Im Grafenschloss - Paul Heyse - E-Book

Im Grafenschloss E-Book

Paul Heyse

0,0

Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Paul Heyse

Im Grafenschloss

Novelle

Paul Heyse

Im Grafenschloss

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962811-61-7

null-papier.de/newsletter

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Im Grafenschloss

Ei­nen Som­mer lang hat­te ich auf der Uni­ver­si­tät häu­fi­gen und ver­trau­ten Ver­kehr mit ei­nem jun­gen Man­ne, des­sen see­len­vol­les Ge­sicht und edle Sit­ten auf je­den, der ihm nur flüch­tig nahe kam, einen ge­win­nen­den Ein­druck mach­ten. Ver­traut darf ich un­ser Ver­hält­nis wohl nen­nen, weil ich der Ein­zi­ge aus un­se­rem stu­den­ti­schen Krei­se war, den er auf­for­der­te, ihn zu be­su­chen, und der dann und wann sei­nen Be­such emp­fing. Aber von je­ner un­ge­bun­de­nen, über­schwäng­li­chen, nicht sel­ten zu­dring­li­chen Ver­brü­de­rung, wie sie un­ter der stu­die­ren­den Ju­gend her­ge­bracht ist, wa­ren wir, als wir uns im Herbst trenn­ten, fast so weit ent­fernt, wie auf je­nem ers­ten Spa­zier­gan­ge längs dem Rhei­nu­fer, wo uns der glei­che Weg und das glei­che Ent­zücken an der wun­der­vol­len Früh­lings­land­schaft zu­sam­men­führ­ten.

Selbst in sei­ne äu­ße­ren Ver­hält­nis­se hat­te er mich nur not­dürf­tig ein­ge­weiht. Ich wuss­te, dass er aus ei­nem al­ten gräf­li­chen Hau­se stamm­te, sei­ne Kna­ben­zeit im Schloss sei­nes Va­ters un­ter der Lei­tung ei­nes fran­zö­si­schen Hof­meis­ters ver­lebt hat­te, dann mit die­sem auf Rei­sen ge­schickt und end­lich auf sei­nen aus­drück­li­chen Wunsch zur Uni­ver­si­tät ge­gan­gen war. Hier erst hat­te er klar er­kannt, was ihm bis­her nur als eine dunkle Ah­nung nach­ge­gan­gen war, dass es ihm an al­ler re­gel­mä­ßi­gen Bil­dung fehl­te. Nun schloss er sich Jah­re lang mit Bü­chern und Pri­vat­leh­rern ein, ließ drau­ßen das wil­de Bur­schen­le­ben vor­über­brau­sen, ohne von sei­ner Ar­beit auf­zu­se­hen, und war, da ich ihn ken­nen lern­te, so weit ge­die­hen, dass er mit der Po­li­tik des Ari­sto­te­les auf­stand und mit ei­nem Chor­ge­sang des Eu­ri­pi­des zu Bet­te ging.

Kein Hauch von pe­dan­ti­schem No­ti­zen­stolz, kein An­flug von un­frucht­ba­rem Stau­be be­schwer­te sei­nen Geist nach die­sen ernst an­ge­spann­ten Lehr­jah­ren. So vie­le flei­ßi­ge Leu­te ar­bei­ten, um nur nicht le­ben zu müs­sen. Er er­leb­te al­les, was er ar­bei­te­te, denn er ar­bei­te­te im­mer aus dem Vol­len, mit al­len Or­ga­nen zu­gleich. Ei­nen geis­ti­gen Ge­winn, der nicht zu­gleich sei­nem Cha­rak­ter zu Gute kam und mit den Be­dürf­nis­sen sei­nes Ge­müts im Wi­der­spruch stand, kann­te er nicht, er­kann­te er nicht an. In die­sem Sin­ne war er viel­leicht die ideals­te Na­tur, die mir je be­geg­net ist, wenn das Wort nicht in dem plat­ten Sin­ne miss­braucht wird, wo es eine wei­che Schön­se­lig­keit, eine Ab­kehr von der kal­ten und un­sanf­ten Wirk­lich­keit der Din­ge be­deu­tet, son­dern den frei­lich sel­te­ne­ren Trieb, al­ler en­gen, fach­mä­ßi­gen Abrich­tung, selbst um den Preis glän­zen­der Er­fol­ge, aus­zu­wei­chen und ein Mensch­heits-Ide­al mit fes­tem Mut und be­schei­de­ner Hoff­nung im Auge zu be­hal­ten.

So war es auch be­greif­lich, dass die ge­wöhn­li­chen stu­den­ti­schen Ver­gnü­gun­gen un­se­ren jun­gen Ein­sied­ler we­nig lock­ten. Man leg­te es ihm als ari­sto­kra­ti­schen Hoch­mut aus, von dem er völ­lig frei war. Al­ler­dings hat­te sei­ne Er­zie­hung einen Wi­der­wil­len ge­gen das Rohe, Un­säu­ber­li­che und Maß­lo­se in ihm be­fes­tigt. Aber das Be­dürf­nis äu­ße­rer Rein­lich­keit war ihm schon an­ge­bo­ren, eben so sehr, wie ein fast weib­li­ches Zart­ge­fühl in al­len sitt­li­chen Din­gen. Ich habe nie eine grö­ße­re Wil­lens­stär­ke, eine männ­li­che­re Ener­gie des Geis­tes mit so viel mäd­chen­haf­ter Scheu, von Her­zens­an­ge­le­gen­hei­ten zu re­den, ver­ei­nigt ge­fun­den. Da­rum mied er die lau­ten Ge­la­ge, in de­nen zwi­schen Wein­dunst und Ta­baks­qualm über Va­ter­land, Frei­heit, Lie­be und Freund­schaft, Gott und Uns­terb­lich­keit mit glei­chem brei­ten Be­ha­gen, wie über den letz­ten Ball oder den Schnitt ei­ner neu­en Korps­müt­ze ver­han­delt wur­de. Ja, auch un­ter vier Au­gen, wo er über ein wis­sen­schaft­li­ches Pro­blem aufs be­red­tes­te sich er­ge­ben konn­te, ge­riet er nur sel­ten auf Fra­gen, über die nur die ge­heims­te, per­sön­lichs­te Na­tur im Men­schen ent­schei­det. Po­li­tik, His­to­rie, Staats­wis­sen­schaft und die Al­ten trieb er mit Lei­den­schaft; da wur­de er in der De­bat­te oft so warm und über­strö­mend, als sprä­che er zu ei­nem gan­zen Volk, das er mit fort­zu­rei­ßen trach­te­te. Die täg­li­chen Din­ge be­rühr­te er kaum. Von sei­ner Fa­mi­lie habe ich ihn nie­mals spre­chen hö­ren.

Nur ein­mal nann­te er sei­nen Va­ter. Ich be­such­te ihn ei­nes Abends, um ihn zu ei­ner Was­ser­fahrt auf­zu­for­dern, wie er sie sehr lieb­te, wo wir im klei­nen Kahn uns zu ei­ner Wein­schen­ke eine Stun­de un­ter­halb der Stadt hin­un­ter ru­der­ten, um dann nach ei­nem ein­fa­chen Mahl un­term Ster­nen­him­mel zu­rück­zu­wan­dern. Ich fand ihn, da er eben sei­ne Fe­der weg­ge­wor­fen hat­te und mit dem Ent­schlus­se rang, sich zu ei­ner Ge­sell­schaft an­zu­klei­den. Be­kla­gen Sie mich! rief er mir ent­ge­gen (zum »Du« ha­ben wir es nie ge­bracht). Se­hen Sie das pracht­vol­le Aben­d­rot und stel­len Sie sich vor, dass ich ihm den Rücken wen­den muss, um mich an der Er­ha­ben­heit ge­stirn­ter Fracks zu wei­den.

Da­bei nann­te er mir ei­nes der äl­tes­ten ad­li­gen Häu­ser der Stadt, wo zu Ehren ei­nes durch­rei­sen­den Ge­sand­ten eine Soi­ree ver­an­stal­tet war.

Und Sie müs­sen? frag­te ich mit auf­rich­ti­gem Mit­ge­fühl.

Ich muss wohl, seufz­te er. Mein Va­ter, der mit Ge­walt einen Di­plo­ma­ten aus mir ma­chen will, wür­de sehr un­ge­hal­ten sein, wenn ich nach Hau­se käme und wüss­te nicht zu sa­gen, ob die Sou­pers des Barons N., an den er mich an­ge­le­gent­lich emp­foh­len, noch im­mer ih­ren eu­ro­päi­schen Ruf recht­fer­ti­gen. Da­rum habe ich mich sträf­li­cher Wei­se zu we­nig ge­küm­mert und muss nun zu gu­ter Letzt die Lücken in mei­nem Cur­sus aus­fül­len.

Er sah mich lä­cheln und setz­te schnell hin­zu: Sie müs­sen wis­sen, mein Va­ter denkt über die ga­lo­nier­te Nich­tig­keit, die in den meis­ten die­ser Krei­se sich spreizt, wo mög­lich noch un­höf­li­cher als ich, wenn er auch An­de­res dort ver­misst, als was mir zu wün­schen üb­rig bleibt. Er ist ein Mann der al­ten Schu­le, ein Di­plo­mat des Em­pi­re; er hat die Welt in Flam­men ste­hen se­hen und kann die dä­mo­ni­sche Be­leuch­tung nicht ver­ges­sen, in der da­mals Gut und Böse, schön und Häss­lich, Hoch und Nied­rig an ihm vor­über­zog. Jetzt ist Al­les fried­lich, aber grau, zahm, aber schläf­rig – wie es ihm vor­kommt. Aber gleich­viel, es ist im­mer noch eine Welt, und wer sie in sei­nem Krei­se be­herr­schen will, muss sie ken­nen. Er hat mir nicht viel gute Leh­ren mit auf den Weg zur Uni­ver­si­tät ge­ge­ben, aber die eine mir in hun­dert Va­ria­tio­nen ein­ge­schärft: Lies mehr in Men­schen, als in Bü­chern. Als ich in dei­nen Jah­ren war, pfleg­te er zu sa­gen, spiel­ten die Bü­cher eine viel be­schei­de­nere Rol­le; ich kann­te man­chen ge­nia­len Mann, der seit sei­nem Ein­tritt in die Ge­sell­schaft nie et­was An­de­res las, als den neues­ten Ro­man und die Kriegs-Bulle­tins, und nichts schrieb als De­pe­schen und Lie­bes­brie­fe. De­sto mehr Zeit blieb ihm zum Han­deln, wo es nö­tig war, und zum Den­ken – und wo wäre das nicht nö­tig? Aber ler­nen, aus Bü­chern ler­nen – das fiel Nie­mand im Erns­te ein; man wuss­te Al­les, es lag in der Luft, und wo ihr heu­te mit eu­rem La­tein bald zu Ende seid, reich­ten wir mit un­se­rem Fran­zö­sisch noch eine gute Stre­cke. – Ich habe mir das ge­sagt sein las­sen und im­mer wie­der einen An­lauf ge­nom­men, mich in die­se Men­schen hin­ein­zu­le­sen. Aber schon nach dem ers­ten Blät­tern sah ich ge­wöhn­lich, dass ihre Ti­tel das ein­zig Wich­ti­ge an ih­nen sind. Ich muss ent­we­der ein schlech­ter Le­ser sein – und ein »ge­neig­ter« bin ich frei­lich nicht – oder die vor­neh­me Welt der neu­en Schu­le lebt wirk­lich in ei­nem geist­lo­se­ren Stil. – Der Wa­gen fuhr vor, und ich ging, denn ich hat­te schon öf­ter be­merkt, dass es ihn ver­le­gen mach­te, wenn Je­mand bei sei­nem An­klei­den zu­ge­gen war. Als ich her­nach zu­fäl­lig an dem Hau­se vor­bei­schlen­der­te, wo das glän­zen­de Fest die gan­ze Ari­sto­kra­tie ver­sam­mel­te, sah ich ihn eben aus­stei­gen, und wir wech­sel­ten einen kur­z­en, halb iro­ni­schen Blick. Ich freu­te mich an der ho­hen, kräf­ti­gen Ge­stalt und der wahr­haft rit­ter­li­chen Hal­tung mei­nes Freun­des, als er lang­sam die mit Tep­pi­chen be­deck­ten Stu­fen hin­auf­stieg. Auch wuss­te ich von mehr als Ei­ner Sei­te, dass er den Frau­en ge­fähr­lich war; ja man er­zähl­te von ei­ner vor­neh­men Eng­län­de­rin, die nach ver­schie­de­nen, sehr un­zwei­deu­ti­gen Ver­su­chen, ihn zu ge­win­nen, end­lich in hel­ler Wut und Verzweif­lung ab­ge­reist sei und zu­vor noch ei­nem Pa­pa­gei den Hals um­ge­dreht habe, der wo­chen­lang bei Tag und bei Nacht den Na­men des sprö­den jun­gen Gra­fen zum Fens­ter hin­aus zu schrei­en pfleg­te.

Mir war es nie ge­lun­gen, et­was Nä­he­res von die­sem oder ei­nem an­de­ren Aben­teu­er zu er­fah­ren; denn über­haupt ging er al­lem Ge­spräch über Frau­en ge­flis­sent­lich aus dem Wege, ob­wohl er mit kei­nem Wor­te je den Ver­dacht er­weck­te, als den­ke er ge­ring von ih­nen, oder tra­ge etwa eine Wun­de durchs Le­ben, die er neu auf­zu­rei­ßen fürch­te. Ich leg­te mir das nach sei­ner gan­zen Sin­nes­art so zu­recht, dass er, sei­nen erns­ten Zie­len nach­stre­bend, für ein leicht­her­zi­ges Ge­tän­del kei­ne Zeit üb­rig habe und von ei­ner tiefe­ren Nei­gung noch nicht be­rührt wor­den sei. Sei­ne Mut­ter war bald nach der Ge­burt die­ses ers­ten Kin­des ge­stor­ben. Zu­wei­len emp­fing er Brie­fe ei­ner weib­li­chen Hand und sag­te mir, dass sie von sei­ner al­ten Wär­te­rin kämen, die Mut­ter­stel­le bei ihm ver­tre­ten. Er schi­en ihr sehr an­zu­hän­gen, ver­weil­te aber auch bei ihr nicht lan­ge, da ihm im­mer Ge­sprä­che über sei­ne und mei­ne Stu­di­en auf der See­le brann­ten.

Er war mir um meh­re­re Jah­re vor­aus und ging, als wir uns im Herbst trenn­ten, nach Ber­lin, dort sein di­plo­ma­ti­sches Ex­amen zu be­ste­hen. Wir sag­ten uns herz­lich, aber ohne Hoff­nung ei­nes fort­dau­ern­den Ver­kehrs, Le­be­wohl. Bei­de wuss­ten wir, dass es un­mög­lich sein wür­de, was wir bis­her aus­ge­tauscht, auch in Brie­fen mit ein­an­der zu tei­len. Wir wa­ren jung; wir schie­den mit dem si­che­ren Ver­trau­en, dass uns das Le­ben un­fehl­bar wie­der zu­sam­men­füh­ren wür­de.

Aber vie­le Jah­re hin­durch war er bis auf den Na­men für mich ver­schol­len. Das Letz­te, was ich über ihn er­fuhr, las ich in der Zei­tung, dass ein Graf Ernst … zum Ge­sandt­schafts-Se­kre­tär in Stock­holm er­nannt wor­den sei. Dann ver­ging wie­der eine ge­rau­me Zeit ohne die ge­rings­te Kun­de von ihm, und ich be­ken­ne, dass sein Bild in mei­nem An­den­ken ziem­lich erb­lasst war, als ich, auf ei­ner Fuß­wan­de­rung be­grif­fen, un­ver­mu­tet den Na­men sei­nes vä­ter­li­chen Schlos­ses auf ei­nem Weg­wei­ser las, der in einen ver­wach­se­nen Hohl­weg hin­auf­deu­te­te, von mei­ner Stra­ße am Ran­de des Ge­bir­ges im rech­ten Win­kel ab­len­kend. Ich stand plötz­lich still, und wie durch den Schlag ei­nes Zau­ber­sta­bes war die Ge­gend um mich her ver­wan­delt. Der Rhein rausch­te zu mei­nen Fü­ßen, und ich sah die edle Ge­stalt des jun­gen Man­nes wie da­mals da­her wan­deln, den Hut in der Hand, das vol­le, et­was ins Röt­li­che spie­len­de Haar lei­se vom Ufer­win­de be­wegt, die schö­nen, sin­ni­gen Au­gen über Strom und Ge­bir­ge hin­stau­nend, bis mein Gruß ihn aus sei­nen Ge­dan­ken los­riss. Nur einen Mo­ment dau­er­te die­ses Spiel ei­ner vi­sio­nären Erin­ne­rung. Dann aber fühl­te ich ein un­be­zwing­li­ches Ver­lan­gen, der Wirk­lich­keit selbst wie­der ins Ge­sicht zu se­hen und das so lan­ge Ver­säum­te recht aus dem Vol­len nach­zu­ho­len. Es war früh am Nach­mit­tag. Ich hoff­te den Weg nicht zu feh­len und zwei­fel­te nicht im Ge­rings­ten, dass ich den Freund in die­ser Herbst­zeit auf dem Schlos­se an­tref­fen wür­de, da er ein lei­den­schaft­li­cher Jä­ger war und mir von den Bäu­men, un­ter de­nen er auf­ge­wach­sen, mehr als von den Men­schen er­zählt hat­te.

Wohl eine Stun­de war ich durch die Schlucht hin­auf ge­wan­dert, als es mir doch selt­sam auf­fiel, dass die Stra­ße völ­lig ver­wahr­lost und of­fen­bar über Jahr und Tag von Wa­gen nicht mehr pas­siert wor­den war. In tie­fen Ris­sen mo­der­te das Laub vom ver­gan­ge­nen Herbst, hie und da traf ich auf Fels­stücke und mor­sche Äste, die ein Win­ter­sturm vom Ran­de des Hohl­wegs hin­ab­ge­schleu­dert hat­te, und nur die Spur von Men­schentrit­ten ließ sich in dem zä­hen Bo­den er­ken­nen. Ich be­schwich­tig­te mei­ne Zwei­fel mit dem Ge­dan­ken, dass wohl längst ein min­der ab­schüs­si­ger Pass vom Schloss nach der Ebe­ne hin­aus ge­bahnt wor­den sei, ob­wohl ich frei­lich beim Ein­gang in die Schlucht ge­se­hen hat­te, dass kein ge­ra­de­rer Weg nach dem na­hen Fa­brik­städt­chen füh­ren konn­te. Jetzt aber, auf der Höhe des Pas­ses an­ge­langt, stand ich wirk­lich rat­los, denn hier oben lie­fen ein halb Dut­zend gleich­mä­ßig ver­wil­der­ter Wege zu­sam­men. Ich klomm eine alte, breitäs­ti­ge Bu­che hin­an und über­blick­te nun erst die Ge­gend. Ein tiefer und sehr re­gel­mä­ßig aus­ge­run­de­ter Tal­kes­sel lag mir zu Fü­ßen, den in pracht­vol­len, dun­kel­grü­nen Wo­gen die dich­tes­te Bu­chen­wal­dung wie ein tiefer See aus­füll­te. Un­ten, ganz in der Mit­te, er­ho­ben sich ei­ni­ge Sin­nen und Schorn­stei­ne des Schlos­ses, über des­sen Dä­chern die Wild­nis zu­sam­menschlug. Es hat­te et­was Mär­chen­haf­tes in der kla­ren Herbst-Abend­son­ne, die Wet­ter­häh­ne auf den klei­nen Türm­chen blit­zen zu se­hen, wie man von ver­sun­ke­nen Zau­ber­pa­läs­ten er­zählt, de­ren letz­te Zin­nen bei kla­rer Luft aus dem Mee­res­grun­de auf­tau­chen. Dazu er­scholl nir­gends ein Laut des Men­schen­le­bens. Die Spech­te schei­te­ten ein­tö­nig im Wald, ein sorg­lo­ses Reh lief an mir vor­über und sah mich mehr ver­wun­dert als er­schro­cken an, und in al­len Äs­ten wim­mel­te es von dreis­ten Eich­hörn­chen, die mit den Hil­fen der Buch­e­ckern nach dem Ein­dring­ling ziel­ten.

Ich war drauf und dran, mei­nen Vor­satz auf­zu­ge­ben, wenn nicht bei schär­fe­rem Hin­bli­cken ein dün­ner Rauch, der über dem ver­wun­sche­nen Schloss auf­stieg, mir an­ge­zeigt hät­te, dass es nicht aus­schließ­lich Ge­s­pens­ter be­her­ber­gen konn­te. Dass der Graf sich lan­ge hier nicht hat­te bli­cken las­sen, konn­te ich aus dem ver­wil­der­ten Forst mit Si­cher­heit schlie­ßen. Aber ir­gend ein Schloss­vogt oder Wald­hü­ter schi­en drun­ten zu hau­sen. Und so hoff­te ich we­nigs­tens Nach­rich­ten von Le­ben und Er­ge­hen mei­nes Ju­gend­freun­des zu ge­win­nen und eine Nacht an dem Orte zu schla­fen, an dem sein gan­zes Herz ge­han­gen hat­te.

Aufs Ge­ra­te­wohl schlug ich einen Pfad tal­ab­wärts ein und ver­sank bald in der wun­der­ba­ren Wald­nacht, die je über mei­nem Haup­te ge­rauscht hat.

Aber in der Wald­nacht kom­men Träu­me, und sie hat­ten mich bald so fest ein­ge­spon­nen, dass ich völ­lig ver­gaß, wo ich war und wo­hin ich woll­te, und blind­lings die Füße für mein Fort­kom­men sor­gen ließ. Die schrit­ten gleich­mü­tig aus, so lan­ge, bis sie wohl still ste­hen muss­ten, an ei­nem brei­ten Bach, der dun­kel zwi­schen den Bu­chen hin­floss. Da­bei war aber kei­ne Spur des We­ges mehr zu ent­de­cken. Die Bäu­me stan­den dicht und ver­schränk­ten ihre Zwei­ge mit dem zä­hen Un­ter­holz zu ei­ner un­durch­dring­li­chen Mau­er. Ich kehr­te so­fort um und schritt den Ab­hang wie­der hin­auf, bis mich ein Weg zur Rech­ten ab­lock­te. Den ver­folg­te ich ge­trost, such­te dann wie­der einen Pfad zu Tal, ging zum zwei­ten Mal in die Irre und streif­te so stun­den­lang in der gan­zen Run­de des Tal­rings um­her, ohne auch nur einen Stein des Schlos­ses durch die Wild­nis schim­mern zu se­hen. Der Mond glänz­te be­reits hin­ter den Bu­chen­wip­feln und ich mach­te mich dar­auf ge­fasst, in ei­ner luf­ti­gen Her­ber­ge über­nach­ten zu müs­sen.

Auf ein­mal aber, da ich mich’s am we­nigs­ten ver­sah, öff­ne­te sich das Ge­hölz, und wie auf ei­ner In­sel mit­ten im See von Grün stand das graue, alte Schloss­ge­bäu­de plump und groß mit un­zäh­li­gen blin­den Fens­tern, ohne jede Spur, dass Men­schen dar­in wohn­ten, vor mir da. Eine brei­te stei­ner­ne Brücke lief über den trock­nen Schloss­gra­ben in einen dunklen Hof hin­ein, um wel­chen die drei vier­e­cki­gen, schmuck­lo­sen Flü­gel des Bau­es schwer­fäl­lig auf­stie­gen. Kein Er­ker, kein Bal­kon be­leb­te die ein­för­mi­gen Mau­ern, nur ein ge­wal­ti­ges in Stein ge­haue­nes Wap­pen über dem Haupt­por­tal, des­sen he­ral­di­sche Zei­chen ich vom Sie­gel­rin­ge mei­nes Ju­gend­freun­des noch in gu­ter Erin­ne­rung hat­te. Oben ums Dach sah das Schloss lus­ti­ger und bun­ter aus. Die Kup­fer­plat­ten am Gie­bel glom­men sanft im Mond­licht, und über die zahl­rei­chen Türm­chen der Schorn­stei­ne mit ih­ren Fah­nen­stan­gen und Wet­ter­häh­nen war es wie Sil­ber ver­spritzt. Ein Licht brann­te nir­gends, kein Fes­ter sah ich der ge­lin­den Abend­küh­le ge­öff­net, und auch der Rauch überm Dach, den ich von oben be­ob­ach­tet hat­te, war ver­welkt. Als ich die Brücke be­trat und die wil­de Ve­ge­ta­ti­on, die aus dem Gra­ben her­au­frank­te, dazu den Wald be­trach­te­te, der bis dicht an den Burg­frie­den vor­ge­drun­gen war, konn­te ich mich des Ge­dan­kens nicht er­weh­ren, dass über fünf­zig Jah­re all die­ses Men­schen­werk von der wu­chern­den Na­tur­kraft ver­schlun­gen und durch­drun­gen sein wür­de, dass die ho­hen Bu­chen ihre Zwei­ge in die ver­las­se­nen Säle hin­ein­stre­cken, vom Hofe Be­sitz er­grei­fen und die Wur­zeln in die Kel­ler­ver­lie­se hin­ab­sen­den wür­den, bis Stein von Stein wei­chen müss­te und der Wald wie­der Al­lein­herr­scher sein dürf­te.