitig in die leuchtenden Augen blicken, die vor Tränen glänzten. Vielleicht hätten sie sich an einem anderen Ort über diese Rührseligkeit lustig gemacht. Aber nicht hier und jetzt. Schweigen machte sich breit. Die Dunkelheit ist die Welt der Worte, aber bei Licht genügt auch die Stille, da gab es keinen Zweifel.

Der Raum war in ein wunderbares Licht getaucht. Alles wurde von diesem Glanz erfasst, anders als bei Tageslicht, es war wie im Traum. Alles schien zum Leben erwacht: die hohen Stockbetten mit unseren Sachen und den herabhängenden Hosen, die Bücher, die Schuhe mit den offenen Schnürsenkeln, die in den Ecken standen, und das Papier für die Zeitungen, gut zwischen der Matratze und dem Bettgestell versteckt, die Fotos und Zeichnungen an den Wänden. Doch vor allem sahen wir uns gegenseitig an, während Edison so sehr lachte, dass wir ihn zu dritt festhalten mussten, um ihn zu beruhigen. Aber auch wir konnten nicht aufhören zu lachen. Wir lachten so sehr, dass wir keine Luft mehr bekamen, so lange, bis sogar die frechste Maus auf dem Dachboden einstimmte, bis die Läuse anfingen, auf unseren Köpfen zu tanzen, und uns einmal, aber nur dieses eine Mal, in Ruhe ließen. Endlich einmal konnten wir uns in die Augen schauen, düster, aber glänzend, finster, aber schön.

Es war das letzte Mal, dass wir gemeinsam eine Lampe anschalteten, alle zusammen. Es war eine Nacht unter Strom und wir feierten ihre Magie völlig ohne schlechtes Gewissen. Früher oder später würden das Heimweh und der Schmerz, hier gefangen zu sein, zurückkommen. Doch in dieser dunklen Nacht waren uns alle und alles egal. Für eine Nacht, für diese eine Nacht, waren wir sogar stärker als Theresienstadt.

Kapitel 2 –

Die Festung

März 1943

Es ist Nacht und sehr dunkel. Embryo, Zdenek, Petr und ich gehen ohne ein Wort eine Straße entlang. Alles schläft, aus den Häusern dringt kein Laut und kein Licht. Wir schleichen wie Diebe, einer nach dem anderen, machen uns ganz dünn, so dünn wie die Farbe an den Wänden. An jeder Ecke bleibt der Erste stehen, schaut prüfend in die Straße, die kreuzt, und macht den Nachfolgenden ein Zeichen, wenn die Luft rein ist. Weiter. Immer weiter. An einer Kreuzung bemerkt Embryo eine Wache. Er dreht sich um und erinnert uns daran, still zu sein. Kontrolliert noch einmal. Der Wachposten steht ziemlich weit hinten im Lichtkegel eines Scheinwerfers, der an der Festungsmauer befestigt ist. Er hat wahrscheinlich keinen Dienst, er steht einfach da, vielleicht war er gerade bei einer Frau, vielleicht ist er betrunken. Sonst ist er nie da. Wir drücken uns ganz dicht aneinander, müssen aber unbedingt die Straße überqueren und die andere Seite erreichen. Wir sind so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, weil wir selbst die Dunkelheit sind, nicht einmal das Weiße in unseren Augen ist zu sehen. Zdenek gibt Embryo einen Klaps auf den Rücken, der läuft los und versteckt sich in einer Ecke auf der anderen Straßenseite. Der Wachposten rührt sich nicht. Er beobachtet die Umgebung und geht dann vier Schritte nach vorne, bei den letzten beiden schwankt er.

»Zwei Schritte von vier, rechnen wir mal: Er ist halb betrunken«, flüstert Petr.

Zdenek ist aufmerksam wie ein Spürhund und lässt die Wache nicht aus den Augen. Der Mann dreht sich um, Zdenek tippt Petr an, der sofort losläuft. Er rennt, er rennt zu der Ecke, wo sich Embryo versteckt hat. In den wenigen Sekunden, in denen sich der Wachposten am Rücken gekratzt hat, hat er sich in Sicherheit gebracht. Dann fällt etwas zu Boden, eine Flasche rollt über die Straße. Auf dem Pflaster klingt das Rollen fast wie Musik.

Der Mann beugt sich unbeholfen nach unten, um die Flasche aufzuheben, aber das sehe ich schon nicht mehr, denn als er den Blick auf den Boden richtet, packt mich Zdenek am Kragen meiner Jacke, rennt los und zieht mich hinterher. Zdenek war früher Sprinter und hat sogar Preise gewonnen. Er läuft leicht und locker, während ich Mühe habe, ihm zu folgen, obwohl er meine Jacke nicht loslässt. Sekunden später haben wir unser neues Versteck erreicht. Ich mit nacktem Oberkörper, Zdenek hat mir beim Hinterherzerren die Jacke ausgezogen.

Er gibt sie mir mit einem Blick zurück, der nur eines sagen will: Das nächste Mal gibst du wirklich Gas, du Schnecke.

Langsam setzen wir unseren Weg fort. In der Finsternis sind nur wir vier unterwegs: Embryo, Zdenek, Petr und ich. Die Scheinwerfer an der Festungsmauer schlagen Lichtschneisen in die Dunkelheit. Die Feuchtigkeit des nahen Flusses lässt die Welt um uns herum glänzen. Wir gehen weiter und erreichen den offenen Marktplatz, man könnte ihn leicht überqueren, aber das ist für uns Juden verboten, zu gefährlich. Wir umrunden ihn, versuchen die Wachposten zu meiden und nehmen dann die Straße, die an der Schule vorbeiführt. Dahinter ist das Versorgungsgebäude. Jetzt sind wir in der Nähe des Krankenhauses und dem Gebäude der Mädchen.

»Besuchen wir sie doch einfach«, schlägt Zdenek vor.

Du bist verrückt, denkt Petr, sagt aber kein Wort.

Kurze Zeit später sind wir da. Die Mauer unter den Fenstern ist mit ihren Vorsprüngen und Stuckverzierungen ideal zum Klettern. Wir ziehen uns mit den Armen hoch, die Füße folgen, und schon hängen wir an den Fenstergittern im Erdgeschoss. Wir linsen hinein. Durch die Fensterscheiben sehen wir einen Raum, ähnlich wie unserer, mit zusammengezimmerten Stockbetten, hart und unbequem, drei-, einmal sogar vierstöckig. Überall Decken und Kleidungsstücke, aufgeklappte Koffer, zum Trocknen aufgehängte Blusen, aufgespannte Bettlaken und Stoffbahnen, mit deren Hilfe um eine einzelne Matratze eine Art winziges Zimmer entsteht. Und dann das Licht, das gleiche gedämpfte safrangelbe Licht, das auch durch unsere Fenster dringt. Woher es wohl kommt? Vielleicht ist es das Licht der Scheinwerfer der Festungsmauern, das bis hierher durchsickert. Das davonfliegt wie ein Papierdrachen, wieder zurückkommt und bis zu den Betten dringt. Das grelle Licht der Wachen, das sich in gutes Licht verwandelt und nützlich für uns ist. Wir brauchen es, um schreiben zu können.

Da wir aus der Dunkelheit kommen, braucht es eine Weile, bis unsere Augen sich an dieses Dämmerlicht gewöhnt haben. Dann erkennen wir schattenhafte Umrisse, Hände, die Decken umklammern, einen nach unten baumelnden Arm: ein Mädchen, das auf der Seite liegt, mit uns zugewandtem Gesicht. Und viele geschlossene Augenpaare, darunter auch das von Vera, auch ihre Augen. Ich erkenne ihre zusammengekauerte Gestalt. Ihr Körper ist bestimmt warm, wenn ich nur ihre Schulter, ihren Hals oder ihre Wange berühren könnte.

Nach einer Weile klettern wir wieder runter und gehen weiter. Die Mädchen vergessen wir wieder, sie sind nicht unser Ziel. Wir müssen weiter, wir müssen raus. Wir meiden die Pflasterstraße und schleichen uns in den Park. Oder das, was von ihm übrig ist, die hohen, säulenartigen Bäume, die akkurat gepflanzten Büsche. Wenn man Schnüre zwischen ihnen spannen würde, könnte man damit sicher gut Geometrie erklären. Einige Bäume sind so hoch, dass wir im Dämmerlicht nur den Stamm und nicht die einzelnen Äste erkennen können. In diesem Augenblick flammt ein Scheinwerfer auf und macht die Nacht zum Tag. Wir lassen uns auf den Boden sinken, jeder hinter einem anderen Baum. Die Luft ist noch feuchter geworden, die Nebeltröpfchen darin werden vom Licht in glitzernde Perlen verwandelt. Die Baumstämme wirken noch dunkler, wie akkurate Pinselstriche vor dem Hintergrund des finsteren Himmels. Und dahinter wir, schwarz und flach auf den Boden gepresst.

Das Licht des Scheinwerfers schwenkt hin und her, dann vor und zurück, die Schatten der Äste scheinen sich wie in einem Totentanz zu bewegen. Wir pressen die Zähne zusammen, Embryo umarmt einen Baum, als ob er Angst hat, er könne wegfliegen. Der Scheinwerfer bleibt stehen und leuchtet jetzt direkt in den Park.

Ich hebe den Kopf, und erst jetzt sehe ich sie durch das Gras hindurch, das mir die Sicht versperrt hat. Oder ist es die Angst? Zwischen den Bäumen stehen Kinderwagen, sie stehen zusammen oder auch einzeln, es sieht aus, als wären sie einfach dort stehen gelassen worden, von Menschen auf der Flucht, die keine Minute Zeit zum Nachdenken hatten. Alle sehen ziemlich ähnlich aus, einige haben Stickereien, noch nie habe ich so schöne Kinderwagen gesehen. Angestrahlt von dem Scheinwerfer sehen die mit Tautropfen überzogenen Wagen fast aus, als würden sie in der Luft schweben.

Das vor meinen Augen ist kein Gras, es ist eine ausgefranste Decke. Die abstehenden Fäden kratzen an meiner Wange wie Borsten. Ich öffne auch das andere Auge, unter meinen Schultern ist es warm und ich ruckele mich zurecht. Das ist mein Bett im Haus L 417, in der Dachkammer der Jungen von Theresienstadt. Ich stehe langsam auf und gehe zum Fenster.

Heute regnet es im Ghetto. Dicke Tropfen peitschen gegen die Mauern und platschen auf die Straße, haben offenbar Spaß daran, sie zu überschwemmen. Es gießt wie aus Eimern, es scheint, als wolle der Himmel seine ganze Fracht über Theresienstadt ausschütten und nie mehr damit aufhören. Die Pfützen werden immer größer, alles steht unter Wasser. Das Geräusch erinnert an eine Stimme, die nach dir ruft, erst klingt es verlockend, dann aber wechselt der Tonfall, wird schrill und bedrohlich und schließlich zum Gebrüll. Edison schreckt aus dem Schlaf hoch.

Er fragt mich etwas, aber ich stehe zu nah am Fenster, um ihn zu verstehen.

»Was hast du gesagt?«

»Haben sie schon zum Arbeitsdienst gerufen?«

Wir sind im ersten Stock. Unter dem Fenster versammeln sich Menschen, die hastig die Straße überqueren und sich in die Augen schauen – aschgraue Augen, Menschen sind das nicht mehr, sie ähneln Kartoffelsäcken mit einem gelben Stern auf der Brust. Innerlich leer, durchnässt und verlassen.

»Einer ist schon fertig«, sagt Edison, der sich beeilt, seine Schuhe anzuziehen. Er ist zwei Jahre älter als wir, das genügt, um für die Nazis eine vollwertige Arbeitskraft zu sein. Normalerweise schläft er in Klamotten und eilt vor Tagesanbruch aus dem Haus, das Geräusch seiner Schritte wird von der Treppe verschluckt. Ich setze mich wieder aufs Bett, die Balken knarren und ich höre einen Schuss. Auch die anderen hören ihn, jemand schreit, einundvierzig Gespenster schrecken hoch und springen aus den Stockbetten. Die ganz oben schlafen, brauchen höchstens eine Sekunde länger als die anderen, bis sie den Boden erreicht haben. Vorneweg laufen die, die gehört haben, aus welcher Richtung der Schuss kam, die anderen hinterher, ein Trommeln von nackten Füßen, Richtung Fenster. Und dann ist es still.

Normalerweise steht ein Mann, denn er hat Beine, die seinen Körper tragen, aber der Mann, den wir auf der Straße sehen, kann sich nur aufrecht halten, weil er sich an die Mauer lehnt. Seine Beine sind eingeknickt und schief, sie sehen aus wie der seltsam geformte Stamm eines vom Wind gebeugten Baumes. Die Mauer ist vom Regen getränkt, dicke Tropfen laufen über die graue Jacke des Mannes, die an den Schultern schon durchnässt ist, seine Haare sind klatschnass, das Wasser rinnt ihm in die Augen. Aber das scheint ihm nichts mehr auszumachen. Zwischen den schlaff auf der Brust hängenden Armen prangt ein sich ausbreitender roter Fleck. Jetzt tasten sich die Arme an der Wand entlang, aber nur einen Moment, dann kippt der Kopf des Mannes nach vorne, ein Knie gibt nach. Er fällt auf die Seite, ohne die Hände vors Gesicht zu halten, wie man es instinktiv macht, wenn man noch lebt. Er ist tot. Der Nazi macht sich nicht einmal die Mühe, nachzusehen. Manchmal machen sie das, aber dieses Mal ist er sich sicher, er stand ganz nah vor ihm. Der leblose Körper auf dem Pflaster nimmt das dreckige Wasser auf und malt großzügig einen roten Strahl auf den Boden, der sich wie ein Ast verzweigt. Der Blutfleck franst aus und wird blasser. Die mit Wasser vollgesogene Kleidung des Toten ist bleischwer.

Wir sehen die Gesichter der grauen Menschen nicht, weil sie, genau wie wir, in Richtung Mauer blicken. Aber das ist auch gar nicht nötig: Sie sehen garantiert genau aus wie unsere, kein Zweifel. Die SS – Leute geben nicht den Befehl, die Leiche wegzuräumen, wie sie das manchmal tun. Sie schreien den grauen Menschen etwas zu, die eine Reihe bilden und sich dann in Bewegung setzen. In der Masse erkenne ich Edison, er wird uns heute Abend alles erzählen.

Josif fängt an zu weinen, ihm fehlen sein Zuhause, seine Eltern und auch die Großmutter, die ihn sehr lieb hat, wie er sagt. Er ist zwei Monate nach mir angekommen und empfindlich wie ein junger Spatz. Er sitzt auf dem Bett, weint oft stundenlang und isst ganz wenig. Einige trösten ihn, die anderen bleiben am Fenster stehen und schauen weiter auf den Toten.

»Er bewegt sich nicht mehr, worauf wartet ihr? Dass er abhaut?«, fragt Zdenek. Er löst seine Arme von Josif und legt sich wieder ins Bett.

Ich hebe die Matratze hoch und ziehe ein Blatt Papier heraus. Ich schreibe: Heute wurde unter unserem Fenster ein Mann erschossen. Wir wissen noch nicht, warum, vielleicht hat er ein Pferd gestreichelt oder einem SS – Mann die falsche Antwort gegeben, vielleicht wollte er nicht schneller gehen. Die Straße ist ganz rot.

Und während ich schreibe, komme ich zu der Einsicht, dass die Frage nach dem Warum nichts mit dem Toten, sondern vielmehr mit dem Wachmann zu tun hat, der ihn erschossen hat. Die Erklärungen der SS verstehen wir nicht. Wir sind Juden, und das scheint als Erklärung zu genügen.

Aber den Gedanken, den ich gerade habe, schreibe ich nicht auf. Denn wenn Josif das lesen würde, was würde das für ihn bedeuten? Wie würde er damit umgehen? Unsere Anstrengungen, ihn zum Essen zu bewegen, wären umsonst gewesen. Heute Abend sehen wir weiter, vielleicht machen wir einen Artikel darüber, vielleicht lassen wir es aber auch, denn ich habe schon einen über einen anderen Toten geschrieben, in der Nähe der Magdeburger Kaserne.

Eigentlich ist Embryo dran, aber der schläft noch, nicht einmal durch den Schuss ist er aufgewacht. Ich sehe seinen Kopf aus der Decke ragen, vielleicht hatte er sie sich über die Ohren gezogen, vielleicht ist er zu sehr in seinem Traum gefangen. Es ist ein Wunder, dass er hier in Theresienstadt so gut schlafen kann, er hat versucht, es uns beizubringen, aber wir sind nicht wie er. Er ist Waise. Wir dagegen hatten ein Zuhause, ein eigenes Zimmer, eine Familie.

Unsere Eltern sind weit weg. Wir wurden zwar gemeinsam deportiert, aber schon bald mussten wir Jungen in dieses große Haus mit Garten ziehen, in dem sich auch die Schule befindet. Die Erwachsenen sind woanders untergebracht, die Mütter in der Dresdner Kaserne, die Väter in der Hannover-Kaserne. Die Mädchen in unserem Alter sind wieder woanders. Dann gibt es die Kaserne der holländischen, die der deutschen, der dänischen und die der anderen Kinder. Die Kasernen wurden zu Schlafsälen umfunktioniert, etwa hundert Verschleppte leben in einem Saal, es ist so heiß und stickig, dass sie sogar im Winter die Fenster offen lassen. Wir sind Juden und deshalb sind wir hier. Andere Gründe? Wer aus anderen Gründen von den Nazis verhaftet worden ist, wird in die kleine Festung in der Nähe gebracht: Dort sind die Kriminellen und die politischen Gefangenen. Die Nazis kennen den Unterschied zwischen denen und uns ganz genau. In den allermeisten Fällen hat ein Krimineller das Recht, weiterzuleben. Ein Jude nicht. Das ist der Unterschied.

Theresienstadt kannte vorher niemand von uns. Wir aus Prag waren noch nie hier gewesen. Theresienstadt ist eine Festungsstadt, von Mauern umgeben, mit Kasernen aus dem letzten Jahrhundert, quadratisch angeordnet, jede Straße verläuft parallel oder im rechten Winkel zu der anderen, wie ein Gitternetz. Die Stadt wird von einem Graben begrenzt, der sich mit Wasser füllt, wenn es regnet, und sich dann in einen Sumpf verwandelt. Direkt neben dem Graben sind die Gemüsegärten. Es gibt sie wirklich, sie sind real. Hier in Theresienstadt muss man sich immer fragen, ob etwas real ist oder nicht.

Der Abend kommt langsam, wir haben genug Zeit, etwas zu tun, und genug Zeit, nichts zu tun. In dieser Woche kann man sich etwas freier auf der Straße bewegen, deshalb frage ich Embryo, ob wir einen Spaziergang machen wollen, wenn es aufgehört hat zu regnen.

»Klettern wir auf die Mauer?«, schlägt er vor. So vergessen wir für einen Moment den Hunger.

»Kann ich auch mit?«, fragt Zappner, der Junge mit dem Bart.

Wir gehen zu dritt die Straße entlang und achten darauf, den Bürgersteig nicht zu betreten. In der vergangenen Woche haben die SS – Leute einen Mann krankenhausreif geschlagen, weil er auf dem Bürgersteig gegangen ist. Haben sie zumindest gesagt. Wir wissen nicht, ob man in dieser Woche wieder auf dem Bürgersteig gehen darf, aber besser kein Risiko eingehen. Die Straße ist voller Schlamm, die Schuhe sinken ein, auf dem Bürgersteig würden wir nicht so dreckig werden. Es riecht muffig, als ob die verfaulten Pflanzen von den Feldern ringsum sich entschlossen hätten, aufzuwachen und kleine Wassertröpfchen ins Ghetto zu gähnen. Aus den Fenstern dringt der Geruch von nasser Wäsche, ebenfalls muffig. In der Ferne, aber sehr weit weg, kann man einen Hauch von Frühling erahnen.

»Besser dreckig als tot«, sagt Zappner, der Junge mit dem Bart.

Ich habe nicht mal die Zeit, den Kopf zu wenden und ihm zu sagen, dass er da nicht unrecht hat, als Embryo aus meinem Blickfeld verschwindet und sich in eine Prügelei zwischen zwei Jungs einmischt. Die beiden haben sich ineinander verkeilt, der eine hat einen zerrissenen Ärmel, der andere eine schlammbespritzte Hose. Er hat eine Hand in die Haare des Gegners gekrallt und zerrt daran in alle Richtungen. Der andere lässt sich das nicht gefallen und boxt ihm in die Rippen, das Ganze geschieht fast geräuschlos. Der eine hat eine lange Kartoffelschale in der Hand, die der andere ihm abzunehmen versucht. Embryo beobachtet die beiden, noch niemand hat etwas unternommen, um sie zu trennen. Er ergreift die Initiative, schubst den ersten Jungen gegen den zweiten, beide stürzen zu Boden. Dann quetscht er die Hand des ersten, der aufschreit und sie öffnet. Der zweite rappelt sich gerade wieder auf. Embryo packt die Kartoffelschale, geschmeidig wie ein Leopard rennt er davon und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Die beiden Streithähne starren sich an, überlegen, ob sie ihm hinterherrennen oder sich weiter prügeln sollen, denn ganz offensichtlich haben sie noch eine Rechnung miteinander offen. Sie beschließen, die Verfolgung aufzunehmen, haben aber zu viel Zeit verloren. Embryo ist wie vom Erdboden verschluckt und in der Masse der grauen Juden verschwunden.

»Das macht er immer«, sage ich.

Zappner weiß Bescheid: »Es klappt nicht immer.«

»Aber er hat mehr zu essen als wir«, antworte ich.

Am Ende der Straße, die zur Sudetenkaserne führt, erhebt sich eine der Bastionen, ein gewaltiger Wall aus Erde und Steinen. Eine Aneinanderreihung von Mauern. Abertausende von Ziegelsteinen wurden hier verbaut. Hier und da gibt es Türme und Laufgräben oben auf dem Festungswerk, um alles zu überwachen. Hundert Meter jenseits der Mauern liegt die wirkliche Welt, auf dieser Seite liegt nur das Ghetto, sonst nichts. Wir steigen auf einen Erdhügel und dann bis nach oben, nicht ganz, aber fast, denn von hier aus kann man über die Mauer in die Ebene und auf die Sümpfe direkt unter uns sehen. Wo früher der Wassergraben war, sammelt sich heute das Regenwasser, es kann nicht abfließen und wird faulig: eine zähflüssige Masse, so dick wie Kartoffelsuppe. Ein paar welke Pflanzen schwimmen darin herum, am Ufer wächst zerzaustes, dorniges Gestrüpp, ranken Kletterpflanzen und recken sich Gräser mit harten, scharfrandigen Blättern in die Höhe. Aber wenn man genauer hinschaut, wachsen dort sogar Blumen. Das Wasser bewegt sich hin und wieder, ganz langsam, als ob es atmen würde, um dann wieder stillzustehen.

Wir setzen uns ins flache Gras. Zappner streckt den Arm, pflückt eine gelbe Blume, deren Blätter noch nass vom Regen sind. Während er spricht, hält er die Blume fest umklammert.

»Hast du heute Morgen den toten Mann gesehen?«

Ich nicke und schaue weiter aufs Wasser.

»Es ging um Zigaretten.«

»Wenn er sie am Körper versteckt hatte, war das reiner Selbstmord.«

»Nein, er trug sie nicht bei sich. Sie haben irgendwo eine Schachtel Zigaretten gefunden, die ihm gehörte. Er hat mit einem Wachposten gestritten, kurz bevor er zur Arbeit ging. Die anderen Grauen, die dabei waren, haben nicht mitbekommen, worum es ging, und haben ihn nicht zurückgehalten. Der SS – Mann hatte die Pistole gezogen, wartete aber auf Verstärkung, er wusste nicht, was er machen sollte.«

Hinter Zappner ragt ein dunkelbrauner Ast hervor, der bis über seine Schulter reicht. Darauf sitzt ein Käfer, den ich noch nie gesehen habe. Ein missgestalteter kleiner Käfer mit Punkten.

»Der Wachposten hat den Mann gegen die Wand gedrängt und ihn angeschrien, er solle den Mund halten und warten. Aber der hat trotzdem angefangen zu schreien, er sei unschuldig, er wisse nicht, wem die Zigaretten gehörten. Der SS – Mann hat die Beherrschung verloren, ihn am Kragen gepackt, seinen Kopf gegen einen hervorstehenden Mauerstein geschlagen und ganz leise gefragt, wer die Zigaretten ins Ghetto geschmuggelt hatte. Aber der Graue hat nicht geantwortet. Dann ist ein anderer Wachmann gekommen.«

Der Käfer krabbelt den Ast rauf und runter, kann sich nicht entscheiden, ob er näher kommen oder Abstand halten soll. Zappners Schulter ist unbekanntes Terrain, er hat Angst.

»Während der erste SS – Mann den Verletzten noch festhielt, hat der zweite den Grauen etwas zugerufen, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Der Mann hat zu weinen begonnen und immer wieder beteuert, dass er nichts Unrechtes gemacht hat und dass er nicht einmal raucht.«

»Er hat ihnen gesagt, dass er nicht raucht?« Der kleine Käfer krabbelt zurück auf ein angefressenes, fast schwarzes Blatt, verschwindet dahinter, taucht wieder auf.

»In Momenten wie diesen sagst du alles Mögliche. Erinnerst du dich an den, der zwei Löffel in der Tasche hatte? Der SS – Mann schreit ihm also irgendwas ins Ohr, es ging wohl um seine Familie, um die des Mannes, meine ich. Sie waren in dem Zug, der vor drei Tagen abgefahren ist. Der Mann hebt den Kopf, völlig verzweifelt, von dem Schlag gegen die Mauer läuft ihm Blut übers Gesicht. Und er macht das, was er nicht hätte tun sollen.«

Der Käfer überrascht mich. Er schüttelt ein Bein, dann ein zweites. Er schaut nach oben, als wolle er prüfen, ob am Himmel ein Korridor für ihn frei ist. Dann entfaltet sich auf dem Rücken ein bunter Flügel, sofort danach ein zweiter. Er beginnt zu flattern, wie meine überraschten Augenlider, dann lösen sich die Beine von dem Blatt und einen Augenblick später verschwindet er zwischen den schlammverkrusteten Zweigen.

»Er hat ihm ins Gesicht gespuckt?«, frage ich.

»Ja, ekelhaft. Schwarze Spucke mit gelben Schlieren. Er hatte geraucht, das war klar. Und vor allem hatte er Zigaretten verkauft. Der Wachmann ist einen Schritt zurückgetreten, der andere war mit den Zwangsarbeitern beschäftigt. Durch die Schreie war ein dritter SS – Mann hinzugekommen, weißt du, einer von diesen Hundertprozentigen.«

»Die Hundertprozentigen sind die schlimmsten, sie verlieren keine Zeit mit Reden, sie lassen die Pistole für sich sprechen. Manchmal sagen sie sogar noch was. Hat er geschossen?«

»Hab ich doch schon gesagt. Als der erste Wachmann das Blut gesehen hat, musste er sich übergeben.«

»Der muss neu sein.«