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Florian und Claudia ziehen Anfang der 2000er-Jahre in das Grüne Haus, um sich ihren Traum vom Wohnen und Arbeiten in einer beliebten Großstadt zu verwirklichen. Das aufstrebende Viertel zieht auch den ehemaligen Manager Karl an, der auf der Suche nach einer neuen Betätigungsmöglichkeit ist. Paul, der älteste Bewohner, kümmert sich um das Grüne Haus und hängt alten Erinnerungen nach. Gilla ist die Eigentümerin und probiert neue Wege aus, um sich durch Musik, Sprache und Stimme auszudrücken. Und dann ist da noch ein ehemaliger Bewohner, dessen Anwesenheit das Grüne Haus nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Bewohner*innen erleben die Veränderungen und das Nebeneinander von Alt und Neu im Grünen Haus und in ihrem Viertel auf unterschiedliche Art und Weise. Eine Geschichte über Gentrifizierung, Entfremdung und Sich-wiederfinden.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2020
Winter
Florian und Claudia
Paul
Gilla
Karl
Frühling
Florian und Claudia
Paul
Gilla
Karl
Sommer
Florian und Claudia
Paul
Gilla
Karl
Herbst
Florian und Claudia
Paul
Gilla
Karl
Ich bin Fotograf. Ich sehe die Welt in Bildern, betrachte sie in Schnappschüssen, in ausschnitthaften Darstellungen der Realität. Ich liebe Kontraste. Weiß und schwarz, hell und dunkel, dazwischen gibt es für mich nichts, keine Grauabstufungen, keine Zwischentöne. Diese beiden gegensätzlichen Grundzustände, die alles absorbieren, alles verschlucken, das Licht und die Farben, geben mir Sicherheit. Ich kann die Welt und die Dinge darin einordnen, verstehen.
Auch meine Kleidung ist komplett schwarz und weiß, Sweatshirt, T-Shirt, Jeans und Socken, schwarz, die Turnschuhe weiß. Ich habe sogar überlegt, die Haare schwarz zu färben, habe mich aber dagegen entschieden, weil die gängigen Haartönungsmittel extrem allergiegefährdend und schädlich sind. Aber wenn ich meine braunen Haare genügend stark mit Gel einschmiere, glänzen sie dunkel und bedecken meinen Kopf schützend wie einen Helm. Ich muss daran denken, Claudia, wie du mich als Comic-Figur bezeichnet hast, weil meine Haare so kräftig sind, dass die langen Ponyfransen fast schirmartig nach vorne abstehen. Ich glaube, du meintest Spirou. Aber wenn ich Spirou bin, dann bist du Fantasio. Fragt sich nur, wer das Marsupilami ist …
Weiß und schwarz sind Farbbegriffe, die überall auf der Welt vorkommen. Es sind die ersten Wörter, die die Menschen verwendeten, egal in welcher Sprache sie sich verständigten. Für alle anderen Farben und für die Grauschattierungen gibt es unterschiedliche Bezeichnungen. Aber die Begriffe für weiß und schwarz sind in jeder Sprache gleich.
Mein eigenes Fotoatelier werde ich vollständig in Weiß und Schwarz einrichten. Weiß getünchte Wände, funktionale weiße Schränke und Tische, weiß gestrichene Fensterrahmen und Türen, schwarze Stühle, ein schwarz-weiß-karierter Fußboden, schwarze Kameras und Apparaturen. Die Models werden vor dem hell ausgeleuchteten weißen Wandschirm in meinem Atelier posieren, ich werde sie kaum unterscheiden können, sie sind blond, brünett oder rothaarig und werden im schicken Abendkleid, in lockerer Freizeitbekleidung oder in Dessous für Sekt-, Limo- oder Wodka-Reklame auftreten. Die Motive und Themen variieren nur minimal. Ihre Abbilder, ihre Umrisse, ihre konturierten Formen heben sich scharf von dem weißen Hintergrund ab.
Ich stelle mir die Aussicht vor aus meinem künftigen Atelier, den Blick aus den hohen Industriefenstern, die die gesamte Außenwand der ehemaligen Gewerberäume einnehmen. Sie zeigen immer denselben Bildausschnitt, die Rückseite des Altbaus, in dem wir wohnen und arbeiten werden, den Innenhof mit dem alten Schuppen, in dem Paul Seidel, der Hausmeister, seine Werkzeuge aufbewahrt und sortiert, die Fläche auf der rechten Seite abgegrenzt von der Mauer zum Nachbargrundstück, links der überdachte Fahrradabstellplatz.
Jedes Mal, wenn ich zwinkere, habe ich ein neues Bild vor Augen. Ein Bild, das scheinbar dieselbe Einstellung zeigt, sich aber kaum wahrnehmbar von dem vorhergehenden unterscheidet. So wie die Einzelaufnahmen der Werbefotos für die Food-Designer, die ich in Martins Atelier mache und die ich am Computer betrachte. Lasse ich die Fotos nacheinander durchlaufen, so ist es genau dieser Effekt: blinzel, klick, blinzel, klick, jedes Mal verändert sich nur eine Nuance des Gesamtbildes, der Gesamtdarstellung, ein Detail wird schwungvoller, eine Komponente wendet sich zur Seite, ein Lebensmittel biegt sich schräger, wirkt angespannter oder verdrehter. Wie in einem Film, der in seine Einzelphasen zerlegt wird.
Dazwischen schiebt sich immer wieder der in sich gekehrte Blick des alten Paul Seidel, die grauen Augen in dem von Sonne und Wind gegerbten Gesicht starr und glanzlos. Der schmale Mund verschlossen. Blinzel, klick.
Du musst mit mir zum Grünen Haus kommen, Claudia, Claude, Claudine, meine Klaue. Martin hat seine Beziehungen spielen lassen. Er kennt Karl Decker, der selbst erst vor kurzem ins Erdgeschoss eingezogen ist und die ehemaligen Praxisräume übernommen hat. Er hat erzählt, die Dachgeschosswohnung stehe seit über einem Jahr leer.
Die Vermieterin des Grünen Hauses heißt Gilla Witt und sie besitzt auch die Apotheke auf der Hauptstraße. Ich habe mich in der Apotheke vorgestellt, nachdem Karl bei ihr vorgesprochen hatte. Das heißt, er hat auch mit Paul Seidel geredet, dem Hausmeister. Und es hat geklappt. Wir haben einen Besichtigungstermin im Grünen Haus!
Ein Glückstreffer für uns, die Miete wird nicht allzu hoch sein, wenn die Eigentümerin selbst vermietet und wenn keine Verwaltungsgesellschaft zwischengeschaltet ist. Ohne Beziehungen kann man hier in der Gegend keine Wohnung finden. Dieses Stadtviertel ist absolut angesagt, die Nachfrage enorm hoch.
Es wird dir gefallen, Claudine. Gemütliche Läden und Cafés, Burger-Restaurants, kleine Boutiquen von Modedesignerinnen, Künstlerateliers und Galerien. Martin wohnt auch in der Nähe, er hat einen kleinen Garten und über den Hinterhof gelangt man in das Fotoatelier. Wohnen und Arbeiten. Hier in Unterbilk gibt es viele solcher Projekte.
Und es ist nicht weit bis zum Hafen. Man kann den Rhein entlang schlendern bis in die Altstadt. Jede Menge Kneipen und angesagte Szene-Bars. Wir werden Spaß haben.
Du bist ein Träumer, Flo. Du sprichst davon, in dem Grünen Haus ein eigenes Atelier einzurichten, aber es ist nur die Dachgeschosswohnung, die frei ist. Die ehemaligen Praxisräume im Erdgeschoss hat vor kurzem Karl gemietet, wie du mir berichtet hast.
Wenn du alles in schwarz-weiß wahrnimmst, so sehe ich als Juristin auch die Grauschattierungen. Es gibt nicht nur weiß und schwarz. Es gibt so vieles dazwischen, das du nicht erkennst, obwohl du es sehen müsstest, weil du ein Fotograf bist. Aber wahrscheinlich ist es so, dass du nur auf diese Weise die vielen Eindrücke, die ungefiltert auf dich einströmen, ausschalten und den Fokus auf das richten kannst, was du wirklich sehen willst. Du musst deine Wahrnehmungen auf die klaren Abgrenzungen reduzieren.
Ich frage mich bloß, warum es ausgerechnet ein Altbau sein soll. Und noch dazu im Dachgeschoss. Ist die Wohnung renoviert? Und weshalb steht sie so lange leer? Unter dem Dach zu wohnen, hat Nachteile: Im Sommer wird es heiß wie in einem Backofen und im Winter friert man, weil es zu kalt wird. Eine Dachgeschosswohnung hat keinen Balkon, keine hohen Wände, keine Stuckdecken und ist schlecht isoliert.
Aber ich schaue sie mir gerne mit dir zusammen an. Wenn ich dich richtig verstanden habe, Florian, haben wir am Samstag einen Besichtigungstermin im Grünen Haus. Ich werde diesmal versuchen, schon am Freitagabend anzureisen. Der Zug kommt um 22.30 Uhr in Düsseldorf an. Dann müsste ich kurz vor 19 Uhr in Freiburg losfahren. Mal sehen, ob ich es schaffe.
Vielleicht werde ich ein paar Tage länger in Düsseldorf bleiben, nicht nur über das Wochenende. Denn ich will endlich die Bewerbungsunterlagen für den Referendardienst einreichen und ich muss mich in mehreren Anwaltskanzleien vorstellen. Da ich meine Studienzeit in Baden-Württemberg verbracht habe und nicht über die nötigen Kontakte verfüge, habe ich es schwerer als andere angehende Rechtsreferendare. Wie du schon sagtest, in dieser Stadt spielen Beziehungen eine wichtige Rolle.
Wenn ich einen festen Nebenjob in einer Kanzlei finde, kann ich dort berufsvorbereitend arbeiten und später auch meine Pflichtstation verbringen, die immerhin zehn Monate dauert, und außerdem noch die Wahlstation von fünf Monaten. Dafür ist es aber von enormer Bedeutung, dass ich eine renommierte Kanzlei finde, die mich nach dem zweiten Examen als Jung-Anwältin übernehmen wird, natürlich mit Aussicht auf spätere Beteiligung.
Was sagst du, ich soll die ganze Sache etwas gelassener angehen? Meine berufliche Zukunft hängt davon ab, Florian.
Mich wundert, dass die Justizbehörden in NRW die Referendare unabhängig davon einstellen, wie ihr Studienabschluss war. Die Leistung spielt also überhaupt keine Rolle. Auch ist es für das Referendariat egal, ob man selbst aus NRW kommt oder nicht und wo man studiert hat. Immerhin kann ich dadurch problemlos wieder von Baden-Württemberg nach NRW wechseln und muss meine Ausbildung nicht im Badener Land fortsetzen. Obwohl ich die Ausflüge in den Schwarzwald und die Abstecher nach Basel vermissen werde.
Ich hoffe bloß, dass sie mich nicht in einen anderen Landgerichtsbezirk schicken, nach Duisburg oder nach Essen. Deshalb ist es schon wichtig, dass es mit der Wohnung klappt. Wenn ich in Düsseldorf wohne, sind meine Chancen auf einen Ausbildungsplatz hier größer.
Im Grunde hätte ich mir damals den Umzug von Münster nach Freiburg sparen können und wir hätten nicht zwei Jahre lang eine Wochenendbeziehung führen müssen. Ich glaubte, die Ausbildung in Baden-Württemberg zählt, neben Bayern, als die am meisten anerkannte, weil sie dort hohe Ansprüche stellen. Nun lese ich im Uni-Ranking, dass die Universität Köln an dritter Stelle steht. Ich hätte also genau so gut auch in NRW bleiben können. Dann wären wir näher beieinander gewesen. Dass du nicht von Essen weg wolltest, konnte und kann ich immer noch sehr gut nachvollziehen. Schließlich ist die Folkwang Hochschule eine berühmte Akademie, wenn nicht gar die beste in Deutschland, in der die Fototechnik, das Bild- und Mediendesign und die Kunst vermittelt werden. Ich weiß, du hast es mir oft genug erklärt.
Nun gut, es bringt nichts zu lamentieren. Ich wünsche mir ebenso wie du, dass wir endlich gemeinsam in derselben Stadt leben können. Ich rechne dir hoch an, dass du dir für den Berufsstart ein Fotoatelier in Düsseldorf ausgesucht hast. Auch wenn dir Food-Fotografie nicht so sehr liegt und du lieber Menschen porträtierst oder künstlerisch tätig bist. Vielleicht kannst du dein Schwarz-weiß-Projekt aber auf andere Weise umsetzen, unabhängig von der Arbeit in Martins Fotostudio.
Und Düsseldorf ist eine tolle Stadt. Aber muss es eine Dachgeschosswohnung in einem Altbau sein?
Von: [email protected]
Betreff: Nach der Wohnungsbesichtigung
Ich habe mich gleich in die Wohnung verliebt, liebste Claudine. Weiß gestrichene Wände und Decken, Flur und Küche mit schwarz-weißem Boden ausgelegt und das Badezimmer mit weißen Fliesen gekachelt, die von einem schwarzen Rauten-Muster unterbrochen werden. Lass uns den Mietvertrag unterschreiben und die Entscheidung nicht länger hinauszögern. Du hast völlig recht, das Dachgeschoss wurde offensichtlich erst nachträglich, wahrscheinlich in den 1970er-Jahren, ausgebaut und es unterscheidet sich von den übrigen Stockwerken dadurch, dass die Wände niedriger und nicht mit Stuck verziert sind. Und die in die Dachgauben der schrägen Außenwände eingesetzten Fenster sind nur in einfache Kunststoffrahmen gefasst. Aber wir können die Mansarde neben der eigentlichen Wohnung mitbenutzen und du kannst dir darin ein Arbeitszimmer einrichten, um dort deine Arbeiten für die Rechtsanwaltskanzlei zu erledigen und für das Referendariat zu lernen.
Wie wir gesehen haben, ist die Mansarde leider noch nicht vollständig leer geräumt, aber das könnte ich mit Paul Seidel zusammen erledigen, so wie Gilla Witt es uns bei der Besichtigung vorgeschlagen hat.
Lass uns die Wohnung nehmen und schon am nächsten Wochenende können wir einziehen. Meine kleine Klaue. Auch du konntest dich dem Reiz des Grünen Hauses nicht entziehen. Ich habe es bemerkt, als du kurz zusammengezuckt bist, so als würde dich ein Schauer überlaufen. Überlege nicht länger. Sag zu. Und wir werden abgelegen über den anderen Behausungen thronen, entfernt von ihnen, aber dennoch so, als würden wir selbst dazugehören.
Von: [email protected]
Betreff: RE: Nach der Wohnungsbesichtigung
Hi Flo,
es mag seine Vorteile haben, dass die Wohnung von Privat vermietet wird. Ich frage mich aber, ob es hinzunehmen ist, dass die Hauseigentümerin im selben Haus wohnt. Zwar hat sie nicht direkt die Wohnung unter uns, aber auch in der ersten Etage ist sie nahe genug am Dachgeschoss, um mitzubekommen, wann und wie wir das Haus verlassen und was wir sonst so machen. Bei der Wohnungsbesichtigung wirkte sie in ihrem eleganten, aber leicht zerknitterten Hosenanzug etwas schrullig. Wie alt mag sie wohl sein? Ich schätze sie auf Mitte Vierzig. Ein schwieriges Alter bei Frauen, denke ich.
Wie ein Kontroll-Freak erwartete sie uns bereits in der Tür zur Dachgeschosswohnung, erpicht darauf, möglichst schnell den Mietvertrag zu unterschreiben, kaum dass sie die Tür hinter uns geschlossen hatte. Und dann ihre völlig unpassende Bemerkung, »Mit der Zeit gewöhnt man sich an die vielen Stufen«, als wir nur ein wenig kurzatmig die gewundene schmale Treppe erklommen hatten. Ihr schiefes Lächeln dazu und der verwischte Lippenstift, die rotblonden ungebändigten Haarsträhnen, die sie ständig zurück strich, weil sie sich immer wieder aus der großen Klammer am Hinterkopf lösten. Während wir mit unterdrückten Stimmen aufeinander einredeten, ob wir die Wohnung nehmen sollten oder nicht, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie sie uns von der Tür her beobachtete. Einen seriösen Eindruck machte sie jedenfalls nicht auf mich.
Als ich durch die Räume schritt, in denen wir zukünftig unser gemeinsames Leben verbringen werden, bemerkte ich eine leichte Beklommenheit. Schon als wir die Treppe heraufkamen, war es mir so vorgekommen, als läge über dem Absatz zum Dachgeschoss, von dem aus eine schmale Stiege weiter zum Speicher hinauf führt, ein Schatten, und als ich an der Wohnungstür ankam und Gilla Witt uns begrüßte, spürte ich einen sanften Hauch.
Wie du dich erinnerst, blieb ich abrupt mitten im Wohnzimmer stehen und suchte nach einer vernünftigen Erklärung für mein Unbehagen. Es roch nach Nikotin. »Ich habe die Wohnung gründlich ausgelüftet und dreimal überstreichen lassen«, beeilte sich Gilla zu versichern. »Der Geruch dringt leider immer wieder durch. Am besten, ihr lüftet ausgiebig und stellt Schalen mit ätherischen Ölen auf. Ihr werdet sehen, mit der Zeit wird der Geruch verschwinden.« Ich mag keine durchdringenden Gerüche, auch nicht die von ätherischen Ölen.
Aber schließlich wird, wie meistens bei mir, die Vernunft siegen. Die Wohnung hat zwei geräumige Zimmer, eine Küche und - das ist das Entscheidende - die Mansarde, die vom Treppenhaus über einen separaten Eingang zu erreichen ist und die ich als Arbeitszimmer einrichten kann. Allerdings kann die Mansarde aktuell nicht genutzt werden. Als ich Gilla gegenüber erklärte, dass ich sie mir ansehen und die Raummaße aufnehmen wollte, stöckelte sie eilig hinter mir her, wobei sie geschäftig mit ihrem Schlüsselbund klimperte. «Die Mansarde ist leider noch nicht vollständig leer geräumt.» Nachdem Gilla mit einiger Mühe die Tür geöffnet hatte, erschloss sich uns ein Chaos aus altem Gerümpel und nicht mehr zu gebrauchenden Gegenständen, die schon längst dem Sperrmüll oder einer anderen Verwertung hätten zugeführt werden müssen. Gilla zuckte unmerklich zusammen und merkte an, sie werde Paul Seidel bitten, den Müll zu entsorgen. Er sei leider noch nicht damit fertig geworden.
Ich denke nicht, dass es deine Aufgabe ist, dem Hausmeister dabei zu helfen, Flo. Aber ich merke, dass du allmählich gereizt wirst. Ich möchte dich nicht länger hinhalten. Wir werden sicher eine Lösung finden.
Von: [email protected]
Betreff: Mansarde im Dachgeschoss
Sehr geehrte Frau Witt,
wir wären grundsätzlich bereit, die Dachgeschosswohnung zu den von Ihnen genannten Konditionen zu mieten, würden aber gerne die dazu gehörige Mansarde mit nutzen wollen. Sie haben mündlich zugesagt, die Mansarde spätestens bis zu unserem Einzug in zwei Wochen frei zu räumen. Wir dürfen Sie höflich bitten, uns dies nochmals schriftlich zu bestätigen und auch tatsächlich dafür Sorge zu tragen, dass die Mansarde bis zu unserem Einzug hergerichtet ist. Außerdem bitten wir Sie, die Fenster-Isolierung in der Wohnung zu überprüfen, da es im Hausflur und im Treppenhaus zieht.
Wir sind damit einverstanden, die Kücheneinrichtung, bestehend aus dem runden Esstisch, vier Stühlen, einem Herd und einem Kühlschrank sowie einfachen Hänge- und Unterschränken, wie von Ihnen vorgeschlagen, gegen eine geringe Abstandszahlung zu übernehmen. Diese Möbel hatten Sie vom Vormieter einbehalten, weil dieser zum Schluss seine Miete nicht mehr gezahlt hat. Eine Waschmaschine werden wir neu kaufen und im Badezimmer unterstellen.
Mit besten Grüßen
Von: [email protected]
Betreff: AW: Mansarde im Dachgeschoss
Liebe Frau Bach,
wie besprochen wird zu Ihrem Einzugstermin die Dachgeschosswohnung bezugsfertig sein.
Viele Grüße
Von: [email protected]
Betreff: RE: Fwd: Mansarde im Dachgeschoss
Liebste Claudine,
ich freue mich, dass du zugesagt hast, mit mir im Grünen Haus zu wohnen. Wir sollten es umbenennen in das Weiße Haus, dann wäre es perfekt.
Bis zu meinem Arbeitsplatz sind es nur 200 Meter und ich kann zwischendurch nach Hause laufen und kochen, brauche nicht mehr Junkfood zu essen. Vielleicht können wir uns ab und zu mittags treffen und gemeinsam Pause machen.
Ich habe schon mit Paul Seidel gesprochen, er sagt, es wäre kein Problem die Wohnung und auch die Mansarde nach unseren Wünschen herzurichten. Wir können Laminat verlegen und die Fenster abdichten.
Paul ist ein kauziger Typ, ein wenig grantig, aber er hat bestimmt einen weichen Kern, zu dem man nur vordringen muss. Das erste Mal traf ich ihn, als ich mich um den Wohnungsbesichtigungs-Termin bemühte. Er hält sich oft im Hinterhof des Grünen Hauses auf. Werkelt dort herum und hält alles schön sauber. Paul lebt schon seit seiner Kindheit im Grünen Haus, kannst du dir das vorstellen? Das Haus gehörte früher Gillas Vater, sie hat es von ihm geerbt. Er war Handwerker und nutzte das Erdgeschoss und den Hinterhof für seine Werkstatt. Nach seinem Tod wandelten sie die Gewerberäume im Erdgeschoss in Therapieräume um, richteten dort eine Massagepraxis ein. Vor kurzem hat Karl Decker die Räume im Erdgeschoss übernommen. Er bietet dort irgendwelche Selbsterfahrungskurse zur Persönlichkeitsbildung an. Schade eigentlich. Die Räumlichkeiten hätten auch gut für mein Schwarzweiß-Vorhaben gepasst. Ich könnte dort ein Fotoatelier einrichten. Aber was nicht ist, kann noch was werden. Hauptsache, wir haben zunächst die Dachgeschosswohnung für uns.
Von: [email protected]
Betreff: RE: Nach der Wohnungsbesichtigung
Es geht alles so schnell, Florian. Der Umzugswagen kommt morgen früh. Alle anderen Sachen werde ich in Koffer packen und mit dem Zug transportieren, wenn ich ein letztes Mal die Strecke Freiburg – Düsseldorf fahre. Ich hoffe, es läuft alles nach Plan und du bist am Grünen Haus, wenn meine Möbel eintreffen.
Ich habe heute auch die Zusage vom Oberlandesgericht Düsseldorf bekommen. Ich kann im März meinen Referendardienst beginnen. Die Zwischenzeit werde ich überbrücken, indem ich schon in der Kanzlei Dr. Rost und van der Beeck arbeiten werde. Ich bin meinem Rechtsanwalt Schäfer in Freiburg so dankbar, dass er mir ein ausgezeichnetes Empfehlungsschreiben mitgegeben hat, das mir geholfen hat, in Düsseldorf eine geeignete Anstellung zu finden.
Wir sehen uns morgen. Ich werde am späten Abend eintreffen und hoffe, die Möbel werden dann schon an ihrem vorgesehenen Platz stehen.
Paul schippt Schnee. Sein Gesicht ist fast so grau wie die Februarluft. Er ist in diesem Winter gealtert, noch mehr als in den Jahren zuvor.
Er ist schon lange wach. Nicht nur, weil er wieder Schnee schippen musste, sondern weil er schon früh am Morgen hörte, wie Gilla das Haus verließ, und als er in der Küche saß und seine erste Tasse Kaffee trank, war die junge Studentin die Treppe herunter gerannt, das stapfende helle Klacken ihrer Stiefelabsätze ließ seine Wohnungstür erbeben. Immer haben sie es eilig. Nie können sie langsam und leise die Treppe hinuntergehen. So als könnten sie es nicht abwarten, das Haus möglichst schnell zu verlassen.
Das Schnee Schippen erschöpft ihn. Aber vielleicht liegt es auch nur an diesem nicht enden wollenden Winter, der ihn müde macht und matt, ihn auslaugt und die Hoffnung auf das wieder erwachende Leben dämpft. Als Weihnachten vorüber war und er beim Anblick des leuchtenden Feuerwerks, das wie jedes Jahr in der Straße entflammte, das neue Jahr begrüßte, freute er sich darauf, dass die Tage wieder länger werden würden, und er fing an, Pläne zu schmieden, sehnte erwartungsvoll das Ende des Monats herbei, fühlte sich unternehmungslustig, wollte wandern gehen und kleine Reisen machen. Nun ist es schon Mitte Februar und noch immer liegt Schnee, ist die Luft kalt und diesig, kaum einmal steigt der Hochnebel auf und lässt das Sonnenlicht durch. Die alten, noch von Gas betriebenen Straßenlaternen, für deren Erhalt sich der Heimatverein einsetzt, sind eingeschaltet, obwohl es schon fast Vormittag ist.
Die windschiefen Stufen knarzten verächtlich bei jedem Schritt, den Paul sich nach dem kurzen Frühstück hinunter schleppte, die linke Hand umfasste den abgegriffenen roten Treppenlauf. Dem Haus waren seine Fußtritte wohlvertraut. Es ließ Paul den Vortritt, ertrug seinen schwerfälligen Gang, Etage für Etage an den Wohnungstüren mit den farbigen Glaseinsätzen in den Holzfassungen entlang, bis er schließlich das Erdgeschoss erreichte, an dem Eingang zu Karls Seminarräumen vorbeiging, der durch eine moderne weiße Kunststofftür verschlossen war, und weiter zu der auf der Rückseite des Hauses gelegenen Tür zum Hof.
Schlaftrunken steckte Paul den Schlüssel in die Hoftür und stellte fest, dass sie nicht verschlossen war. Jemand hatte trotz der frühen Stunde bereits seine Spuren in der gewölbten Schneedecke hinterlassen. Paul folgte den Fußtritten, die gepresste Schneeschicht knirschte ächzend unter seinen geriffelten Schuhsohlen und das Gehen strengte ihn an. Vor der Schuppentür war der Schnee so hoch geweht, dass Paul sie kaum auf bekam. Nachdem er mühselig die Schneeschaufel und den Sack mit Streusalz herausgeholt hatte und sich auf den Weg zurück durch den Treppenhausflur machte, keuchte er.
Die geriffelten Sohlen seiner festen Arbeitsstiefel hinterließen gräulich-weiße Pfützen in dem ausgetretenen Linoleum, obwohl er sie zuvor im Eingangsbereich sorgfältig an dem mit einem Aufnehmer bedeckten Fußabtreter abgestreift hatte.
Paul fühlte sich kalt und steif, es schien ihm, als würden ihn allmählich die Kräfte verlassen. Aber als er die ersten Schaufeln voll Schnee weggeschoben hatte, wurden seine Gelenke allmählich wieder geschmeidiger. Nun schaufelt er rhythmisch und gleichmäßig, wenn auch etwas umständlich, und arbeitet sich Meter für Meter voran durch die Schneeverwehungen vor dem Grünen Haus. Er liebt das Geräusch der Schippe, die die hartnäckige, zusammengepappte eisige Schicht durchdringt und auf dem Untergrund kratzt.
Der Winter hält sich hartnäckig, wehrt sich gegen Wärme und Licht. Es hat so viel Schnee gegeben wie die vergangenen fünf Jahre zusammen genommen nicht.
Wenn es geschneit hat, klingt die Straße anders, die Geräusche sind gedämpft, nicht so hallend, grell und scheppernd wie im Sommer, alles ist unter einer schützenden weißen Hülle verborgen und selbst die Autos scheinen weniger Lärm zu machen, weil sie behutsam gelenkt werden. Die Menschen bewegen sich achtsam und zurückhaltend auf dem glatten Untergrund. Eine zusammenhängende gräuliche Wolkendecke kündigt weitere Schneefälle an. Die Grenze zwischen Himmel und Erde ist aufgehoben. Zur Orientierung dienen nur noch die nackten schwarzen Arme der Pappeln, Akazien und Buchen, die Umrisse der Häuser, die sich scharf von der milchig-weißen Fläche abheben.
Als Paul bis zur Straßenecke vorgedrungen ist, an der die Grenze zum Nachbarhaus verläuft, bleibt er auf seine Schneeschaufel gestützt stehen, der ausgestoßene Nebel aus niedergeschlagenem Atem umhüllt ihn und von seinem verschwitzten Kopf mit den kurz geschnittenen grauen Haaren steigen Dampfwolken auf. Er betrachtet den frei geschaufelten schmalen Fußweg, der sich zwischen den zu beiden Seiten aufgeworfenen Schneehaufen hindurch schlängelt. Nun braucht er nur noch das Salz aufzustreuen.
Dazu muss er aber zunächst zur Eingangstür des Grünen Hauses zurück gehen. Denn dort steht noch der Eimer mit den rosafarbenen Kristallen.
Der Weg bis dorthin erscheint Paul unendlich weit. Jeden Winter überfällt ihn eine schwere Müdigkeit, die er bisher immer der dunklen Jahreszeit zugeschoben hat, die dazu einlädt sich zurückzuziehen und zu verschnaufen, alles etwas langsamer angehen zu lassen. Nur ist es in diesem Jahr besonders schlimm. Er fühlt sich träge und antriebslos und die Arbeiten, die er sonst mit so viel Elan verrichtete, erscheinen ihm nur noch beschwerlich. Immer öfter erwischt er sich bei dem Gedanken, dass er einfach keine Lust mehr hat.
Ein schepperndes Rattern reißt Paul aus seinen Gedanken. Im Erdgeschoss des Grünen Hauses werden die Rollläden heraufgezogen und durch die beiden Fenster der dahinter liegenden Seminarräume strömt Licht auf den düsteren Gehweg. Karl Decker jedenfalls scheinen die Kräfte nie auszugehen. Unentwegt wuselt er im Erdgeschoss umher, empfängt Kunden und hält Zeremonien ab, oder was er dort so treibt. Genau weiß Paul es nicht. Auch zwischen Weihnachten und Neujahr sind Karls Räume für Besucher geöffnet gewesen.
Früher hatte das Haus grüne Fensterläden, daher hat es auch seinen Namen. Inzwischen sind die Läden abmontiert und durch Rollläden ersetzt worden, als in den 1990er-Jahren Isolierfenster angebracht wurden. Aber das Grüne Haus heißt noch immer so.
Die Eingangstür schlägt zu und Karl, nur mit einer dünnen Leinenhose und einem Sweatshirt bekleidet, springt die Stufen zum Gehsteig hinunter. In der Hand hält er einen blauen Abfallbeutel.
»Kannst du mir den Zugang zu den Mülltonnen frei machen, Paul?«
»Wenn du mir den Eimer mit dem Streusalz mitbringst«, brummelt Paul zur Antwort und nimmt schon die Schaufel wieder auf, um den Platz vor den in die Hausmauer eingelassenen Mülltonnen von dem aufgetürmten Schneeberg zu räumen.
Als Karl bei ihm angelangt ist, schiebt er die Hand in den Eingriff der Tür für die Mülltonnen und öffnet sie, wobei ein widerstrebendes quietschendes Geräusch entsteht.
»Bald wird es vorbei sein mit dem Schnee«, sagt er aufmunternd und mit einem Lächeln, das einseitig nur den rechten Mundwinkel nach oben zieht.
»Na, wenn du es sagst, muss es wohl stimmen«, antwortet Paul und auch auf sein Gesicht legt sich ein kleines Lächeln.
Paul stellt sich den Eimer zurecht und beginnt, ohne sich weiter um Karl zu kümmern, der wieder im Haus verschwindet, mit der kleineren Schippe das Salz auf dem rutschigen Untergrund auszustreuen. Er hofft, dass seine Arbeit nicht vergebens ist, da sich die dichte Wolkendecke weiter gesenkt hat und die Luft nach Schnee riecht. Wenn es weiterhin so heftige Niederschläge gäbe, würde das freigelegte Stück bald wieder zugeweht und auch das Salz würde nicht ausreichen, um den Fußweg auf Dauer begehbar zu halten.
Aber der leicht aufkommende Wind trägt auch einen anderen Geruch mit sich, etwas Verlockendes, Weiches, Seichtes. Eine Ahnung von milderem Wetter. Erste Vorboten einer wechselnden Jahreszeit.
Am Nachmittag macht Paul sich auf den Weg in den Lindenpark. So wie jeden Tag. Seit er den aufkommenden Frühlingsduft gerochen und Karl ihm zugelächelt hat, ist er etwas fröhlicher gestimmt. Er hat sich fest vorgenommen, mindestens einmal am Tag das Haus zu verlassen, wie schlecht das Wetter auch ist, wie knorrig seine Muskeln, Knochen und Sehnen sich auch dagegen stemmen, auflehnen, jammern mögen.
Die auf Gehweg und Straße festgetretene und - gefahrene Schneedecke ist durchmischt mit dunklem Granulat und bläulich oder rosa schimmerndem Streusalz. Dank seiner rutschfesten Stiefel geht Paul sicheren Schritts, er hört den harschen Schnee unter seinen Schuhsohlen knirschen. Hinter den zu beiden Seiten aufgehäuften Schneebergen an der Straßenecke zur Hauptstraße ist alles nur noch schmutzig-grau und matschig. Am Fußgängerüberweg hat sich am Rand der Straße eine riesige Pfütze gebildet, dort, wo der Schnee durch die vorbeifahrenden Autos getaut ist. Die Abflussrinnen und der Gully können die Massen an Schmelzwasser nicht bewältigen.